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ANNA – FREUD – (CULT)URE - Anna-Freud-Oberschule

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<strong>ANNA</strong> –<strong>FREUD</strong> – (Cult)ure©<br />

Nr.1/ 2006/2007 Mai/Mayo 2007<br />

HERAUSGEBER/EDITORIAL Frau Priebsch/Frau Maier sp47g/11b/11c/ u.a. Seite/Page/Pagina 16<br />

REZENSIONEN<br />

Die Leiden des jungen Werther<br />

Theaterrezension von Dorothea Maillard<br />

Es ist 20.00 Uhr im Theatersaal des Maxim Gorki Theaters<br />

in Berlin Mitte. Für ein Theater ist der Geräuschpegel sehr<br />

hoch. Viele Schulklassen, junge Leute haben an diesem<br />

Tag ihren Weg ins Maxim Gorki Theater gefunden, um<br />

sich Jan Bosses Inszenierung von Johann Wolfgang Goethes<br />

"Die Leiden des jungen Werther" anzuschauen, welches<br />

am 29. September 2006 Premiere feierte. Zwischen<br />

den vielen Schülern sind aber auch Lehrer, Rentner und<br />

die üblichen Theatergänger anzutreffen.<br />

Die weißen, karogemusterten Wände des Saales sind an<br />

diesem Abend auch Bestandteil des Bühnenbildes. Sie<br />

verschließen den eigentlichen Bühnenraum, so dass lediglich<br />

die Vorbühne bespielt wird.<br />

Auf und vor dieser Bühne ist Hans Löw, festes Ensemblemitglied<br />

am Thalia Theater Hamburg und Preisträger des<br />

Boy-Gobert-Preises, schon in Position gegangen. In weißer<br />

Hose und gleichfarbigen Hemd, die Hände immer wieder<br />

durch die Gelfrisur raufend, läuft der Werther Darsteller<br />

auf und ab und übt sich in verschiedenen Posen. Doch da<br />

das Saallicht noch brennt, fühlt sich keiner der Zuschauer<br />

dazu verpflichtet zur Ruhe zu kommen.<br />

Und so fängt Werther einfach an zu erzählen. Seine Worte<br />

sind jedoch nicht wie in Goethes Roman an seine Freund<br />

Wilhelm gerichtet, sondern an die Zuschauer, an jeden<br />

einzelnen. In einem wahren Worterguss kommt es aus ihm<br />

heraus: Wie er in eine neue Gegend gekommen ist und<br />

welch wunderbare Heiterkeit seine ganze Seele erfüllt und<br />

wie sehr er sich am Schauspiel der Natur erfreut und wie<br />

er neue Bekanntschaften macht und...und...und....<br />

Als er ins stocken gerät kommt ihm Lotte, gespielt von<br />

Fritzi Haberlandt, die unter anderem schon den Bayerischen<br />

Filmpreis erhielt, zu Hilfe. In schwarzen Stiefeln,<br />

weißer Röhrenjeans und sexy Shirt unterscheidet sie sich<br />

nicht sonderlich von den jugendlich Zuschauerinnen.<br />

Gemeinsam erzählen Lotte und Werther ihre Geschichte<br />

weiter, tanzen, kommen sich näher. Als Albert, gespielt<br />

von Roland Kukulies, ins Spiel kommt, verfällt Werther<br />

wieder in seinen Redefluss, offenbart dem Zuschauer seine<br />

Gefühle. Der etwas ungelenke Albert kann Werthers<br />

Selbstmitleid und Gejammer nicht ertragen. Er rastet aus,<br />

schreit, sagt Werther gründlich seine Meinung. Ein Schuss<br />

fällt, Hühnerblut fließt und der Zuschauer erkennt sich in<br />

einem überdimensionalen Spiegel auf der Bühne wieder.<br />

Zum Ende rennt Werther mit dem Kopf durch die weiße<br />

Bühnenwand und verschwindet dahinter.<br />

Die Inszenierung macht deutlich, wie tief Werthers innere<br />

Leere ist, wie glücklich er sich in<br />

Gegenwart Lottens schätzt, wie ihn sein freier Wille<br />

quält und in Todessehnsucht endet. Die Spannung steigt<br />

jedes Mal aufs Neue an, wenn der Werther Darsteller<br />

Hans Löw einen Schwall von Worten immer und immer<br />

schneller aus sich heraussprudeln lässt und dann irgendwann<br />

abbricht, still wird, um dann wiederum neu anzusetzen<br />

seine Gefühlslage zu offenbaren, aber nie zu einer<br />

Lösung seiner Probleme kommt.<br />

Im Gegensatz zum Roman zeigt Jan Bosses Inszenierung<br />

die direkten Reaktionen von Lotte und Albert auf Werthers<br />

Verhalten. So lernt der Zuschauer Werther in diesem<br />

Stück aus einer ganz neuen Perspektive kennen und<br />

verstehen. Werther stellt sich nicht selber dar, er wird<br />

dargestellt und wird durch Alberts heftige Reaktionen<br />

auf sein Selbstmitleidsgetue regelrecht vorgeführt, fast<br />

lächerlich gemacht.<br />

So macht sich bei denjenigen Besuchern des Stückes, die<br />

sich beim Lesen des Romans "Die Leiden des jungen<br />

Werthers" immer wieder gewünscht haben, den jungen<br />

Werther mal am Kragen zu packen und ihn ordentlich<br />

wach zu rütteln, nach dem Theaterbesuch ein Gefühl der<br />

Befriedigung breit.<br />

Und für diejenigen, die der Meinung sind den Werther<br />

noch nie verstanden zu haben, bietet das Stück die Möglichkeit<br />

ihn kennen und – wenigstens ein bisschen - verstehen<br />

zulernen. Denn Menschen wie Werther gab es<br />

nicht nur vor 200 Jahren, sondern es gibt sie noch heute<br />

und das Stück versteht es, den "Werther" und die Problematik<br />

eines Dreieckverhältnisses aus dem 18. Jahrhundert<br />

mit modernen Mitteln einem Publikum aus dem 21.<br />

Jahrhundert vorzustellen, ohne dass die Protagonisten<br />

oder die Zuschauer fehl am Platze wirken.<br />

Diejenigen, denen der Werther schon immer als ein Vertrauter<br />

und Seelenverwandter erschien, die sehen in dem<br />

Stück das bestätigt, was sie sowieso schon immer vom<br />

armen Werther wussten.

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