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Helmwart Hierdeis Über den „cultural lag“ universitärer Bildung ...

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beschließt voll Zorn, sich von ihm zu holen, was ihm vorenthalten wor<strong>den</strong> ist: „Wart“, sprach er,<br />

„das lass ich mir nicht gefallen. Find ich die rechten Leute, so soll mir der König noch die ganzen<br />

Schätze des Landes hergeben.“ Zu <strong>den</strong> „rechten Leuten“, die er findet, gehört einer, „der stand auf<br />

einem Bein und hatte das andere abgeschnallt und neben sich gelegt. Da sprach der Soldat: ‘Du<br />

hast dirs ja bequem gemacht zum Ausruhen!’ ‘Ich bin ein Laufer’, antwortete er, ‘und damit ich<br />

nicht gar zu schnell springe, habe ich mir das eine Bein abgeschnallt; wenn ich mit zwei Beinen<br />

laufe, so geht’s geschwinder, als ein Vogel fliegt.’“ Das gefällt dem Veteran, und er engagiert ihn<br />

auf der Stelle.<br />

Die Figur des „Laufers“ fiel mir bei der Lektüre von William F. Ogburn’s „Theorie des sozialen<br />

Wandels“ ein (8) . Die Kernthese des Soziologen läuft darauf hinaus, dass sich die Kulturbereiche<br />

der modernen Gesellschaft mit unterschiedlicher Geschwindigkeit entwickeln. Technologisches<br />

Wissen und Technik sind Elemente der „materiellen Kultur“. Sie schreiten, wie er glaubt als<br />

unabhängige Variablen, in einem hohen Tempo voran und wer<strong>den</strong> dadurch zu Schrittmachern des<br />

sozialen Wandels. Damit setzen sie die „nicht-materielle Kultur“, nämlich Institutionen, Werte<br />

und Ideen einem Anpassungsdruck aus. Es kommt zu einem Kulturgefälle, das Spannungen<br />

auslöst. Je<strong>den</strong>falls hinkt die immaterielle Kultur der materiellen nach. Dabei entstehen auf der<br />

immateriellen Seite noch einmal unterschiedliche Dynamiken, weil sich deren Bestandteile der<br />

materiellen Kultur nicht mit gleicher Geschwindigkeit anpassen.<br />

Auch wenn man Ogburn’s Einschätzung der materiellen Kultur als unabhängige Variable nicht<br />

teilt, wenn man sich darüber wundert, dass er die institutionalisierte <strong>Bildung</strong> nicht als<br />

Beschleunigungsmoment der Gesamtkultur und als Vermittlerin zwischen materieller und nichtmaterieller<br />

Kultur erkannt hat und wenn man die Trennung zwischen <strong>den</strong> bei<strong>den</strong> Kulturbereichen<br />

für unscharf hält, so bleibt doch seine Entdeckung unterschiedlicher Dynamiken in der Kultur<br />

aufrecht, desgleichen die These, dass es gerade die Bewertungen, Ideen, Legitimationen und<br />

Institutionen sind, die ein langsameres Wandlungstempo, also einen <strong>„cultural</strong> <strong>lag“</strong>, aufweisen als<br />

technisches Wissen und dessen Umsetzung.<br />

Unsere tägliche Erfahrung und unser Lebensgefühl bestätigen die beschriebene Diskrepanz: In der<br />

heutigen Welt laufen viele wissenschaftliche und technische Entwicklungen in einer derartigen<br />

Geschwindigkeit und Komplexität ab, dass wir sie nicht mehr verstehen, geschweige <strong>den</strong>n<br />

bewerten können, von einem angemessenen Handeln ihnen gegenüber gar nicht zu re<strong>den</strong> (siehe<br />

Kerntechnik, Gentechnik, Waffensysteme, Kommunikationstechnologien, Medizin,<br />

Pharmakologie usw.). Hinzu kommen soziale Veränderungen wie Interkulturalität, Strukturwandel<br />

der Familie, Globalisierung, <strong>Über</strong>alterung der Gesellschaft, Entstandardisierung der Berufsarbeit<br />

etc. (9) und schließlich offenkundige, vielfach diagnostizierte Änderungen im Bereich der Werte:<br />

deren Beliebigkeit, so heißt es, habe zugenommen; philosophische oder religiöse Legitimationen<br />

seien vielfach unbekannt oder wür<strong>den</strong> für unnötig gehalten; Bindungen an die Autorität von<br />

Personen, Institutionen oder an Werttraditionen seien obsolet gewor<strong>den</strong>; die Berufung auf zeit-<br />

und situationsübergreifende Prinzipien habe einer Orientierung an <strong>den</strong> Kriterien Nutzen,<br />

Funktionalität und subjektive Befriedigung Platz gemacht; der Gesellschaft gelinge es nur noch<br />

unzureichend, ihr Wertsystem in der psychischen Struktur der nachwachsen<strong>den</strong> Generation zu<br />

verankern (10) .<br />

Gleichgültig, wie man diese Wandlungsprozesse ihrerseits bewertet und worauf man sie<br />

zurückführt: sie irritieren und überfordern viele Mitmenschen, fördern Resignation, regressives<br />

Verhalten, Ohnmachtsgefühle, Mythenbildung, die Entstehung von Eschatologien, <strong>den</strong> Rückzug<br />

ins Private oder die Flucht mit Gleichgesinnten in esoterische Naherholungsgebiete. Es wirft ein<br />

bezeichnendes Licht auf die Art und Weise, wie die gegenwärtige Gesellschaft wahrgenommen<br />

wird, wenn bei einer aktuellen Pilotstudie zur Frage „In welcher Gesellschaft leben wir

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