Kinder besser vor Gewalt schützen - Weisser Ring e.V.
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Forum Jugend<br />
DAS JUNGE OPFER<br />
Einmal im<br />
Mittelpunkt<br />
stehen:<br />
Das jugendliche<br />
Opfer<br />
„Du Opfer!“ ist durchaus ein<br />
gängiges Schimpfwort an Berliner<br />
Schulen, stellte Thomas Härtel,<br />
Staatssekretär für Bildung,<br />
Jugend und Sport fest. „Das<br />
jugendliche Opfer“ stand<br />
im Mittelpunkt einer Tagung<br />
zur Jugenddelinquenz in der<br />
Akademie der Konrad-Adenauer-<br />
Stiftung.<br />
D<br />
ie Landeskommission Berlin gegen <strong>Gewalt</strong>,<br />
die Opferschutzbeauftragte des<br />
Landeskriminalamtes, die Opferhilfe Berlin<br />
und der WEISSE RING hatten zu der Veranstaltung<br />
Pädagogen, Schulpsychologen, Sozialarbeiter<br />
und Opferbetreuer eingeladen. Sabine<br />
Hartwig, Landes<strong>vor</strong>sitzende des WEISSEN<br />
RINGS, moderierte die Tagung und stellte<br />
fest, dass die Rechte des Opfers durchweg<br />
Antragsrechte sind: „Den Opfern wird nichts<br />
offeriert, von ihnen wird verlangt, dass sie sich<br />
selbst um alles bemühen.“ Sie wies auch darauf<br />
hin, dass die Mitarbeiter des WEISSEN<br />
RINGS die Opfer in der Vorbereitung auf das<br />
Verfahren begleiten.<br />
Staatssekretär Härtel berichtete, dass in<br />
den Berliner Schulen Handlungsanweisungen<br />
– „Hinsehen und Handeln“ – als Notfallordner<br />
<strong>vor</strong>liegen, die den Schulen aufzeigen, wie sie<br />
im Falle von <strong>Gewalt</strong><strong>vor</strong>fällen handeln müssen.<br />
Junge Opfer von <strong>Gewalt</strong> entwickeln<br />
Empfindungen wie Scham, Angst und Hilflosigkeit.<br />
Bekommen sie keine Hilfe, so Härtel<br />
weiter, könnten Gefühle der Rache entstehen<br />
und so aus Opfern auch Täter werden.<br />
„Wir bemerken immer mehr, dass Jugendliche<br />
sich im Gerichtssaal benehmen wie bei<br />
Frau Salesch“, berichtete Rechtsanwalt Sven<br />
Peitzner, der als Strafverteidiger und als<br />
Opferbeistand arbeitet. Die Opfer, sagte er,<br />
fühlen sich oft sehr alleine, sie müssen sogar<br />
damit rechnen, womöglich im Gerichtsflur<br />
neben dem Täter zu sitzen.<br />
„Schon die sehr eigene Sprache der Juristen<br />
ist für ein Opfer kaum zu verstehen“, sagte<br />
der Anwalt. Deshalb sei es sinnvoll, wenn das<br />
Opfer durch einen Helfer oder Anwalt in den<br />
Gerichtssaal begleitet wird. Denn das Opfer<br />
fühlt sich sicherer, wenn eine Vertrauensperson<br />
neben ihm sitzt. Doch Vertrauenspersonen<br />
können auch als Zeuge vernommen werden.<br />
Deshalb riet der Anwalt seinen Zuhörern, sich<br />
das Tatgeschehen nicht so genau erzählen zu<br />
Rechtsanwalt Sven Peitzner<br />
informierte darüber,<br />
was jugendliche Opfer im<br />
Gerichtssaal erwartet<br />
lassen – und die Geschichte schon gar nicht<br />
aufzuschreiben.<br />
Peitzner klärte auch über die Unterschiede<br />
auf, wenn ein Anwalt als Zeugenbeistand oder<br />
als Nebenkläger auftritt. Schon äußerlich wird<br />
dies deutlich: Als Zeugenbeistand darf er<br />
keine Robe tragen. Inhaltlich darf er nur Fragen<br />
beanstanden, selbst fragen darf er nicht. In<br />
der Nebenklage ist er mit umfassender Beteiligungsbefugnis<br />
ausgestattet: Er hat das Recht<br />
zur Anwesenheit während der gesamten Verhandlung,<br />
kann den Richter ablehnen, hat Fragerecht,<br />
was besonders bei Zweifeln an den<br />
Entlastungszeugen dienlich ist. Er kann<br />
Erklärungen abgeben und sich an den Schluss<strong>vor</strong>trägen,<br />
den Plädoyers, beteiligen – wenngleich<br />
die zur Urteilsfindung weit weniger<br />
beitragen, als Beobachter zuweilen glauben,<br />
erklärte der Anwalt.<br />
Foto: Ingrid Weber<br />
Die Nebenklage ist allerdings bisher in<br />
Verfahren gegen Jugendliche nicht zugelassen<br />
sondern nur gegen Heranwachsende. Das war<br />
im Jugendgerichtsgesetz von 1923 noch<br />
anders, erinnerte der Anwalt. Die Nebenklage<br />
wurde erst 1943 für unzulässig erklärt. Rechtsanwalt<br />
Peitzner: „Der Führer im Gerichtssaal<br />
war der Richter, da sollte nicht noch einer<br />
rumreden.“<br />
„Wir können nur die<br />
Spitze abfangen“<br />
„Die Schule ist ein Löwenkäfig. Rein kommen<br />
alle mal, die Frage ist, wie kommen sie<br />
wieder raus?“ fragte Ria Uhle, Schulpsychologin<br />
für <strong>Gewalt</strong>prävention und Krisenintervention.<br />
Der <strong>Gewalt</strong>bericht der Senatsverwaltung<br />
sieht bei <strong>Gewalt</strong>meldungen aus den Schulen<br />
einen Zuwachs von 60 Prozent. Zwei von<br />
1000 Schülern werden als Opfer aktenkundig.<br />
Der Schwerpunkt liegt bei Tätern und Opfern<br />
bei den männlichen Jugendlichen der Sekundarstufe<br />
I, das sind die 7. bis 10. Klassen. Drei<br />
Viertel der Fälle spielen sich schulintern ab,<br />
das heißt, Täter und Opfer begegnen sich täglich<br />
in der Schule. Uhle verwies auf ein Dunkelfeld<br />
insbesondere im Bereich psychische<br />
<strong>Gewalt</strong> und Mobbing, in Berlin ein meldepflichtiges<br />
Delikt. Uhle begrüßt es, wenn<br />
Schulleiter Mobbing frühzeitig ansprechen,<br />
schon ehe es zu einem meldepflichtigen Delikt<br />
ausgewachsen ist. Die Schule, sagte sie,<br />
müsse Hilfe bieten: „Schulleitung und Lehrer<br />
müssen fit gemacht werden, um selbst handeln<br />
zu können.“ Denn es fehlt an Schulpsychologen.<br />
Uhle: „Wir tun unser Bestes, aber wir<br />
können nur die Spitze abfangen.“ Sie selbst<br />
betreut mit einer Kollegin in Teilzeit 76 Schulen,<br />
in Skandinavien gibt es an jeder Schule<br />
einen eigenen Schulpsychologen.<br />
Jugendlichen Opfern fällt es schwer, zur<br />
Opferberatung zu gehen. Hemmungen und<br />
Scham hindern sie daran. Sie fordern selten<br />
Hilfe ein, sondern versuchen, selbst eine<br />
Lösung zu finden. Und wenn ihnen dies nicht<br />
gelingt, treten sie den Rückzug an, berichtet<br />
Astrid Gutzeit, Geschäftsführerin der Opferhilfe<br />
Berlin e.V. Gutzeit: „Es muss ein neues<br />
Opferbild entstehen. Es muss als Stärke angesehen<br />
werden, wenn sich Menschen in dieser<br />
Situation Beratung holen.“ Das interessante<br />
Fachpublikum war sich darin einig, dass die<br />
Rechtsansprüche des Opfers anders geregelt<br />
werden müssen und nicht länger nur auf<br />
Antrag gewährt werden. Ingrid Weber<br />
Trotz leerer<br />
Kassen mutig<br />
gegen <strong>Gewalt</strong><br />
in der Schule<br />
angehen<br />
Pax, das lateinische Wort für<br />
Frieden, kombinierten engagierte<br />
Pädagogen in Berlin zu einem<br />
griffigen Namen ihrer Arbeitsgruppe:<br />
nennt sich die<br />
AG <strong>Gewalt</strong>freie Schulkultur im<br />
Landesinstitut für Schule und<br />
Medien (LISUM). Kernprojekt<br />
der Arbeitsgruppe ist die Mediation<br />
mit Konfliktlotsen, die ihr<br />
Ehrenmitglied Ortrud Hagedorn<br />
begründet hat.<br />
chon früh arbeitete mit dem<br />
WEISSEN RING Berlin zusammen, um<br />
möglichst viele der rund 1000 Schulen in der<br />
Hauptstadt für den Einsatz von Schülern als<br />
Streitschlichter zu gewinnen. Aufgrund der<br />
jahrelangen guten Zusammenarbeit mit dem<br />
WEISSEN RING, mit der Landes<strong>vor</strong>sitzenden<br />
Sabine Hartwig und der Landesbüro-Mitarbeiterin<br />
Tina Wiedenhoff sowie der finanziellen<br />
Unterstützung im Rahmen eines Modellprojektes<br />
erklärte schließlich ihre<br />
Mitgliedschaft im WEISSEN RING. Dies<br />
auch, weil „wir die großartige Tätigkeit der<br />
Opferhilfe honorieren wollten.“<br />
4600 Schüler wurden bisher an etwa 300<br />
Schulen als Konfliktlotsen ausgebildet, <strong>vor</strong><br />
allem an Gesamt- und Hauptschulen. Zu den<br />
weiteren Schwerpunkten bei zählen<br />
die Fortbildung von Lehrern und Erziehern in<br />
den Bereichen <strong>Gewalt</strong>prävention, Intervention<br />
und Zivilcourage, Deeskalation und Täter-<br />
Opfer-Ausgleich in der Schule. Daneben wird<br />
zudem Praxisbegleitung und Supervision<br />
angeboten. Das Arbeiten für gewaltfreie Schulen<br />
wird schwieriger, weil die Sparbemühungen<br />
der öffentlichen Hand auch die Bildungseinrichtungen<br />
bedrängen: Es fehlen nicht nur<br />
Lehrer und Erzieher an den Schulen, sondern<br />
auch räumlich wird es enger, berichten Hannah<br />
Wennekers und Birthe Rasmussen-Bonne<br />
von . So ist in Berlin seit 2005 der<br />
gesamte Hortbereich den Grundschulen – die,<br />
anders als in den meisten Bundesländern, die<br />
ersten sechs Schuljahre umfassen – zugeord-<br />
net. An sehr vielen Grundschulen nimmt die<br />
Anzahl der Hortkinder massiv zu. Deshalb<br />
werden häufig Klassenräume als Hort eingerichtet,<br />
die zum Teil am Vormittag dem Unterricht<br />
dienen. Die Schulen klagen, dass<br />
dadurch Unruhe und Konfliktbereitschaft<br />
unter den Schülern deutlich zugenommen<br />
haben. „Das führt zur Verschlechterung des<br />
Schulklimas. Sparen produziert <strong>Gewalt</strong>“, stellen<br />
die Pädagoginnen fest. Die beiden arbeiten<br />
zudem in Spezialgebieten. Rasmussen-Bonne<br />
zum Beispiel entwickelte Elternkurse nach<br />
dem australischen Programm Triple P, ein<br />
Ansatz, aber noch viel zu wenig verbreitet.<br />
Wichtig ist ihr <strong>vor</strong> allem, dass Eltern nicht das<br />
Gefühl vermittelt wird, einen Makel zu haben,<br />
sondern erfahren, dass sie Lösungen für<br />
bestimmte Fragestellungen finden.<br />
Wennekers hat eine weitere Idee von<br />
Ortrud Hagedorn in die Praxis umgesetzt:<br />
„Trenner und Tröster“ in der Grundschule.<br />
Ausgehend von der Frage: Was braucht ein<br />
Kind, das ein Kümmernis hat?, wird in der<br />
Klasse morgens ein Kind aus denen, die sich<br />
freiwillig melden, als Tröster bestimmt und<br />
mit einer großen Plakette kenntlich gemacht.<br />
Der Tröster oder die Trösterin achtet auf<br />
bekümmerte <strong>Kinder</strong> und bietet Trost und<br />
Unterstützung an. Gewählt wird auch ein<br />
Trenner, für Streitfälle. Flammt irgendwo in<br />
der Klasse ein Zwist auf, dann rufen die Mitschüler<br />
„Trenner und Tröster bitte kommen!“<br />
Dann walten die beiden ihres Amtes, beenden<br />
die Auseinandersetzung und lassen die Streitenden<br />
nacheinander möglichst sachlich und<br />
ohne Wertung erzählen, wiederholen die Aussagen<br />
in eigenen Worten. So wird dem Angreifer<br />
deutlich gemacht, wie sich das angegriffene<br />
Kind fühlt, dem Angegriffenen, wodurch<br />
12 WEISSER RING 1/07 WEISSER RING 1/07 13<br />
S<br />
Arbeiten eng zusammen:<br />
Sabine Hartwig (l.) und<br />
Hannah Wennekers<br />
der Streit womöglich entstanden sein könnte.<br />
Die Entwicklung der <strong>Kinder</strong> ist enorm: „Sie<br />
erfahren dadurch einen frappierenden Sprachzuwachs,<br />
das gilt auch für Migrantenkinder“,<br />
erzählt Wennekers. Als Sonderpädagogin<br />
weiß sie auch, dass entwicklungsverzögerte<br />
<strong>Kinder</strong> mehr Konflikte erleben als <strong>Kinder</strong> mit<br />
der Funktion aller Sinne. Gehörlose etwa, die<br />
nicht bemerken, dass und von wo jemand auf<br />
sie zukommt, fühlen sich so überrascht, dass<br />
sie losschlagen. Im September hat sie die erste<br />
„<strong>Gewalt</strong>prävention für Gehörlose“ in Berlin<br />
organisiert, finanziell unterstützt von der WR-<br />
Landes<strong>vor</strong>sitzenden Sabine Hartwig.<br />
Manchmal fragen sich Rasmussen-Bonne<br />
und Wennekers, die nur noch einige Jahre<br />
bis zur Pensionierung im Amt sind, wie sich<br />
die gewaltfreie Schulkultur angesichts der<br />
schwierigen Bedingungen durch leere Kassen<br />
und große Klassen mit immenser Vielsprachigkeit<br />
weiter entwickeln kann. Für sie ist<br />
klar, dass Pädagogen früh eingreifen müssen,<br />
schon auf chauvinistische Ausfälle, die handfeste<br />
Beleidigungen sind. Sie machen den jungen<br />
Machos ganz klar: Das ist eine Straftat.<br />
Dafür kannst Du belangt werden. „Das darf<br />
man nicht bagatellisieren“, sagen sie.<br />
Ingrid Weber<br />
Mehr Informationen ...<br />
Mehr Informationen zu >pax an!< unter<br />
http://bebis.cidsnet.de/faecher/feld/paxan/,<br />
zum Elternprogramm unter der E-Mail-<br />
Adresse birabo@t-online.de und zum Streitschlichterprogramm<br />
Mediate des WEISSEN<br />
RINGS unter www.weisser-ring.de<br />
Foto: Ingrid Weber