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Das Auge und die Rückkehr des Verdrängten in Stanley Kubricks ...

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Universität Karlsruhe (TH)<br />

Institut für Literaturwissenschaft<br />

HS: <strong>Stanley</strong> <strong>Kubricks</strong> Filme im Spannungsfeld zwischen Genre <strong>und</strong> Autorenfilm<br />

SS 2004<br />

Prof. Dr. Andreas Böhn<br />

3<br />

<strong>Das</strong> <strong>Auge</strong><br />

<strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> <strong>Rückkehr</strong> <strong>des</strong> <strong>Verdrängten</strong><br />

<strong>in</strong> <strong>Stanley</strong> <strong>Kubricks</strong> Filmen<br />

Carol<strong>in</strong> Rack<br />

Bäderhalde 8<br />

73547 Lorch<br />

Tel: 0172/ 7639472<br />

Germanistik (HF), Journalismus <strong>und</strong> Technik der elektronischen Me<strong>die</strong>n (NF)<br />

6. Semester<br />

Matrikelnummer: 1112627


Inhalt<br />

1. E<strong>in</strong>leitung<br />

2. Kulturhistorische Entwicklung <strong>des</strong> <strong>Auge</strong>nemblems<br />

2.1 <strong>Das</strong> göttliche <strong>Auge</strong><br />

2.2 Die Aufklärung: das <strong>Auge</strong> als Symbol der Vernunft<br />

2.3 Die Romantik: <strong>die</strong> Dämonisierung <strong>des</strong> <strong>Auge</strong>s<br />

3. <strong>Kubricks</strong> Absage an das <strong>Auge</strong> der Vernunft<br />

3.1 2001: das E<strong>in</strong>schläfern der Argusaugen<br />

3.2 Die Brille <strong>in</strong> Barry Lyndon <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e co<strong>die</strong>rte Botschaft<br />

4<br />

3.3 Die Brille der Wissenschaftler<br />

4. <strong>Auge</strong> – Eros – Thanatos<br />

4.1 A Clockwork Orange <strong>und</strong> <strong>die</strong> neue Tr<strong>in</strong>ität<br />

4.2 Erotisch-tödliche <strong>Auge</strong>n-Blicke<br />

4.3 <strong>Das</strong> <strong>Auge</strong> als Waffe<br />

5. Lauter Spiegelungen<br />

5.1 <strong>Das</strong> <strong>Auge</strong> als Spiegel der Seele<br />

5.2 Der Doppelgänger als Spiegel der Seele<br />

5.3 Der Blick im Bild gespiegelt <strong>und</strong> der dämonische Blick als<br />

Widerspiegelung<br />

6. Die Selbstreferntialität <strong>in</strong> <strong>Kubricks</strong> Filmen<br />

7. Fazit<br />

6.1 2001 – e<strong>in</strong> neuer Kont<strong>in</strong>ent <strong>des</strong> Schauens<br />

6.2 Der Zuschauer, e<strong>in</strong> Voyeur <strong>und</strong> Formen <strong>des</strong> Selbstzitats<br />

8. Filmographie<br />

9. Bibliographie


1. E<strong>in</strong>leitung<br />

5<br />

„<strong>Das</strong> <strong>Auge</strong> ist das gefährlichste Organ <strong>in</strong> <strong>Kubricks</strong> Filmen; es ist, im<br />

Freudschen S<strong>in</strong>n, Verlängerung, Ausdruck <strong>und</strong> Ersatz <strong>des</strong> Phallus´ als<br />

Waffe, <strong>und</strong> es ist zugleich das Gefährdetste.“ 1 Dieses Zitat deutet bereits an,<br />

dass Kubrick das <strong>Auge</strong> stets mit Aspekten <strong>des</strong> To<strong>des</strong> oder der Erotik<br />

verb<strong>in</strong>det. Se<strong>in</strong>e Filme repräsentieren damit e<strong>in</strong>e neue Tr<strong>in</strong>ität: <strong>Auge</strong>, Eros<br />

Thanatos. E<strong>in</strong> Blick auf <strong>die</strong> Filmtitel verdeutlicht <strong>die</strong> Verschränkung jener<br />

Triebe, <strong>die</strong> für Kubrick das menschliche Bewusstse<strong>in</strong> bee<strong>in</strong>flussen: The<br />

Killer´s Kiss, Dr. Strangelove, oder wie ich lernte <strong>die</strong> Bombe zu lieben, Fear<br />

and Desire usw. Aber wie kommt Kubrick zu <strong>die</strong>ser negativen Darstellung<br />

<strong>des</strong> <strong>Auge</strong>nmotivs? Ganz klar, zwei epochale Größen s<strong>in</strong>d zu<br />

berücksichtigen, will man se<strong>in</strong> Werk verstehen: <strong>die</strong> Aufklärung <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

Romantik. Dabei geht es ihm jedoch weniger um e<strong>in</strong>e historische<br />

Aufarbeitung, als vielmehr um <strong>die</strong> modellhafte Darstellung.<br />

Für <strong>die</strong> E<strong>in</strong>en ist es <strong>die</strong> Epoche <strong>und</strong> der Ausgangspunkt <strong>des</strong> Fortschritts, für<br />

Kubrick ist es vielmehr Ursprung für <strong>die</strong> ungelösten Probleme der<br />

Gegenwart: das 18. Jahrh<strong>und</strong>ert. Im Brennpunkt steht für ihn der<br />

Rationalisierungsprozess, der im Zuge der Aufklärung e<strong>in</strong>setzte. <strong>Das</strong> <strong>Auge</strong><br />

wurde zum Symbol für klarsichtige Vernunft. Und so verlagerte sich <strong>die</strong><br />

Vermittlung der Triebe von dem Geruchs- <strong>und</strong> Tasts<strong>in</strong>n auf den Sehvorgang.<br />

Im Gr<strong>und</strong>e hat <strong>die</strong> Aufklärung damit den Gr<strong>und</strong>ste<strong>in</strong> für <strong>die</strong> moderne Art <strong>des</strong><br />

Voyeurs gelegt, der im Sehvorgang se<strong>in</strong>e Lust jedoch weniger sublimiert, als<br />

vielmehr auslebt. Für <strong>die</strong> Romantiker gab es den vernünftigen, guten Blick<br />

nicht. Nach ihrem Vorbild transformiert Kubrick das <strong>Auge</strong>nemblem, das<br />

fortan <strong>die</strong> verdrängten Seiten der Aufklärung symbolisierte: Tod <strong>und</strong><br />

Sexualität.<br />

In der vorliegenden Arbeit werde ich also das <strong>Auge</strong>nmotiv <strong>in</strong> <strong>Kubricks</strong> Filmen<br />

untersuchen. Alle<strong>in</strong> aus Platzgründen kann dabei nicht jeder Film explizit<br />

1 Georg Seßlen/ Fernand Jung : <strong>Stanley</strong> Kubrick <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Filme. Marburg 1999, Seite 48


6<br />

erwähnt <strong>und</strong> untersucht werden. Abgesehen davon stehen manche Filme im<br />

Blick auf <strong>die</strong> <strong>Auge</strong>nsymbolik stark im Vordergr<strong>und</strong>, weshalb ich <strong>die</strong>se folglich<br />

bevorzuge. Die Thematik ist besonders <strong>in</strong>teressant, weil sich mit ihr weitere<br />

Motive verb<strong>in</strong>den, wie etwa das Motiv <strong>des</strong> Doppelgängers. Aber auch für <strong>die</strong><br />

Kriegsführung spielt das <strong>Auge</strong> e<strong>in</strong>e bedeutende Rolle. Weiterh<strong>in</strong> zeige ich<br />

auf, wie Kubrick dem Zuschauer mit se<strong>in</strong>en Bildern e<strong>in</strong>en neuen Kont<strong>in</strong>ent<br />

<strong>des</strong> Schauens eröffnet, bevor ich schließlich <strong>die</strong> Selbstreflexion thematisiere.<br />

<strong>Kubricks</strong> Spiel mit dem <strong>Auge</strong>nmotiv lässt sich erst deuten, wenn der<br />

Rezipient se<strong>in</strong>er Filme sich <strong>die</strong> ideengeschichtlichen Variationen <strong>des</strong> Motivs<br />

vor <strong>Auge</strong>n hält. Was ich hier zu Beg<strong>in</strong>n angedeutet habe, möchte ich <strong>des</strong>halb<br />

zunächst vertiefen, <strong>und</strong> gehe also gleich auf <strong>die</strong> kulturhistorische Entwicklung<br />

<strong>des</strong> <strong>Auge</strong>nemblems e<strong>in</strong>.<br />

2. Kulturhistorische Entwicklung <strong>des</strong> <strong>Auge</strong>nemblems<br />

2.1 <strong>Das</strong> göttliche <strong>Auge</strong><br />

Seit jeher ist <strong>die</strong> Thematik der S<strong>in</strong>ne mit e<strong>in</strong>er Funktion im theologischen<br />

Diskurs verb<strong>und</strong>en. Dabei gilt das <strong>Auge</strong> nicht immer schon als dom<strong>in</strong>antes<br />

Organ im Bezug auf e<strong>in</strong>e Wirklichkeitswahrnehmung. Im Zeitalter <strong>des</strong> Barock<br />

ist vielmehr das Ohr bevorzugtes S<strong>in</strong>nesorgan, da man über das Ohr das<br />

Wort Gottes empfangen konnte.<br />

Alex Stock setzt sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Aufsatz Der göttliche <strong>Auge</strong>nblick mit der<br />

Entwicklung <strong>und</strong> Veränderung <strong>des</strong> <strong>Auge</strong>nemblems ause<strong>in</strong>ander. Er stellt<br />

fest, dass <strong>die</strong> Verb<strong>in</strong>dung von <strong>Auge</strong> <strong>und</strong> Dreieck erst seit der Mitte <strong>des</strong> 17.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts ersche<strong>in</strong>t: „Am Orbis sensualium pictus <strong>des</strong> Amos Comenius<br />

von 1658 lässt sich <strong>die</strong> emblematische Genese ablesen.“ 2 Die Illustrationen<br />

zeigen <strong>die</strong> Bildelemente noch verteilt, d. h. Dreieck <strong>und</strong> <strong>Auge</strong> werden<br />

getrennt dargestellt, während <strong>die</strong>se am Ende <strong>des</strong> 17. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

synthetisiert werden zum Strahlenauge im Dreieck, welches <strong>die</strong> göttliche<br />

Tr<strong>in</strong>ität symbolisiert. Die Quelle Comenius´ belegt, dass das ägyptische<br />

Sonnenauge durch <strong>die</strong> humanistische Allegorik <strong>in</strong> <strong>die</strong> christliche<br />

Gottesemblematik <strong>in</strong>tegriert wurde. In ägyptischen Hieroglyphen wird der<br />

Gott Osiris mit se<strong>in</strong>em okulierten Zepter dargestellt, welches „<strong>die</strong> göttliche<br />

2 Alex Stock: Der göttliche <strong>Auge</strong>nblick. In: <strong>Auge</strong>nblick <strong>und</strong> Zeitpunkt. Stu<strong>die</strong>n zur Zeitstruktur <strong>und</strong> Zeitmetaphorik<br />

<strong>in</strong> Kunst <strong>und</strong> Wissenschaft, hrsg. von Christian W. Thomsen <strong>und</strong> Hans Holländer. Darmstadt 1984, Seite 212


7<br />

Sonne, <strong>die</strong> herrscht <strong>und</strong> richtet“ 3 symbolisieren soll. Hier also taucht bereits<br />

<strong>die</strong> Idee <strong>des</strong> allwissenden, allsehenden, omnipotenten Gottes auf. Die<br />

Verknüpfung <strong>des</strong> <strong>Auge</strong>s mit der Sonne hat zwei Gründe: zum e<strong>in</strong>en <strong>in</strong><br />

Verb<strong>in</strong>dung mit dem Kosmos - „das <strong>Auge</strong> <strong>des</strong> Himmels, <strong>die</strong> überallh<strong>in</strong><br />

strahlende Sonne“ - zum anderen im moralisch-politischen Kontext – „das<br />

göttliche Sonnenauge „sol iustitiae“, Garant der Wahrheit, Gerechtigkeit, der<br />

Gesetze <strong>und</strong> Verträge, der omnipräsente Zeuge <strong>und</strong> gerechte Richter.“ 4 Die<br />

humanistischen Allegoriker entlehnen das E<strong>in</strong>zelauge <strong>und</strong> zeigen es ebenso<br />

<strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit dem Zepter als S<strong>in</strong>nbild der irdischen „Justitia“. E<strong>in</strong>e<br />

Erklärung für <strong>die</strong> E<strong>in</strong>äugigkeit <strong>des</strong> Gottesemblems ist <strong>in</strong> der Zohar, der gegen<br />

Ende <strong>des</strong> 13. Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>in</strong> Spanien entstandenen Hauptschrift der<br />

jüdischen Kabbala, zu f<strong>in</strong>den: hier wurde der Volksglaube übernommen, nur<br />

das rechte <strong>Auge</strong> sei gut. <strong>Das</strong> l<strong>in</strong>ke galt als schlecht. Gott habe <strong>des</strong>halb nur<br />

das e<strong>in</strong>e, gute <strong>Auge</strong>, während <strong>die</strong> Menschen als irdische, unvollkommene<br />

Wesen eben zwei besäßen - e<strong>in</strong> gutes <strong>und</strong> e<strong>in</strong> schlechtes. 5<br />

2.2 Die Aufklärung: das <strong>Auge</strong> als Symbol der Vernunft<br />

„<strong>Das</strong> hat mir <strong>die</strong> <strong>Auge</strong>n geöffnet!“ Diese Redewendung drückt im Gr<strong>und</strong>e das<br />

aus, was im Zeitalter der Aufklärung mit dem Vorgang <strong>des</strong> Sehens<br />

verb<strong>und</strong>en wird: Erkenntnis. In <strong>die</strong>ser Epoche ist e<strong>in</strong> Transzendenzverlust<br />

festzustellen. Dennoch spielt das <strong>Auge</strong> im Zuge <strong>des</strong> gesellschaftlichen<br />

Rationalisierungsprozesses der Aufklärung e<strong>in</strong>e große Rolle. Die<br />

metaphysische weicht e<strong>in</strong>er rationalen Bedeutungsebene, <strong>und</strong> das<br />

<strong>Auge</strong>nemblem steht fortan im Zeichen der vergöttlichten Vernunft.<br />

Ke<strong>in</strong>eswegs verliert es also an gesellschaftlicher Bedeutung, vielmehr wird<br />

es lediglich säkularisiert. „Die alte theologische Bedeutung <strong>des</strong> <strong>Auge</strong>s<br />

Gottes, das alles sieht <strong>und</strong> alles durchdr<strong>in</strong>gt, geht auf den therapeutischen<br />

Blick über. Arzt <strong>und</strong> Pfleger s<strong>in</strong>d ihrer Rolle nach Herrgott <strong>und</strong> Dompteur<br />

zugleich,…“ 6<br />

Joachim Metzner untersucht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em gleichnamigen Aufsatz <strong>die</strong><br />

Geschichte <strong>und</strong> Ästhetik <strong>des</strong> therapeutischen <strong>Auge</strong>nblicks. Da er dabei stets<br />

3 Ebd., Seite 213<br />

4 Ebd., Seite 213<br />

5 Ebd., Seite 217<br />

6 Joachim Metzner: Geschichte <strong>und</strong> Ästhetik <strong>des</strong> therapeutischen <strong>Auge</strong>nblicks. In: <strong>Auge</strong>nblick <strong>und</strong> Zeitpunkt.<br />

Stu<strong>die</strong>n zur Zeitstruktur <strong>und</strong> Zeitmetaphorik <strong>in</strong> Kunst <strong>und</strong> Wissenschaft, hrsg. von Christian W. Thomsen <strong>und</strong><br />

Hans Holländer. Darmstadt 1984, Seite 96-97


8<br />

auf <strong>die</strong> Bedeutung <strong>des</strong> <strong>Auge</strong>nmotivs im kulturhistorischen Kontext e<strong>in</strong>geht,<br />

ersche<strong>in</strong>t es mir s<strong>in</strong>nvoll, se<strong>in</strong>e Beobachtungen <strong>in</strong> me<strong>in</strong>e Arbeit e<strong>in</strong>fließen zu<br />

lassen. Metzner verweist darauf, dass Berichte von Krankenhausbesuchern<br />

dazu beigetragen haben, den Blick <strong>des</strong> Patienten im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert zu<br />

e<strong>in</strong>em entscheidenden Diagnosekriterium werden zu lassen. Dort sei von<br />

f<strong>in</strong>steren, zurückschreckenden oder gar rollenden <strong>Auge</strong>n <strong>die</strong> Rede gewesen,<br />

was „dem aufgeklärten Lesepublikum <strong>die</strong> Monstrosität <strong>des</strong> Wahns<strong>in</strong>ns<br />

effektvoll deutlich machen sollte,…“. 7<br />

Im Blick auf das 19. Jahrh<strong>und</strong>ert zitiert Stock M. Foucault: „Mit dem 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert setzt das Zeitalter <strong>des</strong> Panoptismus e<strong>in</strong>.“ 8 Mit <strong>die</strong>ser Aussage<br />

spielt er auf e<strong>in</strong>e Zivilisation der Überwachung an, <strong>die</strong> sich nicht nur im<br />

Gefängnis <strong>und</strong> Kl<strong>in</strong>iken, sondern auch <strong>in</strong> Schulen, <strong>in</strong> der Armee <strong>und</strong> bei der<br />

Polizei bemerkbar mache. Dies resultiert aus dem Anspruch der Aufklärung,<br />

alles durchleuchten zu wollen. Sämtliche Lebensbereiche sollen rationalisiert<br />

werden - das <strong>Auge</strong> als Repräsentant für e<strong>in</strong>e alles durchdr<strong>in</strong>gende Ratio.<br />

Diese wiederum bedeutet Macht, was zu e<strong>in</strong>er Instrumentalisierung <strong>des</strong><br />

<strong>Auge</strong>s führt. Aus lauter Angst vor der <strong>Rückkehr</strong> <strong>des</strong> <strong>Verdrängten</strong> wollen <strong>die</strong><br />

Menschen <strong>die</strong> totale Kontrolle - nichts soll mehr „unaufgeklärt“ se<strong>in</strong>. Damit<br />

hängt wohl auch zusammen, dass der <strong>Auge</strong>ns<strong>in</strong>n durch Apparate optimiert<br />

wird: <strong>die</strong> ersten Bifokalbrillen beispielsweise entwickelt im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

der amerikanische Wissenschaftler Benjam<strong>in</strong> Frankl<strong>in</strong>. Man assoziiert mit<br />

Brillenträgern oft Intellektuelle, da <strong>die</strong> Brille das Gesehene sche<strong>in</strong>bar<br />

objektiviert. Im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert stehen Photo- oder Filmkameras im Dienste<br />

der „Allwissenheit, Allgegenwart <strong>und</strong> Sachlichkeit“ <strong>und</strong> lösen so allmählich<br />

den therapeutischen Blick ab.<br />

Der Blick wird im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert gleichsam technisiert, durch Kameras<br />

sche<strong>in</strong>bar verwissenschaftlicht, denn <strong>die</strong> religiöse Dimension tritt nun klar<br />

hervor: Die Kamera wird zur „omnipotenten Kontrolle“ <strong>und</strong> „der Apparat ist<br />

das perfektionierte <strong>Auge</strong> Gottes.“ 9<br />

Während im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert zum e<strong>in</strong>en das <strong>Auge</strong> Emblem absoluter<br />

Vernunft wird, f<strong>in</strong>det zum anderen e<strong>in</strong> Sublimationsprozess statt. An <strong>die</strong>ser<br />

Stelle sche<strong>in</strong>t es mir angebracht, Norbert Elias zu zitieren, der <strong>die</strong><br />

7 Ebd., Seite 98<br />

8 M. Foucault, zitiert nach Alex Stock: Der göttliche <strong>Auge</strong>nblick, Seite 215<br />

9 Joachim Metzner: Geschichte <strong>und</strong> Ästhetik <strong>des</strong> therapeutischen <strong>Auge</strong>nblicks, Seite 108-109


9<br />

Entwicklung der Zivilisation <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Hauptwerk Über den Prozess der<br />

Zivilisation als e<strong>in</strong>en psychodynamischen Prozess beschreibt. In se<strong>in</strong>er<br />

Arbeit kommt er unter anderem zu dem Ergebnis, dass <strong>die</strong> Gesellschaft sich<br />

vom Fremd- zum Selbstzwang entwickelt hat: „<strong>die</strong>se Selbstzwänge (…)<br />

führen unter Umständen zu e<strong>in</strong>er beständigen Unruhe <strong>und</strong> Unbefriedigtheit,<br />

eben weil e<strong>in</strong> Teil se<strong>in</strong>er Neigungen <strong>und</strong> Triebe nur noch <strong>in</strong> verwandelter<br />

Form, etwa <strong>in</strong> der Phantasie, im Zusehen oder Zuhören, im Tag- oder<br />

Nachttraum Befriedigung f<strong>in</strong>den kann (…)“ 10 Diese Äußerung belegt, dass<br />

das <strong>Auge</strong> zu jener Zeit als Instrument für e<strong>in</strong>e Triebsublimation gesehen<br />

wird. Im Gr<strong>und</strong>e hat <strong>die</strong> Aufklärung den Gr<strong>und</strong>ste<strong>in</strong> gelegt für <strong>die</strong> moderne<br />

Art <strong>des</strong> Voyeurs, der im Sehvorgang se<strong>in</strong>e Lust auslebt. Auf den<br />

Voyeurismus werde ich im Folgenden noch zu sprechen kommen.<br />

2.3 Die Romantik: <strong>die</strong> Dämonisierung <strong>des</strong> <strong>Auge</strong>s<br />

<strong>Das</strong> <strong>Auge</strong>nmotiv hat <strong>in</strong> der Romantik e<strong>in</strong>e gänzlich andere Bedeutung - ja, es<br />

ist gleichsam gegenläufig konzipiert. Ich beziehe mich hier auf das Zeitalter<br />

der Spätromantik, da <strong>die</strong>ses für das Schaffen <strong>Kubricks</strong> von Bedeutung ist.<br />

Ähnlich wie <strong>in</strong> der Aufklärung wird das <strong>Auge</strong>n-Symbol von den Romantikern<br />

säkularisiert <strong>und</strong> zum Zentralmotiv erhoben. Steht es <strong>in</strong> der Aufklärung für<br />

den Verstand, das Gute, so wird es bei den so genannten schwarzen<br />

Romantikern zum Ausdruck <strong>des</strong> Bösen, Dämonischen. Es ist Ort der<br />

Sexualität, <strong>des</strong> Wahns<strong>in</strong>ns <strong>und</strong> <strong>des</strong> To<strong>des</strong> - also jener metaphysischen<br />

Kräfte, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Aufklärung aus den Köpfen ihrer Gesellschaft auszugrenzen<br />

versucht. E<strong>in</strong>e Sublimation der Triebe im Sehvorgang wird nicht nur negiert,<br />

vielmehr wird das <strong>Auge</strong> selbst zum Trieborgan par excellence. In He<strong>in</strong>rich<br />

von Kleists Pr<strong>in</strong>z Friedrich von Homburg taucht <strong>die</strong> Verknüpfung <strong>des</strong> <strong>Auge</strong>s<br />

mit dem Tod auf. Der Pr<strong>in</strong>z soll von se<strong>in</strong>em Wahn geheilt werden, <strong>in</strong>dem<br />

man ihn schockiert <strong>und</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong> eigenes Grab blicken lässt. Der Pr<strong>in</strong>z wird<br />

dadurch e<strong>in</strong>erseits von se<strong>in</strong>em Wahn kuriert, andererseits aber löst der Blick<br />

e<strong>in</strong>e schleichende To<strong>des</strong>sehnsucht aus.<br />

Und während <strong>in</strong> der Aufklärung den Sehapparaten e<strong>in</strong>e positive Bedeutung<br />

beigemessen wird, verknüpfen <strong>die</strong> Romantiker <strong>die</strong>se mit Gefahr, ja sogar<br />

dem Tod. Literatur <strong>die</strong>ser Zeit ist <strong>in</strong> höchstem Maße selbstreflexiv, da<br />

10 Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Zweiter Band. Frankfurt am Ma<strong>in</strong> 1976, Seite 231-232


10<br />

zumeist negativ an das <strong>Auge</strong>nmotiv als Gottesemblem er<strong>in</strong>nert wird. Metzner<br />

stellt fest, dass nun <strong>die</strong> Manipulierbarkeit <strong>des</strong> therapeutischen Blicks relevant<br />

wird, so dass <strong>die</strong> „wissenschaftlich betriebene Mythisierung <strong>des</strong> Blicks <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />

Dämonisierung umgemünzt wird …. Und der Bösewicht sich <strong>die</strong>ses Blicks<br />

be<strong>die</strong>nt, um den Wahns<strong>in</strong>nigen zu se<strong>in</strong>em willigen Werkzeug zu machen.“ 11<br />

Diese Entwicklung zur Zeit der schwarzen Romantik spiegelt sich <strong>in</strong> der<br />

Literatur wider. E.T.A. Hoffmann zum Beispiel setzt den kranken Nathanael<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Erzählung Der Sandmann gleich e<strong>in</strong>em zweifachen Blick aus: dem<br />

der Puppe Olympia <strong>und</strong> dem Blick <strong>des</strong> dämonischen Experimentators<br />

Coppola <strong>und</strong> se<strong>in</strong>en Brillen. Die Blicke der Puppe sche<strong>in</strong>en ihm gut zu tun,<br />

obwohl es heißt, sie seien „so ganz ohne Lebensstrahl, ich möchte sagen<br />

ohne Sehkraft“. 12 Die Blicke Coppolas <strong>und</strong> se<strong>in</strong>er Brillen treiben ihn h<strong>in</strong>gegen<br />

noch tiefer <strong>in</strong> <strong>die</strong> Krankheit: „Tausend <strong>Auge</strong>n blickten <strong>und</strong> zuckten krampfhaft<br />

<strong>und</strong> starrten auf zum Nathanael…Übermannt von tollem Entsetzen schrie er<br />

auf.“ 13 Hier ist das Motiv <strong>des</strong> Panoptikums relevant, dem wir auch <strong>in</strong> <strong>Kubricks</strong><br />

2001 begegnen. Als Coppola <strong>die</strong> Puppenaugen zerstört, wird er endgültig<br />

wahns<strong>in</strong>nig. Hoffmann trennt <strong>die</strong> E<strong>in</strong>heit <strong>des</strong> heilenden <strong>und</strong> <strong>des</strong><br />

herrschenden Blicks <strong>und</strong> beleuchtet damit sowohl den therapeutischen<br />

Aspekt. Der therapeutische Blick Olympias entpuppt sich als Betrug, da er<br />

nur durch e<strong>in</strong>e Selbsttäuschung Nathanaels möglich ist. Der beherrschende<br />

Blick Coppolas richtet sich auf Vernichtung <strong>und</strong> Verführung.<br />

3. <strong>Kubricks</strong> Absage an das <strong>Auge</strong> der Vernunft<br />

3.1 2001: das E<strong>in</strong>schläfern der Argusaugen<br />

Erst mit <strong>die</strong>sem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong>wissen um das epochale Verständnis <strong>des</strong><br />

Menschen <strong>und</strong> se<strong>in</strong>er Wahrnehmung wird dem Rezipienten <strong>die</strong> Bedeutung<br />

HALs <strong>in</strong> dem Film 2001 klar. Mit ihm nämlich erleben wir e<strong>in</strong>en „e<strong>in</strong>äugigen<br />

Gott“, der allwissend, allgegenwärtig <strong>und</strong> allsehend ist. Als Computer sche<strong>in</strong>t<br />

er <strong>die</strong> real gewordene Utopie der Aufklärung zu „verkörpern“, se<strong>in</strong> rot-gelbes<br />

Sichtauge repräsentiert se<strong>in</strong> absolutes Wissen, den alles durchdr<strong>in</strong>genden<br />

Blick. Da jedoch Kubrick das 18. Jahrh<strong>und</strong>ert stets als negative<br />

Bezugsepoche thematisiert, ist auch das allwissende <strong>Auge</strong> HALs negativ<br />

konnotiert. Kubrick transformiert das <strong>Auge</strong>nmotiv ganz nach dem Vorbild der<br />

11 Joachim Metzner: Geschichte <strong>und</strong> Ästhetik <strong>des</strong> therapeutischen <strong>Auge</strong>nblicks, Seite 100<br />

12 E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann, hrsg. von Rudolf Drux. Stuttgart 2003, Seite 34<br />

13 Ebd., Seite 27-28


11<br />

Romantiker, <strong>und</strong> so wird mit dem perfektionierten <strong>Auge</strong> HALs (wie schon <strong>in</strong><br />

E.T.A. Hoffmanns Sandmann) <strong>die</strong> „Schreckensvision der 1000 <strong>Auge</strong>n, <strong>des</strong><br />

Panoptikums relevant.“ 14 Kubrick setzt <strong>die</strong>s szenisch um, <strong>in</strong>dem er aus der<br />

Perspektive HALs zeigt, wie Bowman <strong>und</strong> Poole sich e<strong>in</strong>schließen <strong>und</strong> den<br />

Funkkontakt zu HAL abschalten, <strong>die</strong>ser jedoch das Gespräch über se<strong>in</strong><br />

geplantes Ende von den Lippen abliest. Darauf reagiert er wie e<strong>in</strong> strafender<br />

Gott, tötet <strong>die</strong> im Tiefschlaf konservierten Wissenschaftler <strong>und</strong> Frank, <strong>in</strong>dem<br />

er <strong>die</strong> Sauerstoffzufuhr kappt. Außerdem verwehrt er Bowman den E<strong>in</strong>tritt <strong>in</strong><br />

das Raumschiff. HAL 9000 verkörpert das machtaffirmative <strong>Auge</strong> <strong>in</strong><br />

beispielhafter Weise. Der Mord an der Mannschaft ist im Schuss-<br />

Gegenschuss-Pr<strong>in</strong>zip <strong>in</strong>szeniert, so dass wir im Wechsel <strong>die</strong> Großaufnahme<br />

von HALs <strong>Auge</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> abflachende Lebenskurve der Weltraumfahrer auf<br />

dem Oszillographen sehen. Die Bilder s<strong>in</strong>d dermaßen beredt, dass der<br />

Zuschauer genau weiß, wer Opfer <strong>und</strong> wer Täter ist, ohne dass <strong>die</strong>s erwähnt<br />

oder gar der Mord selbst gezeigt würde. Der Zuschauer sieht lediglich <strong>in</strong> der<br />

letzten E<strong>in</strong>stellung <strong>die</strong>ser Szene <strong>die</strong> Gerade auf dem Oszillographen <strong>und</strong><br />

wieder das <strong>Auge</strong> HALs. Er weiß: das <strong>Auge</strong> selbst ist der Mörder. Analog<br />

dazu wird auch das <strong>Auge</strong> HALs gezeigt, nachdem Poole <strong>in</strong> den ewigen<br />

Weiten <strong>des</strong> Weltraumes verschw<strong>in</strong>det.<br />

In der griechischen Mythologie ist es Hermes, der mit e<strong>in</strong>er Melo<strong>die</strong> alle<br />

<strong>Auge</strong>n Argus e<strong>in</strong>schlafen lässt <strong>und</strong> den Riesen mit se<strong>in</strong>en h<strong>und</strong>ert <strong>Auge</strong>n<br />

schließlich tötet. In 2001 ist es Bowman, der über e<strong>in</strong>e Notschleuse wieder<br />

an Bord gelangt <strong>und</strong> e<strong>in</strong>en Weg <strong>in</strong> den Speicherraum <strong>des</strong> Computers f<strong>in</strong>det,<br />

um ihn abzuschalten. HAL fleht um se<strong>in</strong> „Leben“, doch der Astronaut arbeitet<br />

unbeirrt weiter. Während man das regelmäßige Rauschen se<strong>in</strong>es<br />

Atemgerätes <strong>und</strong> se<strong>in</strong>en gepressten Atem hört, wird HALs Stimme immer<br />

langsamer <strong>und</strong> tiefer. Sehr <strong>in</strong>teressant: der dramaturgische Gebrauch <strong>des</strong><br />

glühenden Rots <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Szene. Christian Mik<strong>und</strong>a hat <strong>die</strong> Wirkung auf den<br />

Rezipienten untersucht bei der „H<strong>in</strong>richtung <strong>die</strong>ses denkenden <strong>und</strong> fühlenden<br />

Computers“ 15 : Hier wirkt das Rot psychologisch packend <strong>und</strong> spannend. „Es<br />

führt zu e<strong>in</strong>em Aktivierungsanstieg <strong>des</strong> Rezipienten.“ 16 Die Art der Emotion<br />

wird durch das Rot <strong>und</strong> den Handlungskontext signalisiert: <strong>Das</strong> Jammern <strong>und</strong><br />

14 Kay Kirchmann: <strong>Das</strong> Schweigen der Bilder. Dritte erweiterte Auflage. Bochum 2001, Seite 132<br />

15 Christian Mik<strong>und</strong>a: K<strong>in</strong>o spüren. Strategien der emotionalen Filmgestaltung. Wien 2002, Seite 245<br />

16 Ebd., Seite 245


12<br />

Flehen <strong>des</strong> Computers, der schwere Atem <strong>des</strong> Astronauten, das K<strong>in</strong>derlied<br />

<strong>des</strong> Computers bevor <strong>die</strong> Stimme erstirbt – das Zusammenspiel von Farbe,<br />

Handlung <strong>und</strong> Ton macht aus der Szenerie e<strong>in</strong>e quälende <strong>und</strong> mitfühlende<br />

Empf<strong>in</strong>dung. Hier ist <strong>die</strong> Farbe expressiv <strong>und</strong> drückt das Quälende der<br />

Situation aus. „Diese totale Regression <strong>des</strong> <strong>in</strong>telligentesten Protagonisten<br />

aller Kubrick-Filme <strong>in</strong> e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d, das sozusagen im Dunkeln s<strong>in</strong>gt, um sich Mut<br />

zu machen, ist <strong>Kubricks</strong> radikale <strong>und</strong> zynische Absage an <strong>die</strong> Idee <strong>des</strong><br />

Göttlichen <strong>und</strong> der vergöttlichten Ratio zugleich.“ 17 Jegliche Sehapparate, <strong>die</strong><br />

<strong>in</strong> der Aufklärung zu e<strong>in</strong>er Potenzierung der Vernunft beitragen sollten,<br />

gew<strong>in</strong>nen <strong>in</strong> <strong>Kubricks</strong> Filmen e<strong>in</strong>e gegenläufige Bedeutung.<br />

3.2 Die Brille <strong>in</strong> Barry Lyndon <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e co<strong>die</strong>rte Botschaft<br />

Die Brille sitzt nur sche<strong>in</strong>bar im Zeichen der Vernunft auf den Nasen der<br />

<strong>Kubricks</strong>chen Protagonisten. Zunächst möchte ich auf das Brillenmotiv <strong>in</strong><br />

Barry Lyndon e<strong>in</strong>gehen, dem Film, der explizit <strong>in</strong> dem Jahrh<strong>und</strong>ert spielt,<br />

welches Kubrick stets als negative Bezugsgröße thematisiert. Dort sehen wir<br />

Lord Bull<strong>in</strong>gdon am Ende <strong>des</strong> Filmes mit e<strong>in</strong>er Brille. <strong>Das</strong> ist <strong>des</strong>halb<br />

bemerkenswert, weil es <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zige Szene ist, <strong>in</strong> der wir ihn so sehen. Die<br />

Brille steht hier im Zeichen der gewonnenen Macht, denn Lord Bull<strong>in</strong>gdon hat<br />

se<strong>in</strong>en Stiefvater Barry Lyndon im Duell besiegt. Die Vernunft, verkörpert<br />

durch Bull<strong>in</strong>gdon, sche<strong>in</strong>t über <strong>die</strong> Unvernunft gesiegt zu haben. Doch wir<br />

haben es ja schließlich mit e<strong>in</strong>em <strong>Kubricks</strong>chen Film zu tun, <strong>und</strong> so setzt<br />

<strong>die</strong>ser e<strong>in</strong>e co<strong>die</strong>rte Botschaft an das Ende. Der Scheck, den Lady Lyndon<br />

signiert, trägt <strong>die</strong> Jahreszahl 1789, „also jenes Jahres, <strong>in</strong> dem mit der<br />

französischen Revolution der Höhepunkt <strong>des</strong> aufklärerischen<br />

Emanzipationsprozesses erreicht, zugleich aber auch der erste Schritt <strong>in</strong> den<br />

blutigen Irrationalismus von 1793 getätigt wurde.“ 18 Damit deutet Kubrick<br />

also schon den Machtverlust der aristokratischen Herrschaftsschicht an <strong>und</strong><br />

verweist zugleich auf <strong>die</strong> Revitalisierung <strong>des</strong> Bürgertums, das durch Barry<br />

repräsentiert wird. Im übertragenen S<strong>in</strong>n formuliert Kubrick e<strong>in</strong>e radikale<br />

Absage an <strong>die</strong> Idee der Aufklärung: das <strong>Auge</strong> als Symbol der Vernunft wird<br />

negiert <strong>und</strong> damit auch <strong>die</strong> Potenzierung der Vernunft durch e<strong>in</strong>e Brille.<br />

17 Kay Kirchmann: <strong>Das</strong> Schweigen der Bilder, Seite 133<br />

18 Ebd., Seite 114


3.3 Die Brille der Wissenschaftler<br />

19 Ebd., Seite 142<br />

20 Ebd., Seite 143<br />

13<br />

Ich habe <strong>in</strong> 2.3 exemplarisch an E.T.A. Hoffmanns Sandmann aufgezeigt,<br />

welche Bedeutung das <strong>Auge</strong>n- <strong>und</strong> Brillenmotiv zur Zeit der schwarzen<br />

Romantiker gew<strong>in</strong>nt. Kubrick be<strong>die</strong>nt sich ebenfalls e<strong>in</strong>er solchen<br />

Darstellung. Die Wissenschaftler se<strong>in</strong>er Filme tragen alle Brillen, stehen<br />

jedoch nur vordergründig im Dienste der Vernunft <strong>und</strong> <strong>des</strong> Guten. Vielmehr<br />

erleben wir sie von e<strong>in</strong>er irrationalen, dämonischen Seite. E<strong>in</strong> gutes Beispiel<br />

ist Dr. Seltsam, „das <strong>in</strong>s Absurde übersteigerte Abbild e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>strumentellen<br />

Vernunft, <strong>die</strong> Erkenntnisanspruch mit Machtanspruch gleichsetzt.“ 19<br />

Bezeichnend ist, dass er e<strong>in</strong>e Sonnenbrille trägt, <strong>in</strong> der sich <strong>die</strong> Lichter <strong>des</strong><br />

Kriegsbunkers spiegeln. Hier spielt Kubrick mit der Hell-Dunkel-Metaphorik,<br />

<strong>die</strong> sich im aufklärerischen Verständnis auf Rationalismus <strong>und</strong><br />

Irrationalismus übertragen lässt. „Folgt man <strong>Kubricks</strong> metaphorischer<br />

Vorgabe, so kann man sagen, dass <strong>in</strong> Dr. Strangelove <strong>die</strong> <strong>in</strong>strumentelle<br />

Vernunft von ihrer eigenen Macht geblendet ist.“ 20<br />

Zu den Wissenschaftlern zählen selbstverständlich auch <strong>die</strong> Ärzte <strong>in</strong><br />

<strong>Kubricks</strong> Filmen. <strong>Das</strong>s ihr therapeutischer Blick machtaffirmativ ist, soll nun<br />

<strong>in</strong> der Folge belegt werden. Die Ärzte <strong>in</strong> den Filmen Lolita <strong>und</strong> A Clockwork<br />

Orange werden von Kubrick wie <strong>die</strong> Irrenärzte <strong>des</strong> 18./19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

dargestellt. Mit ihrem therapeutischen Blick wollen sie den Wahns<strong>in</strong>n im Blick<br />

ihrer Patienten erkennen. E<strong>in</strong> Beispiel s<strong>in</strong>d Dr. Keygee <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Mitarbeiter<br />

<strong>in</strong> Lolita. Sie können den aufgebrachten Humbert bändigen, werfen ihn zu<br />

Boden, um ihm anschließend mit der Taschenlampe <strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Auge</strong>n zu<br />

leuchten, als könnten sie dort <strong>die</strong> Ursache für se<strong>in</strong> irrationales Verhalten<br />

entdecken. Kubrick erweitert <strong>die</strong> Anspielung <strong>des</strong> therapeutischen Blicks,<br />

<strong>in</strong>dem er <strong>die</strong> Taschenlampe <strong>und</strong> damit <strong>die</strong> Metaphorik <strong>des</strong> Lichts <strong>in</strong>tegriert.<br />

Damit ordnet er <strong>die</strong> Ärzte der Aufklärung zu, <strong>die</strong> Licht <strong>in</strong> Humberts dunkle,<br />

ergo wahns<strong>in</strong>nige <strong>Auge</strong>n br<strong>in</strong>gen wollen.<br />

Auch Dr. Brodski (A Clockwork Orange), der Alex während der Ludovico-Kur<br />

beobachtet, verkörpert nicht gerade e<strong>in</strong>en Vertrauen erweckenden Arzt,<br />

sondern vielmehr e<strong>in</strong>en Mediz<strong>in</strong>er, der folterähnliche Behandlungsmethoden


14<br />

unterstützt. Letztlich s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> <strong>Auge</strong>n der Intellektuellen <strong>in</strong> <strong>Kubricks</strong> Filmen<br />

machtaffirmativ <strong>und</strong> metaphorisch gesehen als wahrhaft „dunkel“ zu<br />

bezeichnen.<br />

4. <strong>Auge</strong> – Eros - Thanatos<br />

4.1 A Clockwork Orange <strong>und</strong> <strong>die</strong> neue Tr<strong>in</strong>ität<br />

A Clockwork Orange ist <strong>die</strong> Fortsetzung von 2001, denn dort blicken den<br />

K<strong>in</strong>ozuschauer <strong>in</strong> der letzten E<strong>in</strong>stellung zwei Embryoaugen an, <strong>die</strong> von der<br />

Welt noch völlig unberührt s<strong>in</strong>d, um drei Jahre später ihre Re<strong>in</strong>karnation <strong>in</strong><br />

den <strong>Auge</strong>n <strong>des</strong> Alex DeLarge zu f<strong>in</strong>den. Aus dem Sternenk<strong>in</strong>d, das dem<br />

Zuschauer mit se<strong>in</strong>em zuversichtlichen Blick Gutes zu signalisieren schien,<br />

ist e<strong>in</strong> Mörder <strong>und</strong> Vergewaltiger geworden. Als Fortsetzung von 2001 wird <strong>in</strong><br />

<strong>die</strong>sem Film sozusagen der Rest <strong>des</strong> Gottesemblems vernichtet. Die<br />

E<strong>in</strong>gangsszene zeigt Alex´ <strong>Auge</strong> <strong>in</strong> Großaufnahme, bevor <strong>die</strong> Kamera<br />

aufzieht <strong>und</strong> dem Zuschauer e<strong>in</strong> Raum eröffnet wird, <strong>in</strong> dem Symbole der<br />

Sexualität <strong>und</strong> der Gewalt zu sehen s<strong>in</strong>d. Aber schon das Plakat <strong>des</strong> Filmes<br />

zeigt <strong>die</strong> Verhöhnung <strong>des</strong> göttlichen Dreiecks, also <strong>die</strong> Transformation der<br />

heiligen Tr<strong>in</strong>ität. So wird auf <strong>die</strong>sem e<strong>in</strong> verschachteltes Dreieck dargestellt,<br />

<strong>in</strong> dem das <strong>Auge</strong>, e<strong>in</strong> Messer (als Symbol der Gewalt) <strong>und</strong> nackte<br />

Frauenkörper (als Anspielung auf <strong>die</strong> Sexualität) zu sehen s<strong>in</strong>d. Kubrick<br />

erteilt dem ursprünglich religiösen S<strong>in</strong>nbild e<strong>in</strong>e klare Absage <strong>und</strong> setzt an<br />

<strong>des</strong>sen Stelle e<strong>in</strong>e neue, gleichsam profane Tr<strong>in</strong>ität: „<strong>Auge</strong> – Eros –<br />

Thanatos.“ 21 Zwar ist <strong>die</strong>ser Film formal <strong>und</strong> <strong>in</strong>haltlich als Passion angelegt,<br />

allerd<strong>in</strong>gs wird nicht vom Leidensweg Jesu erzählt, sondern von dem e<strong>in</strong>es<br />

Gewalttäters.<br />

4.2 Erotisch-tödliche <strong>Auge</strong>n-Blicke<br />

21 Ebd., Seite 135<br />

22 Ebd., Seite 140<br />

„Indem Kubrick das Zeichen <strong>Auge</strong> mit Sexualität <strong>und</strong> Tod zum Emblem e<strong>in</strong>er<br />

neuen Tr<strong>in</strong>ität verb<strong>in</strong>det, manifestiert sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Filmen e<strong>in</strong>e negative<br />

Herrschaft <strong>des</strong> Blickes.“ 22 Ich habe bereits auf den Rationalisierungsprozess<br />

h<strong>in</strong>gewiesen, der im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert se<strong>in</strong>en Ursprung hat <strong>und</strong> durch den <strong>die</strong><br />

Triebe im Sehvorgang sublimiert werden sollen. In Barry Lyndon sche<strong>in</strong>t es<br />

noch zu gel<strong>in</strong>gen, <strong>die</strong> Triebe <strong>in</strong> re<strong>in</strong>e Sehlust umzuwandeln, wenn Barry <strong>und</strong>


15<br />

Lady Lyndon stumm ihre Liebesblicke am Spieltisch austauschen. Diese<br />

Szene demonstriert, „wie sehr sich Kubrick der affektmäßigen Funktion <strong>des</strong><br />

Blickes im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert bewusst ist“ 23 , stellt aber zugleich e<strong>in</strong>e Ausnahme<br />

dar <strong>in</strong> der Reihe <strong>Kubricks</strong>cher Liebesszenen. S<strong>in</strong>d solche <strong>in</strong> der Regel<br />

verknüpft mit <strong>des</strong>truktivem, trieborientierten Verhalten, bek<strong>und</strong>et <strong>die</strong>ses Paar<br />

kurz darauf se<strong>in</strong>e Liebe. Doch ehe der Zuschauer sich über e<strong>in</strong>e<br />

Liebesszene w<strong>und</strong>ern kann, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>mal nicht von Sexismus <strong>und</strong> Gewalt<br />

dom<strong>in</strong>iert wird, erlebt er Barry als e<strong>in</strong>en treulosen Ehemann, der se<strong>in</strong>e Triebe<br />

ungeniert <strong>in</strong> wilden Orgien auslebt. Der Film zeigt letztlich also auch nur das<br />

Scheitern <strong>des</strong> Rationalisierungsprozesses, <strong>in</strong> welchem „um es<br />

schlagwortartig zu sagen, das Bewußtse<strong>in</strong> weniger triebdurchlässig <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

Triebe weniger bewußtse<strong>in</strong>sdurchlässig“ 24 werden. So formuliert es Elias <strong>und</strong><br />

verweist damit ganz klar auf e<strong>in</strong>e Spaltung <strong>des</strong> Ichs. All jenes, was man nicht<br />

mit der Vernunft erklären kann – wie eben den Tod oder <strong>die</strong> Erotik – ist im<br />

Endeffekt zu sehr Bestandteil menschlichen Se<strong>in</strong>s, als dass e<strong>in</strong>e<br />

Ausgrenzung ohne Folgen e<strong>in</strong>hergehen könnte. Und so negiert Kubrick e<strong>in</strong>e<br />

Triebsublimation durch den Sehvorgang nicht nur, er stellt vielmehr dar, dass<br />

gerade <strong>die</strong> Unterdrückung e<strong>in</strong>e eruptive Entäußerung bed<strong>in</strong>gt. Der Akt <strong>des</strong><br />

Sehens wird bei Kubrick also stets mit den Aspekten <strong>des</strong> To<strong>des</strong> <strong>und</strong> der<br />

Erotik verb<strong>und</strong>en. Selten treffen sich <strong>die</strong> Blicke der Männer <strong>und</strong> Frauen.<br />

Wenn aber, dann ist <strong>die</strong>ser <strong>Auge</strong>nkontakt sexistisch <strong>und</strong> <strong>des</strong>truktiv angelegt.<br />

Am deutlichsten lässt sich <strong>die</strong>se Synthese <strong>in</strong> dem Film The Sh<strong>in</strong><strong>in</strong>g belegen:<br />

Jack hält e<strong>in</strong>e attraktive Frau <strong>in</strong> den Armen <strong>und</strong> betrachtet <strong>die</strong>se über e<strong>in</strong>en<br />

Spiegel, kurz bevor sie sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e alte, verweste Frau verwandelt. Ebenso<br />

erwähnenswert ist an <strong>die</strong>ser Stelle e<strong>in</strong>e Szene aus dem Film A Clockwork<br />

Orange, <strong>in</strong> der der Protagonist Alex auf <strong>die</strong> Katzenfrau herab blickt, kurz<br />

bevor er sie mit e<strong>in</strong>em Plastikphallus erschlägt.<br />

4.3 <strong>Das</strong> <strong>Auge</strong> als Waffe<br />

An dem Computerauge von HAL 9000 habe ich bereits exemplarisch<br />

erläutert, wie Kubrick das <strong>Auge</strong> als e<strong>in</strong>e tödliche Waffe darstellt. Der Macht<br />

<strong>des</strong> <strong>Auge</strong>s begegnen wir aber auch <strong>in</strong> anderen Filmen <strong>Kubricks</strong>, wie etwa <strong>in</strong><br />

Barry Lyndon. Dort stehen sich Barry <strong>und</strong> Qu<strong>in</strong> im Duell gegenüber. Der Blick<br />

23 Ebd., Seite 135<br />

24 Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation, Seite 390


16<br />

Barrys ist dermaßen dom<strong>in</strong>ant, dass Qu<strong>in</strong> zusammenbricht, obwohl <strong>die</strong><br />

Waffe lediglich mit Platzpatronen geladen ist. In The Kill<strong>in</strong>g erleben wir e<strong>in</strong>en<br />

Scharfschützen, der e<strong>in</strong> Pferd erschießt. Hier wird das <strong>Auge</strong> wohl am<br />

deutlichsten als Waffe e<strong>in</strong>gesetzt, da `das Projektil als Projektion <strong>des</strong><br />

tödlichen Blickes ersche<strong>in</strong>t. ` 25 Aber auch Sehapparate wie das Fernrohr, <strong>die</strong><br />

Kamera oder das Zielfernrohr, <strong>die</strong> ursprünglich den vernünftigen Blick<br />

optimieren sollten, stehen bei Kubrick im Dienste <strong>des</strong> To<strong>des</strong>. Indem er<br />

nämlich <strong>die</strong> Protagonisten se<strong>in</strong>er Kriegsfilme auffallend oft durch<br />

Sehapparate blicken lässt, verstärkt er den E<strong>in</strong>druck <strong>des</strong> <strong>Auge</strong>s als Waffe. In<br />

Paths of Glory ist es General Mireau, <strong>in</strong> Barry Lyndon Hauptmann Potzdorf,<br />

der mit e<strong>in</strong>em Fernrohr den Fe<strong>in</strong>d anvisiert.<br />

Paul Virilio hat <strong>die</strong> strukturelle Verwandtschaft von Krieg <strong>und</strong> K<strong>in</strong>o untersucht<br />

<strong>und</strong> ist dabei zu dem Schluss gekommen, dass jeder Kriegsschauplatz stets<br />

zunächst e<strong>in</strong> Wahrnehmungsfeld ist. „Die Geschichte der Schlachten ist<br />

zunächst <strong>die</strong> der Metamorphosen ihrer Wahrnehmungsfelder. Anders gesagt,<br />

geht es im Krieg weniger darum, materielle – territoriale, ökonomische –<br />

Eroberungen zu machen als vielmehr darum, sich der immateriellen Felder<br />

der Wahrnehmung zu bemächtigen.“ 26 Er sieht das <strong>Auge</strong> als e<strong>in</strong> besonders<br />

aggressives Organ <strong>und</strong> konstatiert, dass militärische Taktik hauptsächlich<br />

dar<strong>in</strong> bestehe, den Fe<strong>in</strong>d zu sehen, während man selbst unsichtbar bleibe. In<br />

Paths of Glory beispielsweise sollen <strong>die</strong> Soldaten unentdeckt bleiben – <strong>und</strong><br />

gleichzeitig alles jenseits der fe<strong>in</strong>dlichen L<strong>in</strong>ien sehen. Diese Strategie sticht<br />

zunächst nicht auffällig hervor, da es recht plausibel zu se<strong>in</strong> sche<strong>in</strong>t, sich vor<br />

dem Fe<strong>in</strong>d zu verstecken. Immerh<strong>in</strong> wird das <strong>Auge</strong> aber als e<strong>in</strong> Instrument<br />

der Macht entlarvt.<br />

Oft verweist Virilio auch auf Dr. Strangelove, e<strong>in</strong> Film, der <strong>die</strong> voyeuristischen<br />

Aspekte der Kriegsstrategie thematisiert. Die Taktik der US-Bomberpiloten ist<br />

es, sich vor den <strong>Auge</strong>n <strong>des</strong> Fe<strong>in</strong><strong>des</strong> zu verbergen, <strong>in</strong>dem sie unterhalb <strong>des</strong><br />

russischen Radars fliegen. „Seit 1914 ist <strong>die</strong> Luftfahrt eigentlich ke<strong>in</strong> Mittel<br />

mehr zum Fliegen, zur Aufstellung von Rekorden, (…) -, sie wird zu e<strong>in</strong>er<br />

Sehweise oder vielmehr zum eigentlichen Mittel <strong>des</strong> Sehens überhaupt.“ 27<br />

25 Kay Kirchmann: <strong>Das</strong> Schweigen der Bilder, Seite 138<br />

26 Paul Virilio: Krieg <strong>und</strong> K<strong>in</strong>o. Logistik der Wahrnehmung. München/ Wien 1986, Seite 13<br />

27 Ebd., Seite 30


17<br />

Auch Stefan Re<strong>in</strong>ecke stellt fest: „Sehen bedeutet überleben, gesehen<br />

werden den Tod“ 28 . Dabei bezieht er sich auf e<strong>in</strong>e Szene aus Full Metal<br />

Jacket, <strong>die</strong> aus der Perspektive der Heckenschütz<strong>in</strong> gezeigt wird. In <strong>die</strong>sem<br />

Moment sehen wir <strong>die</strong> dreigliedrige Motivkette - <strong>Auge</strong>, Eros, Thanatos –<br />

vere<strong>in</strong>t, denn „zugleich aber kehrt das Weibliche zurück, <strong>die</strong> Frau, <strong>und</strong> mit ihr<br />

der Tod.“ 29 Ständig treten <strong>die</strong> Motive mite<strong>in</strong>ander <strong>in</strong> Wechselwirkung: wie<br />

Elementarteilchen, <strong>die</strong> Kräfte aufe<strong>in</strong>ander ausüben. So resultiert aus der<br />

Betrachtung nackter Frauenkörper Energie zum Töten. In den Sp<strong>in</strong>den der<br />

Soldaten hängen P<strong>in</strong>-up-Girls (Full Metal Jacket), der Bomberpilot blättert<br />

während <strong>des</strong> Fluges <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Erotikzeitschrift (Dr. Strangelove), Soldaten<br />

bekommen vor ihrem Fronte<strong>in</strong>satz junge Frauen zu sehen. (Paths of Glory,<br />

Full Metal Jacket) Sexuelle Energien werden <strong>in</strong> <strong>des</strong>truktive verwandelt, <strong>und</strong><br />

so schließt sich stets <strong>die</strong> dreigliedrige Motivkette <strong>in</strong> <strong>Kubricks</strong> Filmen.<br />

5. Lauter Spiegelungen<br />

5.1 <strong>Das</strong> <strong>Auge</strong> als Spiegel der Seele<br />

Es ist wie e<strong>in</strong> Krieg, der im Inneren der Protagonisten ausgefochten wird.<br />

Elias formuliert es treffend, wenn er sagt: „der Kriegsschauplatz wird zugleich<br />

<strong>in</strong> gewissem S<strong>in</strong>ne nach <strong>in</strong>nen verlagert. (…) Aber <strong>die</strong> Triebe, <strong>die</strong><br />

leidenschaftlichen Affekte, <strong>die</strong> jetzt nicht mehr unmittelbar <strong>in</strong> den<br />

Beziehungen zwischen den Menschen zum Vorsche<strong>in</strong> kommen dürfen,<br />

kämpfen nun oft genug nicht weniger heftig im E<strong>in</strong>zelnen gegen <strong>die</strong>sen<br />

überwachenden Teil se<strong>in</strong>es Selbst.“ 30 Kubrick illustriert <strong>die</strong> Folgen jenes<br />

Rationalisierungsprozess, der nun schon oft erwähnt worden ist: aus der<br />

Angst vor metaphysischen Bereichen resultiert <strong>die</strong> Verdrängung, aus der<br />

Verdrängung <strong>die</strong> Angst vor der <strong>Rückkehr</strong> <strong>des</strong> <strong>Verdrängten</strong>. Und so werden<br />

<strong>die</strong> <strong>Kubricks</strong>chen Protagonisten letztlich mit ihren eigenen Schreckensbildern<br />

konfrontiert, als Spiegel ihrer Seele. The Sh<strong>in</strong><strong>in</strong>g ist der Film, der <strong>die</strong>se<br />

Thematik wohl am deutlichsten repräsentiert.<br />

Der kle<strong>in</strong>e Danny <strong>und</strong> Hallorann verfügen über seherische Fähigkeiten, eben<br />

das „Sh<strong>in</strong><strong>in</strong>g“. Im Verlauf <strong>des</strong> Filmes haben aber auch Wendy <strong>und</strong> Jack<br />

Halluz<strong>in</strong>ationen. Frauen, <strong>die</strong> sich <strong>in</strong> verweste Leichen verwandeln,<br />

28<br />

Stefan Re<strong>in</strong>ecke: Es ist besser zu leben, als tot zu se<strong>in</strong>: Full Metal Jacket. In <strong>Stanley</strong> Kubrick. Red. Dieter<br />

Bertz. Berl<strong>in</strong> 1999, Seite 230<br />

29<br />

Ebd., Seite 220<br />

30<br />

Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation, Seite 330-331


18<br />

Wasserfälle von Blut, <strong>die</strong> Begegnung mit längst Verstorbenen etc. All <strong>die</strong>se<br />

grauenvollen Bilder lassen den Zuschauer nicht mehr wissen, was der<br />

Wirklichkeit entsprechen soll – ähnlich wie <strong>in</strong> Eyes Wide Shut, bei dem der<br />

Zuschauer nicht mehr zwischen Se<strong>in</strong> <strong>und</strong> Sche<strong>in</strong> unterscheiden kann.<br />

Die Protagonisten projizieren <strong>die</strong> <strong>in</strong>s Innere verdrängten Bilder von Eros <strong>und</strong><br />

Thanatos <strong>in</strong> <strong>die</strong> Realität. Die Verdrängung, so sche<strong>in</strong>t uns Kubrick<br />

signalisieren zu wollen, bed<strong>in</strong>gt das unkontrollierbare Ausbrechen solcher<br />

Schreckensvisionen. Und gerade weil das, was <strong>die</strong> Figuren <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Film<br />

sehen, „etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch<br />

den Prozeß der Verdrängung entfremdet worden ist (…)“ 31 , ist, erlebt der<br />

Protagonist <strong>die</strong>se Visionen angst- <strong>und</strong> lustvoll zugleich. Kubrick selbst sagt<br />

zu <strong>die</strong>sem Film: „Von Natur aus läuft bei der menschlichen Persönlichkeit<br />

etwas falsch. Es gibt dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e böse Seite. Horrorgeschichten können uns<br />

<strong>die</strong> Archetypen <strong>des</strong> Unbewussten zeigen.“ 32<br />

Analog zu Mr. Alexander <strong>in</strong> A Clockwork Orange schließen <strong>die</strong> Figuren aus<br />

The Sh<strong>in</strong><strong>in</strong>g nicht ihre <strong>Auge</strong>n vor dem Grauen, sondern reißen <strong>die</strong>se<br />

vielmehr lustvoll oder verängstigt auf. Alle<strong>in</strong> Danny schafft es e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges<br />

Mal, durch das Bedecken der <strong>Auge</strong>n den Spuk zu beenden.<br />

Bezeichnenderweise gel<strong>in</strong>gt <strong>die</strong>s nur e<strong>in</strong>em K<strong>in</strong>d, an dem der<br />

Rationalisierungsprozess offensichtlich noch nicht vollzogen wurde.<br />

Durch den Prozess der Entfremdung werden <strong>die</strong> Bilder unheimlich <strong>und</strong> Angst<br />

e<strong>in</strong>flößend. „Desto klarer zeigt sich, <strong>in</strong> welchem Maße <strong>die</strong> Ängste, <strong>die</strong> den<br />

Menschen bewegen, menschen-geschaffen s<strong>in</strong>d.“ 33 <strong>Das</strong> <strong>Auge</strong> selbst<br />

projiziert <strong>die</strong> <strong>in</strong>s Innere verdrängten Bilder, produziert also das Grauen selbst<br />

- zugleich wird es durch <strong>die</strong> Verdrängung zum schutzlosen <strong>Auge</strong> <strong>des</strong><br />

Schreckens. „Die triebsublimierte, gesittete Sehlust ist umgeschlagen <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>en trieborientierten <strong>und</strong> angste<strong>in</strong>flößenden Sehzwang.“ 34 Die<br />

verängstigten Blicke f<strong>in</strong>den wir <strong>in</strong> nahezu jedem Film <strong>Kubricks</strong>. Dort f<strong>in</strong>den<br />

sie ihre Entsprechung als Angst vor der <strong>Rückkehr</strong> <strong>des</strong> <strong>Verdrängten</strong>. Die<br />

Protagonisten werden oft zum passiven Zuschauer ihrer eigenen<br />

Triebregungen, der ihr Double verkörpert – <strong>und</strong> hier ist schon <strong>die</strong> Nähe zum<br />

Medium Film <strong>und</strong> se<strong>in</strong>en Zuschauern zu erkennen.<br />

31 Sigm<strong>und</strong> Freud, zitiert nach Kay Kirchmann: <strong>Das</strong> Schweigen der Bilder, Seite 146<br />

32 <strong>Stanley</strong> Kubrick, zitiert nach Paul Duncan: <strong>Stanley</strong> Kubrick. Köln 2003, Seite 9<br />

33 Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation, Seite 446<br />

34 Kay Kirchmann: <strong>Das</strong> Schweigen der Bilder, Seite 146


19<br />

5.2 Der Doppelgänger als Spiegel der Seele<br />

Die Doppelgängerthematik ist <strong>in</strong> <strong>Kubricks</strong> Filmen stets präsent. Es ist e<strong>in</strong><br />

Motiv aus der Romantik, das aus dem Zweifel <strong>des</strong> Menschen an der E<strong>in</strong>heit<br />

se<strong>in</strong>er Person resultiert. Die Dämonisierung von Tod <strong>und</strong> Erotik führt zu e<strong>in</strong>er<br />

Spaltung <strong>des</strong> Ichs, <strong>die</strong> das Motiv <strong>des</strong> Doppelgängers symbolisiert.<br />

In The Sh<strong>in</strong><strong>in</strong>g ist der Doppelgänger das Resultat e<strong>in</strong>er Projektion, also e<strong>in</strong><br />

optisches Phänomen. Und auch nur Dannys Doppelgänger kann e<strong>in</strong><br />

Schutzengel se<strong>in</strong>, während alle anderen Figuren <strong>des</strong> Films e<strong>in</strong> unheimliches<br />

Double haben. Grady ist das Double von Jack, der ihn auffordert, se<strong>in</strong>e<br />

Familie zu ermorden <strong>und</strong> damit Jacks verdrängte Triebe verkörpert. Ob nun<br />

als optisches Phänomen, oder als fiktiv-wahre Figur - generell lässt sich im<br />

Bezug auf <strong>Kubricks</strong> Filme feststellen, dass der Doppelgänger das libid<strong>in</strong>ös<br />

handelnde Gegenüber <strong>des</strong> Protagonisten darstellt. Dieser ist –<br />

gesellschaftlich konditioniert – nicht <strong>in</strong> der Lage, se<strong>in</strong>en Trieben freien Lauf<br />

zu lassen. Was <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Person verborgen ist, tritt <strong>in</strong> ihrem Doppelgänger,<br />

ihrer Spiegelung zutage. „Der Fe<strong>in</strong>d <strong>des</strong> <strong>Kubricks</strong>chen Protagonisten ist<br />

zugleich Verdopplung wie Negation <strong>des</strong> eigenen Ichs...“ 35 C.G. Jung nannte<br />

<strong>die</strong>se dunkle Seite den Schatten. In Lolita wagt beispielsweise Humbert<br />

Humbert es nicht, se<strong>in</strong>e Liebe zu Lolita öffentlich zu zeigen, während Clare<br />

Quilty hemmungslos <strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>ung tritt.<br />

In Eyes Wide Shut erleben wir e<strong>in</strong>e Spiegelung anderer Art: als Bill erfährt,<br />

dass se<strong>in</strong>e Frau be<strong>in</strong>ahe <strong>die</strong> Ehe für e<strong>in</strong>en ihr unbekannten Mann aufs Spiel<br />

gesetzt hätte, ist er fassungslos. Kurz darauf wird er zu e<strong>in</strong>em To<strong>des</strong>fall<br />

gerufen. Die Tochter <strong>des</strong> Verstorbenen gesteht ihm se<strong>in</strong>e Liebe –<br />

bezeichnenderweise im Zimmer <strong>des</strong> Toten – obgleich auch sie ihn nicht<br />

wirklich kennt. Als dann der Verlobte <strong>die</strong>ser Frau auftaucht, der Bill ähnlich<br />

sieht, spiegelt das Paar Bill <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Frau. Für den Rest <strong>des</strong> Films<br />

beschäftigt sich Bill mit se<strong>in</strong>em Schatten.<br />

Letztlich ist <strong>die</strong> Spiegelung <strong>des</strong> Ichs <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>es Doppelgängers „auch e<strong>in</strong>e<br />

besondere Form der Wahrnehmung: <strong>die</strong> Welt existiert, <strong>in</strong>sofern sie sich im<br />

anderen Ich spiegelt, <strong>und</strong> sie erlischt, wenn es <strong>die</strong>sen Spiegel nicht mehr<br />

gibt.“ 36 <strong>Das</strong> Motiv steht auch stets als Vorbote für Tod oder Gewalt. So s<strong>in</strong>d<br />

viele Mordtaten <strong>Kubricks</strong>cher Protagonisten der Versuch, sich vom<br />

35 Ebd., Seite 116<br />

36 Georg Seßlen/ Fernand Jung: <strong>Stanley</strong> Kubrick <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Filme, Seite 40


20<br />

unheimlichen Gegenspieler auf gewaltsame Weise zu befreien. Der dem<br />

doppelgängerischen Ich zugedachte Tod trifft dann aber <strong>die</strong> eigene Person.<br />

So führt z.B. Humberts Mord an Quilty zu <strong>des</strong>sen eigenem Tod, da er ja<br />

e<strong>in</strong>en Teil von sich selbst umgebracht hat.<br />

Der Protagonist sche<strong>in</strong>t abhängig zu se<strong>in</strong> von se<strong>in</strong>em Doppelgänger, denn<br />

alle<strong>in</strong> durch ihn kann er sich selbst erfahren. So steht <strong>die</strong>se Person nicht<br />

alle<strong>in</strong> im Zentrum der Handlung wie der gängige „Held“, sondern ist stets auf<br />

der Suche nach dem Antagonisten, der se<strong>in</strong>e verborgenen Triebe auslebt.<br />

„Und schließlich wird der Doppelgänger zu e<strong>in</strong>er Instanz der Wahrnehmung;<br />

während der e<strong>in</strong>e eher dem Es zugehörig ersche<strong>in</strong>t – körperlich <strong>und</strong><br />

handelnd – ist der andere dem Über-Ich zugewandt, er wird zu e<strong>in</strong>er Instanz<br />

<strong>des</strong> Verbotes <strong>und</strong> der Kontrolle.“ 37 So verbietet beispielsweise „Tony“ Danny<br />

<strong>in</strong> The Sh<strong>in</strong><strong>in</strong>g über bestimmte D<strong>in</strong>ge zu sprechen; Quilty schlüpft <strong>in</strong><br />

autoritäre Rollen wie Psychiater oder Lehrer (<strong>in</strong> Lolita). Mr. Alexander nimmt<br />

Alex <strong>in</strong> A Clockwork Orange gefangen.<br />

5.3 Der Blick im Bild gespiegelt <strong>und</strong> der dämonische Blick als Widerspiegelung<br />

37 Ebd., Seite 42<br />

38 Ebd., Seite 48<br />

39 Ebd., Seite 48<br />

Die Duellanten <strong>des</strong> Filmes Barry Lyndon blicken <strong>in</strong> <strong>die</strong> Pistolenmündungen<br />

ihrer Gegner <strong>und</strong> damit <strong>in</strong> ihren eigenen Abgr<strong>und</strong>, „<strong>in</strong> den Tod im Blick e<strong>in</strong>es<br />

Spiegels, e<strong>in</strong>es Doppelgängers.“ 38 E<strong>in</strong>e solche Spiegelung <strong>des</strong> Blickes im<br />

Bild taucht unter anderem <strong>in</strong> 2001 auf, als <strong>die</strong> Astronauten im Fernsehen ihr<br />

Spiegelbild sehen. Diese Spiegelung erreicht ihren Höhepunkt, als <strong>die</strong><br />

Figuren nicht direkt das Kameraauge fixieren, sondern e<strong>in</strong>en Punkt kurz<br />

oberhalb, um <strong>die</strong> „geschlossene Welt ihrer „Realität“ nicht zu zerstören.“ 39<br />

Direkt <strong>in</strong> <strong>die</strong> Kamera blicken vor allem <strong>die</strong> irren oder schelmischen<br />

Protagonisten <strong>Kubricks</strong>cher Filme, wie Jack <strong>in</strong> The Sh<strong>in</strong><strong>in</strong>g, Alex <strong>in</strong> A<br />

Clockwork Orange oder Private Pyle <strong>in</strong> Full Metal Jacket. Dabei wirken sie<br />

komisch <strong>und</strong> furchtbar zugleich.<br />

Seßlen vergleicht <strong>Kubricks</strong> Filme mit e<strong>in</strong>em Schachspiel <strong>und</strong> verweist auf<br />

den signifikanten Blick auf das Spielfeld. Der Blick Jacks auf das Labyr<strong>in</strong>th<br />

er<strong>in</strong>nert an den Blick auf e<strong>in</strong> Schachbrett, auf das er mit machtaffirmativen<br />

<strong>und</strong> böse triumphierenden Blicken schaut. E<strong>in</strong> ähnlicher Blick taucht <strong>in</strong> Dr.


21<br />

Strangelove auf: <strong>die</strong> Menschen im War Room fixieren e<strong>in</strong>e beleuchtete<br />

Weltkarte. Die Figuren <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem „Spiel“ s<strong>in</strong>d fremdbestimmt, was sich<br />

besonders <strong>in</strong> den Bildern von militärischen Inszenierungen <strong>und</strong> Schlachten<br />

zeigt – wie <strong>in</strong> Paths of Glory <strong>und</strong> Barry Lyndon. Alles Subjekthafte sche<strong>in</strong>t<br />

ihnen entwichen zu se<strong>in</strong>, wie Masch<strong>in</strong>en agieren sie fremdbestimmt. „Sodann<br />

gibt es den Blick <strong>in</strong> das Gesicht <strong>des</strong> Spielers, so subjektiv, forschend, immer<br />

auch e<strong>in</strong>e Grenze der Intimität <strong>und</strong> Schicklichkeit überschreitend (…)“ 40 . Aus<br />

solchen Blicken spricht bereits e<strong>in</strong>e Niederlage, <strong>die</strong> aus der Spielanordnung<br />

noch nicht ersichtlich ist. So sehen wir bereits den Ausgang <strong>des</strong> Duells<br />

zwischen Qu<strong>in</strong> <strong>und</strong> Barry <strong>in</strong> Barrys überlegenem Blick <strong>in</strong> Barry Lyndon. Der<br />

Zuschauer identifiziert Barry als Sieger noch bevor der Schuss gefallen ist.<br />

Auch den grausamen Endkampf Jacks sehen wir <strong>in</strong> Halloranns entsetztem<br />

Blick <strong>in</strong> The Sh<strong>in</strong><strong>in</strong>g widergespiegelt.<br />

Seßlen konstatiert, dass dem Blick <strong>und</strong> dem Blick im Blick (der Spiegelung)<br />

<strong>in</strong> <strong>Kubricks</strong> Filmen e<strong>in</strong>e Form der äußeren Bl<strong>in</strong>dheit, e<strong>in</strong> Blick nach Innen<br />

gegenüber stehe. Dies ist der Blick, der zuerst „leer wird, um sich dann <strong>in</strong><br />

wahrhaft namenlose Gewalt zu verwandeln“ 41 . Wie der Blick Jacks auf se<strong>in</strong>e<br />

Familie, oder der Jack D. Rippers, wenn er von den Grauen se<strong>in</strong>er<br />

paranoiden Bedrohungen durch das florierte Wasser oder durch <strong>die</strong><br />

Anmaßung der Frauen spricht. Auch der Blick Humberts auf Lolita zählt<br />

dazu, der sich <strong>in</strong> ihrem Gesicht verliert. Kurz bevor der Zuschauer Zeuge<br />

e<strong>in</strong>es fiktiven Mor<strong>des</strong> <strong>in</strong> <strong>Kubricks</strong> Filmen wird, wird ihm der tödliche <strong>Auge</strong>n-<br />

Blick <strong>des</strong> Mörders vorgeführt. <strong>Das</strong> heißt, man sieht den Blick der<br />

Protagonisten <strong>in</strong> Großaufnahme, bevor sie e<strong>in</strong>e Gewalttat begehen. Zu<br />

solchen Bild<strong>in</strong>szenierungen gehören beispielsweise Close Ups von Private<br />

Pyle <strong>in</strong> Full Metal Jacket, bevor er zunächst Hartmann, dann sich selbst<br />

umbr<strong>in</strong>gt; von dem Astronauten Bowman, bevor er HAL abstellt; von<br />

Bull<strong>in</strong>gton vor dem Schuss auf se<strong>in</strong>en Stiefvater Barry; von Alex, bevor er <strong>die</strong><br />

nächste Gewalttat begeht. Im dämonischen Blick <strong>die</strong>ser Figuren manifestiert<br />

sich wieder „<strong>Kubricks</strong> spätromantische Auffassung vom <strong>Auge</strong> als Waffe, als<br />

Sitz <strong>des</strong> Bösen, als tödlichem Instrument.“ 42<br />

40 Ebd., Seite 49<br />

41 Ebd., Seite 50<br />

42 Kay Kirchmann: <strong>Das</strong> Schweigen der Bilder, Seite 142


22<br />

6. Die Selbstreferentialität <strong>in</strong> <strong>Kubricks</strong> Filmen<br />

6.1 2001 – e<strong>in</strong> neuer Kont<strong>in</strong>ent <strong>des</strong> Schauens<br />

Über das tödliche <strong>Auge</strong> HALs sagt Kilb: „Nie zuvor hatte <strong>die</strong> Filmkamera so<br />

lange <strong>in</strong> das <strong>Auge</strong> e<strong>in</strong>er Masch<strong>in</strong>e geblickt. Und noch niemals hatte e<strong>in</strong>e<br />

Masch<strong>in</strong>e <strong>die</strong>sen Blick so schamlos erwidert. Durch das <strong>Auge</strong> von HAL, e<strong>in</strong><br />

launisches, gieriges, am Ende gar mörderisches <strong>Auge</strong>, schaute, so schien<br />

es, das K<strong>in</strong>o sich selber an.“ 43<br />

2001 erzählt von dem Wesen der K<strong>in</strong>ematographie selbst. “To convolute<br />

McLuhan, <strong>in</strong> 2001 the message is the medium.” 44 Er handelt damit von den<br />

Bed<strong>in</strong>gungen der filmischen Wahrnehmung, <strong>und</strong> zwar als Exkurs über den<br />

Raum. Gerade im K<strong>in</strong>o s<strong>in</strong>d räumliche <strong>und</strong> zeitliche Grenzen oft streng<br />

gezogen, <strong>in</strong> 2001 werden <strong>die</strong> räumlichen Grenzen aufgehoben. Durch <strong>die</strong><br />

K<strong>in</strong>ole<strong>in</strong>wand h<strong>in</strong>durch blickt <strong>die</strong>ser Film <strong>in</strong> Räume, <strong>die</strong> zuvor niemand<br />

gesehen hat. „<strong>Kubricks</strong> Film war e<strong>in</strong> neuer Kont<strong>in</strong>ent <strong>des</strong> Schauens, e<strong>in</strong>e<br />

Offenbarung <strong>in</strong> Bildern.“ 45 Die riesige Raumstation, <strong>die</strong> zu Strauß`<br />

Donauwalzer über den Bildschirm rotiert, der To<strong>des</strong>kampf Pooles, der <strong>in</strong> den<br />

stillen Sphären <strong>des</strong> unendlichen Alls verschw<strong>in</strong>det, oder <strong>die</strong> Pupille<br />

Bowmans, <strong>in</strong> der sich der Farbenstrom spiegelt. Besonders e<strong>in</strong>prägsam ist<br />

aber das rot leuchtende <strong>Auge</strong> HALS. „Der jeweilige Umschlag vom göttlichen<br />

<strong>in</strong>s rationalistische <strong>und</strong> dann <strong>in</strong>s dämonisch-panoptische <strong>Auge</strong> ist an HAL<br />

exemplifiziert, <strong>des</strong>sen e<strong>in</strong>es <strong>Auge</strong> zugleich unmissverständlich als Kamera<br />

ko<strong>die</strong>rt ist.“ 46 In der Szene, <strong>in</strong> der Bowman durch den „Lichttunnel“ stürzt,<br />

erleben wir e<strong>in</strong>e weitere Transformation <strong>des</strong> <strong>Auge</strong>nmotivs. Jeder Wechsel<br />

der gebrauchten Farbe<strong>in</strong>tönung zeigt sich zunächst <strong>in</strong> der Iris Bowmans.<br />

Bowman sche<strong>in</strong>t – wie der Zuschauer auch - ganz zu e<strong>in</strong>em <strong>Auge</strong> zu<br />

werden, das sich genauso lustvoll wie beängstigt dem Anblick <strong>des</strong> Raumes<br />

h<strong>in</strong>gibt. Während der zwanzigm<strong>in</strong>ütigen Schluss-Sequenz wird ke<strong>in</strong> Wort<br />

gesprochen, <strong>und</strong> so sagt Kubrick selbst: “2001 is a nonverbal experience.” 47<br />

Hier wird der Übergang von e<strong>in</strong>er begrifflichen zu e<strong>in</strong>er visuell orientierten<br />

Welt vollzogen. Der Zuschauer wird <strong>in</strong> <strong>die</strong> Illusion versetzt, selbst durch das<br />

Weltall zu fliegen. „Tribut an <strong>die</strong> Lust am Körpergefühl; K<strong>in</strong>o, das man spüren<br />

43<br />

Andreas Kilb: Der Herr <strong>des</strong> <strong>Auge</strong>s: In: <strong>Stanley</strong> Kubrick. Red. Dieter Bertz. Berl<strong>in</strong>, Seite 19<br />

44<br />

Eric Nordern: Playboy Interview: <strong>Stanley</strong> Kubrick. In: <strong>Stanley</strong> Kubrick Interviews. Gene D. Phillips.<br />

New York 2001, Seite 47<br />

45<br />

Andreas Kilb: Der Herr <strong>des</strong> <strong>Auge</strong>s, Seite 17<br />

46<br />

Kay Kirchmann: <strong>Das</strong> Schweigen der Bilder, Seite 170<br />

47<br />

Eric Nordern: Playboy Interview: <strong>Stanley</strong> Kubrick, Seite 47


23<br />

kann.“ 48 Wahrsche<strong>in</strong>lich ist <strong>die</strong>s <strong>die</strong> längste Sequenz der Filmgeschichte, <strong>die</strong><br />

mit Leuchtfarben operiert. „Kubrick ermöglicht den E<strong>in</strong>druck von so etwas wie<br />

e<strong>in</strong>er tatsächlichen Begegnung mit e<strong>in</strong>er fremden Welt.“ 49 Aber nicht nur<br />

Bowman sche<strong>in</strong>t <strong>in</strong> der führungslos dah<strong>in</strong>rasenden Raumkapsel zu sitzen,<br />

sondern auch <strong>die</strong> Zuschauer, vor denen sich e<strong>in</strong> Meer von Farben eröffnet.<br />

Für <strong>die</strong>se Szene ließ Kubrick e<strong>in</strong>e Helikopterkamera über <strong>die</strong> zerklüftete<br />

Inselwelt der Neuen Hebriden <strong>und</strong> über <strong>die</strong> großartige Felsenlandschaft von<br />

Monument Valley fliegen. Danach wurden <strong>die</strong> Landschaftsteile <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Kopieranstalt mit falschen <strong>und</strong> spektralre<strong>in</strong>en Farben versehen. Mik<strong>und</strong>a<br />

sieht <strong>die</strong> Wirkung <strong>die</strong>ser Szene dar<strong>in</strong>, dass der Zuschauer e<strong>in</strong>e „unmittelbare<br />

Erfahrung“ 50 erlebe, so dass er sich fallen lassen könne. Jegliche<br />

Inhaltssignale seien vermieden worden, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>e emotionale Bewertung der<br />

Farbaktivierung zulassen würden. Außerdem können <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em solchen<br />

Kontext <strong>die</strong> irrealen Farbverschiebungen durchaus als realistisch gelten.<br />

„Grelles Gelb, Blau, Grün, s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser metaphysischen Gegenwelt, wie es<br />

sche<strong>in</strong>t, vollkommen <strong>in</strong>tegriert.“ 51 Analog zu e<strong>in</strong>em Drogenrausch <strong>und</strong> den<br />

daraus resultierenden Halluz<strong>in</strong>ationen erlebt der Zuschauer e<strong>in</strong><br />

psychedelisches Farbenmeer. Induzierte Bewegungsempf<strong>in</strong>dungen <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

Farbaktivierung vermitteln e<strong>in</strong>e große S<strong>in</strong>nlichkeit der Bilder.<br />

E<strong>in</strong>e irreale Welt öffnet sich h<strong>in</strong>gegen vor den <strong>Auge</strong>n Bowmans, kurz<br />

nachdem er durch den Lichtkorridor <strong>des</strong> Sternentores gestürzt ist. „Am Ende<br />

<strong>die</strong>ser Fahrt begegnet der 2001-Mensch se<strong>in</strong>er Ur-Zeit, also dem<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert der Aufklärung, Symbolzeit der modernen Intelligenz mit dem<br />

durchdr<strong>in</strong>genden Blick, <strong>und</strong> zwar <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Zimmer, e<strong>in</strong>er `camera´.“ 52 Der<br />

erste Blick Bowmans aus dem augenähnlichen Fenster se<strong>in</strong>er dunklen<br />

Raumgondel <strong>in</strong> das helle Zimmer verstärkt <strong>die</strong> Assoziation der Kamera mit<br />

dem <strong>Auge</strong>. Bowman durchlebt e<strong>in</strong>e Metamorphose bis h<strong>in</strong> zum alten Mann<br />

mit ständig wechselnder Kleidung, <strong>und</strong> gleichzeitig ändert sich das Inventar<br />

<strong>des</strong> Raumes mit jedem Bildschnitt. Jeder Blick bewirkt letztlich e<strong>in</strong>e neue<br />

Inkarnation, bis Bowman schließlich als sterbender Greis auf dem Bett liegt.<br />

In der jeweiligen Inkarnationsstufe fixiert er e<strong>in</strong>en imag<strong>in</strong>ären Punkt<br />

48<br />

Christian Mik<strong>und</strong>a: K<strong>in</strong>o spüren. Strategien der emotionalen Filmgestaltung. Wien 2002, Seite 11<br />

49<br />

Ebd., Seite 252 f.<br />

50<br />

Ebd., Seite 252<br />

51<br />

Ebd., Seite 252<br />

52<br />

Hans-Thies Lehmann zitiert nach Kay Kirchmann: <strong>Das</strong> Schweigen der Bilder, Seite 172


24<br />

außerhalb der Kamera, <strong>und</strong> der darauf folgende Schnitt zeigt ihn <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

nächsten Inkarnationsstufe. Wie das „<strong>Auge</strong>“ HALs sche<strong>in</strong>t auch der Blick<br />

Bowmans e<strong>in</strong>e Macht zu haben – wenn auch e<strong>in</strong>e gegenläufige. So<br />

repräsentiert Bowmans Blick das „Lebensspendende“, HALs h<strong>in</strong>gegen den,<br />

der den Tod herbeiführt. „Die Sprengung der Raum-Zeit-Logik durch<br />

Kameraauge <strong>und</strong> Schnitt wird <strong>in</strong> der Szene selbst Gegenstand der<br />

Darstellung, personifiziert <strong>in</strong> Bowman <strong>und</strong> der Macht se<strong>in</strong>es Blickes.“ 53 Im<br />

tödlichen Moment ruft Bowman noch <strong>die</strong> letzte Inkarnation <strong>in</strong>s Leben. Kubrick<br />

sche<strong>in</strong>t andeuten zu wollen, dass durch den Blick <strong>die</strong> Grenzen der Zeit <strong>und</strong><br />

mit ihr auch der Tod überw<strong>und</strong>en worden s<strong>in</strong>d. Im mittelalterlichen<br />

Verständnis, <strong>in</strong> dem das Leben als Kreisbewegung dargestellt wird, geht<br />

Bowmans Tod mit der Geburt <strong>des</strong> Sternenk<strong>in</strong><strong>des</strong> e<strong>in</strong>her. Der Blick <strong>des</strong><br />

Embryos auf den Erdball er<strong>in</strong>nert an das göttliche <strong>Auge</strong>, dem hier e<strong>in</strong>e<br />

mythische, also e<strong>in</strong>e völlig neue Bedeutung zukommt. <strong>Das</strong> gänzlich neue<br />

Sehen, das hier geboren wurde, hebt den Gegensatz zwischen Vernunft <strong>und</strong><br />

Irrationalem <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem utopischen Schlussbild auf. Im Gegensatz zu <strong>Kubricks</strong><br />

gängiger Darstellung <strong>des</strong> Blickes, wie etwa dem wahns<strong>in</strong>nigen, bösen oder<br />

ängstlichen, ist <strong>die</strong>ser Blick neu, e<strong>in</strong>malig <strong>und</strong> mythisch. „An <strong>die</strong> Stelle <strong>des</strong><br />

forschenden, durchdr<strong>in</strong>genden Blicks der totalisierenden Intelligenz tritt e<strong>in</strong><br />

mythisches, d.h. h<strong>in</strong>gegebenes, überwältigtes staunen<strong>des</strong> Sehen (…) – der<br />

große Blick <strong>des</strong> k<strong>in</strong>dlichen <strong>Auge</strong>s im Gegensatz zum falsch vergöttlichten<br />

toten <strong>Auge</strong> <strong>des</strong> Computers.“ 54<br />

Im Endeffekt verweisen sämtliche <strong>Auge</strong>n- <strong>und</strong> Blickmotive auf nichts anderes<br />

als den Film bzw. das K<strong>in</strong>o selbst, s<strong>in</strong>d also selbstreferentiell. <strong>Kubricks</strong> Filme<br />

haben ke<strong>in</strong>e moralische Instanz, zeigen <strong>die</strong> Bilder ohne Zensur <strong>und</strong> bieten<br />

dem Zuschauer ke<strong>in</strong>e Identifikationsfiguren, da das „Gute“ sich oft mit dem<br />

„Bösen“ paart. Den Gr<strong>und</strong> dafür nennt Kirchmann: „Die abgründige<br />

Fasz<strong>in</strong>ation ist als e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong> ästhetische nicht mehr <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en rationalen oder<br />

moralischen Diskurs überführbar, sondern verweist auf <strong>die</strong> dem K<strong>in</strong>o<br />

zugr<strong>und</strong>e liegende re<strong>in</strong>e Sehlust, <strong>die</strong> hier zum Sehzwang wird.“ 55<br />

53 Kay Kirchmann: <strong>Das</strong> Schweigen der Bilder, Seite 173<br />

54 Hans-Thies Lehmann, zitiert nach Kay Kirchmann: <strong>Das</strong> Schweigen der Bilder, Seite 173<br />

55 Kay Kirchmann: <strong>Das</strong> Schweigen der Bilder, Seite 152


25<br />

In Paths of Glory erleben wir e<strong>in</strong>e solche Situation: statt der üblichen<br />

Mischung aus treuen Kameraden <strong>und</strong> boshaften Offizieren im Genre <strong>des</strong><br />

Kriegsfilmes trennt Kubrick hier nicht zwischen „Gut“ <strong>und</strong> „Böse“. Vielmehr<br />

zeigt er auf, dass all se<strong>in</strong>e Figuren – ob nun Grabenkämpfer oder General -<br />

<strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>er Form am kriegerischen Wahns<strong>in</strong>n teilhaben. Colonal Dax steht<br />

zwischen den Parteien, schickt se<strong>in</strong>e Männer <strong>in</strong> den Tod, um sich später<br />

darüber zu beklagen. „Die e<strong>in</strong>en kann er nicht retten, <strong>die</strong> anderen nicht<br />

richten. So bleibt er der hilflose Voyeur <strong>des</strong> Grauens, der ideale Zeuge.“ 56<br />

6.2 Der Zuschauer, e<strong>in</strong> Voyeur <strong>und</strong> Formen <strong>des</strong> Selbstzitats<br />

„Wir s<strong>in</strong>d alle Voyeure, sei’ s auch nur, wenn wir uns e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>timen Film<br />

anschauen. James Stuart an se<strong>in</strong>em Fenster, das ist übrigens <strong>die</strong> Situation<br />

<strong>des</strong> K<strong>in</strong>ozuschauers.“ 57 Francois Truffaut äußert <strong>die</strong>s zwar zu dem Film<br />

„Rear W<strong>in</strong>dow“ von Alfred Hitchcock, doch letztlich lässt sich se<strong>in</strong>e Äußerung<br />

ebenso auf <strong>die</strong> Filme <strong>Kubricks</strong> übertragen. Der Aspekt <strong>des</strong> Voyeurismus<br />

manifestiert sich besonders <strong>in</strong> dem Film A Clockwork Orange. „Ke<strong>in</strong>e Frage:<br />

Es geht <strong>in</strong> A Clockwork Orange um Gewalt <strong>und</strong> Sex <strong>und</strong> deren unheilvolle<br />

Verb<strong>in</strong>dung. Doch der Film handelt auch von Blicken <strong>und</strong> Bildern, von<br />

Voyeurismus <strong>und</strong> Schauspiel, von Darstellern <strong>und</strong> Zuschauern. Und damit<br />

vom K<strong>in</strong>o.“ 58 Gewalt wird gesellschaftlich akzeptiert, solange sie sich<br />

ritualisiert <strong>und</strong> <strong>in</strong> bestimmten Bereichen abspielt. <strong>Das</strong> erleben wir <strong>in</strong> Barry<br />

Lyndon, wenn Boxkämpfe <strong>und</strong> Duelle vor unbeteiligten Zuschauern<br />

stattf<strong>in</strong>den. Analog zu <strong>die</strong>sem Publikum können auch wir K<strong>in</strong>ozuschauer<br />

„visuell jene Affekte ausleben, <strong>die</strong> aus der gesellschaftlichen Realität<br />

ausgegrenzt worden s<strong>in</strong>d. Der hohe Anteil von „Sex and Crime“-<br />

Darstellungen im K<strong>in</strong>o macht noch e<strong>in</strong>mal deutlich, um welche Art von<br />

Affekten es sich dabei handelt.“ 59<br />

„Die Verlagerung der Triebäußerung von der Handlung <strong>in</strong>s re<strong>in</strong>e Zuschauen<br />

gilt als Schritt <strong>in</strong> Richtung fortschreitender Zivilisierung.“ 60 An Alex, dem<br />

Protagonisten aus A Clockwork Orange, wird eben <strong>die</strong>ser Zivilisationsschritt<br />

vollzogen, wenn er <strong>in</strong> der Ludovico-Kur lernt, se<strong>in</strong>e Triebe im Sehvorgang zu<br />

56<br />

Andreas Kilb: Der Herr <strong>des</strong> <strong>Auge</strong>s, Seite 21<br />

57<br />

Francois Truffaut: Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? München 1973, Seite 212<br />

58<br />

Andrea Hanke/ Annette Kilzer: „Ode to überviolence“: A Clockwork Orange. In: <strong>Stanley</strong> Kubrick. Red. Dieter<br />

Bertz. Berl<strong>in</strong> 1999, Seite 176<br />

59<br />

Kay Kirchmann, Seite 149<br />

60<br />

Andrea Hanke/ Annette Kilzer: „Ode to überviolence“: A Clockwork Orange, Seite 176


26<br />

sublimieren. Die Seh-Passivität, <strong>die</strong> hier notfalls gewaltsam anerzogen<br />

werden muss, wird bezeichnenderweise <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em K<strong>in</strong>osaal vollzogen. Was<br />

weiterh<strong>in</strong> auffällt ist, dass das vorläufige Gel<strong>in</strong>gen der Konditionierung auf<br />

e<strong>in</strong>er Bühne demonstriert wird. Wie e<strong>in</strong> Pawlow’scher H<strong>und</strong> kniet Alex auf<br />

allen Vieren. Se<strong>in</strong>e Reaktion auf <strong>die</strong> gewalttätige <strong>und</strong> sexuelle Inszenierung<br />

mündet zunächst <strong>in</strong> dem Versuch, den Trieb auszuleben. In dem Moment, <strong>in</strong><br />

dem e<strong>in</strong>em Blick aber e<strong>in</strong>e Berührung folgen soll, überkommt Alex der pure<br />

Ekel. Man hat ihn zu jenem Uhrwerk gemacht, auf das der Titel anspielt. Zum<br />

e<strong>in</strong>en unterstützt das Serum während der Kur jene Ablehnung, zum anderen<br />

aber erlebt Alex gefesselt „Sehlust als Sehzwang.“ 61 Und eben das ist <strong>die</strong><br />

dem K<strong>in</strong>o zugr<strong>und</strong>e liegende Fasz<strong>in</strong>ation der Sehlust, <strong>die</strong> hier zum<br />

Sehzwang wird. Im K<strong>in</strong>o kann der Zuschauer ohne gesellschaftliche<br />

Sanktionen se<strong>in</strong>en Voyeurismus ausleben. Dabei nimmt er <strong>die</strong> ideale<br />

Perspektive e<strong>in</strong>, da er selbst im dunklen K<strong>in</strong>osaal nicht gesehen werden<br />

kann. Wir, <strong>die</strong> Zuschauer, werden zum allsehenden, allwissenden <strong>Auge</strong> –<br />

gedoubelt vom Kameraauge. Wir befriedigen als Voyeure im Sehvorgang<br />

unsere Triebe, ohne dabei selbst agieren zu müssen. „Dar<strong>in</strong> liegt <strong>die</strong><br />

Allmacht, zugleich aber auch <strong>die</strong> Ohnmacht <strong>des</strong> K<strong>in</strong>ozuschauers.“ 62 Bildhaft<br />

dargestellt ist das unsere Situation: der gefesselte Alex, der zum Voyeur<br />

wird. Der Zuschauer kann den Bann der Passivität ebenso wenig aufheben<br />

wie Alex nach der Ludovico-Kur. Se<strong>in</strong>e Konditionierung ist <strong>die</strong> unsere.<br />

<strong>Stanley</strong> Kubrick beherrscht das Spiel mit der Angst-Lust <strong>des</strong> Zuschauers: er<br />

zeigt <strong>die</strong> Gewalt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Filmen ohne e<strong>in</strong>en moralischen Filter, se<strong>in</strong>e Filme<br />

„s<strong>in</strong>d ihrer Form nach selbst zutiefst mechanistisches K<strong>in</strong>o“ 63 . Mit se<strong>in</strong>en<br />

Bildern übt er e<strong>in</strong>e K<strong>in</strong>ogewalt auf den Zuschauer aus <strong>und</strong> verweist damit<br />

zurück auf <strong>die</strong> Gewaltdarstellung <strong>in</strong> den Filmen. Im Gr<strong>und</strong>e bezieht er den<br />

Zuschauer e<strong>in</strong>, <strong>in</strong>dem er se<strong>in</strong>e Perspektive mimt. Angefangen hat er damit<br />

1950, als er das Portrait <strong>des</strong> Mittelgewichtboxers Walter Cartier selbst aus<br />

der Hand mit e<strong>in</strong>er 35-mm-Kamera dreht. Er stellt <strong>die</strong> Gewalt, <strong>die</strong> Menschen<br />

ausüben <strong>und</strong> e<strong>in</strong>ander zufügen, so unvermittelt <strong>und</strong> ungeschm<strong>in</strong>kt wie nur<br />

möglich dar. Die Fortsetzung <strong>die</strong>ses Stils folgt <strong>in</strong> der Boxkampfszene von<br />

61<br />

Kay Kirchmann: <strong>Das</strong> Schweigen der Bilder, Seite 150<br />

62<br />

Ebd., Seite 155<br />

63<br />

Werner C. Barg: Die Mechanismen der Gewalt – <strong>Stanley</strong> <strong>Kubricks</strong> K<strong>in</strong>o-Visionen. In: K<strong>in</strong>o der Grausamkeit –<br />

<strong>die</strong> Filme von Sergio Leone, <strong>Stanley</strong> Kubrick, David Lynch, Mart<strong>in</strong> Scorcese, Oliver Stone, Quent<strong>in</strong> Tarant<strong>in</strong>o:<br />

Werner C. Barg/ Thomas Plöger. Frankfurt 1996, Seite 37


27<br />

The Killer`s Kiss oder <strong>in</strong> A Clockwork Orange beim Überfall auf Mr. <strong>und</strong> Mrs.<br />

Alexander. „Durch <strong>die</strong> Kameraführung <strong>in</strong> <strong>Kubricks</strong> Filmen wird der Zuschauer<br />

unverstellt mit den Gewalttaten der Filmfiguren konfrontiert, schlimmer, er<br />

wird im dunklen K<strong>in</strong>osaal zum unmittelbar Beteiligten, fiktiv zwar, aber<br />

dennoch direkt, suggestiv <strong>und</strong> emotional.“ 64 Diese Gewaltbilder s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e<br />

wahre Bildergewalt, <strong>die</strong> auf e<strong>in</strong>en psychologischen Mechanismus im<br />

Zuschauer zurückzuführen ist. W. Baumann hat <strong>die</strong>sen Mechanismus als<br />

Genuss, als Lust an der Angst beschrieben. 65 Die Lust an der Angst<br />

entstehe, weil der Zuschauer rational wisse, dass er sich im sicheren<br />

K<strong>in</strong>osaal bef<strong>in</strong>de, während er sich emotional ganz der Sache auf der<br />

Le<strong>in</strong>wand h<strong>in</strong>gebe. Daher auch könne er se<strong>in</strong>en Gefühlen freien Lauf lassen.<br />

E<strong>in</strong>ige se<strong>in</strong>er gewalttätigen Protagonisten gehören zum Künstlermilieu, was<br />

als Selbstreflexion über <strong>Kubricks</strong> eigenes Künstlerdase<strong>in</strong> zu verstehen ist. So<br />

s<strong>in</strong>d beispielsweise Jack <strong>in</strong> The Sh<strong>in</strong><strong>in</strong>g sowie Mr. Alexander <strong>in</strong> A Clockwork<br />

Orange Schriftsteller; Alex tritt <strong>in</strong> letztgenanntem Film als Aktionskünstler <strong>in</strong><br />

Ersche<strong>in</strong>ung <strong>und</strong> zelebriert den „Mord als schöne Kunst“. 66<br />

Spiegelbildlich erfährt Alex nach se<strong>in</strong>er Konditionierung im Gr<strong>und</strong>e das, was<br />

er zuvor Mr. Alexander angetan hat, der mit ansehen musste, wie se<strong>in</strong>e Frau<br />

vergewaltigt wurde. Aber musste er das wirklich? Hätte er nicht e<strong>in</strong>fach <strong>die</strong><br />

<strong>Auge</strong>n davor schließen können? Immerh<strong>in</strong> wurden ihm <strong>die</strong>se nicht künstlich<br />

offen gehalten, wie Alex während der Ludovico-Kur. Statt sie aber vor dem<br />

Grauen zu schließen, wie etwa Danny das <strong>in</strong> The Sh<strong>in</strong><strong>in</strong>g tut, reißt er sie auf.<br />

Kirchmann sieht dar<strong>in</strong> den Beleg dafür, dass Mr. Alexander Lust beim<br />

Zusehen der Vergewaltigung se<strong>in</strong>er eigenen Frau hat. Dadurch, dass Kubrick<br />

<strong>die</strong> Gewaltszene visuell ästhetisiert, bereiten uns <strong>die</strong> Bilder Frust <strong>und</strong> Lust<br />

zugleich. Wir, <strong>die</strong> Zuschauer, bef<strong>in</strong>den uns analog zu Mr. Alexander <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

ambivalent <strong>und</strong> grotesk anmutenden Situation. Aus se<strong>in</strong>er Perspektive<br />

erleben wir <strong>die</strong> Szene, <strong>und</strong> so s<strong>in</strong>d Alex zynische Wünsche auch direkt an<br />

uns adressiert: „Viddy well!“. Kubrick sche<strong>in</strong>t uns signalisieren zu wollen: der<br />

Voyeur im K<strong>in</strong>osaal, der se<strong>in</strong>e <strong>Auge</strong>n vor dem Grauen nicht schließt, das bist<br />

du! So entlarven <strong>die</strong> Blicke <strong>in</strong> <strong>die</strong> Kamera den Zuschauer als Voyeur. Rother<br />

<strong>in</strong>terpretiert den Blick Alex <strong>in</strong> <strong>die</strong> Kamera <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e zynischen Wünsche als<br />

64<br />

Ebd., Seite 37<br />

65<br />

W. Baumann, zitiert nach Werner C. Barg: Die Mechanismen der Gewalt – <strong>Stanley</strong> <strong>Kubricks</strong> K<strong>in</strong>o-Visionen,<br />

Seite 38<br />

66<br />

Kay Kirchmann: <strong>Das</strong> Schweigen der Bilder, Seite 105


28<br />

Mittel der Distanzierung <strong>des</strong> Zuschauers. <strong>Das</strong> Publikum bekäme nämlich<br />

nicht das zu sehen, was es erwarte – e<strong>in</strong>e Vergewaltigung. Diese wird<br />

lediglich repräsentatiert durch den Oberkörper <strong>und</strong> das Gesicht der Frau.<br />

Was der Zuschauer daraus entnimmt, entspr<strong>in</strong>gt alle<strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Phantasie,<br />

nicht aber dem Bild selbst. „Weil er <strong>die</strong> Story für sich weitererzählt <strong>und</strong> dem<br />

Bild, das den Schrecken fast verbirgt, den se<strong>in</strong>en h<strong>in</strong>zufügt, realisiert er das<br />

Motto der Sequenz: „Viddy well“. 67<br />

Hier zeigt sich wieder <strong>die</strong> Bildergewalt <strong>Kubricks</strong>: sie müssen nicht immer<br />

fortgeführt werden, denn sie verselbständigen sich <strong>in</strong> unserer Vorstellung.<br />

Seit A Clockwork Orange taucht der Blick <strong>in</strong> <strong>die</strong> Kamera fast <strong>in</strong> jedem Film an<br />

zentraler Stelle auf. Mit Ausnahme von Barry Lyndon – Rother konstatiert<br />

<strong>die</strong>sbezüglich: „<strong>Das</strong> Tote bedarf ke<strong>in</strong>er Distanzierung, es ist different, daher<br />

blickt es nicht zurück. Was den Zuschauer nicht betrifft <strong>und</strong> betreffen soll,<br />

warum sollte das noch zusätzlich <strong>in</strong> Distanz gesetzt werden?“ 68 E<strong>in</strong>e<br />

ähnliche Szene wie <strong>in</strong> A Clockwork Orange erleben wir <strong>in</strong> Full Metal Jacket:<br />

Der Sergeant „gibt das Geheimnis der Kubrick-Filme preis“ 69 : „Hier werden<br />

ke<strong>in</strong>e Witze gemacht“, mahnt er den Rekruten Joker. Gleichzeitig mahnt er<br />

uns, <strong>die</strong> Zuschauer. Damit sche<strong>in</strong>t er dem Publikum verbieten zu wollen, sich<br />

<strong>in</strong>s Lachen zu flüchten. Selbst <strong>die</strong> Fiktion soll der Zuschauer nicht als Spiel<br />

ansehen.<br />

Außerdem thematisiert <strong>die</strong>ser Film <strong>die</strong> Me<strong>die</strong>n selbst. Gezeigt wird: es gibt<br />

ke<strong>in</strong> Bild <strong>des</strong> Krieges, das den Krieg selbst wiedergeben kann. Vielmehr<br />

geben <strong>die</strong> Bilder <strong>die</strong> Wirklichkeit der Me<strong>die</strong>n wieder – <strong>und</strong> s<strong>in</strong>d damit<br />

selbstreflexiv. Wir erleben Figuren <strong>die</strong>ser Repräsentation: E<strong>in</strong> Soldat aus<br />

Connecticut, der von den Massakern <strong>des</strong> Vietcong erzählt; erst bedrückt,<br />

aber stets lächelnd, sobald er fotografiert wird. Wir sehen Soldaten, <strong>die</strong><br />

e<strong>in</strong>em Fernseh-Team berichten, warum sie dort s<strong>in</strong>d. In ihrer Argumentation<br />

s<strong>in</strong>d sie nicht überzeugend, aber stets kamerasicher. „<strong>Das</strong> macht Full Metal<br />

Jacket zu e<strong>in</strong>em rüden Film, zu e<strong>in</strong>er Attacke auf Konventionen der<br />

Wahrnehmung von Filmen.“ 70<br />

67 Ra<strong>in</strong>er Rother: Der Stilist – Die Konstruktion der Werke <strong>Stanley</strong> <strong>Kubricks</strong>. In: <strong>Stanley</strong> Kubrick. Red. Dieter<br />

Bertz. Berl<strong>in</strong> 1999, Seite 273<br />

68 Ebd., Seite 276<br />

69 Ebd., Seite 278<br />

70 Ebd., Seite 279


29<br />

Schließlich darf das Motiv <strong>des</strong> Voyeurismus nicht <strong>in</strong> jenem Film fehlen,<br />

<strong>des</strong>sen Titel doch schon so bezeichnend ist: Eyes Wide Shut. Wir erleben<br />

nicht nur e<strong>in</strong> voyeuristisches Insert, <strong>in</strong> dem Alice ihr Kleid fallen lässt. Ständig<br />

werden Bilder gezeigt, <strong>die</strong> offensichtlich e<strong>in</strong>e voyeuristische<br />

Rezeptionshaltung voraussetzen. Was Kubrick an Arthur Schnitzlers<br />

Traumnovelle fasz<strong>in</strong>iert haben dürfte, ist <strong>die</strong> Masse an Leitmotiven, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

Erzählung durchziehen: <strong>die</strong> Verb<strong>in</strong>dung von Tod <strong>und</strong> Sexualität, Nacktheit<br />

<strong>und</strong> Geheimnis, Lust <strong>und</strong> Betrug. Die gesamte Thematik ist mit der<br />

Wahrnehmung über <strong>die</strong> S<strong>in</strong>ne – im Besonderen über das <strong>Auge</strong> – verb<strong>und</strong>en.<br />

<strong>Das</strong> „ausgelieferte <strong>Auge</strong>“ f<strong>in</strong>det sich hier <strong>in</strong> den Visionen Bills. Diese<br />

resultieren aus se<strong>in</strong>er Eifersucht <strong>und</strong> illustrieren <strong>die</strong> Vorstellung, e<strong>in</strong> anderer<br />

Mann könne mit se<strong>in</strong>er Frau schlafen. Eyes Wide Shut ist e<strong>in</strong> filmischer<br />

Diskurs über das Sehen, über den Wunsch nach vollständiger Transparenz<br />

der D<strong>in</strong>ge, gleich dem Wunsch der Anhänger der Aufklärung. Die Paradoxie<br />

<strong>des</strong> Titels „weit geschlossene <strong>Auge</strong>n“ verweist auf das Wechselspiel von<br />

Blick <strong>und</strong> Vision, von Sehen <strong>und</strong> Nicht-Sehen, von Gezeigt-Bekommen <strong>und</strong><br />

Verhüllt-Werden, das den gesamten Film durchzieht. Die Wahrnehmung wird<br />

über das Maskenmotiv vorangetrieben. Denn <strong>die</strong> Verhüllung e<strong>in</strong>es Gesichts<br />

schürt das Feuer der Phantasie <strong>und</strong> das Verlangen der Enthüllung.<br />

Gleichzeitig aber geht mit dem Wissensdurst auch <strong>die</strong> Gefahr e<strong>in</strong>her, sich <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>er Phantasie zu verirren. <strong>Das</strong> Se<strong>in</strong> verliert sich im Sche<strong>in</strong>. Bill wird von<br />

e<strong>in</strong>er unstillbaren Neugierde getrieben, so dass ihn der Blick aus den <strong>Auge</strong>n<br />

der Toten <strong>in</strong> der Morgue, „<strong>die</strong>ses ferne <strong>und</strong> irrlichternde Starren aus<br />

halbverhangenen Lidern – eyes wide shut“ 71 letztlich <strong>in</strong> das<br />

Leichenschauhaus führt. Dort blickt er leibhaftig <strong>in</strong> <strong>die</strong> „weit geschlossenen<br />

<strong>Auge</strong>n“. Dadurch hat er jedoch nicht das verme<strong>in</strong>tliche Geheimnis gelöst.<br />

Ziegler behauptet, <strong>die</strong> Opferbereitschaft sei lediglich e<strong>in</strong>e Inszenierung<br />

gewesen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Tote sei nicht <strong>die</strong>ses Mädchen, sondern jenes, welches auf<br />

se<strong>in</strong>er Party gewesen sei. Mit Bill bleibt auch der Zuschauer im Ungewissen,<br />

kann nicht mehr zwischen Se<strong>in</strong> <strong>und</strong> Sche<strong>in</strong> differenzieren.<br />

Diese weit geschlossenen <strong>Auge</strong>n der Toten s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e Form <strong>des</strong> Selbstzitats,<br />

wie sie Bleicher beschreibt. Sie verweisen zurück auf <strong>die</strong> weit aufgerissenen<br />

<strong>Auge</strong>n <strong>des</strong> im Eis erstarrten Jack aus The Sh<strong>in</strong><strong>in</strong>g <strong>und</strong> auf <strong>die</strong> weit<br />

71 Andreas Kilb: Die nackten Masken: Eyes Wide Shut. In: <strong>Stanley</strong> Kubrick. Red. Dieter Bertz. Berl<strong>in</strong> 1999,<br />

Seite 233


30<br />

aufgerissenen <strong>Auge</strong>n Alex <strong>in</strong> A Clockwork Orange. Über se<strong>in</strong> eigenes<br />

Schaffen zu reflektieren, ist typisch für Vertreter <strong>des</strong> Autorenk<strong>in</strong>os, zu denen<br />

<strong>Stanley</strong> Kubrick zweifellos zu zählen ist. So entgegnet beispielsweise Bill<br />

se<strong>in</strong>er Tochter, als <strong>die</strong>se sich zu Weihnachten e<strong>in</strong> Haustier wünscht, das,<br />

was auch der Astronaut <strong>in</strong> 2001 zu se<strong>in</strong>er Tochter sagt: „We´ll see about<br />

that“. „Im Bilduniversum erhält sich der Regisseur se<strong>in</strong>e visuelle Präsenz.“ 72<br />

7. Fazit<br />

In me<strong>in</strong>er Arbeit hat sich gezeigt, wie entscheidend <strong>die</strong> <strong>Auge</strong>nsymbolik für<br />

<strong>Kubricks</strong> Schaffen ist. Ob es nun als das <strong>Auge</strong> Gottes oder als das <strong>Auge</strong> der<br />

sexuellen Begierde auftaucht, als das <strong>Auge</strong> <strong>des</strong> Krieges, der Liebe oder als<br />

auf das K<strong>in</strong>o selbst – stets fasz<strong>in</strong>ieren <strong>die</strong> <strong>Auge</strong>n-Blicke <strong>Kubricks</strong>cher Filme.<br />

Kirchmanns Aussage trifft <strong>in</strong> der Tat zu, wenn er sagt, Kubrick schaue mit<br />

den Mitteln <strong>des</strong> Films, also <strong>des</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>erts, <strong>und</strong> der Motivik <strong>und</strong><br />

Perspektive <strong>des</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts vor allem auf das 18. Jahrh<strong>und</strong>ert, da er<br />

dort Schlüssel zum Verständnis der Gegenwart <strong>und</strong> der näheren Zukunft zu<br />

f<strong>in</strong>den glaube. Daraus resultiere <strong>die</strong> Revitalisierung <strong>des</strong> Ästhetizismus. 73 Wir<br />

haben nun gesehen, wie Kubrick sich gerade im Bezug auf das <strong>Auge</strong> an der<br />

Romantik orientiert. Allerd<strong>in</strong>gs, <strong>und</strong> das ist nicht nur e<strong>in</strong>e augenblickliche<br />

Bilanz: auch <strong>die</strong>se Epoche bietet für Kubrick ke<strong>in</strong>en Lösungsansatz im<br />

H<strong>in</strong>blick auf das „gefährdete <strong>Auge</strong>“, das ich e<strong>in</strong>gangs zitiert habe. Es bleibt<br />

ausgeliefert, sei es den dunklen Bildern unserer Seele, oder den Bildern<br />

<strong>die</strong>ses Regisseurs, der <strong>die</strong> <strong>Rückkehr</strong> <strong>des</strong> <strong>Verdrängten</strong> so unverblümt zeigt.<br />

72 Joan Krist<strong>in</strong> Bleicher: Zurück <strong>in</strong> <strong>die</strong> Zukunft. Forman <strong>in</strong>tertextueller Selbstreferentialität im postmodernen Film.<br />

In: Oberflächenrasch. Postmoderne <strong>und</strong> Postklassik im K<strong>in</strong>o der 90er Jahre, hrsg. von Jens Eder. Münster 2002,<br />

Seite 122<br />

73 Kay Kirchmann: <strong>Das</strong> Schweigen der Bilder, Seite 50


8. Filmographie<br />

- 1955 Killer´s Kiss<br />

- 1956 The Kill<strong>in</strong>g<br />

- 1957 Paths of Glory<br />

- 1960 Spartacus<br />

- 1962 Lolita<br />

31<br />

- 1964 Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worry<strong>in</strong>g and Love the Bomb<br />

- 1968 2001: A Space Odyssey<br />

- 1971 A Clockwork Orange<br />

- 1975 Barry Lyndon<br />

- 1980 The Sh<strong>in</strong><strong>in</strong>g<br />

- 1987 Full Metal Jacket<br />

- 1999 Eyes Wide Shut


9. Bibliographie<br />

32<br />

- Barg, Werner C./ Thomas Plöger: K<strong>in</strong>o der Grausamkeit – <strong>die</strong> Filme von<br />

Sergio Leone, <strong>Stanley</strong> Kubrick, David Lynch, Mart<strong>in</strong> Scorcese, Oliver<br />

Stone, Quent<strong>in</strong> Tarant<strong>in</strong>o. Frankfurt 1996<br />

- Barg, Werner C.: Die Mechanismen der Gewalt – <strong>Stanley</strong> <strong>Kubricks</strong> K<strong>in</strong>o-<br />

Visionen. In: Barg, Werner C./ Thomas Plöger: K<strong>in</strong>o der Grausamkeit. Seite<br />

29-45<br />

- Bertz, Dieter (Red.): <strong>Stanley</strong> Kubrick. Berl<strong>in</strong> 1999<br />

- Hanke, Andrea/ Kilzer, Annette: „Ode to überviolence“: A Clockwork Orange.<br />

In: Bertz, Dieter: <strong>Stanley</strong> Kubrick. Seite 176-179<br />

- Kilb, Andreas: Der Herr <strong>des</strong> <strong>Auge</strong>s: In: Bertz, Dieter: <strong>Stanley</strong> Kubrick. Seite<br />

17-26<br />

- Kilb, Andreas: Die nackten Masken: Eyes Wide Shut. In: Bertz, Dieter: <strong>Stanley</strong><br />

Kubrick. Seite 235-247<br />

- Re<strong>in</strong>ecke, Stefan: Es ist besser zu leben, als tot zu se<strong>in</strong>: Full Metal Jacket. In:<br />

Bertz, Dieter: <strong>Stanley</strong> Kubrick, Seite 220-230<br />

- Rother, Ra<strong>in</strong>er: Der Stilist – Die Konstruktion der Werke <strong>Stanley</strong> <strong>Kubricks</strong>.<br />

Essay. In: Bertz, Dieter: <strong>Stanley</strong> Kubrick, Seite 273-279<br />

- Duncan, Paul: <strong>Stanley</strong> Kubrick. Köln 2001<br />

- Eder, Jens (Hrsg.): Oberflächenrausch. Postmoderne <strong>und</strong> Postklassik im<br />

K<strong>in</strong>o der 90er Jahre. Münster 2002<br />

- Bleicher, Joan Krist<strong>in</strong>: Formen <strong>in</strong>tertextueller Sebstreferentialität im<br />

postmodernen Film. In: Eder, Jens: Oberflächenrausch, Seite 122<br />

- Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Zweiter Band. Frankfurt<br />

am Ma<strong>in</strong> 1976<br />

- E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann. Hrsg. von Rudolf Drux. Stuttgart 2003<br />

- Kirchmann, Kay: <strong>Das</strong> Schweigen der Bilder. Dritte erweiterte Auflage.<br />

Bochum 2001


- Mik<strong>und</strong>a, Christian: K<strong>in</strong>o spüren. Strategien der emotionalen<br />

Filmgestaltung. Wien 2002<br />

33<br />

- Nordern, Eric: Playboy Interview: <strong>Stanley</strong> Kubrick. In: Phillips, Gene D.:<br />

<strong>Stanley</strong> Kubrick Interviews. Mississippi 2001<br />

- Seßlen, Georg/ Fernand Jung: <strong>Stanley</strong> Kubrick <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Filme. Marburg<br />

1999<br />

- Thomsen, Christian W./ Holländer, Hans (Hrsg.): <strong>Auge</strong>nblick <strong>und</strong><br />

Zeitpunkt. Stu<strong>die</strong>n zur Zeitstruktur <strong>und</strong> Zeitmetaphorik <strong>in</strong> Kunst <strong>und</strong><br />

Wissenschaft. Darmstadt 1984<br />

- Metzner, Joachim: Geschichte <strong>und</strong> Ästhetik <strong>des</strong> Therapeutischen <strong>Auge</strong>nblicks.<br />

In: Thomsen, Christian W./ Holländer, Hans: <strong>Auge</strong>nblick <strong>und</strong> Zeitpunkt. Seite<br />

96-109<br />

- Stock, Alex: Der göttliche <strong>Auge</strong>nblick. In: Thomsen, Christian W./ Holländer,<br />

Hans: <strong>Auge</strong>nblick <strong>und</strong> Zeitpunkt. Seite 212-217<br />

- Truffaut, Francois: Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? München<br />

1973<br />

- Virilio, Paul: Krieg <strong>und</strong> K<strong>in</strong>o. Logistik der Wahrnehmung. München/ Wien<br />

1986

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