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Renaissance der Druckerschwärze

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Essay<br />

<strong>Renaissance</strong> <strong>der</strong> <strong>Druckerschwärze</strong><br />

von Peter Littger, Berlin<br />

Es gibt diesen Wunsch nach einer gewissen<br />

Balance – weniger auf Monitore zu<br />

starren und zu klicken, son<strong>der</strong>n mehr zu<br />

blättern. Auf Papierseiten Ruhe und eine<br />

wohlig altmodische Art <strong>der</strong> Erkenntnis zu<br />

finden. Ist das Berühren, das Lesen und das<br />

Betrachten von Papier ein Grundbedürfnis<br />

– eines, das sich in 560 Jahren seit Gutenbergs<br />

Druckmaschine in unseren Genen verankert<br />

hat??<br />

Es gibt einige starke Anzeichen dafür<br />

Zum Beispiel in <strong>der</strong> Oranienburger Strasse<br />

84 in Berlin. Dort erscheint seit dem September<br />

2009 das – noch – Onlinemagazin<br />

von Dr. Dr. Alexan<strong>der</strong> Görlach: «The European».<br />

Lukasz Gadowski, Erfin<strong>der</strong> <strong>der</strong> Website<br />

«Spreadshirt» und Co-Finanzierer von<br />

Görlachs Redaktion, hatte es schon bevor es<br />

offiziell wurde während einer Partynacht<br />

im Berliner Club Cookies ausgeplau<strong>der</strong>t:<br />

«Wir werden den ‹European› bald drucken.»<br />

Ihm war ein gewisser Stolz ob dieses verwegenen<br />

Plans anzumerken: In <strong>der</strong> Clubatmosphäre<br />

klang «Wir drucken» wie «Wir<br />

sind ein bisschen verrückt!». Mit an<strong>der</strong>en<br />

Worten: Let’s go crazy, let’s print!<br />

Es muss erwähnt werden, dass Chefredakteur<br />

und Herausgeber Görlach damit erst<br />

einmal unfreiwillig in die Fussstapfen des<br />

unseligen Robert Maxwell tritt, <strong>der</strong> 1990<br />

schon einmal eine Zeitung «The European»<br />

herausgegeben hatte und ein Jahr später verstarb,<br />

nachdem er von seiner Yacht gefallen<br />

war. Maxwells erster «European» wurde<br />

dann von den Barclay-Brü<strong>der</strong>n gekauft<br />

und vollkommen defizitär im Jahr 1998 geschlossen.<br />

Allerdings sollten sich Gadowski und vor<br />

allem Görlach von dieser Vorgeschichte<br />

nicht irritieren lassen, denn erstens besitzen<br />

sie keine Yachten, zweitens publizieren sie<br />

ihren «European» in vollkommen an<strong>der</strong>en<br />

Zeiten, in denen europäische Themen Hochkonjunktur<br />

haben, drittens gehen sie kein<br />

Risiko ein mit (vorerst) nur vier Ausgaben<br />

pro Jahr – und, Gott sei Dank, agieren sie<br />

ja nicht aus England heraus, son<strong>der</strong>n von<br />

Berlin aus.<br />

Früher war alles verdammt digital. Früher – das war noch vor drei Jahren. Seitdem ist<br />

das gedruckte Wort wie<strong>der</strong> da. Entschleunigung durch gelegentliches Erscheinen.<br />

Schaulust auf dem Coffeetable. Haptik durch Papier.<br />

Sie folgen damit einem Prinzip, das vor<br />

zwei Jahren schon auf <strong>der</strong> «Rue89» in Paris<br />

erfolgreich getestet worden ist – allerdings<br />

in einer etwas an<strong>der</strong>en politischen Ecke als<br />

<strong>der</strong> «European»: Fünf Journalisten protestierten<br />

2007 gegen die Übernahme ihrer<br />

Tageszeitung «Liberation» durch den Magnaten<br />

Edouard de Rothschild. Der verstand<br />

die Befreiung an<strong>der</strong>s als sie: runter von<br />

Redaktionskosten und weg mit linker Ideologie.<br />

Sie gründeten eine eigene Redaktion<br />

mit <strong>der</strong> revolutionären Chiffre 89. Frankreich<br />

1789. Europa 1989. Und das Internet,<br />

ebenfalls 1989, denn damals wurde das<br />

TCP/ IP Protokoll populär. «Eine globale<br />

Revolution», betont Chefredakteur Pascal<br />

Riché.<br />

Mitgenommen von «Liberation» hatten<br />

die fünf Journalisten eine Vorliebe für pointierte<br />

Texte und anschauliche Illustrationen.<br />

«Das passte gut ins Internet. Ausserdem hatten<br />

wir kaum Geld», erinnert sich Riché.<br />

Also gründete man nur – pardon! – eine<br />

Website: «rue89.com». Nachdem sie zwei<br />

Millionen so genannte page visitors angezogen<br />

hatte, etwa mit Skandalgeschichten rund<br />

um die Wahl von Präsident Nicolas Sarkozy,<br />

entschieden die Grün<strong>der</strong> im Jahr 2010, mit<br />

den Themen <strong>der</strong> Website eine Monatszeitschrift<br />

herauszugeben: «Rue89». Das Magazin<br />

hat sich etabliert. Es ist meinungsstark,<br />

farbig, eindringlich – eine veritable Konkurrenz<br />

für «Liberation», wenn auch noch eine<br />

kleine.<br />

Die Massentitel verlieren ihre Masse<br />

Viele Thesen sind in den letzten 20 Jahren<br />

über die Zukunft von gedruckten Medien<br />

aufgestellt worden. Die meisten waren pessimistisch.<br />

Bücher, Magazine, Kataloge, Zeitungen<br />

– allem wurde das Ende prophezeit.<br />

2006 fragte <strong>der</strong> englische «Economist»:<br />

«Who killed the newspaper?» Die Antwort<br />

war salomonisch: Das Internet sei <strong>der</strong> Mör<strong>der</strong>,<br />

aber es verdränge nur das Papier – nicht<br />

den Journalismus. Die Macht <strong>der</strong> vierten<br />

Gewalt werde im Netz neu aufblühen. Und<br />

das ist nicht ganz falsch, wenn man nur an<br />

all die Wikis denkt – o<strong>der</strong> auch an die sagenhafte<br />

Entwicklung des «Economist» selbst,<br />

<strong>der</strong> als Trendsetter agiert. Das Magazin (mit<br />

Nachdem sie zwei Millionen so genannte page visitors<br />

angezogen hatten, entschieden die Grün<strong>der</strong> im Jahr<br />

2010, mit den Themen <strong>der</strong> Website eine Monatszeitschrift<br />

herauszugeben: «Rue89».<br />

weniger als 100 Journalisten!) erlebt wie<br />

kein an<strong>der</strong>es seit Jahren einen berauschenden<br />

Zuwachs <strong>der</strong> eigenen Auflage. Sie beträgt<br />

mittlerweile 1,5 Millionen Exemplare,<br />

30 Prozent davon allerdings bereits nicht<br />

mehr auf Papier, son<strong>der</strong>n als iPad- o<strong>der</strong> Android-Versionen.<br />

Der Medienforscher Philip Meyer, <strong>der</strong><br />

selber einmal Reporter war, erklärte 2006 in<br />

seinem Buch «The Vanishing Newspaper»,<br />

dass die Zeitungen langsam ausstürben wie<br />

die Marktschreier im Mittelalter. Vor allem<br />

<strong>der</strong> so genannte General Interest, die Berichterstattung<br />

über Gott und die Welt, das<br />

grosse Allerlei <strong>der</strong> Zeitungen, die über<br />

Kriege und Tagescremes schreiben – dies<br />

alles erscheine schon bald nicht mehr auf<br />

Papier, wenn überhaupt irgendwo. Wäre<br />

diese Entwicklung eine lineare, es gäbe in<br />

ziemlich genau 30 Jahren keine Zeitungen<br />

mehr.<br />

Meyers Szenario gleicht einer tödlichen<br />

Spirale: Alles wan<strong>der</strong>t ab in die digitalen<br />

Medien, erst die Themen, dann die Leser<br />

und dann die Werbung. Und tatsächlich verlieren<br />

die gedruckten Massentitel ihre<br />

Masse. Das Schrumpfen <strong>der</strong> gedruckten<br />

Auflagen von «Bild» (minus zwei Millionen)<br />

o<strong>der</strong> «Stern» (minus eine Million) seit 1990<br />

zeigt es alleine in Deutschland.<br />

Trotzdem gibt es Beispiele für eine Rolle<br />

rückwärts: eine <strong>Renaissance</strong> von Print. Sie<br />

wird im Fachjargon «Reverse Publishing»<br />

genannt. In den letzten Jahren erschienen<br />

eine Reihe neuer Zeitschriften, die ihre<br />

Themen direkt aus dem Internet beziehen.<br />

Offline gehen, ohne etwas zu verpassen<br />

«Hacker Monthly» ist so eine, originell gestaltet<br />

und inhaltlich beson<strong>der</strong>s krass. Denn<br />

sie richtet sich an Programmierer, die sich<br />

auch in gedruckter Form ausführlich über<br />

Probleme wie die «diskrete Mathematik»<br />

informieren möchten – nachdem sie darüber<br />

bereits im Blog «Hacker News» lesen<br />

konnten. Der Internet-Unternehmer Lim<br />

Cheng Soon aus Malaysia, <strong>der</strong> sich als<br />

«Hacker News Junkie» bezeichnet, hatte<br />

dieses monatliche «Best of» 2010 mit <strong>der</strong><br />

Begründung geschaffen, dass er «offline<br />

gehen können möchte ohne etwas zu verpassen».<br />

Rund 4500 Menschen sind bereit, zwischen<br />

29 und 88 US-Dollar jährlich zu bezahlen,<br />

um das PDF o<strong>der</strong> das gedruckte Heft<br />

zu bekommen. Die meisten wollen übrigens<br />

lieber das PDF und drucken es selber – o<strong>der</strong><br />

vielleicht doch nicht …<br />

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Essay <strong>Renaissance</strong> <strong>der</strong> <strong>Druckerschwärze</strong><br />

Auch die grossen Social-Media-Dienste<br />

Twitter, Facebook, Google und Linkedin<br />

finden sich seit 2011 in Magazinen wie<strong>der</strong>:<br />

Der Verlag GSG World Media macht für<br />

jeden Giganten gleich ein eigenes Heft,<br />

Auflage: 250 000. Während sich Titel wie<br />

«Tweeting & Business» recht langweilig im<br />

FAQ-Stil an Geschäftsleute richten, gründete<br />

ein gewisser Bob Fine mit viel Liebe<br />

zum journalistischen Detail «The Social Media<br />

Monthly» – ein wirklich schönes Magazin,<br />

das viel Beachtung findet, aber das auch<br />

dringend Geld braucht. Ende 2011 hatte<br />

Fine (immerhin!) 22 928 Dollar gesammelt,<br />

per Annonce auf dem Spendenforum «kickstarter.com».<br />

Das Beispiel zeigt, dass die<br />

Existenz von – man könnte sie «Cross-over-<br />

Medien» nennen – unsicher ist. Ein deutsches<br />

«Ebay Magazin» wurde 2009 nach<br />

wenigen Ausgaben wie<strong>der</strong> eingestellt.<br />

Reichweite versus Geldregen<br />

«Dass Zeitungen ins Web gehen, ist ein alter<br />

Hut. Dass jedoch aus Websites Printtitel<br />

werden, das beobachte ich immer häufiger»,<br />

berichtet John Wilpers aus Boston. Jedes<br />

Jahr schreibt er für den Weltverband FIPP<br />

<strong>der</strong> Magazin-Verleger den Bericht «Innovations<br />

in Magazines». Medien zu drucken<br />

und unter die Leute zu bringen, kostet relativ<br />

viel Geld. An<strong>der</strong>erseits bringt Werbung<br />

in Magazinen und Zeitungen heute noch<br />

deutlich mehr Geld ein als online. Das liegt<br />

daran, dass Menschen, die Zeitungen und<br />

Zeitschriften kaufen – und hoffentlich lesen<br />

–, in <strong>der</strong> Werbewelt mehr wert sind als<br />

Menschen, die Websites besuchen und dort<br />

das machen, was im Jargon «verweilen»<br />

heisst. (Wo in Wahrheit intensiver gelesen<br />

wird, weiss niemand genau; es gibt darüber<br />

unterschiedliche Annahmen.) Fest steht,<br />

dass durch ein Online-Medium schneller<br />

Bekanntheit erzeugt und das geschaffen<br />

werden kann, was Verlagsmanager «Reichweite»<br />

nennen. Zugleich kann sich mit<br />

einem Druckmedium schneller Geld verdienen<br />

lassen. «Verlage, die beide Vorteile zu<br />

kombinieren wissen, gewinnen», konstatiert<br />

Wilpers.<br />

Eine beson<strong>der</strong>s rentable Form <strong>der</strong> Kombination<br />

von digitalen und gedruckten Inhalten<br />

demonstriert das Magazin «The<br />

Knot», das im Jahr 2000 aus <strong>der</strong> 1997 gegründeten<br />

Website «theknot.com» hervorging.<br />

Die Redaktion bildet das Zentralorgan<br />

für Amerikaner, die Inspiration für ihre<br />

Hochzeit suchen – offenbar 80 Prozent aller<br />

Paare. Die Zeitschrift erscheint viermal pro<br />

Jahr, aktuelle Auflage: mehr als 1,2 Millionen<br />

Exemplare. Ein wichtiger Grund, die<br />

digitalen Inhalte zur Druckerpresse zu tragen,<br />

liege in <strong>der</strong> Kooperation mit zahlreichen<br />

Geschäften, erklärt <strong>der</strong> Verlag. Die<br />

Zusammenarbeit gestalte sich auf Papier viel<br />

leichter und rentabler als digital.<br />

Auch in <strong>der</strong> amerikanischen Politikberichterstattung<br />

erlebt Print eine <strong>Renaissance</strong><br />

– und das sogar einige Nummern grösser als<br />

auf <strong>der</strong> «Rue89». Im Januar 2007 gründeten<br />

die Reporter John Harris und Jim VandeHei<br />

von <strong>der</strong> «Washington Post» die Redaktion<br />

«politico.com». Sie wollten alles rund um<br />

den Capitol Hill noch besser beleuchten und<br />

beschreiben als an<strong>der</strong>e – die Manöver <strong>der</strong><br />

Lobbyisten, die Schlachten <strong>der</strong> Politiker und<br />

die Präsidentenwahlen mit ihren megateuren<br />

Kampagnen. Sie setzen auf gründliche<br />

Recherchen und Analysen genauso wie auf<br />

Gerüchte für Politikjunkies, denn davon<br />

gibt es in Washington reichlich. Elf Millionen<br />

Menschen nutzten «politico.com» bereits<br />

zur Wahl von Barack Obama.<br />

Parallel zur Website konzentriert sich die<br />

Zeitung «Politico» mit nur 24 Seiten auf<br />

Hintergründe, nicht auf Nachrichten. Die<br />

«New York Times» attestiert, «Politico» sei<br />

kritisch, investigativ, unterhaltsam – und<br />

mittlerweile unverzichtbar in <strong>der</strong> politischen<br />

Arena. Je nachdem, ob <strong>der</strong> Kongress<br />

tagt o<strong>der</strong> nicht, erscheint die Zeitung täglich<br />

o<strong>der</strong> wöchentlich. Auch <strong>der</strong> Preis variiert:<br />

Während Abonnenten 200 Dollar zahlen,<br />

wird die Zeitung mit einer Auflage von<br />

34 000 Exemplaren an vielen Ecken in<br />

Washington sowie in den Pendlerzügen<br />

gratis verteilt. Mit einem Umsatz von knapp<br />

17 Millionen Dollar und einem Team von<br />

rund 100 festen Mitarbeitern ist «Politico»<br />

profitabel. Vermutlich wäre es ohne die gedruckte<br />

Ausgabe schon pleite. Aber ohne<br />

die Website wahrscheinlich auch, denn<br />

dann hätte die Marke niemals ihre grosse,<br />

internationale Bekanntheit erlangt.<br />

Doch welchen beson<strong>der</strong>en Nutzen hat<br />

nun Papier für die Leser, den das Internet<br />

nicht erfüllen kann?<br />

Sie treffen den Nerv<br />

Immer wie<strong>der</strong> erscheinen Magazine aus<br />

dem Nichts, die den Nerv einer bestimmten<br />

Gruppe von Menschen treffen: Zum Beispiel<br />

«Premier Guitar», 2007 von Gitarrenfreaks<br />

gegründet. Seine Existenzberechtigung<br />

auf Papier liegt wohl in vielen Noten<br />

zum Nachspielen und in Postern, die man<br />

sich in die Küche, übers Bett und in den Probenraum<br />

hängen kann. Es hat heute 650 000<br />

Abonnenten. Auch dem deutschen Magazin<br />

«Landlust» eines unabhängigen Landwirtschaftsverlags<br />

ist es gelungen, einen Nerv zu<br />

Peter Littger ist Deutschland-Chef von Innovation<br />

Media Consulting in London. Dort ist er unter<br />

an<strong>der</strong>em für die Entwicklung neuer Redaktionsmodelle<br />

verantwortlich – was die Integration<br />

von Print und Digital genauso umfasst wie das<br />

Coaching für erfolgreiche Erzählformen. Darüber<br />

hinaus ist er Autor, etwa für die «SZ am Wochenende».<br />

Er hat Geschichte, Volkswirtschaft in Berlin<br />

und Literatur, Soziologie und Medienökonomie<br />

an <strong>der</strong> London School of Economics<br />

studiert.<br />

treffen. Alle grossen Verlage haben es mittlerweile<br />

kopiert. Es spricht Menschen an,<br />

die gerne Kartoffeln züchten, Bauernsuppe<br />

kochen o<strong>der</strong> Holzmöbel renovieren. Die<br />

Auflage wuchs seit 2011 alleine innerhalb<br />

eines Jahres um 100 000 Exemplare auf nunmehr<br />

eine Million Ausgaben pro Monat,<br />

und allem Anschein nach ist das eine so genannte<br />

harte, also tatsächlich verkaufte Auflage.<br />

Bemerkenswert ist, dass die Redaktion<br />

«landlust.de» zwar besitzt, aber noch nicht<br />

einen Cent in digitale Inhalte investiert hat,<br />

die über das hinausgehen, was gedruckt<br />

wird.<br />

Der kanadische Medienwissenschaftler<br />

Marshall McLuhan hat den berühmten<br />

Gedanken formuliert: «The medium is the<br />

message» – jedes Medium hat eine bestimmte<br />

eigene Bedeutung. Je<strong>der</strong> kennt das:<br />

Mit den einen kommuniziert man per E-<br />

Mail, Facebook o<strong>der</strong> SMS, mit an<strong>der</strong>en telefoniert<br />

es sich besser, und einigen Kollegen<br />

schreibt man Notizen auf Zettel.<br />

Die Haptik von Papier schafft eine Unmittelbarkeit,<br />

nach <strong>der</strong> sich zum Beispiel landlustige<br />

Menschen sehnen. Darüber hinaus<br />

haben Druckmedien einen enormen Souvenircharakter.<br />

Sie schaffen Gefühle von Zugehörigkeit<br />

und Entschleunigung, wenn nicht<br />

sogar von Unvergänglichkeit. Viele Leser –<br />

wie übrigens auch Anzeigenkunden – halten<br />

Print oft für glaubwürdiger als Online. Zwar<br />

ist es schwierig zu beweisen, ob diese Annahme<br />

berechtigt ist. Doch solange sie existiert,<br />

steigert sie den Wert journalistischer<br />

Marken, wenn sie gedruckt erscheinen –<br />

und sie sich finanzieren lassen.<br />

Dass Online weniger Vertrauen geniesst,<br />

hat umgekehrt damit zu tun, dass digitale<br />

Inhalte keinerlei Souvenirwert haben. Sie<br />

werden als flüchtig empfunden, schliesslich<br />

können sie we<strong>der</strong> ausgerissen und eingerahmt<br />

werden. Doch solange ihre Riesenspeicher<br />

nicht gelöscht o<strong>der</strong> ihre Gestalt<br />

manipuliert werden, ist diese Annahme ein<br />

totaler Irrtum. Denn in Wahrheit sind gedruckte<br />

Inhalte flüchtig: Sie werden nach<br />

<strong>der</strong> Lektüre zerknüllt, zerrissen o<strong>der</strong> zerknickt<br />

und landen im Altpapier. Archiviert<br />

wird nach dem Zufallsprinzip – was sich <strong>der</strong><br />

Leser merkt, also wenig und davon die<br />

Hälfte richtig. (Das meiste wird später wie<strong>der</strong><br />

vergessen.)<br />

Für Unternehmen in Krisen o<strong>der</strong> Politiker<br />

in Erklärnöten wäre es deshalb ein Segen,<br />

wenn Journalisten über sie – wie früher<br />

– nur auf Papier berichteten. Keine Blogs.<br />

Keine Archive. Kein Google.<br />

So altmodisch wie ein Strickschal<br />

Wer das zu Ende denkt, versteht schnell,<br />

dass Print mehr mit Lifestyle und Gefühlen<br />

zu tun hat als mit Aufklärung. Wer also vom<br />

Journalismus verlangt, als vierte Gewalt zu<br />

dienen, darf sich ruhig den digitalen Medien<br />

zuwenden. Jill Abramson, seit 2011<br />

Chefredakteurin <strong>der</strong> «New York Times», be-<br />

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tont, wie wichtig gerade die digitalen Methoden<br />

<strong>der</strong> Speicherung und Verbreitung<br />

für aufwendig recherchierte Themen sind.<br />

Trotzdem kommt es vielen Menschen so<br />

vor, als ginge mit dem Rückschritt von einem<br />

neuen in ein älteres Medium ein Qualitätssprung<br />

einher – ganz so, als entstehe<br />

etwas Höherwertiges. Wie wenn ein Kinofilm<br />

in ein Theaterstück, ein Popsong in eine<br />

Sinfonie o<strong>der</strong> ein Comic in einen Roman<br />

umgeschrieben wird. Gut möglich, dass<br />

manche auch glauben, Wikipedia in lateinischer<br />

Sprache (die «Vicipaedia») sei von<br />

besserer Qualität.<br />

Keine Frage: Eine Zeitung zu lesen, ist<br />

genauso altmodisch wie einen Strickschal zu<br />

tragen, von <strong>der</strong> «Mark» zu sprechen o<strong>der</strong><br />

von <strong>der</strong> «Platte» eines Sängers. Dabei muss<br />

man nicht einmal ein altmodischer «Net-<br />

Migrant» sein – hippe «Net Natives» sind ja<br />

auch manchmal Liebhaber von Vinyl.<br />

<strong>Druckerschwärze</strong> als Zeichen<br />

<strong>der</strong> Distinktion<br />

Wer Print mag, dem geht es vor allem um<br />

eine bewusste Haltung – <strong>Druckerschwärze</strong><br />

als Zeichen <strong>der</strong> Distinktion. Als Ausdruck<br />

eines kulturellen Trends gegen die glatte,<br />

perfekte Ästhetik <strong>der</strong> digitalen Welt, die sich<br />

in Apple und jedem Kleinwagen-Cockpit<br />

wi<strong>der</strong>spiegelt. Der Modedesigner Wolfgang<br />

Joop und <strong>der</strong> Soziologe Richard Sennett<br />

loben seit Jahren das Handwerk. Und <strong>der</strong><br />

deutsche Versandhandel «Manufactum»<br />

lebt gut davon.<br />

Unter dem Titel «Ein Bild sagt mehr als<br />

tausend Worte – was aber, wenn man Bil<strong>der</strong><br />

nicht sehen kann?» fand am 13. Juni<br />

2012 ein GFZ-Guerilla-Seminar am Tatort<br />

statt.<br />

Während <strong>der</strong> Besichtigung <strong>der</strong> SBS<br />

(Schweizerische Bibliothek für Blinde, Seh-<br />

und Lesebehin<strong>der</strong>te) konnten die Teilnehmenden<br />

unter an<strong>der</strong>em erleben, wie Buchseiten<br />

auf einer Heidelberg-Maschine in nur<br />

einem Maschinendurchgang beidseitig in<br />

Brailleschrift geprägt werden, wie man als<br />

Blin<strong>der</strong> Notizen erstellen kann, wie Menschen<br />

mit Lesebehin<strong>der</strong>ung Sudoku und<br />

Kreuzworträtsel lösen, wie für Mathematikunterricht<br />

reliefartige geometrische Formen<br />

erzeugt werden, wie Computerdrucker<br />

beidseitige «Ausdrucke» erzeugen o<strong>der</strong> wie<br />

Hörbücher aufgezeichnet werden.<br />

Das anschliessende Referat von Frau<br />

Thinh-Lay Bosshart gab tief gehende Infor-<br />

Essay <strong>Renaissance</strong> <strong>der</strong> <strong>Druckerschwärze</strong><br />

Manufactum – setzt konsequent auf Handwerk, dazu<br />

gehören auch sehenswerte Printprodukte.<br />

So ist es konsequent, dass auch «Dawanda»,<br />

ein im Jahr 2006 gegründeter «Online-Marktplatz<br />

für Handgefertigtes», die<br />

Rolle rückwärts macht und einen Katalog<br />

druckt: das «Lovebook». «Dawanda» bietet<br />

viele Millionen Sachen feil, die früher bitte<br />

niemals unter den Weihnachtsbaum durften:<br />

zum Beispiel ein «Vintage Strickpullun<strong>der</strong>,<br />

Folklore, handgestrickt» für 20 Euro.<br />

Das Netz als Beta-Version<br />

Im Herbst 2011 brachten die Macher <strong>der</strong><br />

Berliner Website «freundevonfreunden.<br />

com» ein Buch mit ihren besten Fotos heraus.<br />

Es zeigt mehr o<strong>der</strong> weniger Prominente<br />

in ihren mehr o<strong>der</strong> weniger hippen Stadtwohnungen<br />

(mit vielen Plattenspielern).<br />

Das Internet diente hier nur noch als Beta-<br />

Version – als grosser Test, dessen schöpferische<br />

Vollendung in ein Buch mündete.<br />

Wenn die Bil<strong>der</strong>welt verschlossen bleibt!<br />

mationen über Barrierefreiheit und Internet-Zugänglichkeit.<br />

Bereichert wurden die<br />

Ausführungen durch praktische Beispiele,<br />

durch die Analyse unserer Webseite gfz.ch<br />

und durch Demos auf dem iPhone. Der<br />

hochprofessionelle Vortrag hat vielen <strong>der</strong><br />

Teilnehmenden die Augen für bisher unbekannte<br />

Probleme geöffnet.<br />

Nach dem Vortrag konnte beim Nachtessen<br />

im Restaurant Blinde Kuh das Gehörte<br />

selbst erfühlt werden, und das hat bei allen<br />

einen bleibenden Eindruck hinterlassen.<br />

Rückmeldungen von begeisterten<br />

Teilnehmenden:<br />

«Die Ausführungen im SBS, inklusive des<br />

Teils <strong>der</strong> Hörbucherstellung, und <strong>der</strong> anschliessende<br />

sehr aufschlussreiche Vortrag<br />

von Frau Thinh-Lay Bosshart waren hochinteressant.<br />

Danke vielmals für die Organisation.<br />

Gerade solche Seminare sind eine<br />

echte Bereicherung.» [Elmar Metzer, Ugra]<br />

Im Februar 2012 erschien in Hamburg ein<br />

Buch, das sich ausgerechnet an die gesamte<br />

deutsche Medienbranche richtet und die<br />

«Top 100 Medienmacher 2012» kürte. Gemacht<br />

hatte es das Team von Dirk Manthey,<br />

<strong>der</strong> in den Neunzigerjahren das Magazin<br />

«Max» herausgab und den Verlag Milch strasse<br />

führte. Nachdem er diesen an den Burda-<br />

Verlag verkauft hatte, gründete er 2008<br />

«meedia.de», das «Online Medien-Portal» –<br />

und nun gibt es davon das erste Jahrbuch.<br />

Dem Souvenircharakter von Print werden<br />

solche Publikationen in ganz beson<strong>der</strong>er<br />

Weise gerecht, weil sie auf die Eitelkeit des<br />

Personals bauen – und spekulieren. Was<br />

einst in Stein gemeisselt wurde, kann seit<br />

ungefähr 1450 auf Papier gedruckt werden.<br />

Seit <strong>der</strong> Revolution von TCP/IP macht das<br />

beson<strong>der</strong>en Sinn für alles Digitale, das viel<br />

geklickt o<strong>der</strong> als vorzüglich bewertet wird<br />

– und sich auch auf Bücherregalen, Nachttischen<br />

und Coffeetables gut macht. Das bedeutet:<br />

Papier transportiert immer mehr<br />

eine Botschaft über unser Verhalten und unsere<br />

Vorlieben im Netz. Papier hält unser<br />

Verhalten und unsere Vorlieben im Netz fest.<br />

Papier wird damit zur Manifestation des<br />

Digitalen. Und wir werden noch sehr lange<br />

blättern.<br />

Der Beitrag ist ein aktualisierter Abdruck des<br />

Essays «Zurück in die Zeitung», das am 12. Mai<br />

2012 im «Handelsblatt» erschienen ist.<br />

www.innovation-mediaconsulting.com<br />

littger@innovation-mediaconsulting.com<br />

«Ein Nachmittag, welcher mir die Welt<br />

meiner sehbehin<strong>der</strong>ten und blinden Mitmenschen<br />

nähergebracht hat. Was, wenn<br />

man die Welt nicht sehen kann? An<strong>der</strong>e<br />

Sinne werden stärker, wird gesagt, und spätestens<br />

im Dunkelrestaurant Blinde Kuh hat<br />

sich mir gezeigt, wie sehr ich Hören, Fühlen,<br />

Schmecken und Riechen bisher vernachlässigt<br />

habe. Wie hilflos ich in <strong>der</strong> Dunkelheit<br />

bin und wie geräuschlos und souverän sich<br />

unsere Bedienung im Dunkeln bewegt!»<br />

[Mark Reuter, GFZ]<br />

Informationen zum GFZ und den Guerilla-Seminaren:<br />

www.gfz.ch<br />

Weiterführende Infos zum Thema «Access for all».<br />

www.access-for-all.ch<br />

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