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Integration vor Ort - Europäischer Wettbewerb

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Europawettbewerb 2010<br />

2010 – Europäisches Jahr zur Bekämpfung von Armut<br />

C. W.<br />

und sozialer Ausgrenzung<br />

Thema 3-1 Fremd in Europa<br />

Altersgruppe: 14 bis 16 Jahre (8. bis 10. Klasse)<br />

Podiumsdiskussion zum Thema<br />

Marienschule Fulda<br />

„<strong>Integration</strong> <strong>vor</strong> <strong>Ort</strong>“


Vorbemerkung<br />

Podiumsdiskussion zum Thema „<strong>Integration</strong> <strong>vor</strong> <strong>Ort</strong>“<br />

<strong>Integration</strong> ist ein vielschichtiger Aufgabenbereich, der auf unterschiedlichen gesellschaftlichen<br />

und politischen Ebenen Engangement und Kreativität erfordert. Weder kann der einzelne Bürger<br />

in seinem begrenzten Einflussbereich die komplexe Problematik von Zuwanderung und Integra-<br />

tion lösen, noch kann die Politik allein durch gezielte Regelungen Entscheidendes bewirken –<br />

wenn die Akzeptanz innerhalb der Bevölkerung nicht <strong>vor</strong>handen ist. Aus diesem Grund wähle<br />

ich für die Bearbeitung der Thematik die Form der Podiumsdiskussion. Vertreter verschiedener<br />

Institutuonen oder gesellschaftlicher Gruppierungen können an einer Art „rundem Tisch“ über<br />

neue Perspektiven in der <strong>Integration</strong>spolitik diskutieren und auf diese Weise auch konkrete Um-<br />

setzungsmöglichkeiten entwickeln. <strong>Integration</strong> nämlich ist ein Thema, das alle angeht, und eine<br />

Aufgae, die zwar auf theoretische Argumente angewiesen ist, aber ohne praktische Verwirkli-<br />

chung eine leere Floskel bleibt.<br />

<strong>Ort</strong> der Veranstaltung 1<br />

St. Toleranzien, Kleinstadt im südlichen Teil Baden-Württembergs 2 , ländlicher Raum<br />

Einwohnerzahl: 25.000, relativ geringe Arbeitslosenquote,<br />

der Anteil an Migranten beträgt ca. 5 Prozent;<br />

Bürgermeister: Dr. Markus Mühe<br />

Gesprächsteilnehmer<br />

Kommunalpolitiker mit dem Aufgabenschwerpunkt „Migration und <strong>Integration</strong>“<br />

(Herr Rechner)<br />

Leiterin der örtlichen Grund- und Hauptschule (Frau Sanft)<br />

Mitglied des Ausländerbeirates (Herr Gülzan)<br />

Ehrenamtliche Mitarbeiterin des Jugendzentrums (Frau Jung)<br />

Bürgerinnen und Bürger von St. Toleranzien<br />

Die Leitung der Diskussion übernimmt Herr Helmut Überblick.<br />

1 http://www.migration-info.de/mub_artikel.php?id=080407<br />

2 http://www.statistik.baden-wuerttemberg.de/Veroeffentl/Statistik_AKTUELL/803409002.pdf<br />

1


Herr Überblick:<br />

Guten Abend, sehr geehrte Damen und Herren! Ich begrüße Sie herzlich zur heutigen Podiums-<br />

diskussion zum Thema „<strong>Integration</strong> <strong>vor</strong> <strong>Ort</strong>“. Seit einiger Zeit ist, wie Sie alle wissen, das The-<br />

ma Migration in den Medien und insgesamt in der Öffentlichkeit ständig präsent. Auch hier <strong>vor</strong><br />

<strong>Ort</strong>, in unserer Kleinstadt St. Toleranzien, werden wir immer häufiger mit Menschen konfron-<br />

tiert, deren Wurzeln in einer fremden Kultur liegen. Wenn wir uns die Berichterstattung in den<br />

Medien anschauen, können wir meinen, Migration habe ausschließlich negative Konsequenzen.<br />

Auch in unserer Tageszeitung, dem „Stadtboten“, lesen wir beispielsweise öfter von kriminellen<br />

Taten, an denen junge Migranten beteiligt waren, oder von aktuellen Streitfragen wie derjenigen<br />

nach dem Bau der neuen Moschee in der Deutschhaussstraße. Aber ist das nicht eine sehr ein-<br />

seitige Sichtweise? Sind wir nicht alle verantwortlich dafür, dass die ausländischen Mitbrüger<br />

hier bei uns Fuß fassen und sich zuhause fühlen? Was können wir dafür tun? Darum soll es am<br />

heutigen Abend gehen, und ich bitte jetzt die Gesprächsteilnehmer um ihre Statements! Den<br />

Anfang möge bitte Herr Rechner machen, der uns im Rahmen seiner Aufgabe als Kommunalpo-<br />

litiker die nötigen Hintergrunddaten für eine fachlich kompetente Diskussion liefern kann.<br />

Herr Rechner:<br />

Guten Abend! Unsere Stadt St. Toleranzien liegt, wie allseits bekannt, im Bundesland Baden-<br />

Württemberg, das mit 24,8% den höchsten Bevölkerungsanteil an Personen mit Migrationshin-<br />

tergrund hat. Auch wenn wir als Kleinstadt davon weniger betroffen sind als etwas die indus-<br />

triellen Ballungsräume Stuttgart, Mannheim und Heilbronn, erhöhen sich auch bei uns die Quo-<br />

ten an den genannten Personengruppen. Wir sind in unserer Fachgruppe gerade damit beschäf-<br />

tigt, auf diese neue Situation zu reagieren und ein Konzept zu entwicklen, das <strong>Integration</strong> als<br />

gesamtstädtische und ressortübergreifende Aufgabe versteht. Deshalb sind wir auf Sie alle an-<br />

gewiesen: Auf die Sozialarbeiter im Jugendzentrum, auf die Lehrer der Schulen, auf Sie als<br />

Bürgerinnen und Bürger der Stadt. Wir müssen auf allen Ebenen ansetzen: In den Bereichen<br />

Bildung und Sprache, im Bereich Arbeit und Beschäftigung, im Bereich der Beratung und Be-<br />

teiligung. Wir als Politiker sehen dies alles nicht primär durch die rosarote Brille reiner Mit-<br />

menschlichkeit, denn unsere ausländischen Mitmenschen brauchen nicht nur unsere Hilfe. Wir<br />

brauchen nämlich auch diese Mitbürger dringend, um unsere lokale Wirtschaft aufrechtzuerhal-<br />

ten. Der starke Geburtenrückgang wird uns in den nächsten Jahrzehnten unmittelbar betreffen<br />

und es wird ein massiver Arbeitskräftemangel entstehen, den wir nur durch gelingende Integra-<br />

tion bremsen können. Daher machen wir uns dafür stark, dass unsere ansässigen Firmen gerade<br />

auch Jugendlichen mit Migrationshintergrund Ausbildungsplätze anbieten, und fördern dies be-<br />

2


sonders durch entsprechende Prämien und Begleitangebote. Aber auch wir selbst gehen mit gu-<br />

tem Beispiel <strong>vor</strong>an: In unserer Verwaltung weden mittlerweile mehrere Auszubildende mit ganz<br />

unterschiedlichen kulturellen Hintergründen beschäftigt. Aber auch unser übriges Personal wid<br />

seit einiger Zeit durch Fortbildungen im Bereich interkultureller Kommunikation geschult, so<br />

dass wir als Gemeinde sensibel mit den Bedürfnissen und Schwierigkeiten unserer Mitbürger,<br />

ob deutsch oder mit Migrationshintergrund, umgehen können. Durch diese heterogene Zusam-<br />

mensetzung unserer Verwaltung bauen wir aktiv Barrieren abe, auch bei den hiesigen Unter-<br />

nehmern, die bei uns sehen, dass Vielfalt eher bereichert als bremst. Herr Gülzan, ich frage Sie<br />

als Mitglied des städtischen Ausländerbeirates, sind Sie zufrieden mit unserem kommunalpoliti-<br />

schen Engagement?<br />

Herr Gülzan:<br />

Sie gehen in Ihrem Aufgabenbereich mit gutem Beispiel <strong>vor</strong>an. Allerdings sehen wir im Bereich<br />

der politischen Arbeit durchaus noch Nachholbedarf, bis eine Gleichstellung der nichtdeutschen<br />

Mitbürger erreicht ist. Wir sehen es beispielsweise als ein enormes Defizit an, dass nach wie <strong>vor</strong><br />

in unserer Stadt, so wie leider fast überall in der Bundesrepublik, das kommunale Wahlrecht<br />

nicht für alle unsere Einwohner gilt. Migranten aus den sogenannten Nicht-EU-Ländern, etwa<br />

aus der Türkei, aus Afrika oder dem Iran, müssen bei uns zwar Steuern zahlen, aber sie dürfen<br />

nicht bei der Wahl, die ja auch bei uns bald wieder ansteht, mitentscheiden, wofür wir als Ge-<br />

meinde diese Steuern ausgeben! Das müssen wir dringend ändern, auf Deutschlandebene! Ab-<br />

gesehen davon lautet unser Vorschlag, eine kommunale Antidiskriminierungsbehörde ins Leben<br />

zu rufen. Durch vielfältige Kontakte zu Mitbürgern mit Migrationshintergrund und auch durch<br />

eigene Erfahrungen weiß ich, dass auch heute noch Fälle von Diskriminierung in unserer Stadt<br />

<strong>vor</strong>kommen, auch wenn unsere Bemühungen um Toleranz und gegenseitige Wertschätzung<br />

Früchte tragen. Es sind dabei nicht immer nur die extremen Vorfälle, wie der gewalttätige Über-<br />

griff alkoholisierter Jugendlicher auf einen iranischen Familienvater <strong>vor</strong> einigen Wochen. Auch<br />

durch Ignorieren oder abschätzige Blicke, durch Benachteiligung bei der Jobsuche oder bei der<br />

Vermietung von Wohnungen werden mitunter Barrieren von Fremdheit und Misstrauen ge-<br />

schaffen, die ein Zusammenleben erschweren. Eine zentrale Behörde als Anlaufstelle für betrof-<br />

fene Migranten könnte solche Fälle objektiv prüfen und Möglichkeiten zur Vermittlung und<br />

verbesserten Kommunikation zwischen Einheimischen und zugewanderten suchen. Eventuell<br />

könnten auch professionelle und inerkultrurell versierte Mediatoren hier Hilfe leisten. Wir müs-<br />

sen beide Seiten für die Schwierigkeiten und möglicherweise <strong>vor</strong>handenen Ängste des Gegen-<br />

übers sensibilisieren. Wichtig ist dabei, dass wir unsere Mitbürger mit Migrationshintergrund<br />

3


selber zu Wort kommen lassen und nicht etwa über ihre Köpfe hinweg „<strong>Integration</strong>spolitik“<br />

betreiben. Mein Vorschlag wäre daher, verschiedene Evaluationsmöglichkeiten auszuprobieren,<br />

die uns wichtige Informationen über den Stand der <strong>Integration</strong> der Zuwanderer aller Generatio-<br />

nen liefern können. Fragen wir unsere nichtdeutschen Mitbürger doch einfach selbst: Wie geht<br />

es ihnen in unserer Stadt, fühlen sie sich wohl, wo sehen sie Verbesserungsbedarf, welche Ideen<br />

haben sie für ein gelingendes Zusammenleben? Wir könnten zum Beispiel Fragebögen entwi-<br />

ckeln, die die Bürger mit Migrationshintergrund anonym ausfüllen und bei uns abgeben können.<br />

Ganz wichtig ist natürlich auch ein breiteres Angebot an <strong>Integration</strong>s- und Sprachkursen, denn<br />

Sprache ist der Zugangsschlüssel zur Teilnahme am Gemeindeleben. Ohne den Abbau von<br />

Sprach- und Verständigungsschwierigkeiten bleiben alle übrigen integrativen Bemühungen wir-<br />

kungslos: Sprache und <strong>Integration</strong> gehören untrennbar zusammen. Ganz wichtig ist daher die<br />

Arbeit der Kindergärten und Schulen, denn hier wird schon in jungen Jahren der Grundstein für<br />

gelingende <strong>Integration</strong> gelegt. Ich freue mich nun auf den Beitrag der Grund- und Hauptschul-<br />

rektorin Frau Sanft, die uns aus ihrer täglichen schulischen Arbeit heraus innovative Vorschläge<br />

zur verbesserten <strong>Integration</strong> unterbreiten wird!<br />

Frau Sanft:<br />

Herzlichen Dank für diese freundliche Anmoderation, Herr Gülzan! Tatsächlich sehen wir uns<br />

in der Grund- und Hauptschule St. Toleranzien seit einigen Jahren neuen herausforderunge ge-<br />

genübergestellt. Wir haben mittlerweile in allen Jahrgangsstufen Schülerinnen und Schüler, die<br />

einen Migrationshintergrund haben, wobei ganz verschiedene Kulturkreise und Religionen auf-<br />

einandertreffen. Viele dieser Kinder sind in der deutschen Sprache nicht gefestigt, sondern ha-<br />

ben relativ geringe deutsche Sprachkenntnisse, da zuhause die jeweilige Muttersprache gespro-<br />

chen wird. Andererseits wissen wir durch wissenschaftliche Untersuchungen, dass es ein gravie-<br />

render Fehler wäre, der Muttersprache keinen Raum in der Schule einzuräumen und ausschließ-<br />

lich auf die Vermittlung der deutschen Sprache zu setzen. Wir signalisieren damit nicht nur<br />

mehr oder weniger, dass wir die Muttersprache der Kinder als eine Art Hindernis für das<br />

Deutschlernen sehen, sondern auch ein relativ geringes Maß an Respekt und Wertschätzung ge-<br />

genüber nichtdeutschen Kulturen. In unseren pädagogischen Konferenzen haben wir daher be-<br />

schlossen, unbedingt auch muttersprachlichen Unterricht anzubieten. Momentan laufen bei uns<br />

jahrgangsübergreifende Kurse in Türkisch, Italienisch und Russisch und werden gut angenom-<br />

men. Problematisch ist weiterhin auch, dass ein im Vergleich zu deutschen Jugendlichen relativ<br />

geringer Prozentsatz den Übertritt zu Gymnasium und Realschule schafft. In unseren Haupt-<br />

schulklassen sind daher überproportional viele Jugendliche mit Migrationshintergrund, und lei-<br />

4


der verlassen einige von ihnen unsere Schule ohne einen Abschluss. Darauf müssen wir reagie-<br />

ren, indem wir sowohl außerschulische Faktoren (die etwas mit der sozialen Herkunft und dem<br />

Bildungsstatus der Eltern zusammenhängen) als auch die in unserem Schulsystem selber veran-<br />

kerten Schwachstellen berücksichtigen. Bekannt ist uns allen, dass wir ein stark selektives<br />

Schulsystem haben, das die Kinder viel zu früh in unterschiedliche Schulformen aufteilt. So ha-<br />

ben die Kinder mit Migrationshintergrund häufig gar nicht die Chance, sprachliche Defizite<br />

rechtzeitig zum Übertritt aufzuarbeiten. Nachdem ein Großteil ihrer deutschen Mitschüler dann<br />

die Grundschule in Richtung Realschule und Gymnasium verlässt, wird ein gegenseitiges Ler-<br />

nen und Verständigen schon im Ansatz blockiert. Und es ist nichts demotivierender als die Aus-<br />

sicht, nach dem Hauptschulabschluss ohne Ausbildungsplatz dazustehen. Viele unserer älteren<br />

Schülerinnen und Schüler sehen sich als Verlierer des Bildungssystems und sind schon mit<br />

fünfzehn Jahren frustriert und mutlos. Wir haben es uns daher zur <strong>vor</strong>rangigen Aufgabe ge-<br />

macht, diese Schüler durch spezielle Begleitangebote in Ausbildungsgänge zu vermitteln. Dazu<br />

kooperieren wir mit Betrieben unserer Region, die uns ein umfangreiches Angebot an Prakti-<br />

kumsstellen zur Verfügung stellen und bereit sind, die Migrationsjugendlichen ihre Talente und<br />

Fähigkeiten ausprobieren und entdecken zu lassen. Wichtig ist es aus unserer Perspektive her-<br />

aus, den Jugendlichen ein Netz an Unterstützung und Beratung anzubieten, das von verschiede-<br />

nen Beteiligten getragen wird. Eine bedeutende Rolle spielen dabei auch die Eltern. Viele Eltern<br />

nichtdeutscher Herkunft haben große Hemmungen, sich aktiv an der Schullaufbahnplanung ih-<br />

rer Kinder zu beteiligen oder die Lehrer um Rat zu fragen. Seit kurzem setzen wir schon bei der<br />

Anmeldung der Kinder an, indem wir ein Anmeldungsgespräch mit den Eltern und dem Kind<br />

führen. Dabei erklären wir, wie unser Schulsystem aufgebaut ist, was auf das Kind zukommt,<br />

wie unsere pädagogische Arbeit aussieht und wie die Eltern ihr Kind unterstützen können. Wir<br />

bemühen uns dabei auch, bei eventuellen Sprachschwierigkeiten einen Dolmetscher zur Verfü-<br />

gung zu haben, etwa einen Verwandten oder einen unserer Schüler mit guten Deutschkenntnis-<br />

sen. Auf speziellen Elternabenden versuchen wir gezielt, den jeweiligen kultuellen Hintergrund,<br />

die Erfahrungen und auch offene Fragen zum deutschen Schulsystem anzusprechen und konkre-<br />

te Vorschläge für ein gemeinsames Deutschlernen im Rahmen der Familie zu machen. Wir ver-<br />

leihen daher auch deutsche Kinderbücher und kindgerechte DVDs und CDs mit deutschsprachi-<br />

gen Liedern und Märchen, die die Familien zuhause anschauen und anhören können. Aber wir<br />

veranstalten auch regelmäßig Vorleserunden, in denen wir etwa die türkischsprachigen Elern in<br />

den Unterricht einladen und sie selber ausgewählte Texte in ihrer Herkunftssprache <strong>vor</strong>stellen<br />

und <strong>vor</strong>lesen lassen. Es ist immer ein Gewinn, junge Menschen, ob deutsch oder nichtdeutsch,<br />

für Sprachen, aber auch für „Fremdheit“ und „Nichtverstehen“ zu sensibilisieren, nie ein Ver-<br />

5


lust! Für die Zukunft wünschen wir uns, dass mehr junge Menschen mit Migrationshintergrund<br />

den Lehrerberuf ergreifen. Das liegt natürlich nicht allein in unserer Hand, hier ist unsere Lan-<br />

desregierung gefordert, um durch gezielte Werbekampagnen deutlich zu machen: Wir brauchen<br />

Lehrer, die die Erfahrung gemacht haben, zwischen zwei Kulturen und Sprachen zu leben, die<br />

als Vorbilder für gelingende <strong>Integration</strong> unseren Migrationsjugendlichen Mut machen können! 3<br />

Frau Jung, Sie sind als Mitarbeiterin des Jugendzentrums ganz nah dran an den Lebensverhält-<br />

nissen der nichtdeutschen Jugendlichen! Was können Sie in Ihrem Bereich dazu beitragen, den<br />

Jugendlichen den Einstieg in unsere Gesellschaft zu erleichtern?<br />

Frau Jung:<br />

Wir haben in unserem Jugendzentrum „Brücke“ die einmalige Gelegenheit, ganz unverbindlich<br />

und ohne institutionelle Zwänge mit „unseren“ Jugendlichen in Kontakt und ins Gespräch zu<br />

kommen. Dabei verstehen wir uns als ein Angebot an alle Kinder und Jugendliche, die Freizeit-<br />

beschäftigung und Spaß, aber auch Beratung und Unterstützung in ihrem Alltag oder bei famili-<br />

ären Problemen suchen. Wichtig ist es für uns, die Jugendlichen mit ganz unterschiedlicher kul-<br />

tureller Herkunft miteinander in Kontakt kommen zu lassen und es zu verhindern, dass sich so-<br />

zusagen „nationale“ Grüppchen bilden. Leichter als durch das Gespräch funktioniert das häufig<br />

durch gemeinsames Tun: Besonders unsere gemeinsamen Kochaktionen unter dem Stichwort<br />

„Essen rund um die Welt“ kommen bei den Jugendlichen gut an. Sie alle können ihre eigenen<br />

Lieblingsgerichte und damit auch ein Stück ihrer eigenen „Vergangenheit“ einbringen. Häufig<br />

erreichen wir damit auch die Eltern, besonders auch die Mütter, die uns ganz stolz ihre „Spezi-<br />

algerichte“ präsentieren: etwa eine türkische „Kuru Fasülye“, eine Bohnensuppe, ode russische<br />

Teigtaschen. Aer es geht uns nicht nur darum, immer die Unterschiede zwischen den Jugendli-<br />

chen zu betonen. Wir suchen immer auch nach gemeinsamen Zielen und Interessen. Ganz be-<br />

sonders gut funktioniert das beim gemeinsamen Sporttreiben. Die Jugenldichen lernen dabei<br />

ganz nebenbei Solidarität und gegenseitiges Rücksichtnehmen, Teamgeist und Fairplay. Nur so<br />

funktionieren unsere sportlichen Spiele schließlich und nur so funktioniert unser Zusammenle-<br />

ben in der Gesellschaft. Wir sind als Jugendzentrum quasi eine „Gesellschaft im Kleinen“ und<br />

daher bemühen wir uns auch, zusammen mit den Jugendlichen, ob deutsch oder nichtdeutsch,<br />

für alle akzeptable, dann aber auch wirklich verbindliche Regeln und Prinzipien festzulegen. Es<br />

gilt: Kein Alkohol, keine Gewalt, keine Drogen, keine Respektlosigkeit im gegenseitigen Um-<br />

gang. Das funktioniert auch ganz gut. Außerdem haben wir eine Reihe ehrenamtlicher Mitarbei-<br />

ter, die den Kindern und Jugendlichen nachmittags bei ihren Hausaufgaben helfen können und<br />

3 Vgl. http://www.spiegel.de/schulspiegel/0,1518,409577,00.html<br />

6


ihnen so einen Weg zeigen, wie sie – trotz häufig nicht <strong>vor</strong>handener Unterstützung durch die<br />

Eltern – den Schulalltag meistern können. Ich wende mich an dieser Stelle auch an die hier ver-<br />

sammelten Bürger und bitte Sie, uns in unserer Arbeit zu unterstützen: durch Geldspenden für<br />

Schulmaterial und Sportgeräte, aber auch durch praktische Mitarbeit!<br />

Herr Überblick:<br />

Und mit diesem Appell von Frau Jung lade ich jetzt die hier versammelten Bürgerinnen und<br />

Bürger ganz herzlich dazu ein, ihre eigenen Ideen, ihre Kritik und ihre Vorschläge zum Thema<br />

„<strong>Integration</strong> <strong>vor</strong> <strong>Ort</strong>“ einzubringen! Trauen Sie sich! Wir brauchen Ihre Kreativität!<br />

Bürger Herr P.:<br />

Es hört sich ja recht gut an, was Sie hier alles <strong>vor</strong>schlagen… Aber haben wir denn überhaupt die<br />

finanziellen Mittel dazu? Das Vereinshaus des Schützenvereins braucht dringend ein neues<br />

Dach, der Rathausplatz muss neu gepflastert werden… ja, das ganze Rathaus hätte dringend<br />

eine Renovierung nötig. Und dann sollen wir noch Geld ausgeben für irgendwelche Multi-Kulti-<br />

Kurse für die Verwaltungsbeamten in unserer Stadtverwaltung…? Nur weil die Ausländer keine<br />

Lust dazu haben, selbst ordentlich Deutsch zu lernen und sich hier zurechtzufinden? Irgendwie<br />

sehe ich das nicht ein.<br />

Bürgerin Frau D.:<br />

Lieber Herr P., ich glaube, Sie bauen mit Ihrer Argumentation gerade mehr Schranken auf als<br />

sie unserer Gemeinde gut tun. Unsere ausländischen Mitbürger sind doch kein eigenes „An-<br />

hängsel“ unserer Gemeinde, sondern sie sind ein wichtiger Teil von ihr. Deshalb halte ich es<br />

durchaus nicht für eine Fehlinvestition, für <strong>Integration</strong>smaßnahmen Geld auszugeben. Herr<br />

Rechner hat in seinem Statement doch schon auf die Bedeutung hingewiesen, die gut ausgebil-<br />

dete junge Migranten für unsere Wirtschaft haben. Außerdem möchte ich, dass meine Kinder<br />

auch in Zukunft sicher durch St. Toleranziens Straßen laufen können, ohne den von uns mitver-<br />

ursachten Aggressionen un dem Frust dieser Jugendlichen zum Opfer zu fallen. Wie sollen sich<br />

unsere nichtdeutschen Gemeindemitglieder denn hier wohlfühlen, wenn wir immer neue Barrie-<br />

ren aufbauen, schon in unseren Worten?<br />

Bürger Herr W.:<br />

Ich vermute, dass hier <strong>vor</strong> allem Berührungsängste ein bedeutende, vielleicht aber auch unbe-<br />

wusste Rolle spielen. Wir sind in St. Toleranzien relativ spät mit ausländischen Mitbürgern kon-<br />

7


frontiert worden. Die ersten Gastarbeiter, die <strong>vor</strong> Jahrzehnten in unser Land gekommen sind,<br />

waren in Siedlungen außerhalb der Stadt untergebracht, und alle gingen davon aus, dass dies<br />

ohnehin nur ein <strong>vor</strong>übergehender Zustand sei und sie bald in ihre Heimatländer zurückkehren<br />

würden. Wir haben lange die Augen da<strong>vor</strong> verschlossen, dass wir selbst mit anpacken müssen,<br />

um die Kulturen miteinander in Kontakt zu bringen und für gegenseitigen Respekt zu sorgen.<br />

Meine Frage an meine Mitbürger: Haben Sie denn Ideen, was wir dafür in Zukunft konkret tun<br />

können?<br />

Bürgerin Frau O.:<br />

Wir müssen bei unseren Kindern schon anfangen! Das halte ich für ganz wichtig… denn wo erst<br />

gar keine Berührungsängste entstehen, müssen wir später keine Barrieren abbauen. Es klingt<br />

vielleicht naiv, aber ich habe drei kleine Töchter und spreche da aus unmittelbarer Erfahrung.<br />

Meine Kleinen spielen sehr gerne mit Puppen, und da wir ja unsere Spielzeugfabrik Kinder-<br />

mann hier direkt <strong>vor</strong> <strong>Ort</strong> haben, kaufe ich die Puppen direkt im Werksverkauf. Vielleicht wäre<br />

es eine Idee, wenn solche Spielzeughersteller Puppen nicht so standardisiert, sondern mit ganz<br />

unterschiedlichem Aussehen und vielleicht auch entsprechender Kleidung herstellen würden.<br />

Ein türkisches Puppenbaby, eine kleine Chinesin, ein italienischer Puppenjunge… Dann lernen<br />

unsere Kinder quasi nebenbei, dass Menschen ganz unterschiedlich sind… und was einem ver-<br />

traut ist, das macht keine Angst. Ich denke, die Zurückhaltung gegenüber fremden Kulturen hat<br />

ihre Wurzeln häufig in der Angst <strong>vor</strong> dem „Anderen“. Ich werde nächste Woche mal bei der<br />

Firma Kindermann anfragen, was die Verantwortlichen von meiner Idee halten.<br />

Herr Rechner:<br />

Frau O., das ist eine her<strong>vor</strong>ragende Idee! Mir ist da auch gerade noch ein Einfall gekommen…<br />

Herr P. hatte doch eben von der dringend nötigen Sanierung und Neugestaltung des Rathaus-<br />

platzes gesprochen. Ich denke auch, dass dies dringend nötig ist. Und wenn wir das schon ma-<br />

chen, dann wäre es doch her<strong>vor</strong>ragend, wenn wir schon in die Gestaltung unsere Mitbürger mit<br />

Migrationshintergrund einbeziehen. Wollen wir nicht die Begrüßung „Willkommen in der Stadt<br />

St. Toleranzien“, die bis jetzt ausschließlich auf Deutsch auf den Platz gepflastert ist, auch in<br />

den Muttersprachen aller hier lebenden Bürger anbringen? Rumänisch, Türkisch, Polnisch, Rus-<br />

sisch, Mazedonisch… ein Rathausplatz voller Sprachen und voller Leben!<br />

Herr Überblick (lächelnd):<br />

Herr Rechner, Sie geraten ja richtig ins Schwärmen. So etwas kennt man ja gar nicht von Ihnen!<br />

8


Aber was halten die anderen hier versammelten Bürger davon?<br />

Bürgerin Frau S.:<br />

Eine grandiose Idee! Und zur Einweihung des neuen Rathausplatzes feiern wir dann ein tolles<br />

<strong>Integration</strong>sfest! Vielleicht hätte Frau Jung ja auch Ideen, wie sie mit ihren Jugendlichen im Ju-<br />

gendzentrum dazu beitragen könnte. Theaterstücke, Literaturlesungen, Sketche, Malaktionen…<br />

Frau Sanft:<br />

Also, ich hätte da auch sehr viele Ideen, wie wir vonseiten unserer Schule dazu Beitäge liefern<br />

könnten! Wir werden die diesjährigen Projekttage dazu nutzen, jahrgangsübergreifende Aktio-<br />

nen und Projekte zu entwickeln und umzusetzen. Die Ergebnisse werden wir dann auf dem In-<br />

tegrationsfest <strong>vor</strong>stellen, das ist schließlich eine zusätzliche Motivation für unsere Schülerinnen<br />

und Schüler!<br />

Herr Gülzan:<br />

Liebe St. Toleranzier! Sie beeindrucken mich! Wir haben heute Abend unglaublich viele gute<br />

Ideen zusammengetragen. Herr Überblick wird das alles dann in der nächsten Ausgabe des<br />

„Stadtboten“ in Stichpunkten zusammenfassen, hat er mir gerade mitgeteilt. Denn Worten müs-<br />

sen Taten folgen! Und ich schlage <strong>vor</strong>, dass wir ab jetzt jedes Jahr einen Abend wie den heuti-<br />

gen veranstalten, um zu schauen, welche unserer Ziele wir umgesetzt haben und wo es noch<br />

etwas zu verbessern gibt! Un dann werden wir auch frühzeitiger und gezielter unsere nichtdeut-<br />

schen Mitbürgerinnen und Mitbürger informieren und einladen. Sie sicn nämlich leider auch<br />

heute Abend auf dieser Veranstaltung deutlich unterrepräsentiert…<br />

Herr Überblick:<br />

In diesem Sinne danke ich nun allen Zuhörerinnen und Zuhörern, aber auch allen, die hier aktiv<br />

mitgewirkt haben, für Ihre Aufmerksamkeit und Ihr Engagement. „<strong>Integration</strong> <strong>vor</strong> <strong>Ort</strong>“ war das<br />

Leitmotiv dieser Diskussion. Lassen wir also unseren Worten Taten folgen, wei Herr Gülzan<br />

eben so treffend gesagt hat! Auf Wiedersehen!<br />

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