21.07.2013 Aufrufe

Helmwart Hierdeis Über den „cultural lag“ universitärer Bildung ...

Helmwart Hierdeis Über den „cultural lag“ universitärer Bildung ...

Helmwart Hierdeis Über den „cultural lag“ universitärer Bildung ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

6<br />

Zugehörigkeit zur erforschten Welt übersehen, obwohl niemand von ihnen bestreiten würde, dass<br />

seine Subjektivität von <strong>den</strong> Bedingungen dieser Welt mit konstituiert wird. Um diese<br />

Abhängigkeit nicht methodisch verschwin<strong>den</strong> zu lassen, wäre es die Aufgabe der Forscher, die für<br />

wissenschaftlich gehaltene Distanzierung des Subjekts vom zu erforschen<strong>den</strong> Objekt aufzuheben,<br />

d.h. die jeweilige Sache und zugleich sich selbst als Momente jenes Zusammenhangs zu<br />

reflektieren, der beide gleichermaßen umfasst und ermöglicht. „Selbstreflexion“, wie Habermas<br />

diesen Vorgang unter Berufung auf Sigmund Freud und Theodor W. Adorno nannte, ist nicht nur<br />

ein methodisch angeleiteter wissenschaftlicher Erkenntnisprozess, sondern auch ein methodischer<br />

Prozess der Selbstbildung. Wer diesen Weg geht, hat einen doppelten Gewinn: Im Wissenserwerb<br />

über die Welt gehen die Erfahrungen und Deutungen der Lernen<strong>den</strong> nicht verloren, und im<br />

Prozess der Selbsterkenntnis können sie Aspekte ihrer Subjektivität im Allgemeinen<br />

wiedererkennen.<br />

Aber die Frage nach der <strong>Bildung</strong> als Selbstbildung lässt sich noch radikaler stellen. In dem, was<br />

wir landläufig als schulische <strong>Bildung</strong> bezeichnen, begegnen jene, die sich bil<strong>den</strong> sollen und<br />

wollen, der eigenen Person in der Regel nur über das Abstractum Mensch, Subjekt, Individuum,<br />

Mitglied der Gesellschaft etc. Warum? Weil die Lehrplanverantwortlichen der Ansicht sind, das<br />

Wissen, das junge Menschen über sich selbst gewinnen, sei im Sinne des Curriculums nicht<br />

ergiebig? Weil der Blick auf und in das Eigene <strong>den</strong> Blick auf die Sache trübt? Oder weil die<br />

Schule zur eigenen Sicherheit die Distanz zum Leben der Schüler braucht? Gleichgültig woher die<br />

Weigerung der Institution kommt und wie sie gerechtfertigt wird: Die <strong>Bildung</strong> des Selbst kommt<br />

ohne das Selbst als Gegenstand der <strong>Bildung</strong> nicht aus. „Es geht darum, das eigene Leben so in die<br />

Tiefe dringend zu verstehen, dass darin auch das Leben des anderen – und menschliches Leben<br />

überhaupt – erschlossen wird“ (34) . Dieses „sich selbst verstehen“ bezieht sich nicht nur auf die<br />

bewussten soziokulturellen und physischen Erfahrungen und die erinnerten Stationen der<br />

Lebensgeschichte, sondern auch auf die „Dunkelstellen“, d.h. auf die unbewussten Prozesse in <strong>den</strong><br />

Beziehungen, in <strong>den</strong>en ich gewor<strong>den</strong> bin und auf das Unbewusste in mir (35) .<br />

Ich hebe die vier Aspekte von <strong>Bildung</strong>, an <strong>den</strong>en mir liegt, noch einmal heraus:<br />

1. <strong>Bildung</strong> ist: auf die Welt vorbereitet wer<strong>den</strong> und sich auf die Welt vorbereiten. Das ist ein<br />

unbestrittener Aspekt. Die öffentlichen Debatten bis hin zur sog PISA-Studie (36) drehen sich<br />

eher darum, ob diese Aufgabe ernst genug genommen, ob sie dicht genug an der<br />

gesellschaftlich-kulturell-ökonomischen Entwicklung in Angriff genommen wird und ob die<br />

historische Kontinuität gewährleistet ist. Es gibt einen permanenten Vorwurf, v. a. von außen,<br />

die <strong>Bildung</strong>sinstitutionen leisteten in dieser Hinsicht nicht genug. Das ist einmal – siehe<br />

Ogburn – das Schicksal institutionalisierter <strong>Bildung</strong>, dass sie stets auf Vorgegebenes<br />

antworten muss, andererseits ihr immer auch zu korrigierendes Versäumnis.<br />

2. <strong>Bildung</strong> ist: durch organisierte Lernprozesse und persönliche Auseinandersetzung mit der Welt<br />

aufgeklärt, urteils- und handlungsfähig, sozial kompetent, emotional sensibilisiert zu wer<strong>den</strong>,<br />

im Sinne von Humboldts: das Angebot an Welt für die eigene umfassende Menschwerdung zu<br />

nützen. Das ist als Norm und Erwartung gleichfalls unbestritten. Wie aus Lernangeboten<br />

Selbstbildung wird, gilt meist als zweitrangig. Gelegentlich gewinnt man <strong>den</strong> Eindruck, das<br />

<strong>Bildung</strong>swesen halte diesen Effekt für selbstverständlich oder für eine Wirkung von Gebet und<br />

Fasten. Die Verantwortung scheint ausschließlich beim Lernen<strong>den</strong> zu liegen.<br />

3. <strong>Bildung</strong> ist: Hilfe zur Selbstreflexion und selbstreflexiver Umgang mit Erfahrungen und<br />

Informationen. In der didaktischen Literatur zwar sporadisch angesprochen, hat sich jedoch<br />

keine Lernkultur entwickelt, die subjektives Denken und Wissen mit allgemeinem,

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!