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Kinder besser vor Gewalt schützen - Weisser Ring e.V.

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Magazin<br />

AKTUELL<br />

Noch kein<br />

Schlussstrich<br />

in Sicht<br />

Das Drama, das für die<br />

inzwischen 14-jährige<br />

Stephanie aus Dresden<br />

mit ihrer Entführung<br />

am 11. Januar begann,<br />

scheint kein Ende zu<br />

nehmen.<br />

S<br />

tephanie war 35 Tage in der<br />

<strong>Gewalt</strong> von Mario M., der<br />

sie an jedem dieser 35 Tage mehrfach<br />

vergewaltigte und mit seinen<br />

Drohungen in ungeheure Ängste<br />

versetzte. Ängste, die das junge<br />

Opfer noch immer verfolgen. Der<br />

wegen schweren Kindesmissbrauchs<br />

Vorbestrafte hatte sie<br />

nach wochenlanger Beobachtung<br />

gezielt als sein Opfer ausgesucht<br />

und ihr immer wieder die<br />

schrecklichsten Folgen im Falle<br />

seiner Entdeckung aufgezeigt.<br />

Dennoch wagte die Schülerin<br />

es, Hilferufe mit der Adresse des<br />

Täters auf Zettel zu schreiben und<br />

diese auf der Straße fallen zu lassen,<br />

wenn er im Schutze der Dunkelheit<br />

mit ihr spazierenging.<br />

Dank eines solchen Papierfetzens<br />

konnte sie schließlich befreit werden<br />

aus seiner Wohnung, die nur<br />

300 Meter entfernt von ihrem<br />

Elternhaus liegt.<br />

Danach kamen nach und<br />

nach die Ermittlungspannen der<br />

Dresdner Polizei ans Licht, die<br />

schließlich von Justizpannen abgelöst<br />

wurden. Die große Sorge<br />

von Stephanie und ihrer Familie:<br />

Der Täter könnte irgendwann<br />

wieder auf freien Fuß kommen –<br />

und seine Drohungen wahr machen.<br />

Deshalb wollte das Opfer<br />

im Verfahren aussagen. Sie wollte<br />

deutlich machen, dass er sie nicht<br />

30 Mal vergewaltigt hat, wie es in<br />

der Anklage heißt, sondern dass<br />

es über 100 Taten gewesen sind.<br />

Am Strafmaß würde das vermut-<br />

4 WEISSER RING 1/07<br />

lich nichts ändern. Es wird allgemein<br />

davon ausgegangen, dass<br />

M. mit der Höchststrafe von 15<br />

Jahren und anschließender Sicherungsverwahrung<br />

rechnen muss.<br />

Aber für das Opfer und die Verarbeitung<br />

der seelischen Pein macht<br />

es sicher einen Unterschied, ob<br />

der Täter nur für einen Bruchteil<br />

oder für jede einzelne Tat haftbar<br />

gemacht wird. Stephanie zog ihren<br />

Wunsch, auszusagen, zurück.<br />

Ein Erfolg des Täters, der vom<br />

ersten Verhandlungstag an gezeigt<br />

hat, dass noch von ihm zu<br />

hören sein wird.<br />

Neuer Schock,<br />

alte Angst<br />

Damals hatte er eine Unterbrechung<br />

herbeigeführt. Dann flüchtete<br />

er <strong>vor</strong> dem zweiten Prozesstag<br />

vom Hofgang auf das Gefängnisdach<br />

und entzog sich dem<br />

Zugriff von Vollzugs- und Polizeibeamten<br />

für diesen Tag und<br />

E<br />

in Martyrium ohnegleichen<br />

erlebte der junge Häftling in<br />

der Jugendhaftanstalt Siegburg.<br />

Drei Zellengenossen quälten ihn<br />

über viele Stunden ohne Unterlass<br />

mit unsäglichen Methoden<br />

und zwangen ihn schließlich,<br />

sich selbst zu strangulieren. Sie<br />

wollten einen Menschen sterben<br />

sehen.<br />

Das Alarmsystem der Strafanstalt,<br />

das der 20-Jährige noch<br />

in Gang setzen konnte, hätte<br />

seine Rettung ermöglichen können.<br />

Doch die Täter erklärten<br />

dem Wachdienst über die Gegensprechanlage,<br />

sie hätten den<br />

Knopf versehentlich gedrückt.<br />

Und die Beschwerden der Häftlinge<br />

in den benachbarten Zellen<br />

halfen dem Opfer ebensowenig,<br />

obwohl sich ein Beamter an den<br />

Foto: picture alliance<br />

Stephanies Vater<br />

Joachim R. voller Sorge<br />

um seine Tochter<br />

Häftling in der Zelle<br />

gequält und getötet<br />

fast die gesamte folgende Nacht.<br />

Am nächsten Tag wurde er zwar<br />

in Hand- und Fußfesseln von vermummten<br />

Beamten <strong>vor</strong>geführt,<br />

aber dann vom Arzt für verhandlungsunfähig<br />

erklärt.<br />

Für sein Opfer bedeutet jede<br />

dieser spektakulären Handlungen<br />

einen neuen Schock, alte Ängste<br />

werden wieder wach. M.s Verteidiger<br />

setzte schließlich mit einem<br />

Befangenheitsantrag gegen Richter<br />

Tom Maciejewski noch eins<br />

obendrauf: Die Vorführung mit<br />

Fesseln durch vermummte Einsatzkräfte<br />

verstieß nach seiner<br />

Meinung gegen die Würde des<br />

Angeklagten. Mario M. hat es<br />

geschafft, dass viele Beobachter<br />

damit rechnen, dass dies womöglich<br />

noch nicht das Ende der Fahnenstange<br />

war. j<br />

Ort des schrecklichen Geschehens<br />

begab. Die Täter hatten ihr<br />

Opfer jedoch ins Bett gelegt, dem<br />

Vollzugsbeamten schien es, als<br />

schlafe der Schwerverletzte. Spuren<br />

der Taten hat er wohl nicht<br />

wahrgenommen. Das Opfer sollte<br />

eine sechsmonatige Jugendstrafe<br />

absitzen und war wegen<br />

Entzugsproblemen in die Gemeinschaftszelle<br />

verlegt worden.<br />

Die Belegung mit mehr als zwei<br />

Häftlingen hat Justizministerin<br />

Roswitha Müller-Piepenkötter<br />

wenig später aufgehoben, den<br />

unter schwerer Kritik stehenden<br />

Anstaltsleiter hat sie versetzt.<br />

Ehemalige Häftlinge hatten berichtet,<br />

in der Siegburger Anstalt<br />

herrsche das Faustrecht. Die<br />

Täter gestanden ihre Tat weitgehend.<br />

j<br />

18-Jähriger schießt in<br />

Schule um sich<br />

H<br />

eute“, schreibt Spiegel Online<br />

am 21. November,<br />

„sollte Sebastian B. <strong>vor</strong> dem<br />

Jugendgericht erscheinen – zur<br />

Hauptverhandlung wegen unerlaubten<br />

Besitzes einer Walther<br />

P38-Pistole. Stattdessen wird<br />

heute sein Leichnam von Rechtsmedizinern<br />

obduziert.“ Sebastian<br />

B. hatte am Vortag die Geschwister-Scholl-Schule<br />

in Emsdetten<br />

(Bild oben) im Münsterland gestürmt,<br />

um sich an denen zu rächen,<br />

von denen er sich gedemütigt<br />

fühlte. 37 Verletzte, drei von<br />

ihnen schwerverletzt, forderte<br />

sein Amoklauf.<br />

Zweimal hatten sie ihn sitzenbleiben<br />

lassen, im Juni 2006 hatte<br />

er schließlich seinen Realschul-<br />

Abschluss ordentlich geschafft.<br />

Und dennoch war der 18-Jährige<br />

vollends frustriert, verzweifelt,<br />

vereinsamt – und voller Hass. So<br />

plante er über einen langen Zeitraum<br />

seine Rache. Über das Vorhaben<br />

berichtete er über Jahre<br />

hinweg auf seiner Homepage.<br />

Wie Robert Steinhäuser, der<br />

am 26. April 2002 am Gutenberg-<br />

Gymnasium in Erfurt Amok lief,<br />

hatte sich auch Sebastian B. in<br />

eine virtuelle Welt zurückgezogen<br />

und sich immer wieder über Stunden<br />

hinweg mit dem Killerspiel<br />

„Counterstrike“ beschäftigt. Da-<br />

bei fiel B. schon durch die äußere<br />

Erscheinung auf, meist in schwarz<br />

gekleidet, mit einem langen Mantel<br />

oder aber in Tarnkleidung, die<br />

Augen gerne mit Sonnenbrille<br />

verdunkelt.<br />

Am Vorabend seiner Tat stellte<br />

B. vier neue Videosequenzen<br />

auf seine Homepage, unter anderem<br />

einen selbst gestalteten <strong>Gewalt</strong>-Comic.<br />

Und einen Abschiedsbrief<br />

hinterließ er dort:<br />

„Das einzigste, was ich intensiv in<br />

der Schule beigebracht bekommen<br />

habe, war, dass ich ein Verlierer<br />

bin“, schreibt er. Am nächsten<br />

Vormittag machte er sich mit<br />

Spenden<br />

helfen!<br />

Spendenkonto<br />

34 34 34<br />

Deutsche Bank Mainz<br />

BLZ 550 700 40<br />

Sparkasse Mainz<br />

BLZ 550 501 20<br />

Genossenschaftsbank<br />

Mainz<br />

BLZ 550 606 11<br />

Commerzbank Mainz<br />

BLZ 550 400 22<br />

Foto: picture alliance<br />

Liebe Leserin,<br />

lieber Leser,<br />

das war ein guter Tag für die Opfer von <strong>Gewalt</strong> und Kriminalität:<br />

Sie stehen selten im Mittelpunkt, umso mehr Aufmerksamkeit<br />

fanden sie am Tag der 30-Jahr-Feier des WEISSEN<br />

RINGS in Berlin. Die Bundeskanzlerin persönlich machte<br />

Opfer und ihr Schicksal zum Thema: Sie hielt die Festansprache<br />

im Paul-Löbe-Haus des Deutschen Bundestages. Dr.<br />

Angela Merkel stellte klar heraus: „Opferschutz geht <strong>vor</strong> Täterschutz.“<br />

Die Bundeskanzlerin versicherte den Mitarbeiterinnen<br />

und Mitarbeitern: „Wir brauchen Menschen wie Sie. Und wir<br />

danken Ihnen herzlich für das, was Sie tun.“<br />

Opfer in den Mittelpunkt hatten auch die 15 Studentinnen und<br />

Studenten der Weimarer Bauhaus-Universität gestellt. Für die<br />

Ausstellung „Opfer“, die der WEISSE RING schon in über<br />

50 Städten gezeigt hat und die bis ins Jahr 2008 ausgebucht ist,<br />

bekamen sie und ihre Hochschullehrer den Ehrenpreis des<br />

WEISSEN RINGS. Ihr Engagement für die Sache der Opfer<br />

ist einfach preiswürdig.<br />

In diesem Sinne Ihre Redaktion<br />

seinem schwarzen Mantel und bis<br />

an die Zähne bewaffnet auf in die<br />

Schule, um wahllos um sich zu<br />

schießen.<br />

Schneller Zugriff<br />

Ehe er seinem Leben selbst ein<br />

Ende setzte, schoss der 18-Jährige<br />

eine Lehrerin an und verletzte<br />

zwei Schüler sowie den Hausmeister,<br />

der der Lehrerin zu Hilfe<br />

eilte, schwer. Die psychischen<br />

Folgen für Schüler und Lehrer<br />

sind noch völlig unabsehbar. Der<br />

WEISSE RING unterstützt die<br />

Opfer. Der Täter hatte nicht nur<br />

vier Gewehre dabei, die er offen-<br />

Alte Forderungen ohne Folgen<br />

sichtlich über das Internet erworben<br />

hatte, sondern auch ein gutes<br />

Dutzend selbstgebauter Rohrbomben<br />

im Rucksack, die er zum Teil<br />

im Gebäude versteckte. Die Einsatzkräfte<br />

der Polizei waren sehr<br />

schnell <strong>vor</strong> Ort und griffen ein.<br />

Ministerpräsident Jürgen Rüttgers<br />

erklärte: „Es hat sich bewährt,<br />

dass die Polizei in Nordrhein-<br />

Westfalen solche Situationen geübt<br />

hat, dass es ein spezielles Einsatzkonzept<br />

für solche Amokläufe<br />

in Schulen gibt.“ Was außerdem<br />

zu denken geben muss: Zum<br />

ersten Mal hatte ein Schulattentäter<br />

Sprengstoff dabei. j<br />

Aufgelebt ist nach dem Amoklauf in Emsdetten wieder einmal die<br />

Diskussion um Killerspiele, die immer dann – und nur dann – in der<br />

Politik geführt wird, wenn bekannt wird, dass ein Täter sich damit<br />

intensiv beschäftigt hatte.<br />

Neu aufgegriffen haben Experten die Forderung, mehr Schulpsychologen<br />

einzusetzen. In Deutschland kommt ein Schulpsychologe auf<br />

12.500 Schüler. In Skandinavien liegt das Verhältnis bei 1:1000. Im<br />

Vergleich der OECD-Staaten (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit<br />

und Entwicklung) liegt Deutschland damit <strong>vor</strong> Malta an <strong>vor</strong>letzter<br />

Stelle. Diese Forderung war auch nach dem Amoklauf in Erfurt<br />

erhoben worden. Sie wurde allerdings nicht umgesetzt. Andere teurere<br />

Präventionsmaßnahmen wie mehr Personal und kleinere Klassen<br />

blieben ebenfalls aus.<br />

WEISSER RING 1/07<br />

5

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