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Foto: Franco Antonello<br />
Der italienische Gymnasiallehrer<br />
Fulvio Ervas ist in seiner Heimatstadt<br />
Treviso eine bekannte Persönlichkeit.<br />
Schenkt er doch seinen<br />
Landsleuten mit Witz und Fantasie in<br />
schöner Regelmäßigkeit großartiges<br />
Lesevergnügen garniert mit Spannung.<br />
Ervas ist ein manischer Geschichtensammler,<br />
lauscht den Gesprächen im<br />
Café genauso gerne wie dem Zwitschern<br />
der Vögel und dem Muhen der<br />
Kühe, deren drohendem Aussterben –<br />
genauer des der Rasse Burlina – er seine<br />
Doktorarbeit in Agrarwissenschaften<br />
gewidmet hat. Aus allem, was er so<br />
zusammenträgt, formt Ervas Geschichten<br />
und gibt keine Ruhe, bis der ganze<br />
Zoo, dem er bei seinen Spaziergängen<br />
durch sein Viertel so begegnet, in Literatur<br />
verwandelt ist.<br />
Was für eine Freude muss es da für ihn<br />
gewesen sein, als sich ihm beim Verlassen<br />
der Bar Franco Antonello mit<br />
den Worten entgegenstellt: „Dottore,<br />
heute habe ich Ihnen eine Geschichte<br />
zu erzählen.“ Und schon nach den<br />
ersten Sätzen spürt Ervas, dass Franco<br />
einen Stoff vor ihm ausbreitet, aus<br />
dem Romane sind. Bei einem Glas<br />
Wein wird es nicht geblieben sein, bis<br />
Franco das Ende seiner dreimonatigen<br />
Reise quer durch Nord- und Südamerika<br />
erzählt hat, ist er doch nicht allein<br />
getrampt. Gegen den Rat der Ärzte<br />
und trotz Zitterns und Bangens seiner<br />
Familie und sämtlicher Freunde, hat er<br />
seinen 17-jährigen autistischen Sohn<br />
Andrea mit auf die Route 66 genom-<br />
Wie die Freiheit schmeckt<br />
oder<br />
Eine Reise wie ein Roman<br />
Die lange Reise eines Vaters mit seinem autistischen Sohn wird zu einer berührenden Geschichte<br />
über die Sehnsucht nach Freiheit und der unverbrüchlichen Liebe.<br />
Von Ditta Rudle<br />
men. Nach den endlosen Untersuchungen<br />
und Behandlungen – die alle<br />
nichts genutzt haben, denn Autismus,<br />
das Eingeschlossensein in sich selbst,<br />
die Unfähigkeit, mit anderen zu kommunizieren,<br />
ist nach heutigem Stand<br />
der Medizin unheilbar – wollte Vater<br />
Franco seinem Sohn Andrea beibringen,<br />
wie die Freiheit schmeckt. Mit<br />
einer roten Harley machten sich die<br />
beiden Easy Rider von Miami aus auf<br />
nach Kalifornien, reisten danach von<br />
Mexico nach Guatemala und Brasilien.<br />
Ervas hat die Reiseerzählung literarisiert<br />
und eine zu Herzen gehende<br />
Geschichte daraus geformt. Auf Anhieb<br />
wurden vom Amerikatrip des Vaters<br />
mit dem Sohn, auf dem sie komischen,<br />
liebevollen und nur ganz selten verständnislosen<br />
Menschen begegnen und<br />
Andrea auch die Liebe kennen lernt,<br />
200.000 Exemplare verkauft. Eigentlich<br />
muss sich Vater Franco keine Sorgen<br />
mehr machen, was mit dem autistischen<br />
Sohn, der allein nicht lebensfähig<br />
ist, passiert, wenn die Eltern nicht<br />
mehr sind. Ganz Italien liebt Andrea.<br />
Und die deutschsprachigen Leserinnen<br />
werden ihn auch lieben und vergessen,<br />
dass Andrea, wie ihn der Autor gestaltet<br />
hat, eine Kunstfigur ist, eine literarische<br />
Fiktion, wenn auch auf Tatsachen<br />
beruhend. „Wenn ich dich umarme,<br />
hab keine Angst“ (Andrea besitzt eine<br />
Unmenge mit diesem Satz bedruckter<br />
T-Shirts, weil er auch fremde Menschen<br />
gerne, wahllos und spontan an<br />
sich drückt) erzählt vom Mut eines<br />
41<br />
buchmedia<br />
magazin 19 (1/13)<br />
Vaters, der Sehnsucht nach Freiheit<br />
und der unverbrüchlichen Liebe.<br />
Mit dieser Geschichte hat Fulvio Ervas<br />
unbekanntes Terrain betreten, ist er<br />
doch in seiner Heimat eher für seine<br />
Kriminalromane bekannt. Italienisch<br />
sprechende Liebhaber des „Giallo“<br />
kennen alle den komischen Ispettore<br />
Stucky, halb Perser, halb Venezianer,<br />
der rund um Treviso sein Wesen<br />
treibt. Ervas belässt es dabei nicht bei<br />
der simplen Mördersuche, sondern<br />
flicht allerlei Seitenhiebe auf Politik<br />
und Gesellschaft ein. Sein jüngstes<br />
Abenteuer wurde nicht nur für den italienischen<br />
Krimipreis „Premio Azzeccagarbugli“<br />
nominiert, sondern auch<br />
von Silvia Höfer ins Deutsche übertragen.<br />
„Solange es Prosecco gibt, gibt<br />
es Hoffnung“ ist eben als Bloomsbury<br />
Taschenbuch erschienen. Und für<br />
„Wenn ich dich umarme …“ sind die<br />
Filmrechte bereits verkauft. Franco und<br />
Andrea haben das Geld einem Mitleidenden<br />
gespendet, einem autistischen<br />
Buben in Guatemala.<br />
Fulvio Ervas, Franco Antonello<br />
Wenn ich dich umarme,<br />
hab keine Angst<br />
Eine wahre Geschichte<br />
Übers. v. Maja Pflug<br />
Diogenes, 320 S.<br />
Euro (A) 17.40; Euro (D) 16.90;<br />
Euro (I) 18.10<br />
ISBN 978-3-257-06851-1<br />
Eine einfühlsame Geschichte über die Reise<br />
eines Vaters mit seinem autistischen Sohn.