August/September - Experimenta.de

eXperimenta
aUgUst / sePTember 2008
Monatsmagazin des INstituts für KreAtives Schreiben, Bad Kreuznach/Bingen
Inhalt dieser Ausgabe
Impression................................................... 2
Die Kunst .................................................... 3
Peter Heinrichs: Lyrikwerkstatt ...................... 3
Anja Wedershoven: Blütenküsse ................... 5
Artur Lundkvist: Lebe wie Gras ................... 10
Sophie Mereau: Schwärmerey ................... 13
Susanne Speicher: Hommage an das Leben.. 14
Der Betrieb................................................ 21
Experimentelles Schreiben in der Gruppe..... 21
Auf das Wesentliche reduziert ................... 23
Die Welt des Kreativen Schreibens ................ 26
Moderne Lyrik ......................................... 26
Im Hier und Jetzt ..................................... 33
Das Institut ................................................ 34
Ich habe gerochen, geschmeckt, gespürt...... 34
Der Wegweiser .......................................... 40
Kurzgeschichten gesucht ........................... 40
Carla Capellmann: fern ............................ 41
Carla Capellmann: fern (es) sehen.............. 42
Was ich gerade lese ................................ 43
Allfälliges............................................... 44
Die Redaktion ............................................ 50
Neuer Redakteur ..................................... 50
Impressum .............................................. 50
Editorial
Liebe Leserinnen und
Leser,
die bewusste Benutzung
von Worten
bereichere unser
Leben, davon ist der
Glücksforscher Milhaly
Csikszentmihalyi
überzeugt. Die traditionelle
Form des
Erzählens, das „gesprochene
Wort“, hat
einen besonderen
Unterhaltungswert
und hebt das Wohl-
(Fortsetzung Seite 2)
eXperimenta 08 & 09/2008 Www.Experimenta.De 14. August 2008

efinden. Die verbale Kommunikation, bei der interaktiv Worte sich zu wertvollen
Informationen verdichten, ist im Grunde genommen Hauptzweck einer
Unterhaltung.
Schreiben befreit die Seele. Diese Metapher formuliert für viele Menschen, die
sich dem kreativen Schreiben widmen, eine Möglichkeit, verkrustete Erinnerungen
zu visualisieren, um Gefühlen freien Lauf zu lassen, sie ins „Fließen“
zu bringen. Flow beim Schreiben – Flow mit Worten.
„Dichtung ist eine der besten kreativen Nutzungen von Sprache. Da Verse dem
Verstand ermöglichen, Erfahrungen in kondensierter Form zu bewahren, sind
sie ideal, um das Bewusstsein zu formen.“ So nachzulesen bei Csikszentmihalyi,
dem Chicagoer Psychologieprofessor. Schreiben ist also ein Ausdruck
ursprünglicher Kreativität. Konzentration auf innere Schichten der Seele kann
autobiografische Momente wieder beleben, damit sie in einem schöpferischen
Prozess geordnet werden.
Menschen, die sich dem Creative Writing zuwenden, berichten immer wieder
davon, wie gut es ihnen tut, wenn sie sich etwas „von der Seele geschrieben“
haben. Schreiben dient also nicht nur dazu, etwas los zu werden, sondern
verhilft auch zum Gefühl, etwas getan zu haben, was das Wohlbefinden
stärkt.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen viel Spaß beim Schreiben!
Ihr Rüdiger Heins
Impression
© Rüdiger Heins 2008
eXperimenta 08 & 09/2008 Www.Experimenta.De 14. August 2008

Die Kunst
Peter Heinrichs: Lyrikwerkstatt
Der Autor
Peter Heinrichs: Lyrikwerkstatt
Wenn Gedichte sterben,
atmen sie nur noch aus.
Alles vergessen:
das Umschreiten der Flamme ...
den Höhenrausch …
Kein Funken mehr
Peter Heinrichs, Jahrgang
unter der Asche,
1939, brach nach einem
die Lungen von Feinstaub verschattet, Architektur-, Medizin- und
die Spiegel geblendet.
Germanistikstudium seine
HERR! Noch ist´s nicht Zeit,
Doktorarbeit in Literaturge-
der Sommer ist noch klein,
schichte ab und ging als
doch die Autopsie hat schon begonnen. Quereinsteiger in die Werbe-
Auf dem Seziertisch zerschnittenes Brot – branche. Als Kreativdirektor in
keine Aster, kein ersoffener Bierfahrer. mehreren internationalen
„Halte mich! Du, ich falle!
Agenturen war er für die Wer-
Ich bin im Nacken so müde ..“
bebudgets vieler bekannter
Das ist doch wohl klar,
Unternehmen verantwortlich
da darf man nicht anknüpfen.
und arbeitet jetzt als Werbe-
Nur keinen Reim!
dozent und freier Autor in
Nur keine trockene Kehle!
München.
Nur kein Leuchten im Auge!
Selbst ein Zittern des Lides könnte schuldig machen.
Verse, die durch Jahrhunderte flogen –
jeder ein Paria jetzt, für uns unberührbar.
Wir wählen das Stroh und entsorgen das Korn.
Wir sind Individualisten,
wir sind eines Stils,
wir sind emsige Beamte des Wörterverknüpfens.
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Kunst Seite 3
Lyrik

Wir erfinden das Rad neu – immer und immer und immer wieder,
flechten Verse auf Ganzjahresreifen,
keiner davon
jemals gefahren,
doch alle schon
ohne Profil.
Entropie ringsum, das kriecht sich breit wie
Mehltau. Angenehm laues
Bad im Gemenge.
Nach unten
offene Dichterskala.
Noch nicht einmal Cover-Versionen
von römischen Brunnen oder blauen Klavieren.
Pssst!
Wenn einer liest –
brechen die anderen
den Blickkontakt ab.
Jeder schaut in den Schoß,
doch dort
wird weder gezeugt noch empfangen.
Kein Lachen. Kein Seufzen. Keine Träne herab.
Unsichere Rundgänge durch
sterile, dürre Wortgebilde.
Raschelnde Blindtexte.
Vorsicht, nicht auf die Buchenstäbe treten!
Das Knacken könnte missdeutet werden.
Und immer wieder
kollektives, betretenes Schweigen –
leider auch diesmal
vergeblich vor dem Kreißsaal gewartet,
wieder fand keine Geburt statt.
Da kommt nichts zur Welt, das man lieben könnte.
(Richtig gehört, ich sagte: lieben.
Dieses peinliche gestrige Wort!)
Da blutet keine Nabelschnur,
da füllt sich keine Lunge,
da schreit nichts;
selbst die Nachgeburt bleibt aus.
Ihr habt ja recht!
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Kunst Seite 4

Die Notwendigkeit neuen Lebens ergibt sich nicht.
Darum lasst uns hinausgehn,
wo der Sommer lehnt und den Schwalben zusieht,
wo die Felder rauschen und zwischen den Wipfeln
man nur einen Hauch spürt. Dort
wollen wir bleiche Knöchlein sammeln,
vielleicht fahles Bruchholz,
vertrocknete Käfer oder den wimmelnden Vogelkadaver
unterm duftenden Flieder …
Unsern Fund dann wollen
wir betten in Särge.
Die steh´n schon gefaltet
aus blütenweißem
Papier. 80 g/m2
Anja Wedershoven: Blütenküsse
„Schau mal, wie schön!“ Vera
war stehengeblieben und blickte
auf die Einfahrt einer Villa am
Rand des Stadtwalds. Hinter
dem schmiedeeisernen Gitter
trieb ein leichter Wind Myriaden
von abgefallenen Kirschblütenblättern
über das Kopfsteinpflaster.
„Sieht aus wie Schnee,
nicht?“, hakte Vera nach.
Simon murmelte etwas Beifälliges.
Mädchen – so viel wusste
er schon – hatten eine blühende
Fantasie und konnten sich für
Die Autorin
Anja Wedershoven wurde 1968 in
Mönchengladbach geboren, studierte
Germanistik in Bonn und arbeitet als
freie Autorin und Literaturkritikerin u.a.
für die Luxemburger Tageszeitung
tageblatt. Seit 2007 Organisation und
Leitung der WortWeber – Autorengruppe
Niederrhein.
seltsame Dinge begeistern. Aber als Vera jetzt die Klinke des Tores runterdrückte
und den quietschenden Flügel öffnete, wurde er unruhig.
„Was hast du vor? Wir dürfen da nicht rein.“
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Kunst Seite 5
Prosa

„Aber es ist nicht abgeschlossen.“ Vera grinste. „Du hast doch nicht etwa
Schiss?!“ Sie drückte sich durch den offenen Spalt auf das Grundstück und sah
ihn herausfordernd an. Simon folgte ihr seufzend und wachsam.
„Ich glaube, hier wohnt gar keiner.“ Vera deutete auf die verschlossenen
Fensterläden. Nur das Gezwitscher von Vögeln war zu hören, ab und zu das
Summen der ersten Hummeln, die noch schwerfällig durch den Garten taumelten.
Ein Windstoß trieb die weiß-rosa Blütenblätter in großen Wellen ein Stück
weiter.
Vera ging in die Hocke und nahm eine Handvoll der zarten Blätter, ließ sie
sanft durch ihre Finger rieseln. Simon lehnte sich an den Stamm eines Baumes
und schaute ihr zu: Was war heute nur anders an ihr? Irgendetwas war anders
als früher.
Dabei kannte er Vera, seit sie im Kindergarten immer heimlich die verhassten
Kakaotabletten für ihn gegessen hatte. Bis vor einem halben Jahr, als sie
mit ihren Eltern in eine andere Stadt ziehen musste, war sie sein bester Kumpel
gewesen, sein engster Freund. Dass sie ein Mädchen war, hatte dabei keine
Rolle gespielt. Mit Vera konnte man alles machen: Auf Bäume klettern, Karl
May lesen und Blutsbrüderschaft schließen, Ratten mit Steinen bewerfen. Mit
ihr konnte man die besten Wettbewerbe im Selbsterfundene-Lange-Wörter-
Aufsagen machen und sich in klangvollen Geheimsprachen unterhalten. Vera
war nie wie die anderen Mädchen gewesen, sondern einfach nur Vera.
Jetzt hatte sie sich bis zum Treppenaufgang der Villa vorgewagt und wühlte,
auf der untersten Stufe sitzend, weiter in dem Blütenteppich. Wieder betrachtete
Simon sie: Was bloß irritierte ihn an ihr?
„Du fängst aber früh an“, hatte sein Onkel am Tag zuvor bei Simons Geburtstagskaffee
gesagt. „Wird gerade mal zwölf und hat schon die erste Freundin.“
Die Erwachsenen hatten gelacht und Simon war rot geworden, ohne zu wissen
warum.
„Lasst doch den Jungen in Ruhe“, sprang seine Mutter ihm bei. „Die kennen
sich schon aus dem Sandkasten.“ Und dabei blinzelte sie Simon zu.
Die Gespräche am Tisch wechselten das Thema, aber er nahm sie nur noch
in einem kleinen Winkel seines Bewusstseins wahr. Der Tag hatte einen Riss
bekommen; Simon fühlte sich fremd.
„Willst du dich nicht auch setzen?“ Vera schaute ihn von unten an. Sie trug
das rote T-Shirt, das einmal ihm gehört und das er ihr zum Abschied mitgegeben
hatte. „Zieh es an, wenn du Heimweh hast“, hatte er gesagt, und sie war
gerührt gewesen.
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Kunst Seite 6

„Klar, warum nicht …“, er hockte sich neben sie auf die Kante der Stufe,
vermied es aber, sie zu berühren.
„Wie viele das wohl sind?“ Vera hielt jetzt ein einzelnes Blütenblatt zwischen
Daumen und Zeigefinger und bestaunte das hauchdünne Gewebe, das
das Sonnenlicht durchschimmern ließ und in mannigfaltigen Rosatönen leuchtete.
„Du meinst, auf der ganzen Einfahrt hier?“
„Ja, alle Blütenblätter von allen Blüten von diesem Baum.“
„Keine Ahnung“, Simon fühlte sich unbehaglich. „Du stellst merkwürdige
Fragen!“
„Aber das ist doch spannend, man müsste die eigentlich mal zählen.“
„Wozu das denn, du spinnst ja.“ Er klang mürrisch.
„Bist du eigentlich froh, wenn ich gleich wieder nach Hause fahre?“
„Nee, wieso? Ist gut, dass du mal wieder hier bist.“
Sie sah ihn skeptisch an. „Ich hab mehr das Gefühl, ich stör dich.“
„Du störst doch nicht. Wobei denn?“
Während Simon Grasbüschel aus den Fugen zwischen den Pflastersteinen
rupfte, sammelte Vera die Blütenblätter in der langen, schmalen Senke zwischen
ihren Oberschenkeln. Die Blätter raschelten beim Aufheben leise in
ihren Händen und klangen wie früher der Badeschaum, wenn die feinen Luftbläschen
zerplatzten. Eine der beiden Mütter hatte die Kinder immer gemeinsam
in die Badewanne gesteckt, wenn sie von ihren Erkundungstouren verdreckt
nach Hause gekommen waren.
Jetzt senkte Vera das Gesicht in die Blätter.
„Mmh, die riechen schon nach Kirschen! Ein bisschen zumindest.“ Sie richtete
den Oberkörper auf und drehte ihre Beine auffordernd in Simons Richtung.
Der beugte sich zögerlich über ihren Schoß und schnupperte. Wurde
schon wieder rot im Gesicht. Er zog die Nase zurück.
„Weiß nicht“, murmelte er und drehte den Kopf weg: Vera sollte das Glühen
auf seinen Wangen nicht sehen. Er nahm eine Handvoll Blütenblätter vom
Boden und streute sie ihr über die Haare, übers Gesicht. Aber anstatt sich zu
wehren, lächelte sie!
„Noch eine“, bat sie. „Das fühlt sich lustig an.“
Sie schloss die Augen, und er ließ zwei weitere Hände nacheinander über
ihr andächtig erhobenes Gesicht rieseln.
„Es schneit. Es schneit weiche, duftende Schneeflocken.“ Die Flocken verirrten
sich auch in Veras Mund, während sie sprach. Sie pustete, spitzte die
Lippen. Die waren von dunklerem Rosa als die Blüten. Simon schaute weg.
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Kunst Seite 7

Aber nur kurz. Dann griff er mit vollen Händen in das schimmernde Blütenmeer
zu seinen Füßen: Ein Schneetreiben! Immer schneller ließ er die Blütenflocken
auf sie herabfallen, feucht und kühl aus seinen erhitzten Händen.
Federleicht bedeckte das Blütengestöber Veras Haar, glitt liebkosend über ihre
noch winterblasse Haut, blieb in duftigen Tupfen auch auf Veras T-Shirt hängen.
Und da sah er es. Wusste plötzlich, was anders war. Hielt inne und starrte:
Unter seinem Shirt, das er heute zum ersten Mal an ihr sah, war es nicht mehr
glatt und flach wie bei ihm. Da war eine Andeutung, eine winzige Erhebung.
Es war kein Busen, es war noch nicht der Rede wert, aber es war auch nicht
mehr nichts. Simons Handflächen kribbelten. Plötzlich roch auch er die Kirschen.
Vera öffnete die Augen und bemerkte seinen Blick.
„Ja, ich weiß“, sagte sie. „Doof, nicht?“ Sie schüttelte sich den Blütenschnee
vom Shirt und verschränkte die Arme vor der Brust.
Simon zuckte die Schultern. „Ist doch normal, oder?“
„Ja schon, aber so früh. Und ich wollte doch lieber ein Junge sein.“ Vera
sah ihn prüfend an, aber Simons Blicke wichen ihr aus. Angestrengt hörte er
dem Gesang der Vögel zu.
„Das mit dem Jungen wird jetzt wohl nichts mehr“, sagte er endlich mit belegter
Stimme. Vera kicherte.
„Und du?“
„Wie, und ich?“
„Ja, ich meine … kriegst du auch schon Haare … du weißt schon?“
„Du stellst wirklich komische Fragen heute!“ Er schubste sie probehalber ein
bisschen an der Schulter.
„Nein, das ist eine wichtige Frage!“ Vera schubste zurück. „Weil das ungerecht
ist! Bei euch Jungs sieht man ja nichts.“ Sie schubste heftiger und
Simon wagte wieder, sie anzusehen.
„Trotzdem eine doofe Frage. Ich erzähl auch nichts.“
„Du bist gemein!“ Sie kniff ihn ein bisschen in den Oberarm. „Dann muss
ich eben nachschauen, ob du schon …“
Vera stürzte sich auf Simon und rang mit ihm, als sei sie nicht viele Monate
weg gewesen und habe sich in der Zeit so beunruhigend verändert. Simon
überwältigte sie problemlos, weil er seit ihrem Abschied in die Höhe geschossen
war und seine Schultern vielleicht doch schon ein bisschen breiter als die
ihren waren. Aber in Veras Haar hingen diesmal noch Blütenküsse und Simon
wühlte blind und verwirrt seine Nase in all dieses Haar-Blüten-Duft-Gemisch.
Diesmal, als er ihren Oberkörper zu Boden drückte und über ihr war in dem
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Kunst Seite 8

ganzen chaotischen Kirschblütenblättergewusel, befiel eine neue Freude,
dunkelrot leuchtend, seinen Körper. Diesmal endete das Gerangel nicht in
einem Triumphgeheul des Überlegenen, sondern in plötzlicher, gespannter
Stille, in der Simon seinen Mund auf Veras erstaunte Lippen drückte. Diesmal
errang er nicht einen Sieg, sondern einen Mädchenmund, der warm und
weich und feucht war und sich unter seinem Kuss öffnete und schon nach den
Früchten schmeckte, die der Kirschbaum im Spätsommer tragen würde.
Eine Tür schlug. Sie erschraken. Aber im Haus bewegte sich nichts. Simon
stand auf und schüttelte sich die Blätter von den Kleidern.
„Ich glaube, wir müssen nach Hause“, sagte er. „Deine Mutter wird gleich
kommen, um dich abzuholen.“ Vera nickte stumm, benommen.
Sie schlossen das quietschende Tor zur Villa und gingen schweigend nebeneinander.
Durch dieselben Straßen, an denselben Häusern vorbei wie auf
dem Hinweg. Immer noch sangen die Vögel. Aber dennoch war alles unvertraut.
„Du erzählst niemandem was, oder?“, bat Simon, als sein Elternhaus in
Sichtweite kam. Der Wagen von Veras Mutter stand schon in der Einfahrt.
„Nein, niemandem!“, Vera hob zwei Finger zum Schwur. „Großes Schwarzfußindianerhottentottensüdseepiraten-Ehrenwort!“
Da hätte Simon sie gerne noch einmal geküsst, aber hier gab es keine
Kirschbäume.
Anja Wedershoven hat mit ihrem Text beim Wettbewerb Vom Schreiben der
Sinne einen der beiden ersten Preise errungen. Vgl. Bericht auf Seite 34.
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Kunst Seite 9

Artur Lundkvist: Lebe wie Gras
Und das Gras wandert über die Welt,
von den Flüssen unter dem Wind der breiteste und grünste.
Immer ist das Gras unterwegs,
die Hüften der Berge hinauf, in die verschlafenen Städte hinein,
über Brachland, Savannen, Steppen,
wo der Kentaur nie überwunden wurde,
wo die Weite unter den Hufen der Pferde trommelt,
unter schiefäugigem Mond die Milch im Filzzelt gärt.
Das Gras
trägt den Sturzregen auf Myriaden Rücken
und hält den Boden mit zahllosen kleinen Zehen.
Das Gras spannt furchtlos seine dünnen Finger
um einen Totenkopf.
Das Gras arbeitet rastlos, zaudert nie,
sich Wege zu sprengen, über Gestein zu klettern,
und seine Antwort auf jede Gewalt ist Wachsen.
Das Gras liebt die Welt wie seinen Halm,
glücklich noch an grauen Tagen.
Das Gras, es strömt im Festverwurzeltsein,
es fließt im Stehen dahin,
vielfältig immer, doch beieinander und eins.
Das Gras folgt dem Menschen als Weggefährte
und verbeugt sich vor der Erinnerung, die ins Vergessen
eingeht.
Das Gras hat das Horn des Einhorns gebettet
und die Axt des Indianers,
es wächst als schützende Wimper um Quellen
und zeichnet mit hohen dunklen Büscheln
die Konturen von Tieren, die der Blitz getötet.
Die wilde Maus
zieht einen Scheitel von Schauern durch das Gras,
das grenzenlose Gras,
das der Erde dient und gleichermaßen den Tieren,
das durch Feuer und Kälte stirbt,
immer wieder aber sich erhebt
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Kunst Seite 10
Der Klassiker

und nie davon träumt, Zahn oder Messer zu sein:
lebe wie Gras.
Artur Lundkvist, Lebe wie Gras, aus: Liv som gräs, 1954, ins Deutsche übertragen
von Friedrich Ege.
Bibliographie: Artur Lundkvist: Gedichte. Köln (Verlag Kiepenheuer & Witsch)
1963, 184 S. Nur noch antiquarisch.
Der Autor
(ea) Artur Lundkvist (* 3. März 1906 in Oberljunga/Schweden, † 11. Dezember
1991 in Stockholm), Schriftsteller und Literaturkritiker, wuchs in ländlicher
Umgebung auf, verließ die Schule im Alter von 10 Jahren, bildete sich
selbst weiter, fühlte sich als Ausgestoßener aufgrund seiner literarischen Neigung.
1934-35 war er Gründer und Mitautor des Literaturmagazins Karavan.
1936 heiratete er die dänische Dichterin Maria Wine. Ihre Beziehung ähnelt
der Jean Paul Sartres und Simone de Beauvoirs – freie Liebe, die ein Leben
lang hält. 1958 erhielt er den Lenin Friedenspreis der Sowjetunion. 1961 bis
1991 korrespondierendes Mitglied der Akademie der Künste Berlin (Ost). Von
1968 an war er Mitglied der Schwedischen Akademie. Er übersetzte literarische
Werke (z.B. Pablo Neruda, Claude Simon, Octavio Paz, Nadine Gordimer)
aus dem Spanischen und Französischen ins Schwedische, belebte über
60 Jahre die Schwedische Literatur und Kultur, brachte den schwedischen
Lesern ausländische Literatur nahe.
Lundkvist gehörte auch dem Schwedischen Friedenskomittee an. Er schrieb
rund 80 Bücher, u.a. Gedichte, Reisebücher. Sein Werk wurde in fast 30
Sprachen übersetzt.
Werke u.a.:
- Omnaten. (In the night) Gedichte
- Self-Portrait of a Dreamer With Open Eyes (1966)
- Emigration to Paradise (1979)
- Written Against the Wind (1983)
- Journey in Dream and Imagination
- Vulkanischer Kontinent – Eine Reise in Südamerika. Brockhaus Verlag
Leipzig, 1958
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Kunst Seite 11

- Der verwandelte Drache – Eine Reise durch das neue China. Brockhaus
Verlag Leipzig, 1956
- Ein Baum mit Fischen. Gedichte 1928-1969. reclam, 1972
Quellen. en.wikipedia.org, www.britannica.com, deutsch.agonia.net,
www.adk.de, www.dradio.de, query.nytimes.com, www.gkm.se
Zum Gedicht von Artur Lundkvist vergleiche auch den Artikel Susanne Speicher:
Hommage an das Leben auf Seite 14.
(tr) Das Friedenskomitee war die
schwedische Sektion des Weltfriedensrats.
Dieser wurde 1949
(nach anderen Quellen 1950)
gegründet, um für friedliche
Koexistenz und nukleare Abrüstung
zu werben. Während der
Zeit des kalten Kriegs galt es als
von der UdSSR gesteuerte Vorfeldorganisation.
2008 gehörten
dem Weltfriedensrat Gruppen
aus 76 Ländern an.
Quelle: Wikipedia – die freie
Enzyklopädie
Die Illustration von Boris Artzybaschev
im Magazin TIME vom
17. September 1951 zeigt eine
den Weltfriedensrat als Werkzeug
von Josef Stalin.
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Kunst Seite 12

Sophie Mereau: Schwärmerey
Wirst du mir stets den Seraphsfittig leihen,
du nektartrunkne, süße Schwärmerey?
Du wirst es nicht. - Verglimmen und zerrinnen
wird deine Gluth vor den getrübten Sinnen;
dein Wahnsinn bleibt dem kühlern Blut nicht treu.
Dies Saitenspiel, das rings mit Harmonieen
die ganze Erde magisch übergoß,
verrauscht und schweigt; die Phantasie verblühet,
der Lenz erbleicht, der Freude Gluth versprühet,
- ein Einz'ges nur bleibt ewig wechsellos!
Was nur allein des Zufalls Laune trotzet,
die schöne Blüthe reiner Menschlichkeit,
das uns allein zu freyen Wesen gründet,
woran allein sich unsre Würde bindet,
dies höchste Gut, es heißt - Selbstständigkeit.
Die Autorin
Sophie Schubart (* Ende März 1770 in Altenburg, †
31. Oktober 1806 in Heidelberg), eine der ersten
Schriftstellerinnen, heiratet 1793 den Juristen Friedrich
Ernst Karl Mereau, von dem sie sich 1801 scheiden
lässt. Begeistert sich für die Ideale der Romantik.
Briefwechsel mit ihrem Förderer Friedrich Schiller.
1803 Heirat mit Clemens Brentano.
Mitherausgeberin des Göttinger Roman-Kalenders,
Herausgeberin der Zeitschift „Kalathiskos“ und des
„Berlinischen Damen-Kalender auf das Jahr 1800“
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Kunst Seite 13

Werke:
- Bei Frankreichs Feier. Den 14ten Junius 1790
- Das Blüthenalter der Empfindung
- Amanda und Eduard
Quellen: www.zeno.org, gutenberg.spiegel.de, de.wikipedia.org.
Die Scheidung wurde einheitlich erst im Rahmen der Einführung der Zivilehe
1875 im Deutschen Reich eingeführt. Bis zum 1976 galt dabei im Ehescheidungsverfahren
das Schuldprinzip. Dieses wurde in einer Reform der entsprechenden
Paragraphen durch das sogenannte Zerrüttungsprinzip abgelöst. Im
Gesetzestext selbst wird dabei vom Scheitern der Ehegemeinschaft gesprochen.
Quelle: Wikipedia – Die freie Enzyklopädie.
Susanne Speicher: Hommage an das Leben
(cw) Ein Werkstattbesuch
Die Künstlerin
Susanne Speicher
1965 geboren in München
1985/86 Freie Kunstschule Stuttgart
1986/88 Radierung und Zeichnung im
Atelier George Ball, Paris
1988/93 Graphik-Studium an der HBK
in Saarbrücken, Schwerpunkt
© Susanne Speicher 2007
1993/95
Kalligraphie, Drucktechniken, Zeichnen
Studienvertiefung mit Beteiligung an der Lehre, Tiefdruck und
Siebdruck
Seither freischaffende Künstlerin und Dozentin; zahlreiche Ausstellungen,
Buchprojekte, Auftragsarbeiten.
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Kunst Seite 14
Bild und Graphik

Die griechische Sprache braucht für die Worte schreiben und zeichnen nur
einen Begriff, nämlich graphein. Man denke nur an geläufige Begriffe wie
gravieren, Graphologie, Graphik oder Graffiti. Denkanstöße wie diesen durfte
ich aus einem überaus kurzweiligen und anregenden Gespräch mit der Graphikerin
Susanne Speicher mitnehmen, die ich für vor einigen Tagen in ihrem
Zuhause in Saarlouis besuchte.
Das Ehepaar Speicher hat dort mit seinen drei Söhnen in einem ehemaligen
Bauernhaus den Traum von Wohnen und Arbeiten unter einem Dach verwirklicht.
Das Wohnhaus beherbergt auch das Atelier der Künstlerin, und im ehemaligen
Wirtschaftsteil befinden sich die Buchbinderwerkstatt mit Rahmengalerie,
die Andreas Speicher betreibt, sowie ein lichtdurchfluteter Ausstellungsraum.
Bemerkenswert ist, wie optisch ansprechend und funktional die alte
Bausubstanz mit den Anforderungen des täglichen Lebens und gleich zweier
‚Betriebe‘ in Einklang gebracht wurde. Das ganze Anwesen wirkt, als werde
es schon immer so genutzt. Wie schön, es gibt sie noch, die guten - alten
neuen - Dinge... In dieser Atmosphäre läßt es sich bestimmt wunderbar leben
und arbeiten.
Und genau darüber möchte ich mehr wissen: die künstlerische Arbeit der
Susanne Speicher, die mich mit diesem ansteckenden Lachen empfängt , eine
Treppe höher in den Ausstellungsraum führt und ohne Umschweife ins Thema
einsteigt. Vor uns auf dem schlichten, massiven Holztisch hat sie einige Arbeiten
zurechtgelegt. Wir fangen an
mit zwei kunterbunten Schülerarbeiten.
„Diese Blätter sagen ganz
viel auch über mein eigenes
Schaffen. Sie entstanden im Rahmen
des MUS-E - Projektes, für
das ich im Auftrag der Yehudi-
Menuhin-Stiftung schon seit sieben
Jahren an einer Grundschule
in Burbach tätig bin. Die Schülerinnen
und Schüler der Klassenstufe
drei bekamen folgende Im Garten, Schülerarbeit
Aufgabe: ein Blatt Papier war in
gleichgroße Quadrate einzuteilen, jedes Quadrat mit einem Buchstaben in
Druckschrift zu versehen und der die Schrift umgebende Raum im Quadrat war
zu ‚verglasen‘, wie es in der Fachsprache heißt - einfacher gesagt, farbig zu
gestalten. Der Text beginnt mit den Worten ‚In einem Garten...‘. Auf diese
Weise entstanden individuelle (Bilder-)Geschichten, deren Lesbarkeit durch die
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Kunst Seite 15

an keine Vorgaben gebundene farbliche Ausgestaltung zum Teil stark in den
Hintergrund trat“.
Sie lächelt verschmitzt. „Es ist manchmal so weit gegangen, dass der Inhalt
des Textes zum kleinen Geheimnis der jungen Autoren wurde. Betrachten wir
nun Ausschnitte aus den Blättern, finden sich in ihnen weitere, ganz eigenständige
Kunstwerke. Ich verfolge diesen Ansatz natürlich einerseits, weil das
Schriftschreiben in meiner Kunst großen Raum einnimmt. Ich finde es aber
ebenso wichtig, die Fertigkeiten, die in den kleinen Menschen von Natur aus
angelegt sind, zu fördern. Sehen Sie zum Beispiel dieses Blatt, das mein zweijähriger
Sohn kürzlich aus freien Stücken, ohne jegliche Anleitung, gestaltet
hat. Es ist eine Zeichnung und zugleich mutet es an wie ein Schriftteppich.
Wenn man so will, ist auch für Kinder wie bei dem griechischen Verb Zeichnen
und Schreiben - noch - ein und dasselbe. Und sie haben Freude daran. Unsere
Aufgabe ist es, diese Freude zu erhalten und zu unterstützen.“
Wie wahr. Ich bin ganz angetan von der
Begeisterung und dem Elan meiner Gesprächspartnerin,
komme kaum nach mit den
Notizen (ob ich mir ein Diktiergerät anschaffen
soll?). Hintergrundinformationen zu dem
erwähnten MUS-E—Projekt kann ich zum
Glück später im Internet nachlesen. Und das
lohnt sich. Die Stiftung hat es sich zum Ziel
gemacht, Kinder besonders in sozialen Brennpunkten
in ihrer Kreativität zu fördern, ihre
Ausdrucksfähigkeit und ihre Persönlichkeit
wie auch ihre soziale Kompetenz zu stärken.
In der Begegnung mit Künstlern der Fachrichtungen
Bildende Kunst, Musik, Tanz und
Theater erhalten sie die Möglichkeit, frei und
ohne Zwang zu wählen, sich etwas zuzutrauen
und selbst gestalterisch tätig zu werden.
Den Unterricht erteilen immer qualifizierte
Kinderzeichnung, © Simon
Speicher 2008
Fachleute, die selbstverständlich Erfahrung im Unterrichten nachweisen müssen.
Wie Susanne Speicher berichtet, ist das Projekt anerkanntermaßen so
erfolgreich, dass im Saarland ab dem nächsten Schuljahr für alle Grundschulen
im Land die Teilnahme ermöglicht werden soll. Man kann es kaum glauben
- das geschieht in einer Zeit, die von Schulschließungen und Sparmaßnahmen
geprägt ist. Trotz allen berechtigten Lobes: jemand sollte die Initiatoren des
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Kunst Seite 16

Projektes mal fragen, ob nicht das kreative Schreiben das Programm sinnvoll
erweitern könnte.
Doch zurück zum Atelierbesuch bei Frau Speicher. Gefragt nach dem eigenen
Werk, das sie am meisten liebt, verschwindet die zierliche Gestalt für
einen Augenblick - und kehrt zurück mit einem rechteckigen Gegenstand von
stattlichen Ausmaßen, den heranzuschaffen sie einige Mühe kostet. Aus der
Das Buch von der kleinen Seejungfrau, © Susanne Speicher 2000
Nähe betrachtet sieht das Werk aus wie ein riesenhaftes Buch. Auf dem Rücken
eingeprägt die Aufschrift ‚Die kleine Seejungfrau‘. Blaugrünes Wasser
überall auf dem Einband, Lichtreflexe tanzen über die Fläche. Die kostbare
Schatulle öffnet sich und gibt ihren Inhalt preis. Fast wie bei einer russischen
Matrjoschka kommt zum Vorschein: ein weiteres Buch. Außerdem eine Vielzahl
großformatiger Illustrationen, die Susanne Speicher rasch auf dem Boden um
uns her ausbreitet: ein blaugrünes Meer, das magisch anzieht. „Dieses Werk
bedeutet mir besonders viel“, bekennt die Künstlerin nicht ohne Stolz. „Ich
habe es gemeinsam mit meinem Mann Andreas, der ja Buchbindermeister von
Beruf ist, als unseren Beitrag zum Wettbewerb ‚Kunst und und Handwerk‘ der
Industrie- und Handelskammer im Jahr 2000 angefertigt.“
Grundlage ist das Märchen von der kleinen Seejungfrau. Die Künstlerin hat
es Wort für Wort liebevoll von Hand in dem kleinen, inneren Buch niedergeschrieben,
wobei an der vom Blau ins Grün und wieder zurück fließenden
Tusche immer der Schauplatz des Geschehens in der Geschichte abgelesen
werden kann. Die filigranen Illustrationen geben die entscheidenden Szenen
des Märchens wieder. Man kann sich gut vorstellen, dass auf diese Weise das
Vorlesen die Zuhörer buchstäblich in der Handlung abtauchen lässt. Vollendet
wird das Gesamtwerk, das den Söhnen gewidmet ist, durch den seidenen
Einband, der selbstredend von der Künstlerin angefertigt und von ihrem Mann
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Kunst Seite 17

gekonnt auf der selbstgefertigten Mappe und dem von Hand gebundenen Buch
aufgebracht wurde.
„Wir haben damals die Jury regelrecht in Verlegenheit gebracht. So wörtlich
hat kein Mitbewerber die Verbindung von Handwerk und Kunst umgesetzt.
Schließlich entschloss man sich, einen Sonderpreis auszuloben.“
Vertrauensvolles Augenzwinkern. Sicher doch, verstehe, auch diese Herrschaften
konnten sich der Magie dieser Idee und ihrer stimmigen Realisierung
nicht entziehen. Auch ich bin beeindruckt von diesem edlen Kunststück, das
beileibe nicht nur zum Anschauen
gedacht ist, und ich
darf noch eine Weile dem
Fluß der Erinnerung an
eigenes Erleben der Märchen
Hans Christian Andersens
nachspüren, denn die
nimmermüde Frau Speicher
ist gerade im Gespräch mit
Kunden, die die ausgestellten
Werke anschauen.
Wohin man den Blick
auch wendet in diesem
Raum - des Berührtseins
kann ich mich nicht erwehren.
Man ist umgeben von
visueller Poesie. Die Liebe ist
ein Hemd aus Feuer, steht
da zu lesen (Autor: Nazim
Hikmet). Und direkt
daneben: ein männliches
und ein weibliches Wesen,
einander zustrebend in
Radierung, ohne Titel, Ausschnitt, © Susanne
Speicher 2007
unmerklicher Bewegung,
geborgen von einer Anmutung
des besagten Kleidungsstücks.
Die Farben
strahlen nichts von der Bedrohlichkeit oder gar Vernichtungskraft des Elementes
aus, sie wärmen vielmehr, mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie das
Blut in unseren Adern. Das Bild lebt, ohne Zweifel. Zu gerne zeigte ich Ihnen
die Farbradierung hier an dieser Stelle, doch leider gibt es nur noch dieses
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Kunst Seite 18

eine bereits gerahmte Exemplar, und eine Fotographie durch das Glas verbietet
sich. Zu viel ginge verloren von dem Zauber. Überhaupt stellen die Arbeiten
der Susanne Speicher höchste Anforderungen, was ihre Abbildbarkeit
anbelangt. Die Intensität und Lebendigkeit der Originale, die nicht wie künstlich
hergestellt, sondern wie - ich kann es nicht treffender ausdrücken - natürlich
gewachsen erscheinen, läßt sich auf technischem Weg nur sehr unzureichend
transportieren. Zum Glück steht ein Besuch in der Galerie jedermann
offen.
Oder: Sie besuchen das internationale Museum für Buch- und Schriftkunst in
Offenbach - auch von dessen Existenz höre ich hier zum ersten Mal. Dort ist
eine Mappe mit Radierungen und zugehörigem Schriftzyklus nach dem Gedicht
‚Lebe wie Gras‘ des schwedischen Autors Artur Lundkvist (noch ein Tip!)
von Susanne Speicher zu sehen. Ein Blatt aus dem Zyklus (Das Gras liebt die
Welt wie seinen Halm/glücklich noch an grauen Tagen) wurde im Jahr 1993
mit dem Rudo-Spemann-Preis der Stadt Offenbach ausgezeichnet. Wer der
Meinung sein mag, Schriftkunst sei nicht ernstzunehmen oder nicht mehr zeitgemäß,
dem möchte ich die
Worte von Professor Karlgeorg
Hoefer (Schreibwerkstatt
Klingspor) ans Herz legen:
Die Schreibkunst bewirkt auch
heilende Kräfte, wenn man
schreibend den Worten der
Dichter folgt, bildet eine handschriftliche
Brücke von Mensch
zu Mensch und von Land zu
Land.
Der Vormittag, den Susanne
Speicher für mich freigehalten
hat, neigt sich rasend
schnell dem Ende. Ich muss
leider einsehen, dass das
Wirken dieser Künstlerin, das
sie mir so herzlich und mit
Freude näherbringt, nicht
lückenlos in einem Aufsatz
gewürdigt werden kann. So
Vieles hätte ich gerne noch
ausführlicher erwähnt. Zum
Vergleichende Schriftprobe, © Susanne
Speicher 2008
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Kunst Seite 19

Beispiel die wunderbare Ausstellung, die den Titel trug ‚... wie das Wasser, so
unser Leben...‘. Für diese hat sie alle Orte, an denen sie in ihrem bewegten
Leben schon weilte, wieder aufgesucht, Vergangenem nachgespürt - und es
unter Verwendung von Wasser, das sie während dieser Reise sammelte, in
großformatigen Aquarellen festgehalten. Auch das bilinguale Buchprojekt, das
sie im Auftrag als freischaffende Künstlerin an der Erweiterten Realschule
Überherrn und deren Partnerschule Collège Rabelais in Hôpital, Frankreich,
mit einer 8. Klasse umgesetzt hat, verdient Beachtung. Es orientiert sich an
dem Gemeinschaftswerk ‚Le visage de la paix‘ von Pablo Picasso und Paul
Eluard, enthält handgeschriebene Texte und Illustrationen und wird demnächst
erscheinen. Auf dieses und andere Buchprojekte kann ich zu gegebener Zeit
hier gerne hinweisen. Oder die Bilder zwischen Himmel und Meer, die erst
noch entstehen werden
Nicht unerwähnt bleiben darf, was ihrem Tun zu Grunde liegt: seit sie denken
kann, ist für Susanne Speicher klar, dass nur ein Leben als Künstlerin in
Frage kommt, mit allen Risiken und Unwägbarkeiten, die diese Entscheidung
birgt. Sie vergleicht es mit ihrer neben der Zeichnung und dem Schriftschreiben
bevorzugten Arbeitstechniken, der Radierung: „Jede Linie, die in die
Kupferplatte eingeritzt wird, ist unauslöschlich da und muss akzeptiert werden.
Diese Technik duldet
keine Kompromisse“.
Kompromisslos
ist sie auch in ihrem
Anliegen, ihr Können
und ihre Liebe
zum künstlerischen
Gestalten weiterzugeben,
übrigens
nicht nur an Kinder,
aus der Überzeugung
heraus, dass
schöpferisches Tun
Teil der menschlichen
Natur ist. Ohne Titel, schwarze Tinte – und sonst nichts! © Su-
Auf eine Formel sanne Speicher 2008
gebracht: Kunst
kommt für Susanne Speicher von ..... Leben!
Eine starke Behauptung, doch kein Lippenbekenntnis. Ihre Werke bezeugen
dies eindrucksvoll. Für diese Authentizität und die Freude am Lebendigsein,
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Kunst Seite 20

die ihre Arbeit vermittelt, für ihre Empathie und die Beachtung, die sie auch
den kleinen Dingen schenkt, in denen allzuoft unbemerkt das große Geheimnis
des Menschseins sich spiegelt, bewundere ich diese Künstlerin. Der Besuch bei
ihr hat mich reicher gemacht.
Informationen: www.ymsd.de, www.klingspor-museum.de,
www.Schreibwerkstatt-Klingspor.de. Kontakt zur Künstlerin über die Redaktion.
Der Betrieb
Experimentelles Schreiben in der Gruppe
(ehn) In Überherrn im Saarland, einer mehr als 12000 Einwohner zählenden
Gemeinde an der Grenze zu Frankreich, hat sich in den vergangenen vier
Jahren eine interdisziplinär arbeitende Künstlergruppe etabliert. Hier wirken
Komponist, Sängerin, Schriftsteller, Kunstfotografin, Schmuckdesignerin, Kunstkeramiker,
Kunsterzieher und (teilweise autodidaktisch ausgebildete) Maler(innen)
zusammen. 2004 neu gegründet, zählt die Künstlergruppe Bisttal
e.V. derzeit 24 Mitglieder, weitere Interessenten stehen vor der Tür.
Drei Frauen und drei Männer fanden sich vor einem Jahr zusammen, um in
einer experimentell orientierten Schreibgruppe kreativ zu werden. Alle zwei
Wochen sucht man an einem Montagabend nach dem gemeinsamen Weg in
ein Projekt, das miteinander realisiert werden soll. Dazwischen kommuniziert
man via eMail.
Moderator der Schreibgruppe, auch ihr Initiator, ist Edgar Helmut Neumann,
der „Felsberger Dorfschreiber“ und außerdem Vorsitzender der Künstlergruppe
Bisttal.
Der ehemalige Tageszeitungsredakteur, heute Maler und Autor, experimentiert
mit Worten ebenso gerne wie mit Farben und freut sich über die Möglichkeiten
für Symbiosen im Zusammenwirken mit anderen, die seine Interessen
teilen.
Die Schreibgruppe hat recht schnell beschlossen, gemeinsam einen Roman
zu schreiben. Vielleicht entsteht eine Familiensaga. Konkretes muss sich aber
erst noch entwickeln. Es ist bislang eine längere Startphase gewesen, auch
durch personelle Wechsel bedingt. Nach langwierigen Diskussionen brütet
eXperimenta 08 & 09/2008: Der Betrieb Seite 21
Berichte

man inzwischen über Plot und Setting, über den Einstieg in die Geschichte.
Kürzlich konnte die Gruppe sich darauf einigen, mit einem Prolog zu beginnen.
Der ist nun in mehreren Fassungen geschrieben und harrt der Abstimmung
auf einen gemeinsam gewollten Text.
Der Weg zu diesem Ergebnis war steinig. Er führte außerdem um einige Ecken
herum erst einmal in einen Kreisverkehr, in dem einige Erwartungen abgezweigt
werden mussten. Die sechs Abenteuerlustigen hat der Mut nicht verlassen,
sie schauen unverdrossen nach vorne.
Was liegt bereits auf dem Tisch? Die Vorarbeit für einen von allen Beteiligten
mitgetragenen Plot. Dabei trat deutlich zutage, wie wichtig es bei einer
solchen Gruppenarbeit ist, sich von autobiographischen Erfahrungen und
anderen „Verliebtheiten“ zu lösen. Ohne Kompromisse kann das keine(r) leisten.
Die Protagonistin des Romans, sie wurde Veronika getauft, kommt 1945 zur
Welt. Ihre Mutter stirbt im Kindbett. Die Handlungsgeschichte reicht nach
ersten Festlegungen bis 2030, lässt mindestens drei unterschiedliche Generationen
erleben. Nebenbei erlaubt sie politisch geprägte Assoziationen in
grenzüberschreitenden Dimensionen. Der Prolog lässt erahnen, dass es Verwicklungen
gibt, deretwegen in der Gruppe sicherlich in mehreren Strängen
gesponnen wird. Wohl für jeden verständlich ist, dass man vorerst nicht allzu
viel über die weiteren Inhalte verraten will.
Das Projekt soll künftig online verfolgt werden können. So bastelt man derzeit
an einer der Gruppe zugeordneten zweiten Vereinshomepage. Ursprünglich
gab es sogar Überlegungen, dem Leser im Web auch eine Art Interaktion
anzubieten. Doch es wird bei der Möglichkeit bleiben, den wachsenden Text
Woche für Woche zu kommentieren, wenn man will, auch Anregungen für
weitere Überlegungen zu geben. Vielleicht kommt die Gruppe bei einem späteren
Projekt auf ihre ursprüngliche Idee zurück, die Leser im Web zum Mitschreiben
einzuladen.
Der Schreibgruppe gehören an Norbert Klitzke, der literaturwissenschaftliche
Kenntnisse mitbringt, Helmut Kraus, der in seinem Leben nicht nur als
Theologe Erfahrungen sammelte, Gisela Bell, die unter anderem als Mundartdichterin
erfolgreich publiziert hat, Ruth Ankele, eine ehemalige Kriminalbeamtin,
deren Lebensweg ebenso in die Kreativität führte wie der von Inge
Noell, einst Mitglied der Redaktion der Saarländischen Ärztekammer, die
neben ihren eigenen Interessen Edgar Helmut Neumann malend und schreibend
zur Seite steht. In aller Leben hat es viele Brüche gegeben, sie werden
sich auf die eine und andere Weise im Text sicherlich wiederfinden, das möchte
niemand leugnen.
eXperimenta 08 & 09/2008: Der Betrieb Seite 22

Die Gruppe ist übereingekommen, mutig mit den Methoden des Kreativen
Schreibens zu Werke zu gehen. Diese Entwicklung will man ebenfalls auf der
Homepage dokumentieren. Dazu gehört, dass jede(r) auch andere eigene
Texte einstellen darf.
Die bislang wichtigste Erfahrung in dieser Schreibgruppe, die sich geschlossen
halten will, ist das vertrauliche Miteinander, das auf Respekt und
Toleranz gründet. Und den Wortwitz nicht zu vergessen, der bei den Schreibübungen
immer wieder aufblitzt. In der Runde hat ihn einer als Ergebnis des
sich gegenseitigen Annäherns betrachtet und bezeichnet. Diesen Prozess will
niemand in der Gruppe ungebührlich beschleunigen. Die abgesteckte Zeitachse
betrifft lediglich den Handlungsablauf der geplanten Geschichte. Diese darf
über viele Monate hinweg wachsen. Dabei muss niemand sich selbst oder
anderen inner- oder außerhalb der Gruppe etwas beweisen, was Karriere
prägend wäre.
Das Experiment hat die Lust am Miteinander geweckt, wo immer das dann
hinführen mag. Fabulieren müssen kann süchtig machen, aber auch plagen;
hier gewiss nicht. Die Spannung, die gewöhnlich für die Leser produziert wird,
wächst hier, von einem Treffen bis zum nächsten, am Rande des gegenseitigen
Zuweisens von „Aufgaben“ für die sechs Beteiligten, eher im Blick auf die
gemeinsamen Schritte auf noch nicht ausgetretenen Pfaden.
Und noch eine andere Feststellung am Schluss: Das Surfen im Web, bei
nicht von vornherein festgelegten Recherchen, ist für jede und jeden in der
Gruppe ein besonderes Vergnügen, mit dem niemand vorher gerechnet hat.
Der künftige Online-Roman der Schreibgemeinschaft in der Künstlergruppe
Bisttal braucht seine Zeit - wie lange, wagt niemand vorauszusagen. Ganz
gleich wie das Ergebnis ausfallen wird, es wird keine verlorene Zeit sein.
Dessen sind sich alle einig. Dieses sorgsam gepflegte Miteinander trägt wahrscheinlich
zum Erfolg des 1. Überherrner Kultursommers im kommenden Jahr
bei, einer weiteren Initiative dieses kleinen aber rührigen Kulturvereins auf
stadtfernem Boden. Die Schreibgruppe hat bereits konkrete Vorstellungen
dazu.
Auf das Wesentliche reduziert
(cr) Lyrik im Wasserturm mit Maria Bernhard
Wir wollen die Tradition der Hauslesung und Hausmusik, wie sie zwischen
1815 und 1825 zum Beispiel bei dem Komponisten Schubert gepflegt wurde,
wieder erwecken“, sagt Maurits Campert. Der Wirtschaftsprüfer, Jahrgang
eXperimenta 08 & 09/2008: Der Betrieb Seite 23

1947, Holländer, Autor dreier grundverschiedener Bücher, bezeichnet sich als
Amateurmusiker. Das gleiche sagt seine Frau Saskia Campert-Schrok van
Rilland von sich. Sie ist Juristin,
ein Jahr jünger als er, auch
Holländerin.
Das Paar hatte Maria Bernhardt
aus Daun eingeladen, die
Herausgeberin der Haiku-
Anthologie Das Jahr explodiert.
Da geht es um die Liebe zum
Leben, auch um Vergänglichkeit
und um aktuelles Zeitgeschehen,
alles zu einer lyrischen
Architektur gefügt.
Klänge der Suite Nr. 1 aus
der Wassermusik von G. F.
Händel begleiten einen auf der
Wendeltreppe des Wasserturms
in Utscheid-Buscht vorbei an
Buddha-Statuen, tanzenden
hinduistischen Gottheiten, Bücherstapeln
über Zen-
Maria Bernhardt. © Masud Rezazada
2008
Buddhismus und Batik-
Wandbehängen, auf denen der
indische Elefantengott Ganesha
und tibetische Mandala-Motive
zu sehen sind. Oben fasziniert die eindrucksvolle Aussicht in alle vier Himmelsrichtungen.
In der hellen Kühle des Raumes, der bis 1963 rund 30.000
Liter Trinkwasser fasste, nun mit seinem schlichten Ambiente der richtige Ort
dafür zu sein schien, las im Juni Maria Bernhardt unter dem Titel Lyrik im
Wasserturm. Die Dichterin absolvierte zwischen 1998 bis 2000 den Studiengang
Kreatives Schreiben am INKAS in Bad Kreuznach.
Vor achtzehn Zuhörern gestaltet sie gemeinsam mit dem Ehepaar Campert
eine Lesung, bei der sich Musik und Dichtkunst zu einem harmonischen Ganzen
verbinden.
Nach dem ersten Klavierstück von Mozart, gespielt von Maurits Campert,
liest Maria Bernhardt mehrere Gedichte, in denen das Element Wasser zu
Gedankenspaziergängen einlädt. Das konzentriert lauschende Publikum wird
mit den Geheimnissen eines Meermorgens vertraut und verzaubert bei einem
eXperimenta 08 & 09/2008: Der Betrieb Seite 24

Haiku über schillernde Libellen und Seerosen im Meerfelder Maar. Es folgen
musikalische Interpretationen nach Hugo Wolf, Franz Liszt und Robert Schumann
zum Gedicht Du bist wie eine Blume von Heinrich Heine. Im dritten
Textteil sind heitere und tiefsinnige Gedichte zu hören, mit denen Maria Bernhardt
verschiedene Facetten des Lebens spiegelt. Wie im Verkehrsstau Haiku
auf Parkscheine schreiben. Auch Impressionen in der Abtei Himmerod.
Schließlich beleuchtet sie bei philosophischen Annäherungen an Sinn und
Wert von Zeit deren Einflüsse im Leben.
In der Pause suchen Zuhörer das Gespräch mit Maria Bernhardt sowie Saskia
und Maurits Campert. Dabei begegnen sie drei Menschen, die ihr Leben
intensiv auskosten. Die drei lassen erkennen, dass sie ihren Weg gefunden
haben.
Saskia und Maurits Camperts, Maria Bernhardt. © Masud Rezazada 2008
„Schreiben“, so Maria Bernhardt, „bedeutet für mich, mit wenigen Worten
viel zu sagen und die Worte so zusammenzufügen, dass sie eine Melodie
bekommen und zwischen den Zeilen eine Tiefe erkennbar wird. Alles, was so
einfach klingt, besitzt nicht nur einen Gedanken – der Sinn streut sich in mehrere
Richtungen und auf mehreren Ebenen.“
Dann stimmt Saskia Campert andere Lieder an, „denn das Leben ist zu kurz
und man muss es genießen“.
Die Lesung klingt aus mit Haiku und Kurzgedichten, die die Leser durch den
Kreislauf der Jahreszeiten führen. Die Gastgeberin beendet den lyrisch ausge-
eXperimenta 08 & 09/2008: Der Betrieb Seite 25

füllten Abend mit Mozarts Die Zufriedenheit. Diese Veranstaltung wäre durchaus
eines größeren Rahmens würdig gewesen und hätte diesen sicherlich
ausgefüllt.
Informationen zum Wasserturm erhalten Sie im Internet unter
www.watertowerutscheid.eu.´
Die Welt des Kreativen Schreibens
Moderne Lyrik
(rh) Vom Klang der Sprache, Teil 3
Auf der Suche nach der Lyrik unserer Tage bewegen wir uns durch einen
dichten Dschungel von Textkulissen, die zwar als Lyrik deklariert werden, als
solche aber oftmals nicht zu erkennen sind. Wie sieht die Lyrik unserer Tage
aus, wo kommt sie her, wer schreibt sie und was bewegt die Dichtung im
21. Jahrhundert?
(Fortsetzung aus eXperimenta 07/2008)
Klangcollagen der Dichtung
Diese Form der Lyrik ist in der Regel nicht so häufig anzutreffen, weil wir es
hier mit einer sehr speziellen Ausdrucksform von Sprache zu tun haben, die
noch weniger Aufmerksamkeit als die Mainstream-Lyrik überhaupt erhält und
es zudem nur wenige LyrikerInnen gibt, die diese Kunst beherrschen. Vielleicht
liegen auch viele lyrische Klangcollagen unbeachtet in irgendwelchen Schubladen
herum, weil sich der Dichter, die Dichterin nicht traut, diesen schier
unverständlichen Text, der sämtliche Regeln der regellosen Verskunst auf den
Kopf stellt, zu veröffentlichen.
Im Bereich des Hörspiels hat sich diese Form dennoch etabliert. Der Komponist
Heiner Goebbels ist auf diesem Gebiet ein großer Künstler. In Zusammenarbeit
mit dem Dramatiker Heiner Müller entstanden Klangcollagen, die
epochale Kunstwerke geworden sind.
Als Beispiel einer lyrischen Klangcollage soll das Gedicht „ein rennen“ dienen,
um einen Geschmack davon zu bekommen, wie eine Klangcollage der
Dichtung aussehen könnte. Das Gedicht hat der Verfasser dieses Artikels an-
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Welt des Kreativen Schreibens Seite 26
Galerie der Autoren

lässlich eines Besuches im Kunstmuseum Städel in Frankfurt am Main im Jahre
1995 geschrieben.
ein rennen
running to the man with the cappa di gold
rubens
velasquez
staub und säuregeschützt - dirty bones
quarenta - vierzehntes bis achtzehntes
jahrhundert
(längst verfault)
running steps - die stufen rauf
nothing new upstairs – senor tengo hambre
tiefgekühlt konserviert - die alten
meister
"He man, you have to go down. Nobody likes to see you on this
empty space!"
"down, down, down, man. You have to go down, before you come up"
Funkspruch:
"Be careful, this running guy is coming"
HALLO ANTONY – NICE TO SEE YOU
Mein Freund ist krank, he is ill. He is lying in bed. In a white bed.
Give me back your power !!!
Funkspruch:
"Be careful, this running guy is running ...
Be careful, this running guy ist running. Was will uns der Dichter damit sagen?
Vielleicht, dass sein Freund krank ist, vielleicht dass er eine Treppe herunterkommen
soll? Wir wissen es nicht, und der Dichter gibt uns keine Auskunft
über die Hintergründe des Gedichtes. So stehen wir also alleine wie vor einem
abstrakten Bild, auf dem wir aber auch rein gar nichts, außer den Farben,
erkennen können. Immerhin sind die Farben ein Anhaltspunkt. Übertragen auf
die Sprache könnten wir sagen: „Was sagen uns die Worte?" Diese Frage ist
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Welt des Kreativen Schreibens Seite 27

im Grunde genommen schon die Antwort, denn es geht bei der Klangcollage
darum, was der Leser oder der Hörer beim Rezipieren einer Klangcollage
empfindet. Lutz von Werder spricht in diesem Zusammenhang vom so genannten
„Iso-Prinzip" (Werder 1993:
335). Die Klangcollage im übertragenen
Sinne also homöopathisches
Heilmittel der Sprache – heilende
Poesie. Die Klangcollage sendet
lyrische Potenzen, die Sprache in ein
Informationsinstrument verwandelt,
das so nur vom Unterbewussten empfangen
werden kann. Der autobiografische
Schmerz wird also nicht mit
Allopathie, der Schulmedizin, behandelt.
Allopathie betäubt den Schmerz,
sagen die Homöopathen; Homöopathie
mobilisiert die eigenen Heilungskräfte,
um die Ursachen eines
Schmerzens zu heilen. Die Klangcollage
als heilende Poesie, die dem
Rezipienten eine Möglichkeit eröffnet,
aus dem vorgegebenen Sound einen
Bert Papenfuß-Gorek am 24. April
2007 im Kaffee Burger (Berlin-Mitte)
bei der Benefiz-Lesung Krankenhaus
später für Michael Stein. Ordu Onuz
2007, Creative Commons 2.5.
dem kohol meiner freunde goenn ich gute freunde
die kennen ihn gut kennen seinen nutzen gewiss
die koennen auch teufelsohne truhdelduhn sein
stuekk zum stuekk ihn auch feind sein lassen
zumpe
alkobolde
Bert Papenfuß
Wahrnehmungshorizont zu eröffnen.
Die Klangcollage ist übrigens die
neuzeitliche Antwort auf den archaische
Begriff der Lyrik: Lyra - der Leier
entnommen (Koch 1997: 108).
alkofoegel gluekkseelen triefig
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Welt des Kreativen Schreibens Seite 28

Von Jamben, Hebungen und Senkungen
Lyrischer Sprachausdruck setzt sich nicht nur aus den einzelnen Worten, Versen
oder Strophen zusammen, die der Dichter vorgibt. Sprache hat auch unter
den Zeilen ein in sich geschlossenes System, das Lyrik erst zur Lyrik macht,
sonst wäre es ja Prosa. Häufig wird in Unkenntnis der Hebungen und Senkungen,
der Jamben, Alternationen und anderen melodischen Sprachmelodien
auch von zeitgenössischen Dichtern gedichtet, was das Zeug hält - schräge
Melodien werden als solche nicht erkannt und gelten als salonfähig, wobei
gegen den Klang schräger Melodien nichts einzuwenden ist, nur die Absicht
der Dichterin sollte für die geübte Leserin erkennbar sein.
Lyrische Archäologie © Rüdiger Heins 2005
Beispielsweise haben wir es bei einer Hebung im metrischen Bauplan mit
betonten Silben zu tun. Demzufolge gibt es zwei-, drei- oder vierhebige Verse
(DUDEN 2000: 28). Eine Senkung ist eine unbetonte Silbe in einem metrisch
gebundenen Vers. Die Hebungen und Senkungen wiederum ergeben eine
Alternation, also ein Wechselspiel aus Hebungen und Senkungen.
Der Jambus beschreibt eine steigende Silbenfolge von einer Senkung zu einer
Hebung: Gewált (Duden 2000: 29).
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Welt des Kreativen Schreibens Seite 29

Beim Trochäus begibt sich ein Vers von der Hebung zur Senkung: Gárten,
während der Daktylus eine dreisilbige Folge aus einer Hebung und zwei Senkungen
beschreitet: Táp-fer-keit. Zu guter Letzt gibt es noch den so genannten
Anapäst, eine dreisilbige Folge aus zwei Senkungen und einer Hebung bestehend:
Pa-ra-diés.
Diese Interaktion der Hebungen und Senkungen, gezielt eingesetzt, bestimmen
das Metrum der Sprache. Unabhängig davon, ob diese Dichtung im
Mittelalter oder in der Neuzeit angesiedelt ist.
Was ist denn nun moderne Lyrik?
Es ist drei Uhr morgens. Wieder eine dieser schlaflosen Nächte. Du kämpft mit
dir und du denkst, dass du lieber doch Politologie studieren solltest, denn
damit könnte man wenigstens Geld verdienen. Du bist an einem Punkt angelangt,
an dem dir nichts mehr gelingt. Die Idee im Kopf ist gut, doch das
weiße Blatt bleibt leer. Du bist einfach nicht dazu in der Lage, die Sache mit
deinem Gedicht zu Ende zu bringen. Und es schafft dich, du hast all diese
Informationen in deinem Kopf gesammelt. Aber nichts passiert damit. Du verlierst
die Hoffnung, bist verzweifelt. Jetzt bist du auch noch zu alt für ein Politologiestudium.
Vielleicht wäre es ja doch besser, das Angebot deines Nachbarn
anzunehmen, seinen Kiosk in der Stadtmitte zu betreiben.
sisting texas april
n a c h diesem tag
in der großstadt
in die stille hinein … &
nichts ---sagen
bloß dann & wann 1 paar
wörter
auf das papier schlagen:
erinnerung wagen – er-
innerung an mich selbst?
hier sitze ich
allein & es taut
in meinem kopf
in meinem zimmer
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Welt des Kreativen Schreibens Seite 30

- das ist
keineswegs
eng oder klein! –
& ich wollte …
dann & wann
ging die tür auf
& 1 lied wehte
nach -------------------
-----------d r a u ß e n
Theo Breuer
Donnerwetter, so weit kommt es noch: und dann plötzlich trifft dich der Strahl
der Erleuchtung und du erhältst diese wunderbare Eingebung und du bist
dankbar, möchtest jemandem „Danke" sagen. Es ist aber nichts Geringeres,
als dein eigener Geist, dem du Dank schuldest. Und dann schreibst du wieder.
Die Blockade ist durchbrochen. Die Idee fließt. Flow beim Creative Writing.
So etwas geschieht aber nur nach erfolgter harter Arbeit und gründlicher
Vorbereitung. Und du bist wie ein Farmer der Lyrik, säst die Saat im Frühjahr
aus und die Ernte erfolgt im Herbst.
Das ist Lyrik. Nichts anderes als säen und ernten.
Literaturverzeichnis
Ingeborg Bachmann: Ich weiß keine bessere Welt. Piper Verlag. München
2000.
William S. Burroughs: Der Job. Gespräche mit Daniel Odier. Verlag Ullstein.
Berlin 1986.
William S. Bourroghs: Nova Express. Reinbek 2000.
E. E. Cummings: Poems – Gedichte, the poems to come are for you and for me
and are not for mostpeople – die gedichte hier drin sind für dich und für mich
für meisteleute sind sie nichts, Zweisprachige Ausgabe, Aus dem Amerikanischen
von Eva Hesse, Erweiterte Neuausgabe, textura, Langewiesche-Brandt
Ebenhausen bei München 1994, ISBN 3-7846-0545-1
DUDEN Abiturhilfen. Gedichte analysieren. Mannheim 2000.
Hans Magnus Enzensberger: Zukunftsmusik. Suhrkamp. Frankfurt 1991.
Sophie Goll: Sophies Sampling. Barßel 2000.
Ted Hughes: Etwas muss bleiben. Suhrkamp. Frankfurt am Main 2002.
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Welt des Kreativen Schreibens Seite 31

Inge v. Jadi, Hrsg.: Leb wohl sagt mein Genie. Verlag Das Wunderhorn. Heidelberg
1985.
James Joyce: Ulysses. Suhrkamp. Frankfurt am Main1996.
Gerhard Kaiser: Wozu noch Literatur? Beck’sche Reihe. München 1996.
Mario Klarer: Einführung in die neuere Literaturwissenschaft. Primus Verlag.
Darmstadt 1999.
Hans-Albrecht Koch: Neuere Deutsche Literaturwissenschaft. Wissenschaftliche
Buchgesellschaft. Darmstadt 1997.
Uwe Kolbe: Vineta. Gedichte. Suhrkamp. Frankfurt 1998.
Lax, Robert: the hill. Der Berg. Zweisprachig. Englisch/Deutsch.; Pendo, Zürich
1998; Hrsg: Paula Dias
Volker Meid: Elektronisches Sachwörterbuch zur Deutschen Literatur. CD-ROM.
Reclam. Stuttgart 2000.
Volker Meid: Sachlexikon Literatur. Deutscher Taschenbuch-Verlag. München
2000.
Bert Papenfuß: harm. Janus Press. Berlin 1993.
Fritz Reutemann, Hrsg.: Fluchtzeiten. Das Ende der Totlachgesellschaft? Eine
Lyrik-Anthologie. Geest-Verlag. Vechta-Langförden 2002.
Marianne Schneider, Lothar Schirmer (Hrsg.): O Stern und Blume, Geist und
Kleid .... Blumenbilder und Gedichte. Von Leonardo da Vinci bis Ernst Jandl.
Schirmer/Mosel Verlag, München.
William Shakespeare: Sonette. dtv. München 1996.
Andreas Thalmayr: Das Wasserzeichen der Poesie oder Die Kunst und das
Vergnügen, Gedichte zu lesen. In hundertvierundsechzig Spielarten vorgestellt
von Andreas Thalmayr. Eichborn Verlag Frankfurt am Main 1997
Lutz von Werder: Lehrbuch des kreativen Schreibens. Schibri-Verlag, Berlin /
Milow 1993
William Carlos Williams: Die Worte, die Worte, die Worte. Gedichte. Hg. von
Hans Magnus Enzensberger. Frankfurt/Main 1962.
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Welt des Kreativen Schreibens Seite 32

Im Hier und Jetzt
So we beat on, boats against the current, borne back ceaselessly into the
past 1 . Der letzte Satz aus dem erstmals 1925 erschienenen Roman The Great
Gatsby von F. Scott Fitzgerald.
(cr) Wie Gatsby mag
der eine oder andere
an lauen Sommerabenden
in seinem
Garten stehen und in
die nahende Nacht
hinausschauen. Wie
Jay Gatsby, der
nachts in seinem
dunklen Garten steht,
während seine Gäste
feiern, und mit Blicken
das grüne Licht am
gegenüberliegenden
Ufer, an dem seine
Jugendliebe lebt, Van Gogh: Sternennacht
beschwört und dem
am Ende keine Hoffnung und nicht einmal mehr das Leben bleibt. Auch wenn
er glaubt, voran zu kommen, treiben ihn seine Gedanken zurück in die Vergangenheit,
in der er seelisch vor Anker gegangen ist und der er nicht entkommen
kann und will.
In der Gegenwart, im Hier und Jetzt, wenn die Gedanken und die Aufmerksamkeit
mit der unmittelbaren Umgebung in Einklang schwingen, verliert die
Zeit an Geschwindigkeit. Zwar laufen die Zeiger der Uhren weiter, doch welche
Rolle spielen sie noch? Die Dinge, die eben noch so wichtig erschienen,
ob nun in Gestalt von Formularen, pastellfarbenen Oberhemden, verflossenen
Geliebten oder Brummschädeln, werden zu Nichtigkeiten und ziehen mit
trockenem Laub und Grashalmen stromabwärts.
1
Auf Deutsch: Und so legen wir uns in die Riemen, stemmen uns gegen den Strom, und treiben
doch unaufhörlich in die Vergangenheit zurück. (Übers.: C. Rezazada, Juli 2008).
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Welt des Kreativen Schreibens Seite 33
Carolines Marginalien

Im Hier und Jetzt haben die Blätter verschiedener Bäume ihren individuellen
Klang im Wind. Im Hier und Jetzt enthüllt der dunkler werdende Nachthimmel
von Sekunde zu Sekunde mehr Sterne und Planeten, blinkende Flugzeuge und
Satelliten, die gleichmäßig ihre Bahnen ziehen – wenn man nur den Blick
hebt.
Bibliographie:
F. Scott Fitzgerald: The Great Gatsby. London (Penguin) 1973. ISBN 0-14-
008204-2. 176 S. 7,99 €.
Dt. Ausgabe:
F. Scott Fitzgerald: Der große Gatsby. Roman. Übersetzung Bettina Abarnell.
Mit einem Nachwort von Paul Ingendaay. Zürich (Diogenes) 2007. ISBN 3-
257-20183-4. 188 S. 9,90 €.
Das Institut
Ich habe gerochen, geschmeckt, gespürt
Lesung und Wettbewerbspreisverleihung bei der Landesgartenschau in Bingen
(ehn) Vom Schreiben der Sinne – so lautete die Aufgabenstellung. Zwanzig
Autoren beteiligten sich am Wettbewerb, drei von ihnen wurden als Preisträger
geehrt.
eXperimenta-Schriftleiter Toni Reitz präsentierte sie bei einer Lesung in der
Landesgartenschau in Bingen. Es war eine Veranstaltung des Instituts für Kreatives
Schreiben (INKAS) nach einer Idee von Rüdiger Heins im vergangenen
Herbst. Während er sich jetzt auf einer fernen Insel sonnte, schwitzten auf den
Stufen des Tunneltheaters vor allem Chris Blomen-Pfaff und Christine Seiler, die
Organisatorin und die Regisseurin des Abends, gemeinsam mit dem Moderator,
in der Schwüle der Unwägbarkeiten, bevor eine nach dem anderen in der
Arena stand.
Eins wollte den dreien nicht gelingen: die Wolken am Himmel ließen sich
von ihnen nicht hinter den Bergen halten. Eine geschützte Bühne stand nicht
zur Verfügung. „Hoffentlich wandelt sich das bunte Stimmungsbild der beteiligten
Künstler an diesem Abend nicht in regengraue Apathie.“ Diese nur leise
geäußerte Sorge stand zwar auf keine Stirn geschrieben, eher glühte lächeln-
eXperimenta 08 & 09/2008: Das Institut Seite 34
Veranstaltungen von INKAS

der Trotz auf den Wangen aller, denen man ansah, wie gerne sie Mikrofon
und Lautsprecherbox benutzt hätten, um den Himmel anzuschreien. Doch
niemand tat es.
Auch Gernot Blume
ließ seine Harfe nicht
traurig weinen. Sein
ermunterndes Spiel
übertönte fast schon
auftrumpfend leichtes
Prasseln auf gelegentlich
aufgespannten Regenschirmen.
Trotz der
Widrigkeit keine aufmüpfigen
Stakkati. Im
Gegenteil: Die Saiten
des Instrumentes begrüßten
immer wieder einmal,
leise und ganz von
alleine singend, als
würden sie die Liebkosungen
begrüßen, die
Kraft des Windes.
Auf den Publikumsrängen
saßen leider
nicht so viele, wie es die
Akteure des Abends
verdient hatten. Die eine
und der andere vernahm
deshalb sehr wohlwollend
die Ankündigung, dass dieser Wettbewerb recht bald zu einer Anthologie
führen soll, die eXperimenta online anbieten werde. Im Publikum wurde sofort
geflüstert: „Hoffentlich auch die Texte, die nicht ausgewählt worden sind…“
Das bewies, wie neugierig dieser Abend auf mehr gemacht hat, auch wenn
der Himmel ihn grollend beendete, mit Blitz und Donner und Regenguss dem
Miteinander ein vorzeitiges Ende setzte. Der Eingangsmoderation folgend war
das dann tatsächlich eine Erfahrung mit allen Sinnen: die Luft roch, das Nass
schmeckte, der Donner ließ die Worte verstummen, die Blitze schreckten die
Augen, das Gefühl bemächtigte sich eines jeden einzelnen; dieser Tagebucheintrag
schrieb sich quasi von selbst.
eXperimenta 08 & 09/2008: Das Institut Seite 35

Im Mittelpunkt der kurz vorher erst eingeübten Performance standen sehr unterschiedlich
gesetzte Texte. Jeder einzelne hätte genügend Anlass geboten,
mit den Autoren ein interessantes Gespräch zu führen. Wenn Sinne schreiben,
dann sind es Menschen, die all ihr Gespür ihre kreativen Gedankenspiele
formen lassen. Dem einen oder dem anderen mag aufgefallen sein, dass diese
Menschen an diesem Abend irgendwie viel zu kurz kamen. Weder Organisation,
noch Regie, noch Moderation hätten unter den gegebenen Bedingungen
etwas daran ändern können. Der Wettlauf gegen die Nässe als eine, diesmal
unerwünschte, sinnliche Erfahrung sollte im Nachhinein als ein sportliches
Unterfangen betrachtet werden, das als beinahe gelungen zu bezeichnen ist.
Für manche(n) war es eine Premiere, die die Nerven stählte.
Rüdiger Heins hat nun die Möglichkeit zur Wiedergutmachung, ihm steht
mit seiner Sendung in Radio Rheinwelle ein passendes Medium zur Verfügung,
was jetzt eine Menge Hoffnungen weckt, wenn dies an dieser Stelle angemerkt
wird. Ich bin so frei.
Die leisen Töne sind’s
An diesem Samstagabend in der Arena der Landesgartenschau haben vierzehn
Menschen dazu beigetragen, dass ich mich den Himmelsallüren wohlgelaunt
entzog.
Ich nehme mir nun heraus, mich über alle Gebote journalistischer Objektivität
hinwegzusetzen. Denn so wie das Windspiel in den Saiten der Harfe leise
Töne erklingen ließ, so brachten hier mehrere Leute die Saiten auf meiner
Seele zum Schwingen, was den Resonanzkörper meiner glücklicherweise nicht
mehr vergrabenen Kinderseele noch anderntags nachklingen ließ.
Karina Schlingensiepen aus Wuppertal bewies mir einmal mehr, wie literarisches
Schreiben im Glücksfall auch ein engagiertes Schreiben ist. Ich gebe
zu, dass bereits der Titel ihres Textes mich, den Maler von Mohnblüten, einfing.
Mohnblütenrot traf mich das Signal, auch behinderten Menschen sinnenfroh
gegenüber zu treten. Die Autorin, Jahrgang 1982, bereits mehrfach
ausgezeichnet, wird mit Sicherheit noch öfter ähnlich ergreifend Aufmerksamkeit
wecken. Möglicherweise passen auch andere Geschichten, um sich zu
einem Hörbuch ermutigt zu fühlen. Karina Schlingensiepen, eine Journalistin
mit sehr literarischer Ader, lässt ihre blinde Meg unterstreichen, dass Blätter
nie glücklicher als im Herbst riechen, wenn sie, Farbe ausstrahlend, so viel zu
erzählen haben. Ein anrührender Text, der mit einem stillen Gefühl in einem
glücklichen Augenblick endet, in dem geschlossene Augen so unendlich mehr
sehen können als geöffnete. Das Mohnblütenrot, das ihr in die Hand gelegt
eXperimenta 08 & 09/2008: Das Institut Seite 36

wird von jemandem, dem sie sehr nahe sein will, diese ausgestrahlte Wärme,
das war für alle ein Geschenk.
Die drei Siegerinnen des Wettbewerbs: Marlene Schulz, 3. Preis, Karina
Schlingensiepen, 1. Preis, Anja Wedershoven, 1. Preis (v.l.n.r.). © Chris
Blomen-Pfaff 2008
Dankbar war ich an diesem Samstagabend auch Anja Wedershoven aus
Mönchengladbach für ihre Blütenküsse. Die Leiterin einer Autorengruppe,
Jahrgang 1968, selbst Literaturkritikerin, hat sich mit einem ganz besonderen
Feingefühl zu Kinderseelen im Aufbruch geneigt, eine Wegmarkierung einem
vor Augen und ins Herz gestellt, die in jedem Leben zu den sinnlichsten Erfahrungen
gehört, die aber nicht immer in den Klangschalen der Erinnerungen
diese zarten Töne hören lassen. Wenn ich einen Wunsch frei hätte, den mir
die Fee Anja Wedershoven erfüllen wollte, dann wäre es der, dass diese
Blütenküsse einmal mit ähnlichen Begebenheiten in einem Buch daher kommen.
Die Geschichte selbst ist so dicht, dass sie kaum erweitert werden kann,
aber der Autorin gesteht man gerne zu, dass sie aneinander reihen darf, was
ihr mit so viel Gefühl aus der Feder fließt.
eXperimenta 08 & 09/2008: Das Institut Seite 37

Beim Anhören des Textes der Gewinnerin des dritten Wettbewerbspreises
fragte der Journalist sich zunächst, ob diese Geschichte möglicherweise eine
vornehm artikulierte Reaktion sei. Mir ist nicht bekannt, ob Marlene Schulz aus
Hofheim ihre Geschichte schrieb, als der Bestseller Feuchtgebiete bereits den
Gipfelsturm der permanenten Medienpräsenz angetreten hatte. Aber es drängte
sich mir der Verdacht auf, dass hier von der Erziehungswissenschaftlerin,
die belletristisches und journalistisches Schreiben studiert hat, eine andere
Seite kreiert werde. Dem Vorschlaghammer in den Verkaufsregalen ist hier ein
Goldschmiedehämmerchen entgegengestellt. „Alles kann, nichts muss“, ein
beliebter Satz in Singlebörsen und anderswo, geformt am Ende eines Heilfastens
und vor einer Hinwendung zu anderen Ufern, hat subtile Wendungen
assoziativ bereitgestellt, scharf gewürzt für diejenigen, die ihre Phantasien
spazieren führen. Beim Nachlesen des Textes habe ich eine doch größere
Bewunderung für die stilistischen Feinheiten aufgebracht. Diese Bewunderung
kommt allerdings fast allen Texten zugute, die ich im Tunneltheater in Bingen
hörte und zuhause am Schreibtisch nachgelesen habe.
Das laute Leben
An dem Abend standen Kindheitserinnerungen im Vordergrund, Marlene
Schulzes Text war nicht der einzige, der aus dem Rahmen fiel. So ist das
eben. Dieser Abend ließ auch erkennen, dass mancher Text besser in der
Schublade reifen sollte. So wünsche ich Manolo Link, dass er sein Märchen
von weisen Sinnen einer umfangreichen Überarbeitung unterziehen möchte.
Kreativ gewachsene Texte dürfen wuchern, sie dürfen aber auch beschnitten
werden, um Wachstumswünschen gerecht zu werden. Links Text ist ebenso der
Text eines Studierenden am INKAS wie der von Manuel Göpferich. Dessen
Gedankenspiel hat mir ebenfalls gefallen, aber dem Text fehlt etwas, was der
Schreiber selbst feststellen müsste. Ich dachte nebenbei an die Rose, die einer
der Bettlerin schenkte. Immerhin.
Celestine von Gerda Fuckner „fängt ein, was uns droht zu flüchten“: Diesmal
forsch abenteuerlich, in einem von ihr bestimmten Fall und nicht allgemein,
was Mann erhofft, was Frau will, was man einander gibt und nimmt. Ein ebenso
prickelnder wie nachdenklicher Text, der stilistisch und inhaltlich nun noch
mehr erwarten lässt. Die Autorin Gerda Fuckner kann Frau und Mann, die ihr
ebenso amüsiert wie hellhörig lauschen, sehr neugierig werden lassen.
Christine Seiler, angehende Pädagogin, die mit erst 22 Jahren schon Dozentin
für kreatives Schreiben ist, warum auch nicht, demonstrierte mit ihrem
eXperimenta 08 & 09/2008: Das Institut Seite 38

Beitrag, was das ist, kreativ mit allen Sinnen zu schreiben. Sie stellte ihr tobendes
Ich im aufbrausenden Kaufhaustrubel ihren Zuhörern mit Lauter Leben
gekonnt ins Ohr.
Manuel Göpferich aus Kraichgau setzte „Laute Schläge“ nachsinnend hinterher.
Die Germanistin Marion Eisenberger aus Ladenburg, Journalistin im
Gesundheitswesen, präsentierte anschließend jahreszeitlich beheimatete Haiku.
Sommergefühle hatten zu dieser Zeit keinen Platz mehr. Ihr Regen-Haiku
sorgte für Schmunzeln. Denn just in diesem Augenblick verlor die Autorin
ebenso wie die sich daran anschließende Harfenmusik den Wettlauf gegen
Blitz und Donner.
Die Kinderseele lächelt
Zurück zum Ursprung unserer Kreativität. Zurück zu den Wurzeln: Die Küche
meiner Kindheit von Chris Blomen-Pfaff, Erinnerung an einen Duft meiner Kindheit
von Anne Mai und Ein Duft meiner Kindheit von Carla Capellmann, drei
Texte, die gemeinsam mit mir bekannten anderen Texten von Kursabsolventen
in der Schule von Rüdiger Heins eine besondere Anthologie ersehnen lassen,
ein Kompendium von gefühlsstarken Erinnerungen für ein Erzählcafé der Generationen.
Vielleicht lässt der INKAS-Chef sich schon bald für diese Idee
erwärmen.
Chris Blomen-Pfaff zitiert selbst ihren Sohn: „Sie lebt ganz viel und schreibt
darüber“. Die gebürtige Saarbrückerin, die in Bingen eine Konzert-Agentur
betreibt, wurde bei dieser Veranstaltung ein Kulturquirl genannt. Ihr Text kam
aber sehr besinnlich daher, sehr eindringlich, sehr Geheischnis erinnernd.
Dieser Schrank in Omas Küche, diese geheimnisvolle Truhe mit ihren besonderen
Schätzen, wer erinnert sich nicht gerne daran, sofern man eine solche
Oma gehabt hat.
Carla Capellmann aus Königswinter beschreibt Unterschiedliches eindrucksvoll
und nachvollziehbar, unter anderem auch wie Zigarettenqualm zu
Hause die Luft war, die sie atmen musste, der sie sich mit gemischten Gefühlen
erinnert, neben so vielem anderen in ihrem einst jugendlichen Alltag, auch
dessen, wessen sie sich nicht erinnern möchte.
Für Anne Mai aus Mandelbachtal ist frisch gemahlener Bohnenkaffee, eben
erst aufgebrüht, ein besonderes Samstagsbouquet gewesen, dem man heute
noch gerne nachschmecken möchte, mit allem was geruchsintensiv dazu gehörte.
eXperimenta 08 & 09/2008: Das Institut Seite 39

Ja, da war noch Gertrud Kati Schwabach, zu dieser Veranstaltung als Gastautorin
eingeladen. Ihr Gedicht Du an meiner Seite, in wohlgesetzten Zeilen
gereimt, ließ eingangs der Veranstaltung schon Flügel wachsen, die trotz aller
Bitternis der widrigen Umstände wegen über den Abend hinweg getragen
haben. Sie meinte wohl jemand anderes, als die übrigen Autoren in diesem
Augenblick gedacht haben, aber denen und den Zuhörern hat der Zuspruch zu
frei laufenden Gefühlen gut getan.
Autoren brauchen Zuhörer, die applaudieren. Es hätten an diesem Abend
wirklich mehr sein sollen. Und mindestens zwei hätten länger anhaltenden
Applaus verdient gehabt. Abgesehen von dem auch diesmal wieder begeisternden
Gernot Blume, dem man gerne nachreisen möchte, wenn man seine
Konzerttermine im Internet gefunden hat.
Der Wegweiser
Kurzgeschichten gesucht
Verlag Buena Vision in Kassel lädt talentierte Autoren ein
(ehn) „Verlag sucht talentierte Autoren“ annonciert Markus Weuthen aus Kassel.
Der gelernte Buchhändler aus dem Rheinland hat vor einigen Monaten den
Verlag Buena Vision gegründet. Zu den geplanten Buchprojekten gehören
sogenannte Versendbücher, die man in einem normalen Briefumschlag verschicken
kann. Derzeit denkt Weuthen über Literatur fürs Hotelzimmer nach.
Deshalb ruft er „Schreibbegeisterte“ dazu auf, ihm „stilvolle Kurzgeschichten
mit positiver Konnotation“ zum Thema „Hotel“ sowie „geschmackvolle Erzählungen“
zum Bereich „Erotik“ zu überlassen. Die Texte sollen einen Umfang
von maximal vier DIN A4-Seiten haben. Die Autoren behalten ihre Urheberrechte
und werden mit hundert Euro pauschal entlohnt. Bei Eignung der Texte
werden Folgeaufträge in Aussicht gestellt. Markus Weuthen, Jahrgang 1965,
hat unter anderem auch sozialpädagogisch sowohl im Kinder- als auch Erwachsenenbereich
gearbeitet und an der Universität Kassel Visuelle Kommunikation
studiert. Schon mehrfach arbeitete er mit Tom Tiggemann zusammen,
dem Leiter des Instituts für Kreatives Schreiben in Kassel, war Teilnehmer an
dessen Kursen und hat mit ihm Lesungen veranstaltet.
eXperimenta 08 & 09/2008: Der Wegweiser Seite 40

Die verlagseigene Homepage befindet sich noch im Aufbau. Buena Vision
hat bislang zwei Bücher herausgebracht: Weinerzählungen sowie 33verrückte
Ideen für den Alltag. Kontakt zum Verlag bekommt man schriftlich unter der
Adresse Markus Weuthen, Dag-Hammarskjöld-Straße 54, D-34119 Kassel oder
per Email an info@buena-vision.de.
Statt der üblichen Fernsehtips erreichen uns von unserer Korrespondentin zwei
Gedichte, die sich wie Hilferufe aus der Dürre lesen.
Carla Capellmann: fern
: weh
sehnen
(seh ich + dreh)
wortbedeutung
im sommerwind
tipp e ich + ver
: mute (mut+will+ich)
dass sich
_NIEMAND_
für tipps interessiert
tippe ich + schreibe
es auf + schreibe (es auch)
(was ich denke)
dass
: fern weh seh
dass
: fern seh weh
dass
eXperimenta 08 & 09/2008: Der Wegweiser Seite 41
Television

: seh weh weh seh
dass
(ich stottere)
fernseh
ist baeh ist verwerflich
ist schlecht (und nicht recht)
für den künstler die kunst
ist zu streichen
+ AUS
diesem grunde
gibt es
in dieser
aus
:gabe keine
(minus)
tv-tipps
eine frage
:
seh ich
(fernes)
weh?
Carla Capellmann: fern (es) sehen
in der ferne
der winter
rückt näher
blaue träume
die mattscheibe
grauen.voll
schwarz kein gedicht
eXperimenta 08 & 09/2008: Der Wegweiser Seite 42

diesen sommer - dieser sommer
er lacht
in die ferne
wehen bilder
bemalen
den eigenen film
im netz / auf der netzhaut
digitalgefrieren
für den winter
(eiskalt) der sommer
wer lacht
aus der fern e
ge.seh.en
(totes tv)
Was ich gerade lese
Harry Mulisch: Das Attentat
(am) Der Roman erzählt die Geschichte einer Verdrängung und ihre schrittweise
Offenlegung durch scheinbar zufällige Ereignisse. Die Handlung beginnt an
einem Januarabend 1945 in Haarlem bei Amsterdam. Der Zweite Weltkrieg
geht zu Ende, aber Holland ist noch immer unter deutscher Besatzung. In einer
Straße mit nur vier Häusern fällt abends ein sechsfacher Schuss. Der tote
Nazikollaborateur wird von Nachbarn vor das Haus der Familie Steenwijk
geschleift. Deren zwölfjähriger Sohn Anton verliert in dieser Nacht seinen
Bruder und seine Eltern. Erst lange Zeit später entschlüsseln sich für ihn die
Ereignisse seiner Vergangenheit, abschließend im Jahre 1981 mit dem letzten
noch fehlenden Baustein in der Rekonstruktion der Aufklärung des Anschlages.
Das recht dünne Buch hatte es in sich und verübte bereits auf den ersten
Seiten ein Attentat, indem es mich am narrativen Haken packte und in die
Seiten zog. Ich entdeckte beeindruckende Sätze in einer klaren Sprache.
Mulisch ist sparsam mit Adjektiven und arbeitet mit präzisen Substantiven. Er
eXperimenta 08 & 09/2008: Der Wegweiser Seite 43

lässt keinen reinen Übeltäter zu, sondern findet für jeden Protagonisten ein
Licht, das die unterschiedlichen Facetten der Charaktere, ihre Ausformung
und Handlungsweisen ausleuchtet. Der Inhalt wirkte auf mich auffallend konstruiert,
hielt aber trotz dieses Eindruckes über den gesamten Text eine hohe
Spannung. Das Werk war in den achtziger Jahren der größte literarische
Erfolg in den Niederlanden.
Harry Mulisch, 1927 in Haarlem geboren, lebt in Amsterdam. Sein Vater
verwaltete während der Nazizeit als Direktor einer Bank auch konfisziertes
jüdisches Eigentum, seine Mutter war eine Frankfurter Jüdin. In seinem umfangreichen
Werk spielt der Zweite Weltkrieg eine zentrale Rolle.
Bibliographie
Harry Mulisch Das Attentat. Roman. Orig.: De Aanslag. Aus dem
Niederländischen von Annelen Habers. rororo Taschenbücher
22797. Reinbek bei Hamburg (Rowohlt)
11 2007. ISBN 978-3-499-22797-4. 189 S. 7,95 €.
(tr) Und außerdem empfiehlt der Doktor:
Ian McEwan Am Strand. Roman. Orig.: On Chesil Beach. Aus dem
Englischen von Bernhard Robben. Zürich (Diogenes)
2007. ISBN 978-3-257-06607-4. 206 S. 18,90 €.
Allfälliges
Seminare
3. — 5. Oktober
2008
Abenteuer Schreiben im Kunstzentrum Bosener Mühle
Ein Intensivseminar im Textcoaching mit Rüdiger Heins
Kommt Ihnen das bekannt vor? Sie haben eine gute
Idee für eine Geschichte, aber der Text fließt nicht aus
Ihnen heraus.
eXperimenta 08 & 09/2008: Der Wegweiser Seite 44

ab 30. Oktober
2008
Diese permanente Anspannung überträgt sich auch auf
Ihre Lebensqualität; denn Kreativität möchte sich entfalten
können. Die Frage ist nur: „Wie kann ich lernen,
meine Kreativität im Schreiben ins Fließen zu bringen?
Und: Wie funktioniert das Schreiben von Gedichten,
Kurzgeschichten und anderen Texten?“
Spätestens das ist der Zeitpunkt für ein Textcoaching:
Sie brauchen jemanden, der Ihnen von außen auf die
Sprünge hilft, damit Ihr Selbstmanagement in Bewegung
kommt.
In dem Intensivseminar Abenteuer Schreiben werden
Sie auf die Widerstände eines Autorendaseins aufmerksam
gemacht, um Ihnen im Alltag gut vorbereitet
begegnen zu können. Im Textcoaching werden Sie mit
dem Selbstmanagement vertraut gemacht und der
Organisation Ihres Schreiballtags.
Mit unterschiedlichen Bausteinen des literarischen
Schreibens und den Methoden des „Creative Writing
werden die Seminarteilnehmer in de Realisation eines
geplanten Schreibprojektes eingeführt. Der Seminarleiter,
selbst erfahrener Buchautor, gibt in diesem Seminar
auch einen Einblick in seine Textarbeit.
Für dieses Seminar ist keine Vorkenntnis nötig. Die
Inhalte sind für Anfänger und Fortgeschrittene geeignet.
Teilnehmerbegrenzung: 12 Personen
Ort: Kunstzentrum Bosener Mühle
Telefon: +49 (68 52) – 74 74
Studium Creative Writing am Inkas Institut
Sondertermin:
30. Oktober 20:00 Uhr Besuch eines literarischen
Vortrags im Ida Dehmel Saal in Bingen.
eXperimenta 08 & 09/2008: Der Wegweiser Seite 45

Reguläre Studientermine:
31. Oktober bis 01. November 2008
21. bis 22. November 2008
19. bis 20. Dezember 2008
30. bis 31. Januar 2009
27. bis 28. Februar 2009
27. bis 28. März 2009
Beginn des Sommersemesters:
24. bis 25. April: Beginn des Sommersemesters 2009
Ablauf:
Freitag 18:00 bis 20:00 Uhr Themenabend
Der Samstag beginnt um 10:00 Uhr mit einem Schreiblabor,
in dem Übungen aus dem Creative Writing als
Warming Up einstudiert werden. Das Schreiblabor ist
verpflichtend und eine Möglichkeit zum Erwerb eines
Leistungsnachweises.
Ab 14:00 Uhr beginnt der Studientag (und endet um
18:00 Uhr) mit literaturtheoretischen Erkenntnissen
(Lyrik und Prosa), die auch schreibend umgesetzt werden.
Die Institutsräume in Bad Kreuznach befinden sich in
der Magister-Faust-Gasse 37 und in der Bahnhofstraße
26 (Bildungszentrum St. Hildegard). In Bingen in der
Mainzer Str. 25 (Stift St. Martin).
Die Studientermine finden grundsätzlich im Bildungszentrum
St. Hildegard statt, während Lektoratsgespräche
und Projektgruppen im INKAS Institut (Magister-
Faust-Gasse) durchgeführt werden.
eXperimenta 08 & 09/2008: Der Wegweiser Seite 46

Rundfunk
26. August 2008 15.00 — 17.00 Uhr, Radio Rheinwelle
eXperimenta im Radio
Die Radiosendung für Kreatives Schreiben bei Radio
Rheinwelle
Thema: Moderne Lyrik Teil 3
Moderation und Sendeleitung: Rüdiger Heins
Hörspiel
30. August 2008 15.15 Uhr, Bayern 2
Tankred Dorst/Ursula Ehlers: Auf dem Chimborazo
Zum Jubiläum ihres Hochzeitstages besteigt die resolute
ältere Dorothea zusammen mit ihren Söhnen Heinrich
und Tilmann einen Berg nahe der Grenze zur
DDR. Mit von der Partie ist auch ihre langjährige
Freundin Klara. Dorothea schwärmt von einer erlebnisreichen
Vergangenheit und ihren wohlgeratenen Söhnen.
Außer Klara scheinen alle erfolgreich zu sein.
Dann brechen Konflikte auf und die erlogene Fassade
gerät ins Wanken. Es bleibt Verbitterung, Mittelmäßigkeit
und die Unfähigkeit, das Leben zu bewältigen.
Regie: Ulrich Gerhardt
31. August 2008 18.20 Uhr, SWR2
Per Olov Enquist: Gestürzter Engel
„Man soll nicht versuchen, Liebe zu erklären. Aber
wenn man es nicht versuchte, wo stünden wir dann?“
Ein Mann erinnert sich, träumt und erzählt. Nicht vom
Durchschnittsfall. Die radikale Wahrheit der Liebe
erfüllt sich für ihn in einem Skandal, der nur mit Verständnis
nicht gut zu erklären ist.
Regie: Norbert Schaeffer
Produktion: SWR 1998
11. September 2008 23.04 Uhr, SR 2
eXperimenta 08 & 09/2008: Der Wegweiser Seite 47

Kurt Vonnegut: Am einen Ende ein Feuer und am anderen
Ende ein Narr
Das experimentierfreudige Hörspiel verknüpft absurde
kleine Geschichten mit betrachtenden Passagen aus
„Mann ohne Land“, in denen es um Politik geht, aber
auch um die Tabakindustrie, Zivilisationskritik und
Literatur. Vonneguts Betrachtungen wirken meinungsfreudig
und witzig, manchmal weise, sein Witz funktioniert,
wie von ihm gewohnt, als Ventil der Verzweiflung.
Bearbeitung und Regie: Martin Schütz und Markus
Wolf
Produktion: DRS 2007
12. September 2008 22.03 Uhr, SWR2
Friederike Mayröcker: Gärten, Schnäbel, ein Mirakel,
ein Monolog, ein Hörspiel
„Schlafe auf Nervenkitzel“, sagt die Dichterin, „ganz
dünner durchsichtiger durchlöcherter Schlaf“. – „Mein
Gang ist unsicher, ich werde schwächer ... es ist zu
spät, der Sommer verhaucht.“ – „Ich habe keine Inspiration,
sage ich zu meinem Arzt.“ Doch die Ärztin
tröstet. „Schreiben“, sagt sie, „werden Sie länger
können als lesen.“ In ihrem jüngsten Hörspiel flaniert
Friederike Mayröcker durch einen Park poetischer
Assoziationen. Selbstverständlich taucht auch ER immer
wieder auf, Ernst Jandl, der Begleiter durch Jahrzehnte.
Klaus Schöning, als Regisseur ebenfalls ein langjähriger
Partner der Dichterin, hat Friederike Mayröckers
Monolog arrangiert und mit Musik von John Dowland
zu einem Stück berührender Radiokunst verwoben.
Regie: Klaus Schöning
Produktion: ORF/SWR 2008 - Ursendung
19. September 2008 22.03 Uhr, SWR2
Almut Tina Schmidt: Die Stunde des Metronoms
Wolf hält einen Traum nach dem Erwachen weiterhin
für Wirklichkeit und gerät über sein ungeordnetes
eXperimenta 08 & 09/2008: Der Wegweiser Seite 48

Bewusstsein ins Straucheln. Er stürzt zurück in sein
Kindheitstrauma: Die von ihm gefürchtete Klavierlehrerin
steht ihm wieder leibhaftig gegenüber – und hat
nichts von ihrem Schrecken verloren. Er ist wieder
gefangen in der Welt der Fingerübungen und Konkurrenzkämpfe
mit Zahnspangen tragenden Streberschülern.
Alles ist, wie es war – nur noch viel bizarrer. Was
ist die Zeit? Metronom und Uhr ticken um die Wette
und lassen Wolf alleine mit der Unausweichlichkeit
seines Albtraums.
Regie: Susanne Krings
Produktion: WDR 2006
20. September 2008 15.15 Uhr, Bayern 2
Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften
Ein Romanprojekt und Schreibexperiment, das seinen
Autor 20 Jahre vollkommen beanspruchte und bis zum
Ende seines Lebens 1942 nicht losließ. Das Werk blieb
unvollendet. Zu Lebzeiten wurden bereits 1600 Seiten
veröffentlicht, im Nachlass fanden sich weitere 6000
Manuskriptseiten. Es gilt als Werk, das an literarischer
Brillanz, an sprachlicher Präzision, Ideenfülle und
Identifikationspotential kaum zu überbieten ist. Noch
heute polarisiert der unvollendete Roman die Kritiker.
Regie: Klaus Buhlert
Produktion: BR 2004, Remix erster und zweiter Teil
(von 20 insgesamt)
25. September 2008 20.04 Uhr, SR2
Henning Mankell: Begegnung am Nachmittag
Ein älteres Ehepaar redet nach vielen Jahren das erste
Mal wieder miteinander. Seit fast 60 Jahren sind sie
verheiratet, seit 24 Jahren leben sie getrennt. Sie
möchte jetzt einen klaren Schlussstrich ziehen. Die
Scheidungspapiere hat sie bereits vorbereitet, doch er
weigert sich, diese zu unterzeichnen – schließlich liebe
er sie nach wie vor. Im Streit kommen allerhand Themen
auf den Tisch. Schließlich macht sie ihm ein Geständnis.
Ein ehrliches und glaubwürdiges Stück, zu-
eXperimenta 08 & 09/2008: Der Wegweiser Seite 49

Die Redaktion
Neuer Redakteur
weilen bissig und zynisch, aber stets amüsant.
Besetzung: Nadja Tiller und Walter Giller
Regie: Rainer Clute
Produktion: DLR/RB/SR 2008
Edgar Helmut Neumann, Jahrgang 1947, arbeitet
journalistisch seit 1964, fast drei Jahrzehnte als
Tageszeitungsredakteur unter anderem bei der
Main-Post in Würzburg sowie beim Darmstädter
Echo. Heute ist er ehrenamtlich „Dorfschreiber“ in
Felsberg und Vorsitzender der Künstlergruppe
Bisttal. Dort moderiert er nebenher eine Experimentelle
Schreibwerkstatt. Er selbst verbindet malen und
schreiben zu Symbiosen von Farben und Worten.
(tr) Diese Nummer der eXperimenta war die erste, die in einem Redaktionsteam
erstellt wurde. Ich danke Frau Auler und Herrn Neumann ganz herzlich
für die intensive, ernsthafte und ergebnisorientierte Zusammenarbeit.
Impressum
Redaktionsanschrift: INKAS – Institut für Kreatives Schreiben im Netzwerk für
alternative Medien und Kulturarbeit e.V., Magister-Faust-Gasse 37, D-55545
Bad Kreuznach und Dr.-Sieglitz-Straße 49, D-55411 Bingen, Telefon & Fax
+49 (6721) 92 1060, E-Mail: Info@Inkas-Id.De
Herausgeber: Rüdiger Heins (rh)
Redaktion: Ellen Auler (ea), Edgar Helmut Neumann (ehn), Toni Reitz – Schriftleitung
(tr)
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Redaktion Seite 50

Korrespondenten: Carla Capellmann – Television (cc), Anne Mai – Hörspiel
(am), Caroline Rezazada – Marginalien (cr), Carmen Weber – Graphik und
Bild (cw).
Herstellung: Toni Reitz
Auflage: 2.723
Einsendungen: Literarische Beiträge bitte mit Bild und Kurzvita an
Dr.Toni.Reitz@T-Online.De. Für eingesandte Beiträge kann keine Haftung übernommen
werden.
Die Rechte an namentlich gekennzeichneten Beiträgen liegen beim jeweiligen
Autor. Alle sonstigen Rechte liegen beim Institut für Kreatives Schreiben Bad
Kreuznach und Bingen und bei ID Netzwerk für alternative Medien- und Kulturarbeit
e.V.
© ID Netzwerk für alternative Medien- und Kulturarbeit e.V.
ISSN 1865-5661, URN: urn:nbn:de:0131-experimenta3
Sollte gegen geltendes Urheberrecht verstoßen worden sein, bitten wir um
umgehende Benachrichtigung.
Bilder: Seite 1 Editorial © Friederike Zabel 2008. Seite 12 Illustration aus
TIME public domain. Seite 33 Van Gogh: Sternennacht urheberrechtsfrei. Seite
35 Programm der Lesung © Toni Reitz 2008 unter Verwendung einer Fotographie
von Christine Seiler, © 2006. Nicht namentlich gekennzeichnete Bilder
der Autoren und Redakteure wurden von ihnen selbst zur Verfügung gestellt.
In der Rechtschreibung folgen wir jeweils den Gepflogenheiten des Autors.
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Redaktion Seite 51