Individuelle Trauer im Film
Individuelle Trauer im Film
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Universität Karlsruhe<br />
Institut für Literaturwissenschaft<br />
Hauptseminar: „Erinnerung, <strong>Trauer</strong> und Nostalgie <strong>im</strong> <strong>Film</strong>“<br />
(WS 2005/06)<br />
Prof. Dr. Andreas Böhn<br />
<strong>Individuelle</strong> <strong>Trauer</strong> <strong>im</strong> <strong>Film</strong><br />
Giovannis <strong>Trauer</strong>prozess in<br />
"Das Z<strong>im</strong>mer meines Sohnes" von Nanni Moretti<br />
Jörg Hartmann<br />
Blumenstr. 27<br />
69115 Heidelberg<br />
06221/7279906<br />
Germanistik (MA)<br />
1. Semester<br />
Matrikelnr.: 1079256
Inhaltsverzeichnis<br />
1. Einleitung...............................................................................................................1<br />
2. Hauptteil.................................................................................................................1<br />
2.1. <strong>Trauer</strong>: Emotion und Ausdruck.........................................................................1<br />
2.2. Sigmund Freud und die <strong>Trauer</strong>..........................................................................2<br />
2.3. Kollektive <strong>Trauer</strong> ..............................................................................................3<br />
2.4. <strong>Trauer</strong> <strong>im</strong> kulturellen Wandel ...........................................................................3<br />
2.5. <strong>Trauer</strong>modelle ...................................................................................................5<br />
2.5.1. Die vier Phasen der <strong>Trauer</strong>arbeit nach Verena Kast .................................5<br />
2.5.1.1. Die erste Phase des Nicht-Wahrhabens-Wollens.....................................5<br />
2.5.1.2. Die zweite Phase der aufbrechenden Emotionen .....................................6<br />
2.5.1.3. Die dritte Phase des Suchens und Sich-Trennens ....................................6<br />
2.5.1.4. Die vierte Phase des neuen Selbst- und Weltbezugs................................7<br />
2.6. <strong>Trauer</strong> nach dem Tod eines Kindes...................................................................7<br />
2.7. <strong>Trauer</strong> <strong>im</strong> <strong>Film</strong>: Das Z<strong>im</strong>mer meines Sohnes ...................................................9<br />
2.7.1. Der Regisseur Nanni Moretti ....................................................................9<br />
2.7.2. Sequenzplan ............................................................................................10<br />
2.7.3. Analyse des dramaturgischen Aufbaus ...................................................10<br />
2.7.3.1. Exposition (0:00:00 – 0:34:03) ..............................................................10<br />
2.7.3.2. Steigerung und Problem (0:34:04-1:22:12)............................................11<br />
2.7.3.3. Wendepunkt und Ansatz einer Lösung (1:22:13 – 1:32:50) ..................12<br />
2.7.3.4. Fazit der Analyse....................................................................................12<br />
2.8. Analyse der Hauptfigur ...................................................................................13<br />
2.8.1. Giovanni vor der <strong>Trauer</strong>..........................................................................13<br />
2.8.2. Der <strong>Trauer</strong>prozess Giovannis..................................................................15<br />
2.8.2.1. Die erste Phase des Nicht-Wahr-Haben-Wollens ..................................15<br />
2.8.2.2. Die zweite Phase der aufbrechende Emotionen .....................................16<br />
2.8.2.3. Die dritte Phase des Suchens und Sich-Trennens ..................................17<br />
2.8.2.4. Die vierte Phase des neuen Selbst- und Weltbezugs..............................18<br />
3. Schluss: Die Botschaft des <strong>Film</strong>s.........................................................................19<br />
Verwendete Literatur<br />
Anhang: Tabelle 1: Sequenzplan
1. Einleitung<br />
1<br />
Unter der Vielfalt der menschlichen Emotionen ist die ‚<strong>Trauer</strong>’ zwar die schmerzhafteste,<br />
gleichzeitig aber auch die, die am meisten Potential für die Entwicklung zu einer ‚reifen’<br />
Persönlichkeit birgt. Trotz dieser Tatsache ist die <strong>Trauer</strong>, als seelische Reaktion auf einen<br />
erlittenen Verlust, an den gesellschaftlichen und medialen Rand gedrängt. Häufig löst der Tod<br />
einer Person be<strong>im</strong> Zuschauer eines <strong>Film</strong>es nicht etwa Betroffenheit, <strong>Trauer</strong> oder Wut aus,<br />
sondern dient als Auslöser der Handlung <strong>im</strong> Kr<strong>im</strong>i, in dem der narrative Strang der<br />
Aufklärung des Verbrechens, selten aber die <strong>Trauer</strong> der Hinterbliebenen in den Mittelpunkt<br />
filmischen Erzählens rückt. Die Aufarbeitung der <strong>Trauer</strong> findet <strong>im</strong> Unterhaltungskino kaum statt.<br />
Die gestalterische Auseinandersetzung mit diesem Thema wird meist in unabhängig produzierten<br />
<strong>Film</strong>en gesucht. Der <strong>Film</strong> „Das Z<strong>im</strong>mer meines Sohnes“ 1 des italienischen Regisseurs Nanni<br />
Moretti stellt ein solches Werk dar. Es soll <strong>im</strong> Folgenden hinsichtlich des dramaturgischen<br />
Aufbaus und der Darstellung der <strong>Trauer</strong> der Hauptfigur analysiert werden. Dies geschieht,<br />
nachdem mit einem vorangestellten Teil, der die Darstellung der <strong>Trauer</strong> aus Sicht der<br />
Wissenschaft sowie die Beschreibung des historisch-gesellschaftlichen Wandels <strong>im</strong> Umgang mit<br />
dieser Emotion nachzeichnet, die theoretischen Grundlagen gelegt wurden. Bei der<br />
Figurenanalyse kommt das von Verena Kast formulierte Phasenmodell der <strong>Trauer</strong> 2 zur<br />
Anwendung. Auf eine Analyse der anderen Figuren und auf Bauformen wie Schnitt und Musik<br />
kann aufgrund des beschränkten Umfangs dieser Arbeit nur am Rande eingegangen werden.<br />
2. Hauptteil<br />
2.1. <strong>Trauer</strong>: Emotion und Ausdruck<br />
Das Wort „<strong>Trauer</strong>“ hat seine etymologischen Wurzeln <strong>im</strong> althochdeutschen Wort „truren“,<br />
das mit „den Kopf sinken lassen“ oder „die Augen niederschlagen“ 3 übersetzt werden kann.<br />
Die Übersetzungen bezeichnen zwei für die <strong>Trauer</strong> typische körperliche Ausdruckweisen und<br />
stellen dabei eine anthropologische Konstante der Physiognomie dar: „Dieses spezifisch<br />
traurige Gesicht ist bei Vertretern aller Kulturen gleich und wird auch auf Photographien<br />
transkulturell einer traurigen St<strong>im</strong>mung richtig zugeordnet. Ein weiterer Ausdruck von <strong>Trauer</strong><br />
1 Das Z<strong>im</strong>mer meines Sohnes. Italien 2001. Produktion: Sacher <strong>Film</strong>/Bac <strong>Film</strong>s/StudioCanal/Rai Cinema/Tele+.<br />
Produzent: Angelo Barbagallo, Nanni Moretti. Regie: Nanni Moretti. Buch: Linda Ferri, Nanni Moretti, Heidrun<br />
Schleef. Kamera: Giuseppe Lanci Musik: Nicola Piovani Schnitt: Esmeralda Calabria. Darsteller: Nanni Moretti<br />
(Giovanni), Laura Morante (Paola), Jasmine Trinca (Irene), Giuseppe Sanfelice (Andrea), Silvio Orlando (Oscar)<br />
Länge: 99 Min.<br />
2 Kast, Verena: <strong>Trauer</strong>n. Phasen und Chancen des psychischen Prozesses. Berlin 1982.<br />
3 Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 24. durchges. und erw. Aufl. von Elmar<br />
Seebold. Berlin 2002, S. 926.
2<br />
ist eine eingesunkene, tonuslose Haltung mit hängenden Schultern, bei Naturvölkern oft ein<br />
Zusammenkauern auf dem Boden.“ 4<br />
2.2. Sigmund Freud und die <strong>Trauer</strong><br />
Während die Melancholie schon in der griechischen Antike Gegenstand der Beschäftigung in<br />
Philosophie und Poesie 5 war, ist die Untersuchung der <strong>Trauer</strong> eine neuzeitliche Erscheinung.<br />
Eine der ersten wissenschaftlich-systematischen Abhandlungen über dieses Gefühl stellt die<br />
1917 erschiene Schrift „<strong>Trauer</strong> und Melancholie“ 6 von Sigmund Freud dar. Hierin entwirft er<br />
ein psychoanalytisches Modell der <strong>Trauer</strong>reaktion, das sich bis heute als grundlegend für die<br />
weitere Theoriebildung erwiesen hat. ‚<strong>Trauer</strong>’ ist nach Freud „regelmäßig die Reaktion auf<br />
den Verlust einer geliebten Person oder einer an ihre Stelle gerückten Abstraktion wie<br />
Vaterland, Freiheit, ein Ideal usw.“ 7 Im Unterschied zur pathologisierten Melancholie<br />
erscheint die <strong>Trauer</strong> als gesunde emotionale Reaktion auf einen erlittenen Verlust. Sie „enthält<br />
den Verlust des Interesses für die Außenwelt (...), den Verlust der Fähigkeit, irgend ein neues<br />
Liebesobjekt zu wählen (...), die Abwendung von jeder Leistung, die nicht mit dem Andenken<br />
des Verstorbenen in Beziehung steht“ 8 . Ihre Aufgabe sei es, das Ich mit dem geschehenen<br />
Verlust zu konfrontieren, so dass es diesem in einem aktiven Prozess möglich wird, seine<br />
libidinösen Energien langsam vom verlorenen Liebesobjekt ab zu ziehen um sich danach<br />
wieder der Realität bzw. neuen Bindungen zuwenden zu können. Dieser als ‚<strong>Trauer</strong>arbeit’<br />
bezeichnete Prozess sei zwar mit Schmerzen verbunden, doch notwendig, denn „tatsächlich<br />
wird aber das Ich nach der Vollendung der <strong>Trauer</strong>arbeit wieder frei und ungehemmt.“ 9 Die<br />
<strong>Trauer</strong>arbeit gilt als abgeschlossen, wenn „das verlorene Objekt nirgends mehr unwillkürlich<br />
erwartet wird und wenn auch die Vorstellung und Erinnerung an das Objekt keinen<br />
<strong>Trauer</strong>effekt, keine Tränen mehr auslöst.“ 10<br />
4<br />
Schleidt, Margret: Humanethologische Aspekte der <strong>Trauer</strong>. In: Ochsmann, Randolph; Howe, Jürgen (Hg.):<br />
<strong>Trauer</strong> – Ontologische Konfrontation. Bericht über die 2. Tagung zur Thanato-Psychologie vom 23.- 24.<br />
November 1989 in Osnabrück. Stuttgart 1991, S. 13.<br />
5<br />
Vgl. Klibanski, Raymon: Panofsky, Erwin; Saxl, Franz: Saturn und Melancholie. 2. Aufl., Frankfurt/M. 1990.<br />
Auch: Haverkamp, Anselm: Laub voll <strong>Trauer</strong>. Hölderlins späte Allegorie. München 1991.<br />
Sowie: Bohrer, Karl Heinz: Der Abschied: Theorie der <strong>Trauer</strong>. Frankfurt/M. 1996.<br />
6<br />
Freud, Sigmund: <strong>Trauer</strong> und Melancholie. In: ders.: Studienausgabe. Hgg. von Mitscherlich, Alexander;<br />
Richards, Angela; Strachey, James. Bd. III. Frankfurt/M. 1975, S. 197-212.<br />
7<br />
Ders. S. 212.<br />
8<br />
Ders. S. 198.<br />
9<br />
Ders. S. 199.<br />
10<br />
Tomann, Walter: <strong>Trauer</strong>. In: Lexikon der Psychologie. Hgg von Arnold, Wilhelm; Eyseneck, Jürgen; Meili,<br />
Richard. 11. Auflage, Bd. III. Freiburg 1980, S. 2350f.<br />
Vgl. hierzu: Turnhe<strong>im</strong>, Michael: <strong>Trauer</strong>, Melancholie und Psychoanalyse. In: Zarnegin: Kathy: Buchstäblich<br />
traurig. Basel 2004, S. 161-173: Anhand eines Briefs, den Freud 1929 an Ludwig Binswanger, dessen Sohn<br />
gestorben war, schrieb, stellt Turnhe<strong>im</strong> die These auf, dass es „bei Freud zwei Sichtweisen der <strong>Trauer</strong>“ (ebd. S.<br />
161) gegeben habe. Während die klassisch gewordene, in „<strong>Trauer</strong> und Melancholie“ beschriebene Reaktion mit
2.3. Kollektive <strong>Trauer</strong><br />
3<br />
Freud spricht ausdrücklich davon, dass <strong>Trauer</strong>reaktionen nicht nur durch den Verlust von<br />
geliebten Menschen, sondern auch durch den Verlust abstrakterer Dinge und Ideen<br />
hervorgerufen werden. So best<strong>im</strong>mt Svetlana Boym beispielsweise das mit der <strong>Trauer</strong><br />
verwandte Gefühl der Nostalgie als eine nur durch He<strong>im</strong>kehr erfüllbare Manie des<br />
Verlangens, die mit dem Verlust der He<strong>im</strong>at bzw. der Abwesenheit von dieser einhergeht:<br />
“Nostalgia (from nostos – return home, and algia – longing) is a longing for a home that no<br />
longer exists or has never existed. Nostalgia is a sent<strong>im</strong>ent of loss and displacement.” 11 Der<br />
Begriff ‚He<strong>im</strong>at’, als ein Begriff, der nicht nur ein best<strong>im</strong>mtes geographisches<br />
Herkunftsgebiet eines einzelnen Menschen umfasst, sondern auch eine ideelle Gemeinschaft<br />
verschiedener Menschen einschließt, verweist beispielhaft darauf, dass <strong>Trauer</strong> nicht nur auf<br />
individueller, sondern auch auf kollektiver Ebene stattfinden kann. Auslöser für kollektive<br />
<strong>Trauer</strong> können beispielsweise durch Kriege oder Terroranschläge erlittene gesellschaftliche<br />
Traumata sein. Ein Weg, die kollektive <strong>Trauer</strong> zu verarbeiten, sind zentral ausgerichtete<br />
Gedenkfeiern, bei denen die Erinnerung an die Vergangenheit eine große Rolle spielt, 12 da sie<br />
es durch ein symbolisches Wiederholen der traumatischen Situation ermöglicht, diese <strong>im</strong> Sinn<br />
einer Integration in das kollektive Selbstverständnis einer Gemeinschaft zu verarbeiten.<br />
2.4. <strong>Trauer</strong> <strong>im</strong> kulturellen Wandel<br />
Zu den schmerzvollsten Erfahrungen <strong>im</strong> Leben eines einzelnen Menschen gehört der Verlust<br />
einer oder mehrerer nahe stehenden Personen durch deren Tod. 13 Diesem unkontrollierbar<br />
stattfindenden Ereignis wurde seit Urzeiten in den meisten Kulturen mit Todes- bzw.<br />
Begräbnis- und <strong>Trauer</strong>ritualen begegnet. So weisen bereits Skelettfunde aus der älteren<br />
Steinzeit (9000-5000 v. Chr.) Spuren ritueller Verstümmelungen auf und sind insofern<br />
Zeichen eines bewussten Umgangs mit dem Tod. 14 In seinem mentalitätsgeschichtlichen<br />
einer vollständigen Loslösung der Libido vom Objekt endete, schreibt Freud zwölf Jahre später, dass „alles, was<br />
an die Stelle des geliebten Wesens rückt, doch etwas anderes bleibt“ (zit. nach Turnhe<strong>im</strong>, S. 166).<br />
11 Boym, Svetlana: The Future of Nostalgia. New York 2001, S. XIII.<br />
Vgl. Hierzu auch: Davis, Fred: Yearning for Yesterday. A Sociology of Nostalgia. New York 1979.<br />
12 Vgl. hierzu die Theorie des ‚kollektiven Gedächtnisses’, wie sie von dem französischen Soziologen Maurice<br />
Halbwachs in den 1920er Jahren geprägt wurde, in: Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis. Stuttgart<br />
1967, sowie dessen Weiterentwicklung zum Konzept des ‚kulturellen Gedächtnisses’ durch den Ägyptologen Jan<br />
Assmann in: Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung Identität in frühen Hochkulturen.<br />
München 1992.<br />
13 Auf das Problem der Definition des Todesbegriffs kann in dieser Arbeit nicht weiter eingegangen werden,<br />
weshalb die aus dem medizinischen Bereich stammende Gleichsetzung des Todes mit dem Hirntod übernommen<br />
wird. Zur Problematik vgl.: Scherer, Georg: Das Problem des Todes in der Philosophie. Darmstadt 1979.<br />
14 Vgl.: Krumrey, Antje: Sterberituale und Todeszeremonien. Ihr Wandel in der Zeit. Frankfurt/O. 1997.
4<br />
Werk „Studien zur Geschichte des Todes <strong>im</strong> Abendland“ 15 verfolgt Phillipe Ariès die sich <strong>im</strong><br />
Laufe der Zeit ändernden Einstellungen zum Tod <strong>im</strong> westlichen Kulturkreis. Dabei macht er<br />
<strong>im</strong> 19. Jahrhundert einen Wandel aus: vom Tod, als einem bis dahin akzeptierten und<br />
integrierten Bestandteil des Lebens, hin zu einer Einstellung, die den Tod anderer nicht mehr<br />
so bereitwillig hinn<strong>im</strong>mt. Die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung hat inzwischen dazu<br />
geführt, dass sich der Schauplatz des Sterbens (wie <strong>im</strong> Übrigen auch der des anderen Pols, der<br />
Geburt) <strong>im</strong> 20. Jahrhundert hinter die Mauern der Krankenhäuser verlagert hat. Sterben und<br />
Tod finden nun nicht mehr in einem gesellschaftlichen und familiären Alltag statt, sondern<br />
vollziehen sich von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt in darauf spezialisierten<br />
Institutionen. Fortschritte in verschiedenen Bereichen der kulturellen Entwicklung (Agrar-,<br />
Wirtschafts-, Sozialsektor etc.) und lebensverlängernde Maßnahmen haben dazu geführt, dass<br />
der Prozess des Sterbens sowohl <strong>im</strong>mer später <strong>im</strong> Leben eines Menschen beginnt als auch<br />
länger dauert. Dieses von Gerhard Schmied als „langes Sterben“ und „seltenes Sterben“ 16<br />
bezeichnete Charakteristikum des Sterbens in der Moderne hat zur Folge, dass in der<br />
westlichen Gesellschaft die Angst vor dem Tod nicht stets präsent ist. „Die Indifferenz<br />
gegenüber dem Tod wird dann aufgebrochen, wenn jemand mit dem Tod direkt konfrontiert<br />
wird, sei dies in der Form, dass er den Tod eines nahen Angehörigen miterlebt oder dass er<br />
selbst längere Zeit in Lebensgefahr schwebt.“ 17 Der gesellschaftlichen Verdrängung des<br />
Todes entspricht dann häufig eine weitgehende Unsicherheit, wie mit dem Phänomen<br />
umgegangen werden soll, da eine „ars moriendi“ 18 fehlt. Weiter hat die gesellschaftliche<br />
Ausdifferenzierung und Säkularisierung <strong>im</strong> Verlauf des Zivilisationsprozesses bewirkt, dass<br />
der Rückhalt durch gesellschaftliche Bezugssysteme schwächer geworden ist. „Ein<br />
Informalisierungsschub <strong>im</strong> Rahmen dieses Prozesses hat dazu geführt, dass eine ganze Reihe<br />
herkömmlicher Verhaltensroutinen, darunter auch der Gebrauch ritueller Floskeln, in den<br />
Krisensituationen des menschlichen Lebens für viele Menschen suspekt und zum Teil<br />
peinlich geworden ist.“ 19<br />
15 Ariès, Philippe: Studien zur Geschichte des Todes <strong>im</strong> Abendland. München 1976. Vgl. hierzu auch den<br />
Beitrag von Thomas Macho „Tod und <strong>Trauer</strong> <strong>im</strong> kulturwissenschaftlichen Vergleich“ in: Assmann, Jan: Der Tod<br />
als Thema der Kulturtheorie. Todesbilder und Totenriten <strong>im</strong> Alten Ägypten. Frankfurt/M. 2000, S. 89-112.<br />
16 Schmied, Gerhard: Sterben und <strong>Trauer</strong>n in der modernen Gesellschaft. Opladen 1985.<br />
17 Schmied, S. 79.<br />
18 Vgl. hierzu: Laager Jacques (Hg.): Ars moriendi. Die Kunst, gut zu leben und gut zu sterben. Texte von Cicero<br />
bis Luther. Zürich 1996.<br />
19 Elias, Norbert: Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen. 7. Aufl. Frankfurt/M. 1991, S. 45.<br />
Vgl. hierzu auch Mischke, Marianne: Der Umgang mit dem Tod. Vom Wandel in der abendländischen<br />
Geschichte. Berlin 1996, S. 15: „Wenn die Menschen in der heutigen Gesellschaft überhaupt von Sterben und<br />
Tod sprechen wollen, dann müssen sie nicht nur das kollektive Tabu, ihre eigenen Ängste und<br />
Verdrängungstendenzen überwinden, sondern auch ihr sprachliches Unvermögen, das in dem Mangel an in<br />
Sprache zurückfließende Erfahrung begründet ist.“
2.5. <strong>Trauer</strong>modelle<br />
5<br />
Seit Ende der 1960er Jahre wurden zahlreiche wissenschaftliche und<br />
populärwissenschaftliche Arbeiten über Tod, Sterben und <strong>Trauer</strong> veröffentlicht, wobei in<br />
Bezug auf die <strong>Trauer</strong> sowohl Phasenmodelle als auch zielorientierte Modelle entwickelt<br />
wurden. Elisabeth Kübler-Ross formulierte, angeregt durch ihre Arbeit mit Sterbenden, ein<br />
Phasenmodell des Sterbeprozesses, das bald auch auf den Prozess des <strong>Trauer</strong>ns übertragen<br />
wurde. 20 Hierbei gilt es zu beachten, dass die Phasen weder zeitlich terminiert sind noch in<br />
chronologisch-singulärer Reihenfolge auftreten müssen, sondern auch in unterschiedlicher<br />
Reihenfolge mehrmals und unter Auslassung best<strong>im</strong>mter Stadien erscheinen können und<br />
somit weniger als Regeln denn als häufig beobachtete Verhaltensweisen zu betrachten sind.<br />
Den Beginn des <strong>Trauer</strong>prozesses, dem die <strong>Trauer</strong> um einen geliebten Menschen zu Grunde<br />
liegt, bildet der Verlust dieses geliebten Menschen. Das Ende der <strong>Trauer</strong> ist gekennzeichnet<br />
durch die erfolgreiche Integrierung der Verlusterfahrung und damit einhergehend durch eine<br />
gelungene Neuordnung des Lebensgefüges der Hinterbliebenen. Der schwer wiegende<br />
Einschnitt in die Biografie, den der Tod eines nahe stehenden Menschen bildet, hat zur Folge,<br />
dass bisherige Maßstäbe und Bezugssysteme an Bestand verlieren und neu konzipiert werden<br />
müssen. An die trauernde Person stellt jede Phase best<strong>im</strong>mte Anforderungen, die es in diesem<br />
Sinn zu bewältigen gilt, um einen gesunden, letzten Endes abgeschlossenen <strong>Trauer</strong>prozess zu<br />
gewährleisten.<br />
2.5.1. Die vier Phasen der <strong>Trauer</strong>arbeit nach Verena Kast<br />
Die Schweizer Psychologin Verena Kast entwickelte durch Beobachtung von <strong>Trauer</strong>nden und<br />
deren Träume ein vier Phasen umfassendes Modell der <strong>Trauer</strong>arbeit.<br />
2.5.1.1. Die erste Phase des Nicht-Wahrhaben-Wollens<br />
Die erste Phase, die direkt auf den Verlust folgt, ist meist geprägt von einer sofortigen<br />
Verdrängung des auslösenden Ereignisses und einer schockartigen Empfindungslosigkeit.<br />
Häufig treten dabei direkte körperliche Schockreaktionen wie schneller Puls, Schwitzen und<br />
Übelkeit auf. „Die Empfindungslosigkeit dient nach Kast nicht nur der Verdrängung des<br />
Verlusterlebnisses, sondern auch als Schutz vor der Überwältigung durch ein Gefühl, mit dem<br />
man nicht umgehen kann. Kast versteht die verschiedenen Gefühlsausbrüche <strong>im</strong><br />
<strong>Trauer</strong>prozess als ‚Ausfaltung’ dieses ersten Gefühls, das sich unmittelbar nach dem Tod<br />
20 Vgl. hierzu: Kübler – Ross, Elisabeth: Interviews mit Sterbenden. Stuttgart 1971.<br />
Sowie Spiegl, Yorick: Der Prozess des <strong>Trauer</strong>ns. Analyse und Beratung. Mainz 1973. Sowie: Bowlby, John:<br />
Verlust, <strong>Trauer</strong> und Depression. Frankfurt/M. 1983. Sowie: Worden, J. William: Beratung und Therapie in<br />
<strong>Trauer</strong>fällen. Ein Handbuch. Stuttgart 1987.
6<br />
eines geliebten Menschen einstellt.“ 21 Ein erstes Teilziel des <strong>Trauer</strong>prozesses ist erreicht,<br />
wenn das Akzeptieren der Unwiderruflichkeit des Geschehens den Abschied ermöglicht. Der<br />
bisherige Bezug zur äußeren Person wird internalisiert, was als Chance zur Individuation des<br />
Hinterbliebenen gesehen werden kann: „Gleichzeitig integriert sich emotionell etwas<br />
bewusster in die eigene Psyche, was den <strong>Trauer</strong>nden an diesen Menschen gebunden hat, nun<br />
als eigenes Erlebnis, nicht mehr raubbar, auch nicht durch den Tod.“ 22<br />
2.5.1.2. Die zweite Phase der aufbrechenden Emotionen<br />
Das Erkennen des Ausmaßes des Verlustes löst ein Chaos intensiver Gefühle aus. Abhängig<br />
von der Persönlichkeit des Betroffenen mischen sich Angst, Wut und Verzweiflung mit<br />
Sehnsucht und Liebe. Da die Ohnmacht des Menschen gegenüber dem Tod in dieser Phase<br />
selten eingesehen werden kann, kommt es häufig zu Schuldgefühlen oder Zorn gegenüber<br />
Dritten. „Das Bemühen, einen Schuldigen für den Tod des Verstorbenen zu finden, deutet<br />
nach Kast darauf hin, dass wir das Gefühl der Ohnmacht nicht wahrhaben wollen und uns<br />
durch die Suche nach dem Schuldigen vorspiegeln wollen, dass wir so hilflos eigentlich doch<br />
nicht sind.“ 23<br />
2.5.1.3. Die dritte Phase des Suchens und Sich-Trennens<br />
Als weitere Reaktion folgt auf den Verlust eine Phase des Suchens. Ge- bzw. aufgesucht<br />
werden Orte und Tätigkeiten, die in enger Verbindung mit dem Verstorbenen stehen. Das<br />
Suchen findet aber auch in inneren Zwiegesprächen seinen Ausdruck. Sinn dieses Verhaltens<br />
ist es die Beziehung zum Verstorbenen als Bestandteil in die eigene Psyche zu integrieren, so<br />
dass eine Loslösung stattfinden kann. „Dieses Suchen – Finden – Trennen erlaubt es, sich mit<br />
dem Partner auseinander zu setzen, etwas in sich zu entdecken, was mit dem verstorbenen<br />
Menschen zusammenhängt, und dennoch zu spüren, dass mit den alten Lebensumständen<br />
nicht mehr zu rechnen ist, dass das eigene Welt- und Selbstverständnis umgebaut werden<br />
muss.“ 24 Wichtig für eine erfolgreiche <strong>Trauer</strong>arbeit ist, dass die Erlebnisse mit dem<br />
Verstorbenen zur Sprache gebracht werden können. Doch „obwohl die Unterstützung der<br />
Umwelt für die Bewältigung der einzelnen <strong>Trauer</strong>phasen sehr wesentlich ist, darf nach Kast<br />
jedoch nicht außer acht gelassen werden, dass die durch den Tod hervorgerufene Handlung<br />
letztlich von jedem Betroffenen selbst getragen werden muss.“ 25<br />
21 Iskenius-Emmler, Hildegard: Psychologische Aspekte von Tod und <strong>Trauer</strong> bei Kindern und Jugendlichen.<br />
Frankfurt/M. 1988, S. 98f.<br />
22 Kast, S. 46.<br />
23 Iskenius-Emmler, S. 99.<br />
24 Kast, S. 70.<br />
25 Iskenius-Emmler, S. 102.
2.5.1.4. Die vierte Phase des neuen Selbst- und Weltbezugs<br />
7<br />
Nach dem Bewältigen der oben genannten Schritte ist der <strong>Trauer</strong>nde in der Lage, den Verlust<br />
der geliebten Person vollständig zu akzeptieren. Ruhe und Frieden kehren in die Seele, in der<br />
der Verstorbene als innerer Begleiter seinen Platz gefunden hat, zurück. Das Gefühl für die<br />
eigene Person und Realität pendelt sich ein, so dass es dem <strong>Trauer</strong>nden wieder möglich wird,<br />
das eigene Leben aktiv zu gestalten. Im Idealfall sind die Erfahrung des Todes und das<br />
Wissen der Möglichkeit des Überstehens der <strong>Trauer</strong> auf positive Weise in das neue<br />
Selbstbewusstsein integriert.<br />
2.6. <strong>Trauer</strong> nach dem Tod eines Kindes<br />
Der Tod eines geliebten Menschen bedeutet eine schwere Zäsur <strong>im</strong> Leben der<br />
Hinterbliebenen. Erfolg und zeitlicher Rahmen des <strong>Trauer</strong>prozesses sind dabei von<br />
verschiedenen Faktoren abhängig. 26 Der Tod eines Kindes innerhalb einer Familie stellt die<br />
Hinterbliebenen vor besondere Herausforderungen, denn „in der Familie als der Int<strong>im</strong>gruppe<br />
gewinnen Gefühle – solche der Zuneigung wie der Abneigung - eine Bedeutung wie in keiner<br />
anderen Lebenssphäre. Was den einzelnen zutiefst anrührt ist entsprechend das Sterben von<br />
Kindern, Gatten, Eltern, Großeltern.“ 27 Während der Tod eines Familienmitglieds der älteren<br />
Generation noch <strong>im</strong> Sinnkontext einer abgeschlossenen Lebenserfahrung gedeutet werden<br />
kann, stellt der Verlust eines Kindes eine Zerstörung der Generationenfolge dar, so dass<br />
solche Sinnzuschreibungen nicht mehr möglich sind.<br />
Hierdurch gestaltet sich der <strong>Trauer</strong>prozess besonders schwierig und schmerzlich. Während<br />
der Tod eines älteren Menschen als Verlust von gelebter Vergangenheit und Gegenwart<br />
aufgefasst werden kann, erscheint der Verlust eines Kindes besonders für die Eltern auch als<br />
Verlust der Zukunft. „Gesellschaftliche und persönliche Vorstellungen von Sinn und Fülle<br />
eines Lebens zerbrechen am Tod eines Kindes, denn gemessen an den gängigen Maßstäben<br />
lässt sich eine positive Lebensbilanz schwer ziehen.“ 28 John Archer führt den besonderen<br />
Schmerz in diesem Sinn auf biologische Gründe zurück: „We would also predict a high<br />
intensity of grief under these circumstances from the Darwinian perspective in view of the<br />
relative reproductive values of older parents and their offspring. Parent’s own reproductive<br />
value declines throughout adult life, and helping their adult offspring and grandchildren<br />
26 Vgl. hierzu Bowlby, S. 224ff. Er best<strong>im</strong>mt fünf Hauptpunkte: 1. Identität und Rolle der verlorenen Person. 2.<br />
Alter und Geschlecht der hinterbliebenen Person. 3. Ursachen und Umstände des Verlusts. 4. soziale und<br />
psychologische Umstände des Verlusts. 5. Persönlichkeit des Hinterbliebenen mit besonderem Bezug auf seine<br />
Fähigkeiten zur Herstellung von Liebesbeziehungen und zur Reaktion auf belastende Situationen.<br />
27 Schmied, S. 136.<br />
28 Holzschuh, Wolfgang: Die <strong>Trauer</strong> der Eltern bei Verlust eines Kindes. Eine praktisch-theologische<br />
Untersuchung. Würzburg 1998, S. 49.
8<br />
becomes the main vehicle for inclusive fitness open to them. Loss of an offspring at this t<strong>im</strong>e<br />
occurs after years of parental investment at a t<strong>im</strong>e when they generally cannot be replaced.” 29<br />
Der Tod innerhalb der Familie stellt aber auch für das Sozialsystem Familie eine erhebliche<br />
Veränderung dar. „Man kann sich das vorstellen wie bei einem Mobile, bei dem eine Figur<br />
abgeschnitten wird. Es wird in sich instabil und alle Figuren verändern ihre Position. Für<br />
jedes Mitglied des Familiensystems steht eine Neuordnung an.“ 30 Im Gefüge der sozialen<br />
Rollen, die jedes Mitglied erfüllt, kann es ebenfalls zu Verlusten kommen, wenn<br />
beispielsweise der Ehepartner seine Rolle als Vater verliert. 31<br />
Die Schwierigkeit der familiären <strong>Trauer</strong> hat ihren Ursprung in der Tatsache, dass Vater,<br />
Mutter und Geschwister jeweils individuell, gleichzeitig aber auch gemeinsam trauern, was<br />
nicht selten zu Spannungen führt. „Für viele Eltern ist das getrennte <strong>Trauer</strong>n der Normalfall.<br />
Manche weinen allein <strong>im</strong> Auto, manche <strong>im</strong> Bett, manche hinter geschlossenen Bürotüren.<br />
(…) Doch wegen der Verschiedenheit des <strong>Trauer</strong>ns haben es Eheleute oft schwer, Hilfe<br />
voneinander zu bekommen“. 32<br />
Der Verlust eines Kindes stellt sich für jede Komponente des Familiensystems anders und<br />
mehrfach dar. „Verliert ein Kind ein Geschwister, kommt es zu Mehrfachverlusten. Die Eltern<br />
sind meist nicht mehr in der Lage, dem lebenden Kind genügend Aufmerksamkeit zu geben,<br />
da sie mit der eigenen <strong>Trauer</strong> beschäftigt sind. Das lebende Kind verliert also nicht nur ein<br />
Geschwister, sondern auch einen Teil der elterlichen Zuwendung.“ 33 Nach außen verliert die<br />
Familie den Status einer ‚normalen’ Familie, was soziale Beziehungen zur Umwelt erschwert.<br />
Es sind diese Faktoren, die die <strong>Trauer</strong>, die auf den plötzlichen Tod eines Kindes folgt,<br />
besonders stark und schmerzlich werden lassen. Der Tod geschieht unzeitig, unerwartet und<br />
trifft die Hinterbliebenen unvorbereitet. Zentrale Aspekte des Sterbens zeigen sich hier<br />
konzentriert und in extremer Weise. Ein filmisches Kunstwerk, das sich mit dem Thema ‚Tod<br />
eines Kindes’ auseinandersetzt, ist das Drama „Das Z<strong>im</strong>mer meines Sohnes“ von Nanni<br />
Moretti.<br />
29<br />
Archer, John: The Nature of Grief. The Evolution and Psychology of Reactions to Loss. London 1999, S.<br />
201f.<br />
30<br />
Hirschberg, Corinna: In: Brennpunkt Gemeinde 3/2004. Impulse für missionarische Verkündigung und<br />
Gemeindeaufbau. Studienbrief D 21: <strong>Trauer</strong>nde Kinder – wahrnehmen, verstehen und begleiten. Stuttgart 2004,<br />
S. 5.<br />
31<br />
Auf die geschlechtsspezifischen Unterschiede kann hier nicht weiter eingegangen werden. Es lässt sich aber<br />
sagen, dass Frauen das Zeigen von <strong>Trauer</strong>reaktionen gesellschaftlich mehr zugestanden wird als Männern. Vgl.<br />
Bowlby, S. 138. Vgl. auch die griechische Tradition der Myroloja-Klagegesänge, die von speziell<br />
ausgebildeteten ‚Klageweibern’ ausgeübt wird. In: Canacakis, Jorgos: Ich sehe deine Träne. <strong>Trauer</strong>n, Klagen,<br />
Leben können. Stuttgart 1993, S. 88-99.<br />
32<br />
Rothman, Juliet Cassuto: Wenn ein Kind gestorben ist. <strong>Trauer</strong>begleiter für verwaiste Eltern. Freiburg/Breisgau<br />
1998.<br />
33 Hirschberg, S. 5 f.
2.7. <strong>Trauer</strong> <strong>im</strong> <strong>Film</strong>: Das Z<strong>im</strong>mer meines Sohnes<br />
2.7.1. Der Regisseur Nanni Moretti<br />
9<br />
Nanni Moretti, der 1953 in Bruncio, Italien, geboren wurde, ist ein italienischer <strong>Film</strong>emacher,<br />
Produzent und Schauspieler. Er startete seine professionelle Karriere mit dem <strong>Film</strong> „Ecce<br />
Bombo“ (dt. Der Nichtstuer) <strong>im</strong> Jahr 1978. „Die <strong>im</strong>plizite Thematik des <strong>Film</strong>s - die Suche<br />
eines eigenen Standorts innerhalb der Linken - kehrt in späteren <strong>Film</strong>en in veränderter Form<br />
wieder. Einfallsreiche, witzige, widersinnige Dialoge, offene Kritik an der Gesellschaft und<br />
die bewusste Abkehr von filmischen Konventionen - Moretti hat seinen Stil und seine<br />
Sprache (die Leichtigkeit, der Witz, das Absurde), sein Lebensthema (die Linke, die Politik),<br />
den Schauplatz vieler seiner <strong>Film</strong>e (Rom) (…) bereits gefunden.“ 34 Mit „Sogni d’oro“ (dt.<br />
Goldene Träume) gewann Moretti 1981 den ‚Goldenen Löwen’ in Venedig. Ein<br />
internationaler Erfolg gelang ihm 1994 mit „Caro diario“ (dt. Liebes Tagebuch), einem <strong>Film</strong>,<br />
der sich aus drei autobiographisch angehauchten Episoden zusammensetzt und in dem Moretti<br />
erstmals sich selbst und unter seinem eigenen Namen spielt. „Freeing h<strong>im</strong>self from his past<br />
personae (played by h<strong>im</strong>self, in this film as in others, under the name Michele Apicella), he<br />
prescribes his ‚cure’ through movement in t<strong>im</strong>e, through abandoning past formulas and<br />
conventions, looking for a cinema of body and brain to come into being.” 35 Auf dem<br />
<strong>Film</strong>festival in Cannes gewann dieser <strong>Film</strong> die Auszeichnung für die beste Regie. Der <strong>Film</strong><br />
„Aprile“, der 1998 in die Kinos kam, zeigt die Geschichte eines Regisseurs, der sich<br />
entscheiden muss, ob er einen Dokumentarfilm über die Linke in Italien oder ein Musical <strong>im</strong><br />
Stil der 50er-Jahre dreht. Moretti spielt in seinen <strong>Film</strong>en fast <strong>im</strong>mer die Hauptrolle, schreibt<br />
die Drehbücher größtenteils selbst und ist auch als Produzent für den <strong>Film</strong> verantwortlich,<br />
„Moretti ist ein Autorenfilmer <strong>im</strong> klassischen Sinne.“ 36 Mit dem in Ancona entstandenen<br />
Familiendrama „La stanza del figlio“ (dt. Das Z<strong>im</strong>mer meines Sohnes; 2001) konnte er seinen<br />
bisher größten Publikumserfolg feiern. Im Jahr 2006 kam der <strong>Film</strong> „Il Ca<strong>im</strong>ano“ (dt. Der<br />
Ka<strong>im</strong>an) zwei Wochen vor den italienischen Parlamentswahlen in die italienischen Kinos.<br />
Moretti spielt hier nicht sich selbst, sondern die Rolle des Silvio Berlusconi. Der <strong>Film</strong><br />
schildert, „wie es sich <strong>im</strong> ganz normal verrückten Italien der Berlusconi-Ära lebt und<br />
34 http://www.italienwelten.de/Nanni_Moretti.317.0.html 19.05.06<br />
35 Landy, Marcia: Italian <strong>Film</strong>. Cambridge 2000, S. 375.<br />
36 Bock, Hans-Michael (Hg.): Lexikon der Regisseure und Kameraleute. Reinbek bei Hamburg, 1999, S. 332f.<br />
Vgl. auch: Stiglegger, Marcus (Hg.): Splitter <strong>im</strong> Gewebe. <strong>Film</strong>emacher zwischen Autorenfilm und<br />
Mainstreamkino. Mainz 2000. 1986 schafft es Nanni Moretti auf das Titelbild der renommierten französischen<br />
Fachzeitschrift „Cahiers du Cinéma“, in der das Konzept des „Auteurs“ von François Truffaut, Claude Chabrol,<br />
Jean-Luc Godard u. a. in den 1950er Jahren entwickelt wurde. Vgl. hierzu: Moninger, Markus: <strong>Film</strong>kritik in der<br />
Krise. Die "politique des auteurs". Tübingen 1992.
10<br />
arbeitet.“ 37 Der <strong>Film</strong> gewann insgesamt 7 ‚David de Donatello’- Auszeichnungen. Diese<br />
Trophäe stellt den höchsten der italienischen <strong>Film</strong>preise dar. Für „Das Z<strong>im</strong>mer meines<br />
Sohnes“ hatte Moretti 2001 drei ‚Donatellos’ und die ‚Goldene Palme’ bei den<br />
<strong>Film</strong>festspielen in Cannes erhalten. Er selbst charakterisiert die Leitfragen seines <strong>Film</strong>s in<br />
einem Interview folgendermaßen: „Wie reagiert man auf den Tod einer Person, die man liebt?<br />
Wie lebt es sich, wenn jemand aus der näheren Umgebung stirbt?“ 38<br />
2.7.2. Sequenzplan<br />
Ein Sequenzplan von „Das Z<strong>im</strong>mer meines Sohnes“ befindet sich <strong>im</strong> Anhang auf Tabelle 1.<br />
Der Plan ermöglicht einen leichteren Überblick über die Gesamthandlung und die einzelnen<br />
Handlungsabschnitte.<br />
2.7.3. Analyse des dramaturgischen Aufbaus<br />
2.7.3.1. Exposition (0:00:00 – 0:34:03)<br />
„Der Anfang schafft bereits die Rahmenbedingungen für die erzählte Welt, denn<br />
dramaturgisch gesehen steht am Anfang die Exposition, in der Zeit und Ort der Handlung<br />
sowie die handelnden Figuren vorgestellt werden.“ 39 In der Eröffnungsszene dieses 93<br />
Minuten langen <strong>Film</strong>s wird ein knapp 50jähriger Mann (Nanni Moretti) gezeigt, der vor dem<br />
Hintergrund eines Industriehafens Dauerlauf betreibt. Der Mann heißt Giovanni und ist<br />
Psychotherapeut, Ehemann und Vater von zwei Kindern. Sein Weg führt ihn vom<br />
menschenleeren Hafen in die belebten Straßen der Stadt Ancona, einer mittelgroßen Stadt an<br />
der Adriaküste, wo er arbeitet und mit seiner Familie wohnt. Von einer Kaffeebar aus<br />
beobachtet Giovanni eine Gruppe singender Krishna Jünger, die ihren hinduistisch geprägten<br />
Glauben an die Wiedergeburt tanzend ausdrücken.<br />
Giovanni begibt sich in seine Wohnung, wo er einen Telefonanruf erhält. Es ist der Direktor<br />
der Schule, die sein Sohn, der 18-jährige Andrea (Giuseppe Sanfelice) besucht. Der Direktor<br />
bittet Giovanni zur Schule zu kommen, da er seinen Sohn verdächtige, einen Ammoniten aus<br />
der Asservatenkammer gestohlen zu haben. Eine nächste Szene zeigt Giovanni bei seiner<br />
Arbeit als Psychotherapeut. Geduldig hört er sich die Probleme seiner Patienten an und hilft<br />
mit guten Ratschlägen weiter. Als Giovannis Arbeitstag zu Ende ist, schließt er die Tür der<br />
37<br />
Schürmer, Dirk: Berlusconi <strong>im</strong> Kino. Der Ka<strong>im</strong>an, das bin ich. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 76,<br />
Ausgabe vom 30.03.2006, S. 39.<br />
38<br />
Nanni Moretti in: „Interview mit Nanni Moretti”. www.djfl.de.entertainment/stars/n/nanni_moretti_i_01.html<br />
17.05.06.<br />
39<br />
Mikos, Lothar: <strong>Film</strong>- und Fernsehanalyse. Konstanz 2003, S. 123.
11<br />
Praxis und geht hinüber in seine Wohnung, wo er gemeinsam mit Irene (Jasmin Trinca),<br />
seiner jugendlichen Tochter, Paola (Laura Morante), seiner Frau und Andrea zu Abend isst.<br />
Die Familie wird dem Zuschauer als harmonisch und ausgeglichen präsentiert. Der Vorwurf<br />
des Diebstahls, der Andrea gemacht wird, besorgt die Eltern zwar, erscheint aber nicht als ein<br />
Problem, das den Familienfrieden gefährden könnte. Das Titel gebende Z<strong>im</strong>mer des Sohnes<br />
wird zum ersten Mal gezeigt, als sich Giovanni hinein schleicht und sich darin umschaut. Es<br />
scheint, als verspüre er den Drang, zu sehen, ob er nicht doch den Ammoniten dort finden<br />
kann. In den nun folgenden Szenen, die 5 Tage der insgesamt 16 Tage erzählter Zeit<br />
umfassen, wird der Alltag der Familienmitglieder weiter ausgeleuchtet. Der Rezipient erfährt<br />
von den Ängsten und Sorgen der Patienten Giovannis, vom Basketball-Training der Tochter<br />
und Matteo, ihrem Freund. Abends folgt die Kamera in das Schlafz<strong>im</strong>mer von Giovanni und<br />
Paola, deren Ehe auch auf erotischem Gebiet intakt ist. So vergeht die Zeit relativ<br />
unspektakulär und der Zustand des mittelständischen Glücks wird als stabil präsentiert.<br />
2.7.3.2. Steigerung und Problem (0:34:04-1:22:12)<br />
Das zentrale Ereignis geschieht erst <strong>im</strong> zweiten Drittel des <strong>Film</strong>s. Am Abend des sechsten<br />
Tages n<strong>im</strong>mt das Unheil unspektakulär seinen Lauf: Eigentlich hatte sich Giovanni mit<br />
Andrea zum Laufen verabredet, doch als einer seiner Patienten, Oscar, ihn anruft und<br />
dringend um einen Hausbesuch bittet, entschließt er sich, den Lauftermin zu verschieben.<br />
Andrea geht stattdessen mit seinen Freunden zum Tauchen, wobei er verunglückt. Die<br />
folgenden Ereignisse werden <strong>im</strong> <strong>Film</strong> stark gerafft, nur schlaglichtartig und mit abrupten<br />
Zeitsprüngen erzählt.<br />
Giovanni kommt voller Sorge an den Hafen, wo Thomas und dessen Vater ihn bereits<br />
erwarten. Im Krankenhaus warten sie. Ein Bestattungsunternehmer ist anwesend, mit einem<br />
Katalog, in dem verschiedene Sargmodelle abgebildet sind. Die Aufbahrung in einem Raum<br />
des Krankenhauses wird gezeigt. Die Familie n<strong>im</strong>mt Abschied von Andrea.<br />
Das Verschließen des Sarges markiert die Endgültigkeit des Abschieds. Stand bisher die<br />
harmonische Gemeinschaft der Familie <strong>im</strong> Vordergrund, so rückt nun die Darstellung der<br />
<strong>Trauer</strong> der einzelnen Familienmitglieder in den Mittelpunkt des erzählerischen Interesses. Die<br />
verwaisten Eltern und Irene, die ihren Bruder verloren hat, werden be<strong>im</strong> Durchleben der<br />
<strong>Trauer</strong>phasen gezeigt. Der Tod Andreas hat eine nicht zu füllende Leerstelle <strong>im</strong> Gefüge der<br />
Familie hinterlassen, die auch durch das nun leer stehende Z<strong>im</strong>mer Andreas verdeutlicht wird.<br />
Die jeweils individuelle <strong>Trauer</strong> der Familienmitglieder treibt die Familie <strong>im</strong>mer weiter<br />
auseinander. Es droht der Verlust auch dieser noch verbliebenen Bande. Ein Brief einer<br />
Ferienliebe Andreas kommt unerwartet an. Paola n<strong>im</strong>mt mit der Absenderin Ariana Kontakt
12<br />
auf und lädt sie nach Ancona ein, was diese jedoch zu diesem Zeitpunkt der Geschichte noch<br />
ablehnt. Unter dramaturgischen Gesichtspunkten betrachtet wirkt dieser Aufschub als<br />
retardierendes Moment. Obwohl durch dieses Hinzutreten einer Figur von außen bereits ein<br />
Weg zur Bewältigung des Problems aufscheint, verstärkt sich die emotionale Spannung<br />
zwischen Giovanni und Paola vorerst gerade durch diesen Brief.<br />
2.7.3.3. Wendepunkt und Ansatz einer Lösung (1:22:13 – 1:32:50)<br />
Die entscheidende Wendung, hin zu einem versöhnlichen Schluss, erhält die Geschichte<br />
durch Ariana, die sich entschieden hat, die Familie doch zu besuchen. Nach kurzem Gespräch<br />
erklärt Ariana, sie und ihr Freund Stefano seien per Anhalter unterwegs. Giovanni entschließt<br />
sich, die beiden zur nächsten Autobahnauffahrt zu fahren, wo sie bessere Chancen hätten,<br />
mitgenommen zu werden. Gemeinsam mit Paola, Irene, Ariana und Stefano fahren sie los.<br />
Um die Reise abzubilden, greift Moretti auf die Zeit raffende Technik des elliptischen<br />
Erzählens zurück und zeigt nur die wichtigsten Stationen des Weges. Die Fahrt endet am<br />
frühen Morgen an einer Autobahnraststätte, die am Meer liegt. Nach einem Kaffee<br />
verabschieden sich Stefano und Ariana von der Familie. Giovanni, Paola und Irene laufen am<br />
Strand entlang. Diese letzten Bilder schließen den <strong>Film</strong> mit Aussicht auf einen positiven<br />
Umgang mit dem Tod Andreas ab. Da hier zwar der <strong>Film</strong>, nicht jedoch die Geschichte der<br />
<strong>Trauer</strong> Giovannis und seiner Familie endet, kann in Hinblick auf die Erzählform von einem<br />
offenen Ende gesprochen werden.<br />
2.7.3.4. Fazit der Analyse<br />
Die lange Exposition, die ein Drittel der <strong>Film</strong>dauer in Anspruch n<strong>im</strong>mt, stellt die Rituale der<br />
Familie dar, die zwischen Frühstück, Schule, Arbeit und Freizeit den Alltag in einer<br />
liebevollen Atmosphäre zu bewältigen hat. Dem Zuschauer wird die Möglichkeit geboten,<br />
sich aufgrund dieser ihm wahrscheinlich ebenfalls vertrauten Handlungen mit der Familie zu<br />
identifizieren. Gleichzeitig wird eine Atmosphäre bürgerlichen Glücks geschaffen und so die<br />
Fallhöhe vorbereitet. Der Kontrast, der durch die schockierende Wirkung des unerwarteten<br />
Todes geschaffen wird, wirkt so umso eindrücklicher. Da der Tod völlig ohne vorbereitenden<br />
‚suspense’ geschieht, wird für den Zuschauer deutlich, dass der Tod eine Konstante der<br />
Wirklichkeit ist, der jeder, ihn eingeschlossen, in jedem Augenblick zum Opfer fallen kann.<br />
Der Tod, als das die <strong>Trauer</strong> auslösende Ereignis in „Das Z<strong>im</strong>mer meines Sohnes“, passiert<br />
einfach ohne äußeren Anlass wie beispielsweise eine Krankheit und ohne moralischen<br />
Anspruch, wie sie etwa die Bestrafung durch Tod <strong>im</strong> Sinn einer poetischen Gerechtigkeit<br />
nach einer moralischen Verfehlung darstellen würde. Die Folgen des Verlusts des Sohnes
13<br />
nehmen den größten Teil der erzählten und der Erzählzeit ein, wodurch auf temporaler Ebene<br />
markiert wird, dass der <strong>Trauer</strong>prozess <strong>im</strong> Mittelpunkt des <strong>Film</strong>es steht - „die Analyse der<br />
Handlungsstruktur erweist sich als Schlüssel zum besseren Verständnis des <strong>Film</strong>s.“ 40<br />
Wie schon der Tod des Sohnes wird auch die <strong>Trauer</strong> realistisch, nüchtern erzählt. Gezeigt<br />
wird, wie sich ein solches Unglück auf das soziale Konstrukt Familie auswirken kann: Dem<br />
anfänglich Einigkeit stiftenden Schmerz folgt schnell eine Phase, in der die jeweils individuell<br />
empfundene <strong>Trauer</strong> die Hinterbliebenen zusehends voneinander entfremdet. Erst als Ariana<br />
und Stefano hinzukommen, zeichnet sich eine Lösung ab. In ihrer Gegenwart wird es<br />
möglich, über Andrea zu sprechen. Das, was die von Irene initiierte Messe leisten sollte, Trost<br />
und Hoffnung zu spenden, gelingt durch Ariana und Stefano, symbolisiert in der Fahrt durch<br />
die Nacht, in deren Verlauf die Familienmitglieder wieder zu einander finden. Die Fahrt endet<br />
bezeichnenderweise an einem neuen, sonnigen Tag, am Strand des Meers, dem Symbol für<br />
die Einheit von Leben und Tod. 41<br />
2.8. Analyse der Hauptfigur<br />
2.8.1. Giovanni vor der <strong>Trauer</strong><br />
Die Figur des Giovanni (Nanni Moretti) wird in den ersten Bildern des <strong>Film</strong>s eingeführt. Im<br />
Verlauf der Handlung zeigt die Kamera das Geschehen hauptsächlich aus Sicht eines<br />
unsichtbaren Begleiters Giovannis. Selten gibt es Szenen, in denen er nicht präsent ist, was<br />
ihm die Rolle der Hauptfigur zuweist. „Besonderes Interesse gilt häufig dem ersten Auftritt<br />
des Protagonisten und der Art seiner Charakterisierung. Aufgrund seiner Rolle als<br />
Wahrnehmungs- und Bedeutungszentrums <strong>im</strong> <strong>Film</strong> wird auf seine Gestaltung in aller Regel<br />
Wert gelegt, eben um die notwendige Glaubwürdigkeit und zugleich Attraktivität zu<br />
erzeugen.“ 42 In der ersten Szene begegnet Giovanni nach dem Joggen am Hafen dem Zufall in<br />
der heiteren Form einer Gruppe tanzender und singender Krishna-Jünger. Giovanni kann<br />
diese Begegnung annehmen und summt die Melodie der Krishna Jünger bis nach Hause. Dort<br />
wird er erneut mit etwas Unerwartetem konfrontiert: sein Sohn soll einen Ammoniten<br />
gestohlen haben. Auch hierfür hat Giovanni eine Lösung parat und sucht das klärende<br />
Gespräch mit dem Direktor und den Eltern der Schulkameraden. Im ersten Drittel des <strong>Film</strong>s<br />
wird Giovanni als treu sorgender, manchmal überbehütender Familienvater gezeigt, für den<br />
das Leben in stabilen, harmonischen Bahnen verläuft. Das Unerwartete kann er geschickt in<br />
seinen Alltag integrieren. Die Familie lebt in Harmonie zusammen, was beispielsweise in<br />
40 Faulstich, Werner: Grundkurs <strong>Film</strong>analyse. München 2002, S. 86.<br />
41 Vgl. Selbmann, Sibylle: Selbmann, Sibylle: Mythos Wasser: Symbolik und Kulturgeschichte. Karlsruhe 1995.<br />
42 Faulstich, S. 97.
14<br />
einer Szene dokumentiert wird, in der alle vier Familienmitglieder bei einer Autofahrt zu<br />
sehen sind: Im Radio läuft ein italienischer Schlager, Giovanni singt laut mit und auch Paolo,<br />
Andrea und Irene st<strong>im</strong>men ein. So entsteht ein <strong>im</strong>provisiertes Quartett als Sinnbild der<br />
Familie: Jede Figur ist für sich, doch gleichzeitig eingebettet in den Sinn spendenden Rahmen<br />
der Familie. 43 Die gefestigten Beziehungen lassen den Diebstahl und die Erkenntnis, dass<br />
Irenes Freund Haschisch raucht, als kleine Irritationen erscheinen, die diese Feste jedoch nicht<br />
erschüttern können.<br />
Als Giovanni Irene zusammen mit Paola bei einer Latein-Übersetzung hilft, fällt der Satz<br />
„Mit wenig Mühe wirst Du geführt werden.“ 44 Hiermit wird die Aufgabe, die ihm die<br />
Ereignisse der zwei letzten Drittel der Handlung auferlegen, bereits angedeutet. Für ihn geht<br />
es um Akzeptieren des Zufalls, auch, wenn dieser nicht heiter, wie in der Szene mit den<br />
tanzenden Krishna-Jüngern, sondern grausam und schmerzhaft ist.<br />
Einige Male wird Giovanni be<strong>im</strong> Joggen gezeigt. In der Anstrengung seines Körpers findet er<br />
Nähe zu sich und Abstand von den Neurosen, mit denen er in seiner Funktion als<br />
Psychotherapeut täglich konfrontiert wird. Die Spannung zwischen Nähe und Abstand,<br />
Int<strong>im</strong>ität und Distanz formuliert eine weitere Problemebene des <strong>Film</strong>s, die sich in seiner<br />
Arbeit spiegelt. Die Verschränkung zwischen der Arbeitswelt und dem Privatbereich wird<br />
auch verdeutlicht durch den Umstand, dass Praxis und Wohnung räumlich direkt miteinander<br />
verbunden sind. Als Psychotherapeut n<strong>im</strong>mt Giovanni die Rolle des Übervaters ein, die<br />
geprägt ist von unerschütterlicher Ruhe. Er hört zu und hat für die Probleme seiner Patienten<br />
Tipps und Lösungen, auch wenn diese teilweise nur in einer von ihm <strong>im</strong>aginierten Traumwelt<br />
existieren. 45 Ähnlich wie bei der Lateinübersetzung <strong>im</strong> Kreis der Familie geht es auch in den<br />
Therapiesitzungen um Gelassenheit. Seiner Patientin Raffaela, rät er zu mehr Gelassenheit,<br />
denn man könne nicht alles was passiert best<strong>im</strong>men und sei auch nicht für Alles<br />
verantwortlich.<br />
Als Andrea jedoch bei einem Tauchunfall verunglückt, macht gerade er sich für den Tod<br />
seines Sohnes in verantwortlich, denn eigentlich hatte er sich mit ihm zum Joggen verabredet,<br />
musste ihm aber dann aus beruflichem Pflichtgefühl absagen, da ein Patient, Oscar, dringend<br />
seine Hilfe benötigte.<br />
43 Dass <strong>im</strong> Radio keine politischen Nachrichten kommen, weist darauf hin, dass es in „Das Z<strong>im</strong>mer meines<br />
Sohnes“ um die private Geschichte dieser Familie geht.<br />
44 0:15:47<br />
45 0:23:40
2.8.2. Der <strong>Trauer</strong>prozess Giovannis<br />
15<br />
2.8.2.1. Die erste Phase des Nicht-Wahr-Haben-Wollens<br />
Die Nachricht über den Tod seines Sohnes löst bei Giovanni zunächst einen Schock aus, der<br />
ihn sprachlos werden lässt. Giovanni fährt zu Irene, die gerade ein Basketballspiel zu<br />
bestreiten hat und ohne Worte zu wechseln wird klar, dass etwas Außergewöhnliches passiert<br />
sein muss. Zuhause umarmen sich die Familienmitglieder und sind in gemeinsamer Sorge und<br />
geteiltem Schmerz vereinigt, gesprochen wird jedoch nicht. Im Wartesaal des Krankenhauses<br />
versucht Giovanni zwar einen Anruf zu tätigen, doch seine St<strong>im</strong>me versagt und er findet<br />
keine Worte. Das Unfassbare ist gleichzeitig das Unaussprechliche, Etwas, das nicht in die<br />
sprachliche Realität geholt werden kann. 46<br />
Die Aufbahrung Andreas, die in Nahaufnahmen gezeigt wird, vollzieht sich ebenfalls ohne<br />
Worte. Als der Sarg geschlossen wird, beginnt sich bereits abzuzeichnen, dass jeder <strong>im</strong> Leid<br />
für sich stehen muss.<br />
Giovanni kann den Zufall in seiner grausamen Form nicht annehmen, sondern flüchtet sich<br />
vor der Erkenntnis des Todes seines Sohnes in Reizüberflutung. Auf dem Rummelplatz sucht<br />
er <strong>im</strong> Trubel Ablenkung, begegnet dort aber ständig Symbolen des Lebens, wie einem<br />
Karussell oder einer Spielzeug-Pferderennbahn. Der Zuschauer sieht ihn, wie er sich mit<br />
wütendem Gesicht von einem Fahrgeschäft durchschütteln lässt und wie er ziellos durch das<br />
Gewühl läuft, eine Reaktion die seine Seele vor dem unerträglich starken Schmerz schützen<br />
soll. Er verneint und distanziert sich vom Anerkennen der Realität des Todes auch durch das<br />
bruchlose Fortführen seiner täglichen Arbeit als Psychotherapeut.<br />
Ein vorsichtiges Annähern geschieht erst be<strong>im</strong> Schreiben der Kondolenzbriefe, das ein<br />
soziales Muster des <strong>Trauer</strong>ns darstellt und auf das in solchen Fällen zurückgegriffen werden<br />
kann, um den Schmerz zu kanalisieren. Bei dieser Arbeit, die Giovanni und Paola gemeinsam<br />
erledigen, werden Erinnerungen wach und besprochen, wodurch eine Möglichkeit entsteht,<br />
den bisher äußeren Bezug zu Andrea zu internalisieren. Giovanni beginnt nun zwar, sich der<br />
Wirklichkeit zu stellen, doch er verharrt lange in diesem<br />
Übergangstadium zur zweiten Phase der <strong>Trauer</strong>. Verantwortlich dafür ist sein Empfinden,<br />
eine Mitschuld an Andreas Tod zu tragen. Symptomatisch für seine Selbstvorwürfe und sein<br />
Verlangen, das Geschehene ungeschehen zu machen ist, dass er sich <strong>im</strong>mer wieder dieselbe<br />
46 So wie die Sprache vor dem Tod verstummt, zeigt Moretti auch den Tod, indem er die Bilder ‚verstummen’<br />
lässt. Das tragische Ereignis selbst ist nicht zu sehen. In einer Montagesequenz, die mit schnellen Schnitten<br />
arbeitet, werden Andrea bei der Abfahrt des Schlauchboots, Paola, die auf dem Markt angerempelt wird, Irene,<br />
die mit ihren Freunden Mofa fährt und Giovanni, dem ein hupender LKW entgegenkommt gezeigt. Es handelt<br />
sich lediglich um Vorzeichen und Andeutungen, die suggerieren, dass jedem der Beteiligten etwas zustoßen<br />
könnte. Dass Andrea tot ist, wird erst in der Szene, in der Paola mit Ariana telefoniert zur Sprache gebracht.
16<br />
Sequenz eines Liedes anhört. 47 Hier kann er die Zeit zurück drehen, <strong>im</strong> Leben jedoch nicht.<br />
Gleichzeitig dient ihm das Medium Musik zur St<strong>im</strong>ulation von Erinnerungen an seinen Sohn.<br />
<strong>Film</strong>isch wird dies in Traumsequenzen gezeigt, in denen Giovanni und Andrea joggen und<br />
somit das getan hätten, was eigentlich geplant war. In seiner Phantasie kann Giovanni die<br />
Realität so entwerfen, dass das schmerzhafte Erlebnis nicht stattgefunden hat, <strong>im</strong> Leben hat er<br />
darauf jedoch keinen Einfluss mehr. 48<br />
2.8.2.2. Die zweite Phase der aufbrechende Emotionen<br />
Diese Ohnmacht und die Schuldgefühle lassen Giovanni zum Detektiv werden, eine typische<br />
Reaktion in der zweiten <strong>Trauer</strong>phase nach Verena Kast. 49 Er begibt sich auf die Suche nach<br />
einem Schuldigen und forscht be<strong>im</strong> Tauchhändler nach, ob Andrea möglicherweise wegen<br />
eines technischen Versagens gestorben sei. 50 Weiterhin hadert er, sich mit der Realität<br />
abzufinden. In <strong>im</strong>mer wiederkehrenden <strong>im</strong>aginären Bildern malt er sich aus, was passiert<br />
wäre, wenn er seinem Sohn nicht abgesagt hätte, 51 doch in seiner Praxis wird er mit<br />
Problemen konfrontiert, die ihn ständig an den geschehenen Verlust erinnern. So kommt<br />
Oscar, der Patient, wegen dem Giovanni den Termin nicht einhalten konnte, in die Praxis und<br />
spricht über seine Angst zu sterben und welche Auswirkungen das für seine Mutter hätte,<br />
bevor er merkt, wie sehr dieses Thema Giovanni selbst betrifft. 52 Giovanni sagt zwar, er solle<br />
sich darüber keine Sorgen machen und versucht, seiner Rolle als Arzt gerecht zu werden,<br />
doch die nötige Distanz zwischen Arzt und Patient bröckelt, da er Oscar ständig mit dem Tod<br />
des Sohnes in Verbindung bringt. 53 Gerade Giovanni, der seine Patienten sonst gut versteht<br />
und mit deren Gefühlen souverän umgehen kann, weiß nun nicht mehr weiter.<br />
Der Helfer braucht selbst Hilfe und sucht einen befreundeten Kollegen auf, der ihm rät, offen<br />
mit Oscar zu sprechen. Der Weg zur Lösung dieses Problems geht über die Anerkennung der<br />
veränderten Situation <strong>im</strong> darüber Sprechen als Akt der kommunikativen Verwirklichung und<br />
Verankerung der Emotionen in zwischenmenschlicher Realität. Dafür muss Giovanni die<br />
Distanz zwischen Arzt und Patient aufgeben.<br />
Die Distanz-Nähe Problematik zeichnet sich auch innerhalb der Familie ab. Dort gestaltet sich<br />
die Situation <strong>im</strong>mer schwieriger. War der gemeinsame Schmerz am Anfang noch ein<br />
verbindendes, Nähe schaffendes Element, so treibt die jeweils individuell empfunden und<br />
47<br />
0:47:10<br />
48<br />
0:50:05<br />
49<br />
Iskenius-Emmler, 99.<br />
50<br />
0:48:00<br />
51<br />
0:49:08<br />
52<br />
0:49:12<br />
53<br />
0:58:20
17<br />
ausgelebte <strong>Trauer</strong> die Familie mehr und mehr auseinander: Die institutionalisierte Instanz des<br />
Gottesdienstes wird zwar noch gemeinsam durchlaufen, erscheint aber sinnentleert und kann<br />
keinen Trost bieten, besonders nicht für Giovanni.<br />
Bevor sein Sohn starb, war Giovanni ein Profi in der Deutung von Gedanken und Träumen,<br />
doch nun weiß er mit den metaphorischen Worten des Pfarrers nichts anzufangen. „Wenn der<br />
Hausvater wüsste, wann in der Nacht der Dieb kommt, würde er wach bleiben. Was heißt<br />
das?“ schreit Giovanni verzweifelt. Den Versuch des Pfarrers, den Tod als eine schicksalhafte<br />
Verknüpfung von Zufällen darzustellen, will Giovanni nicht gelten lassen. Seine Wut bricht<br />
aus ihm hervor, wenn er zerbrochene, aber wieder geklebte Tassen aus dem Schrank zieht und<br />
sie zynisch als Abfall, von dem man sich trennen müsse, bezeichnet. Aus psychologischer<br />
Sicht ist damit jedoch bereits ein Fortschritt auf dem Weg zu einer Bewältigung der <strong>Trauer</strong><br />
getan. Das Ende von Dingen und Menschen und die notwendige Distanzierung durch<br />
Trennung werden zur Sprache gebracht und mit entsprechenden Gefühlen verknüpft.<br />
Es ist ein erster Ansatz, das Schicksal zu akzeptieren. Die aufbrechenden Empfindungen, die<br />
Giovanni nun an sich heran lässt, werden so stark, dass er seine Arbeit einstellen muss, da er<br />
seinen Patienten nicht weiter helfen kann. Er wird <strong>im</strong> Gegenteil zynisch und vergisst die<br />
gebotene Rücksichtsnahme, was erneut den Verlust der notwendigen Distanz markiert. Ihren<br />
Höhepunkt erreichen die schmerzhaften Gefühle, als Giovanni während einer Therapiesitzung<br />
an den Tod Andreas erinnert wird und in Tränen ausbricht. 54<br />
2.8.2.3. Die dritte Phase des Suchens und Sich-Trennens<br />
Nachdem Giovanni sich der <strong>Trauer</strong> geöffnet hat, kann er den nächsten Schritt auf dem Weg<br />
zur Heilung wagen. Der Beschluss, die Arbeit zu unterbrechen ist ein Zeichen für die<br />
Anerkennung der geänderten Realität und der Tatsache, dass das bisherige Leben nicht<br />
fortgeführt werden kann, als sei nichts geschehen. Sein Verhältnis zum Tod seines Sohnes hat<br />
sich von der Leugnung hin zu einem Akzeptieren gewandelt. Es ist Giovanni nun möglich,<br />
Plätze aufzusuchen, die mit Andrea in enger Beziehung stehen, ohne dass der Schmerz<br />
unerträglich ist. 55 Die Gelassenheit, zu der er Raffaella anfangs geraten hatte, kann er nun<br />
langsam bei sich zulassen. Er sucht die aussöhnenden Aspekte des Schicksals. Auch in Bezug<br />
auf seine Familie kommt es zu einer Hinwendung, weg vom eigenen egozentrischen Schmerz,<br />
hin zu seinen Mitmenschen. 56 Die Gegenwart beginnt sowohl zeitlich als auch <strong>im</strong> personellen<br />
Umfeld langsam wieder in den Mittelpunkt zu rücken.<br />
54 1:06:58.<br />
55 1:16:00<br />
56 1:16:04
18<br />
Giovanni führt die <strong>Trauer</strong>arbeit nun aktiv weiter und erkundigt sich nach dem<br />
Musikgeschmack Andreas bei einem Musikhändler, wo er auch eine CD kauft. Sein Wunsch<br />
nach einer Übersetzung der Texte drückt das große Interesse für die Weltsicht seines Sohnes<br />
aus, die er, nun als einen Teil seiner eigenen Persönlichkeit, erfahren möchte. Der Inhalt des<br />
Liedes wird bildlich umgesetzt, wenn Brian Eno singt: “You talk to me/as if from a<br />
distance/And I reply/With <strong>im</strong>pressions chosen from another t<strong>im</strong>e:“ 57 Die Assoziationen, die<br />
durch das Hören bei Giovanni ausgelöst werden, lassen ihn wieder in <strong>im</strong>aginären Kontakt mit<br />
Andrea treten, doch provozieren keine Weinanfälle mehr. Das bedeutendste Ereignis auf dem<br />
Weg zur Heilung ist das Eintreffen von Ariana, die die Familie unerwarteterweise doch noch<br />
besucht. Durch das Auftauchen von Ariana kommt Bewegung in die erstarrte Situation<br />
innerhalb der Familie. Durch sie wird der Schritt heraus aus der zirkulären Geschlossenheit<br />
der eigenen Erinnerungen möglich. Auf bildlicher Ebene verweist dies auf den von Andrea<br />
gestohlenen Ammonit, dieser „Schnecke mit Spiralen“ 58 . Während die <strong>Trauer</strong>arbeit die<br />
einzelnen Personen bis zu diesem Punkt in die Tiefe ihrer Seele geführt hat, ändert sich nun<br />
die Richtung dieses Weges und führt spiralförmig, also nicht geradlinig aber zielgerichtet<br />
nach außen, so dass Gemeinschaft langsam wieder möglich wird.<br />
Giovanni öffnet Ariana die Tür am frühen Abend des 15. Tages. Gemeinsam warten die<br />
beiden auf Paola und betrachten in der Zwischenzeit Fotos, die Andrea für Ariana gefertigt<br />
hatte. Andrea ist darauf in lustigen Posen in seinem Z<strong>im</strong>mer zu sehen. Zum ersten Mal seit<br />
seinem Tod wird Giovanni wieder lächelnd gezeigt: „Das ist witzig, nicht wahr?“ 59 Das<br />
Medium der Fotografie, in dem der Brückenschlag zwischen verlorener Vergangenheit und<br />
erlebter Jetztzeit möglich wird, geleitet das Trauma des Verlusts in den heilenden Trost der<br />
Erinnerung. 60<br />
2.8.2.4. Die vierte Phase des neuen Selbst- und Weltbezugs<br />
Die Autofahrt als Tätigkeit der Fortbewegung verweist auf die Weiterentwicklung auf<br />
emotionalem Gebiet, die die Figuren durchleben. Die Fahrt, die durch Nacht und einen<br />
57<br />
Die CD ist von Brian Eno, der Titel des <strong>im</strong> on- und später aus dem off gespielten Liedes lautet: „By this river“<br />
und befindet sich auf dem Album „Before and after science“ von 1977 (Virgin Music). “Here we are/ Stuck by<br />
this river, You and I/ Underneath a sky that's ever falling down, down, down Ever falling down./Through the<br />
day/As if on an ocean/Waiting here, Always failing to remember why we came, came, came/I wonder why we<br />
came. /You talk to me/as if from a distance/And I reply/With <strong>im</strong>pressions chosen from another t<strong>im</strong>e, t<strong>im</strong>e,<br />
t<strong>im</strong>e/From another t<strong>im</strong>e.”<br />
58<br />
Paola zu Giovanni 0:16:16.<br />
59<br />
1:22:12<br />
60<br />
Vgl. hierzu: Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt/M. 1985. In<br />
diesem Aufsatz erscheint die Fotografie als Schattenbild, das die Spur des Gewesenen als Erinnerungsform<br />
vergegenwärtigt (ebd. S.14). Durch die Abbildung des Referenten stellt das Foto eine Wiederkehr des Toten dar<br />
(ebd. S.30) und indem es den Gegenstand gegenwärtig macht, hilft es gleichzeitig bei der Bewältigung von Tod<br />
und <strong>Trauer</strong> (ebd. S. 92-105).
19<br />
Tunnel führt, wird zu einer „Reise in ein Land hinter dem Leid“ 61 und erscheint somit als „rite<br />
de passage“. 62 Durch die inzwischen geschehene Verinnerlichung Andreas kann das Unglück<br />
nun auch aus der Distanz betrachtet werden. Giovanni beginnt die Unwiderruflichkeit des<br />
Todes zu verstehen und findet zu einem Selbstbild, das weniger von Schuld als durch<br />
Hilfsbereitschaft und Verständnis geprägt ist. Dass sich Ariana einen neuen Freund, der an die<br />
Stelle seines Sohnes gerückt ist, gesucht hat, kann er akzeptieren und als Zeichen der<br />
Hoffnung interpretieren. In Ariana begegnet ihm der personifizierte Rat, der zu Anfang des<br />
<strong>Film</strong>s aus der Latein-Übersetzung gesprochen hat: „Mit wenig Mühe wirst Du geführt<br />
werden.“ In einer der letzten Szenen, die die Autofahrt der Familie zu Beginn des <strong>Film</strong>s<br />
spiegelt, fahren Giovannis Familie und Ariana und Stefan durch die Nacht und beginnen<br />
gemeinsam zu singen. Der trennende Aspekt der <strong>Trauer</strong> wird durch die aufke<strong>im</strong>ende<br />
Hoffnung auf ein Weiterleben in positivem Gedenken an Andrea aufgehoben. Der Weg, der<br />
durch Ariana wieder als Möglichkeit erscheint, ist der, der in eine Normalität, die mit der<br />
Erfahrung des Todes gelassen umgeht, führt. Giovanni scheint die Aufgaben, die ihm der<br />
<strong>Trauer</strong>prozess auferlegt hat, bewältigt zu haben.<br />
3. Schluss: Die Botschaft des <strong>Film</strong>s<br />
In „Das Z<strong>im</strong>mer meines Sohnes“ zeigt Nanni Moretti drei Möglichkeiten, wie mit dem<br />
Schicksal in seiner grausamen Form, dem Tod, umgegangen werden kann. Dafür greift er auf<br />
eine Familie zurück, die den Verlust eines Sohnes zu beklagen hat. Im Mittelpunkt des<br />
Psychogramms steht der Vater, der an der <strong>Trauer</strong> zu zerbrechen droht, da er nicht mit dem<br />
Schmerz umzugehen weiß. Der natürliche Prozess des <strong>Trauer</strong>ns ist ihm fremd geworden und<br />
er kann nur auf wenige tradierte Verhaltensweisen zurückgreifen um sich von Bindungen, die<br />
nicht mehr lebendig sind, zu lösen. Weder das eingangs gezeigte hinduistische Modell in<br />
Form der tanzenden Krishna-Jünger, noch die christliche Lehre von der Auferweckung,<br />
dargestellt <strong>im</strong> Gottesdienstbesuch, konnten ihm Trost spenden.<br />
Auch zwischen den Familienmitgliedern kommt es zu Spannungen, da Wut und <strong>Trauer</strong> die<br />
Figuren voneinander entfremden, weil sie sie auf ihre jeweilige Individualität zurückwerfen<br />
und so die Fremdheit aufzeigen, die auch zwischen Personen, die sich sehr nahe stehen,<br />
<strong>im</strong>mer existiert, <strong>im</strong> Alltag aber nicht so deutlich hervortritt. Moretti zeigt, dass <strong>Trauer</strong> ein<br />
Prozess der Trennung ist, nicht nur vom geliebten Objekt, sondern auch von bisher gelebten<br />
61 Kühn, Heike: Das Z<strong>im</strong>mer meines Sohnes. http://www.kinofenster.de/ausgaben/kf0112/film1.htm. 21.05.06.<br />
62 Vgl.: van Gennep, Arnold: Übergangsriten. Frankfurt/.M. 1986. Der Ethnologe prägte den Begriff der<br />
Übergangsriten in seinem Buch „Les Rites de passage“ von 1909. Bezeichnet werden damit Riten, die mit<br />
Veränderungen <strong>im</strong> Leben eines Menschen verbunden sind. Dieser Übergang ist ein Prozess der Transformation,<br />
der von einem Zustand in einen nächsten oder von einer Welt in eine andere führt.
20<br />
Verhaltensweisen, was gerade <strong>im</strong> Sozialkonstrukt Familie zu Unsicherheiten und<br />
Schwierigkeiten führt. Doch erst aus der, durch die <strong>Trauer</strong> ausgelösten intensivierten<br />
Seelenschau, kann ein neuer, selbstbewusster Weltbezug, der dann auch wieder die<br />
Gemeinschaft zulässt, gefunden werden.<br />
Sowohl Giovanni als Protagonist, als auch Paola und Irene durchleben <strong>im</strong> Verlauf der<br />
Handlung eine intensive Entwicklung, die sie als dynamische Figuren kennzeichnet. 63 Bei der<br />
filmischen Umsetzung dieser existentiellen Thematik hält sich der Regisseur weitgehend an<br />
ein realistisches Erzählen, was sowohl die bildliche Darstellung als auch die psychische<br />
Entwicklung der Darsteller betrifft, die den Erkenntnissen der Thanatologie und<br />
<strong>Trauer</strong>forschung entspricht. Das Durchleben der einzelnen <strong>Trauer</strong>phasen, als Reaktion auf<br />
den Verlust eines Geliebten Menschen, stellt Moretti als einen schmerzhaften und<br />
schwierigen Weg dar, der jedoch die Chance zu einer ganzheitlichen Erfahrung birgt, wenn<br />
die <strong>Trauer</strong> angenommen und nicht verdrängt wird. Mit „Das Z<strong>im</strong>mer meines Sohnes“ entreißt<br />
Moretti die Themen Tod und <strong>Trauer</strong> ihrer modernen Verborgenheit hinter<br />
Krankenhausmauern und bringt sie in der „Höhle des Kinos“ 64 ans Licht. Im Zuschauer kann<br />
die Konfrontation mit Tod und <strong>Trauer</strong> durch den <strong>Film</strong> eine selbstreflexive Überprüfung seiner<br />
eigenen Einstellung zu diesem lebenswichtigen Thema auslösen. Die Aufgabe, die der <strong>Film</strong><br />
für sein Publikum formuliert, ist es, sich das <strong>Trauer</strong>n zu trauen. Die Botschaft ist der Aufruf,<br />
auf diese Weise zu einer „ars moriendi“ und, <strong>im</strong> Umkehrschluss daran, schließlich zu einer<br />
„ars vivendi“ zu finden. Diese Lebenskunst spielt sich zwischen den Polen ‚Individuum’ und<br />
‚Gemeinschaft’ ab und findet in einer gelassenen Einstellung gegenüber dem Schicksal ihre<br />
Verwirklichung.<br />
63 „Eine mehrd<strong>im</strong>ensionale Figur kann durch zwei Merkmale ausgezeichnet sein: erstens eine gewisse<br />
Komplexität, das heißt, die Liste der Eigenschaften und Merkmale ist vergleichsweise lang, gekennzeichnet<br />
durchaus von Gegensätzen und Widersprüchen, die eine Figur erst wirklich lebendig erscheinen lassen; zweitens<br />
eine persönlichkeitsmäßige Veränderung, das heißt, die Figur ist am Ende des <strong>Film</strong>s nicht mehr die, die sie noch<br />
am Anfang war.“ Faulstich, S. 99.<br />
64 Vgl. zu dieser Metapher: Baudry, Jean-Louis: Das Dispositiv: Metapsychologische Betrachtungen des<br />
Realitätseindrucks. In: Pias, Claus, Vogl, Joseph, Engell, Lorenz: Kursbuch Medien. Die maßgeblichen Theorien<br />
von Brecht bis Baudrillard. Stuttgart 1999.
1. Einleitung<br />
1<br />
Unter der Vielfalt der menschlichen Emotionen ist die ‚<strong>Trauer</strong>’ zwar die schmerzhafteste,<br />
gleichzeitig aber auch die, die am meisten Potential für die Entwicklung zu einer ‚reifen’<br />
Persönlichkeit birgt. Trotz dieser Tatsache ist die <strong>Trauer</strong>, als seelische Reaktion auf einen<br />
erlittenen Verlust, an den gesellschaftlichen und medialen Rand gedrängt. Häufig löst der Tod<br />
einer Person be<strong>im</strong> Zuschauer eines <strong>Film</strong>es nicht etwa Betroffenheit, <strong>Trauer</strong> oder Wut aus,<br />
sondern dient als Auslöser der Handlung <strong>im</strong> Kr<strong>im</strong>i, in dem der narrative Strang der<br />
Aufklärung des Verbrechens, selten aber die <strong>Trauer</strong> der Hinterbliebenen in den Mittelpunkt<br />
filmischen Erzählens rückt. Die Aufarbeitung der <strong>Trauer</strong> findet <strong>im</strong> Unterhaltungskino kaum statt.<br />
Die gestalterische Auseinandersetzung mit diesem Thema wird meist in unabhängig produzierten<br />
<strong>Film</strong>en gesucht. Der <strong>Film</strong> „Das Z<strong>im</strong>mer meines Sohnes“ 1 des italienischen Regisseurs Nanni<br />
Moretti stellt ein solches Werk dar. Es soll <strong>im</strong> Folgenden hinsichtlich des dramaturgischen<br />
Aufbaus und der Darstellung der <strong>Trauer</strong> der Hauptfigur analysiert werden. Dies geschieht,<br />
nachdem mit einem vorangestellten Teil, der die Darstellung der <strong>Trauer</strong> aus Sicht der<br />
Wissenschaft sowie die Beschreibung des historisch-gesellschaftlichen Wandels <strong>im</strong> Umgang mit<br />
dieser Emotion nachzeichnet, die theoretischen Grundlagen gelegt wurden. Bei der<br />
Figurenanalyse kommt das von Verena Kast formulierte Phasenmodell der <strong>Trauer</strong> 2 zur<br />
Anwendung. Auf eine Analyse der anderen Figuren und auf Bauformen wie Schnitt und Musik<br />
kann aufgrund des beschränkten Umfangs dieser Arbeit nur am Rande eingegangen werden.<br />
2. Hauptteil<br />
2.1. <strong>Trauer</strong>: Emotion und Ausdruck<br />
Das Wort „<strong>Trauer</strong>“ hat seine etymologischen Wurzeln <strong>im</strong> althochdeutschen Wort „truren“,<br />
das mit „den Kopf sinken lassen“ oder „die Augen niederschlagen“ 3 übersetzt werden kann.<br />
Die Übersetzungen bezeichnen zwei für die <strong>Trauer</strong> typische körperliche Ausdruckweisen und<br />
stellen dabei eine anthropologische Konstante der Physiognomie dar: „Dieses spezifisch<br />
traurige Gesicht ist bei Vertretern aller Kulturen gleich und wird auch auf Photographien<br />
transkulturell einer traurigen St<strong>im</strong>mung richtig zugeordnet. Ein weiterer Ausdruck von <strong>Trauer</strong><br />
1 Das Z<strong>im</strong>mer meines Sohnes. Italien 2001. Produktion: Sacher <strong>Film</strong>/Bac <strong>Film</strong>s/StudioCanal/Rai Cinema/Tele+.<br />
Produzent: Angelo Barbagallo, Nanni Moretti. Regie: Nanni Moretti. Buch: Linda Ferri, Nanni Moretti, Heidrun<br />
Schleef. Kamera: Giuseppe Lanci Musik: Nicola Piovani Schnitt: Esmeralda Calabria. Darsteller: Nanni Moretti<br />
(Giovanni), Laura Morante (Paola), Jasmine Trinca (Irene), Giuseppe Sanfelice (Andrea), Silvio Orlando (Oscar)<br />
Länge: 99 Min.<br />
2 Kast, Verena: <strong>Trauer</strong>n. Phasen und Chancen des psychischen Prozesses. Berlin 1982.<br />
3 Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 24. durchges. und erw. Aufl. von Elmar<br />
Seebold. Berlin 2002, S. 926.
2<br />
ist eine eingesunkene, tonuslose Haltung mit hängenden Schultern, bei Naturvölkern oft ein<br />
Zusammenkauern auf dem Boden.“ 4<br />
2.2. Sigmund Freud und die <strong>Trauer</strong><br />
Während die Melancholie schon in der griechischen Antike Gegenstand der Beschäftigung in<br />
Philosophie und Poesie 5 war, ist die Untersuchung der <strong>Trauer</strong> eine neuzeitliche Erscheinung.<br />
Eine der ersten wissenschaftlich-systematischen Abhandlungen über dieses Gefühl stellt die<br />
1917 erschiene Schrift „<strong>Trauer</strong> und Melancholie“ 6 von Sigmund Freud dar. Hierin entwirft er<br />
ein psychoanalytisches Modell der <strong>Trauer</strong>reaktion, das sich bis heute als grundlegend für die<br />
weitere Theoriebildung erwiesen hat. ‚<strong>Trauer</strong>’ ist nach Freud „regelmäßig die Reaktion auf<br />
den Verlust einer geliebten Person oder einer an ihre Stelle gerückten Abstraktion wie<br />
Vaterland, Freiheit, ein Ideal usw.“ 7 Im Unterschied zur pathologisierten Melancholie<br />
erscheint die <strong>Trauer</strong> als gesunde emotionale Reaktion auf einen erlittenen Verlust. Sie „enthält<br />
den Verlust des Interesses für die Außenwelt (...), den Verlust der Fähigkeit, irgend ein neues<br />
Liebesobjekt zu wählen (...), die Abwendung von jeder Leistung, die nicht mit dem Andenken<br />
des Verstorbenen in Beziehung steht“ 8 . Ihre Aufgabe sei es, das Ich mit dem geschehenen<br />
Verlust zu konfrontieren, so dass es diesem in einem aktiven Prozess möglich wird, seine<br />
libidinösen Energien langsam vom verlorenen Liebesobjekt ab zu ziehen um sich danach<br />
wieder der Realität bzw. neuen Bindungen zuwenden zu können. Dieser als ‚<strong>Trauer</strong>arbeit’<br />
bezeichnete Prozess sei zwar mit Schmerzen verbunden, doch notwendig, denn „tatsächlich<br />
wird aber das Ich nach der Vollendung der <strong>Trauer</strong>arbeit wieder frei und ungehemmt.“ 9 Die<br />
<strong>Trauer</strong>arbeit gilt als abgeschlossen, wenn „das verlorene Objekt nirgends mehr unwillkürlich<br />
erwartet wird und wenn auch die Vorstellung und Erinnerung an das Objekt keinen<br />
<strong>Trauer</strong>effekt, keine Tränen mehr auslöst.“ 10<br />
4<br />
Schleidt, Margret: Humanethologische Aspekte der <strong>Trauer</strong>. In: Ochsmann, Randolph; Howe, Jürgen (Hg.):<br />
<strong>Trauer</strong> – Ontologische Konfrontation. Bericht über die 2. Tagung zur Thanato-Psychologie vom 23.- 24.<br />
November 1989 in Osnabrück. Stuttgart 1991, S. 13.<br />
5<br />
Vgl. Klibanski, Raymon: Panofsky, Erwin; Saxl, Franz: Saturn und Melancholie. 2. Aufl., Frankfurt/M. 1990.<br />
Auch: Haverkamp, Anselm: Laub voll <strong>Trauer</strong>. Hölderlins späte Allegorie. München 1991.<br />
Sowie: Bohrer, Karl Heinz: Der Abschied: Theorie der <strong>Trauer</strong>. Frankfurt/M. 1996.<br />
6<br />
Freud, Sigmund: <strong>Trauer</strong> und Melancholie. In: ders.: Studienausgabe. Hgg. von Mitscherlich, Alexander;<br />
Richards, Angela; Strachey, James. Bd. III. Frankfurt/M. 1975, S. 197-212.<br />
7<br />
Ders. S. 212.<br />
8<br />
Ders. S. 198.<br />
9<br />
Ders. S. 199.<br />
10<br />
Tomann, Walter: <strong>Trauer</strong>. In: Lexikon der Psychologie. Hgg von Arnold, Wilhelm; Eyseneck, Jürgen; Meili,<br />
Richard. 11. Auflage, Bd. III. Freiburg 1980, S. 2350f.<br />
Vgl. hierzu: Turnhe<strong>im</strong>, Michael: <strong>Trauer</strong>, Melancholie und Psychoanalyse. In: Zarnegin: Kathy: Buchstäblich<br />
traurig. Basel 2004, S. 161-173: Anhand eines Briefs, den Freud 1929 an Ludwig Binswanger, dessen Sohn<br />
gestorben war, schrieb, stellt Turnhe<strong>im</strong> die These auf, dass es „bei Freud zwei Sichtweisen der <strong>Trauer</strong>“ (ebd. S.<br />
161) gegeben habe. Während die klassisch gewordene, in „<strong>Trauer</strong> und Melancholie“ beschriebene Reaktion mit
2.3. Kollektive <strong>Trauer</strong><br />
3<br />
Freud spricht ausdrücklich davon, dass <strong>Trauer</strong>reaktionen nicht nur durch den Verlust von<br />
geliebten Menschen, sondern auch durch den Verlust abstrakterer Dinge und Ideen<br />
hervorgerufen werden. So best<strong>im</strong>mt Svetlana Boym beispielsweise das mit der <strong>Trauer</strong><br />
verwandte Gefühl der Nostalgie als eine nur durch He<strong>im</strong>kehr erfüllbare Manie des<br />
Verlangens, die mit dem Verlust der He<strong>im</strong>at bzw. der Abwesenheit von dieser einhergeht:<br />
“Nostalgia (from nostos – return home, and algia – longing) is a longing for a home that no<br />
longer exists or has never existed. Nostalgia is a sent<strong>im</strong>ent of loss and displacement.” 11 Der<br />
Begriff ‚He<strong>im</strong>at’, als ein Begriff, der nicht nur ein best<strong>im</strong>mtes geographisches<br />
Herkunftsgebiet eines einzelnen Menschen umfasst, sondern auch eine ideelle Gemeinschaft<br />
verschiedener Menschen einschließt, verweist beispielhaft darauf, dass <strong>Trauer</strong> nicht nur auf<br />
individueller, sondern auch auf kollektiver Ebene stattfinden kann. Auslöser für kollektive<br />
<strong>Trauer</strong> können beispielsweise durch Kriege oder Terroranschläge erlittene gesellschaftliche<br />
Traumata sein. Ein Weg, die kollektive <strong>Trauer</strong> zu verarbeiten, sind zentral ausgerichtete<br />
Gedenkfeiern, bei denen die Erinnerung an die Vergangenheit eine große Rolle spielt, 12 da sie<br />
es durch ein symbolisches Wiederholen der traumatischen Situation ermöglicht, diese <strong>im</strong> Sinn<br />
einer Integration in das kollektive Selbstverständnis einer Gemeinschaft zu verarbeiten.<br />
2.4. <strong>Trauer</strong> <strong>im</strong> kulturellen Wandel<br />
Zu den schmerzvollsten Erfahrungen <strong>im</strong> Leben eines einzelnen Menschen gehört der Verlust<br />
einer oder mehrerer nahe stehenden Personen durch deren Tod. 13 Diesem unkontrollierbar<br />
stattfindenden Ereignis wurde seit Urzeiten in den meisten Kulturen mit Todes- bzw.<br />
Begräbnis- und <strong>Trauer</strong>ritualen begegnet. So weisen bereits Skelettfunde aus der älteren<br />
Steinzeit (9000-5000 v. Chr.) Spuren ritueller Verstümmelungen auf und sind insofern<br />
Zeichen eines bewussten Umgangs mit dem Tod. 14 In seinem mentalitätsgeschichtlichen<br />
einer vollständigen Loslösung der Libido vom Objekt endete, schreibt Freud zwölf Jahre später, dass „alles, was<br />
an die Stelle des geliebten Wesens rückt, doch etwas anderes bleibt“ (zit. nach Turnhe<strong>im</strong>, S. 166).<br />
11 Boym, Svetlana: The Future of Nostalgia. New York 2001, S. XIII.<br />
Vgl. Hierzu auch: Davis, Fred: Yearning for Yesterday. A Sociology of Nostalgia. New York 1979.<br />
12 Vgl. hierzu die Theorie des ‚kollektiven Gedächtnisses’, wie sie von dem französischen Soziologen Maurice<br />
Halbwachs in den 1920er Jahren geprägt wurde, in: Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis. Stuttgart<br />
1967, sowie dessen Weiterentwicklung zum Konzept des ‚kulturellen Gedächtnisses’ durch den Ägyptologen Jan<br />
Assmann in: Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung Identität in frühen Hochkulturen.<br />
München 1992.<br />
13 Auf das Problem der Definition des Todesbegriffs kann in dieser Arbeit nicht weiter eingegangen werden,<br />
weshalb die aus dem medizinischen Bereich stammende Gleichsetzung des Todes mit dem Hirntod übernommen<br />
wird. Zur Problematik vgl.: Scherer, Georg: Das Problem des Todes in der Philosophie. Darmstadt 1979.<br />
14 Vgl.: Krumrey, Antje: Sterberituale und Todeszeremonien. Ihr Wandel in der Zeit. Frankfurt/O. 1997.
4<br />
Werk „Studien zur Geschichte des Todes <strong>im</strong> Abendland“ 15 verfolgt Phillipe Ariès die sich <strong>im</strong><br />
Laufe der Zeit ändernden Einstellungen zum Tod <strong>im</strong> westlichen Kulturkreis. Dabei macht er<br />
<strong>im</strong> 19. Jahrhundert einen Wandel aus: vom Tod, als einem bis dahin akzeptierten und<br />
integrierten Bestandteil des Lebens, hin zu einer Einstellung, die den Tod anderer nicht mehr<br />
so bereitwillig hinn<strong>im</strong>mt. Die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung hat inzwischen dazu<br />
geführt, dass sich der Schauplatz des Sterbens (wie <strong>im</strong> Übrigen auch der des anderen Pols, der<br />
Geburt) <strong>im</strong> 20. Jahrhundert hinter die Mauern der Krankenhäuser verlagert hat. Sterben und<br />
Tod finden nun nicht mehr in einem gesellschaftlichen und familiären Alltag statt, sondern<br />
vollziehen sich von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt in darauf spezialisierten<br />
Institutionen. Fortschritte in verschiedenen Bereichen der kulturellen Entwicklung (Agrar-,<br />
Wirtschafts-, Sozialsektor etc.) und lebensverlängernde Maßnahmen haben dazu geführt, dass<br />
der Prozess des Sterbens sowohl <strong>im</strong>mer später <strong>im</strong> Leben eines Menschen beginnt als auch<br />
länger dauert. Dieses von Gerhard Schmied als „langes Sterben“ und „seltenes Sterben“ 16<br />
bezeichnete Charakteristikum des Sterbens in der Moderne hat zur Folge, dass in der<br />
westlichen Gesellschaft die Angst vor dem Tod nicht stets präsent ist. „Die Indifferenz<br />
gegenüber dem Tod wird dann aufgebrochen, wenn jemand mit dem Tod direkt konfrontiert<br />
wird, sei dies in der Form, dass er den Tod eines nahen Angehörigen miterlebt oder dass er<br />
selbst längere Zeit in Lebensgefahr schwebt.“ 17 Der gesellschaftlichen Verdrängung des<br />
Todes entspricht dann häufig eine weitgehende Unsicherheit, wie mit dem Phänomen<br />
umgegangen werden soll, da eine „ars moriendi“ 18 fehlt. Weiter hat die gesellschaftliche<br />
Ausdifferenzierung und Säkularisierung <strong>im</strong> Verlauf des Zivilisationsprozesses bewirkt, dass<br />
der Rückhalt durch gesellschaftliche Bezugssysteme schwächer geworden ist. „Ein<br />
Informalisierungsschub <strong>im</strong> Rahmen dieses Prozesses hat dazu geführt, dass eine ganze Reihe<br />
herkömmlicher Verhaltensroutinen, darunter auch der Gebrauch ritueller Floskeln, in den<br />
Krisensituationen des menschlichen Lebens für viele Menschen suspekt und zum Teil<br />
peinlich geworden ist.“ 19<br />
15 Ariès, Philippe: Studien zur Geschichte des Todes <strong>im</strong> Abendland. München 1976. Vgl. hierzu auch den<br />
Beitrag von Thomas Macho „Tod und <strong>Trauer</strong> <strong>im</strong> kulturwissenschaftlichen Vergleich“ in: Assmann, Jan: Der Tod<br />
als Thema der Kulturtheorie. Todesbilder und Totenriten <strong>im</strong> Alten Ägypten. Frankfurt/M. 2000, S. 89-112.<br />
16 Schmied, Gerhard: Sterben und <strong>Trauer</strong>n in der modernen Gesellschaft. Opladen 1985.<br />
17 Schmied, S. 79.<br />
18 Vgl. hierzu: Laager Jacques (Hg.): Ars moriendi. Die Kunst, gut zu leben und gut zu sterben. Texte von Cicero<br />
bis Luther. Zürich 1996.<br />
19 Elias, Norbert: Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen. 7. Aufl. Frankfurt/M. 1991, S. 45.<br />
Vgl. hierzu auch Mischke, Marianne: Der Umgang mit dem Tod. Vom Wandel in der abendländischen<br />
Geschichte. Berlin 1996, S. 15: „Wenn die Menschen in der heutigen Gesellschaft überhaupt von Sterben und<br />
Tod sprechen wollen, dann müssen sie nicht nur das kollektive Tabu, ihre eigenen Ängste und<br />
Verdrängungstendenzen überwinden, sondern auch ihr sprachliches Unvermögen, das in dem Mangel an in<br />
Sprache zurückfließende Erfahrung begründet ist.“
2.5. <strong>Trauer</strong>modelle<br />
5<br />
Seit Ende der 1960er Jahre wurden zahlreiche wissenschaftliche und<br />
populärwissenschaftliche Arbeiten über Tod, Sterben und <strong>Trauer</strong> veröffentlicht, wobei in<br />
Bezug auf die <strong>Trauer</strong> sowohl Phasenmodelle als auch zielorientierte Modelle entwickelt<br />
wurden. Elisabeth Kübler-Ross formulierte, angeregt durch ihre Arbeit mit Sterbenden, ein<br />
Phasenmodell des Sterbeprozesses, das bald auch auf den Prozess des <strong>Trauer</strong>ns übertragen<br />
wurde. 20 Hierbei gilt es zu beachten, dass die Phasen weder zeitlich terminiert sind noch in<br />
chronologisch-singulärer Reihenfolge auftreten müssen, sondern auch in unterschiedlicher<br />
Reihenfolge mehrmals und unter Auslassung best<strong>im</strong>mter Stadien erscheinen können und<br />
somit weniger als Regeln denn als häufig beobachtete Verhaltensweisen zu betrachten sind.<br />
Den Beginn des <strong>Trauer</strong>prozesses, dem die <strong>Trauer</strong> um einen geliebten Menschen zu Grunde<br />
liegt, bildet der Verlust dieses geliebten Menschen. Das Ende der <strong>Trauer</strong> ist gekennzeichnet<br />
durch die erfolgreiche Integrierung der Verlusterfahrung und damit einhergehend durch eine<br />
gelungene Neuordnung des Lebensgefüges der Hinterbliebenen. Der schwer wiegende<br />
Einschnitt in die Biografie, den der Tod eines nahe stehenden Menschen bildet, hat zur Folge,<br />
dass bisherige Maßstäbe und Bezugssysteme an Bestand verlieren und neu konzipiert werden<br />
müssen. An die trauernde Person stellt jede Phase best<strong>im</strong>mte Anforderungen, die es in diesem<br />
Sinn zu bewältigen gilt, um einen gesunden, letzten Endes abgeschlossenen <strong>Trauer</strong>prozess zu<br />
gewährleisten.<br />
2.5.1. Die vier Phasen der <strong>Trauer</strong>arbeit nach Verena Kast<br />
Die Schweizer Psychologin Verena Kast entwickelte durch Beobachtung von <strong>Trauer</strong>nden und<br />
deren Träume ein vier Phasen umfassendes Modell der <strong>Trauer</strong>arbeit.<br />
2.5.1.1. Die erste Phase des Nicht-Wahrhaben-Wollens<br />
Die erste Phase, die direkt auf den Verlust folgt, ist meist geprägt von einer sofortigen<br />
Verdrängung des auslösenden Ereignisses und einer schockartigen Empfindungslosigkeit.<br />
Häufig treten dabei direkte körperliche Schockreaktionen wie schneller Puls, Schwitzen und<br />
Übelkeit auf. „Die Empfindungslosigkeit dient nach Kast nicht nur der Verdrängung des<br />
Verlusterlebnisses, sondern auch als Schutz vor der Überwältigung durch ein Gefühl, mit dem<br />
man nicht umgehen kann. Kast versteht die verschiedenen Gefühlsausbrüche <strong>im</strong><br />
<strong>Trauer</strong>prozess als ‚Ausfaltung’ dieses ersten Gefühls, das sich unmittelbar nach dem Tod<br />
20 Vgl. hierzu: Kübler – Ross, Elisabeth: Interviews mit Sterbenden. Stuttgart 1971.<br />
Sowie Spiegl, Yorick: Der Prozess des <strong>Trauer</strong>ns. Analyse und Beratung. Mainz 1973. Sowie: Bowlby, John:<br />
Verlust, <strong>Trauer</strong> und Depression. Frankfurt/M. 1983. Sowie: Worden, J. William: Beratung und Therapie in<br />
<strong>Trauer</strong>fällen. Ein Handbuch. Stuttgart 1987.
6<br />
eines geliebten Menschen einstellt.“ 21 Ein erstes Teilziel des <strong>Trauer</strong>prozesses ist erreicht,<br />
wenn das Akzeptieren der Unwiderruflichkeit des Geschehens den Abschied ermöglicht. Der<br />
bisherige Bezug zur äußeren Person wird internalisiert, was als Chance zur Individuation des<br />
Hinterbliebenen gesehen werden kann: „Gleichzeitig integriert sich emotionell etwas<br />
bewusster in die eigene Psyche, was den <strong>Trauer</strong>nden an diesen Menschen gebunden hat, nun<br />
als eigenes Erlebnis, nicht mehr raubbar, auch nicht durch den Tod.“ 22<br />
2.5.1.2. Die zweite Phase der aufbrechenden Emotionen<br />
Das Erkennen des Ausmaßes des Verlustes löst ein Chaos intensiver Gefühle aus. Abhängig<br />
von der Persönlichkeit des Betroffenen mischen sich Angst, Wut und Verzweiflung mit<br />
Sehnsucht und Liebe. Da die Ohnmacht des Menschen gegenüber dem Tod in dieser Phase<br />
selten eingesehen werden kann, kommt es häufig zu Schuldgefühlen oder Zorn gegenüber<br />
Dritten. „Das Bemühen, einen Schuldigen für den Tod des Verstorbenen zu finden, deutet<br />
nach Kast darauf hin, dass wir das Gefühl der Ohnmacht nicht wahrhaben wollen und uns<br />
durch die Suche nach dem Schuldigen vorspiegeln wollen, dass wir so hilflos eigentlich doch<br />
nicht sind.“ 23<br />
2.5.1.3. Die dritte Phase des Suchens und Sich-Trennens<br />
Als weitere Reaktion folgt auf den Verlust eine Phase des Suchens. Ge- bzw. aufgesucht<br />
werden Orte und Tätigkeiten, die in enger Verbindung mit dem Verstorbenen stehen. Das<br />
Suchen findet aber auch in inneren Zwiegesprächen seinen Ausdruck. Sinn dieses Verhaltens<br />
ist es die Beziehung zum Verstorbenen als Bestandteil in die eigene Psyche zu integrieren, so<br />
dass eine Loslösung stattfinden kann. „Dieses Suchen – Finden – Trennen erlaubt es, sich mit<br />
dem Partner auseinander zu setzen, etwas in sich zu entdecken, was mit dem verstorbenen<br />
Menschen zusammenhängt, und dennoch zu spüren, dass mit den alten Lebensumständen<br />
nicht mehr zu rechnen ist, dass das eigene Welt- und Selbstverständnis umgebaut werden<br />
muss.“ 24 Wichtig für eine erfolgreiche <strong>Trauer</strong>arbeit ist, dass die Erlebnisse mit dem<br />
Verstorbenen zur Sprache gebracht werden können. Doch „obwohl die Unterstützung der<br />
Umwelt für die Bewältigung der einzelnen <strong>Trauer</strong>phasen sehr wesentlich ist, darf nach Kast<br />
jedoch nicht außer acht gelassen werden, dass die durch den Tod hervorgerufene Handlung<br />
letztlich von jedem Betroffenen selbst getragen werden muss.“ 25<br />
21 Iskenius-Emmler, Hildegard: Psychologische Aspekte von Tod und <strong>Trauer</strong> bei Kindern und Jugendlichen.<br />
Frankfurt/M. 1988, S. 98f.<br />
22 Kast, S. 46.<br />
23 Iskenius-Emmler, S. 99.<br />
24 Kast, S. 70.<br />
25 Iskenius-Emmler, S. 102.
2.5.1.4. Die vierte Phase des neuen Selbst- und Weltbezugs<br />
7<br />
Nach dem Bewältigen der oben genannten Schritte ist der <strong>Trauer</strong>nde in der Lage, den Verlust<br />
der geliebten Person vollständig zu akzeptieren. Ruhe und Frieden kehren in die Seele, in der<br />
der Verstorbene als innerer Begleiter seinen Platz gefunden hat, zurück. Das Gefühl für die<br />
eigene Person und Realität pendelt sich ein, so dass es dem <strong>Trauer</strong>nden wieder möglich wird,<br />
das eigene Leben aktiv zu gestalten. Im Idealfall sind die Erfahrung des Todes und das<br />
Wissen der Möglichkeit des Überstehens der <strong>Trauer</strong> auf positive Weise in das neue<br />
Selbstbewusstsein integriert.<br />
2.6. <strong>Trauer</strong> nach dem Tod eines Kindes<br />
Der Tod eines geliebten Menschen bedeutet eine schwere Zäsur <strong>im</strong> Leben der<br />
Hinterbliebenen. Erfolg und zeitlicher Rahmen des <strong>Trauer</strong>prozesses sind dabei von<br />
verschiedenen Faktoren abhängig. 26 Der Tod eines Kindes innerhalb einer Familie stellt die<br />
Hinterbliebenen vor besondere Herausforderungen, denn „in der Familie als der Int<strong>im</strong>gruppe<br />
gewinnen Gefühle – solche der Zuneigung wie der Abneigung - eine Bedeutung wie in keiner<br />
anderen Lebenssphäre. Was den einzelnen zutiefst anrührt ist entsprechend das Sterben von<br />
Kindern, Gatten, Eltern, Großeltern.“ 27 Während der Tod eines Familienmitglieds der älteren<br />
Generation noch <strong>im</strong> Sinnkontext einer abgeschlossenen Lebenserfahrung gedeutet werden<br />
kann, stellt der Verlust eines Kindes eine Zerstörung der Generationenfolge dar, so dass<br />
solche Sinnzuschreibungen nicht mehr möglich sind.<br />
Hierdurch gestaltet sich der <strong>Trauer</strong>prozess besonders schwierig und schmerzlich. Während<br />
der Tod eines älteren Menschen als Verlust von gelebter Vergangenheit und Gegenwart<br />
aufgefasst werden kann, erscheint der Verlust eines Kindes besonders für die Eltern auch als<br />
Verlust der Zukunft. „Gesellschaftliche und persönliche Vorstellungen von Sinn und Fülle<br />
eines Lebens zerbrechen am Tod eines Kindes, denn gemessen an den gängigen Maßstäben<br />
lässt sich eine positive Lebensbilanz schwer ziehen.“ 28 John Archer führt den besonderen<br />
Schmerz in diesem Sinn auf biologische Gründe zurück: „We would also predict a high<br />
intensity of grief under these circumstances from the Darwinian perspective in view of the<br />
relative reproductive values of older parents and their offspring. Parent’s own reproductive<br />
value declines throughout adult life, and helping their adult offspring and grandchildren<br />
26 Vgl. hierzu Bowlby, S. 224ff. Er best<strong>im</strong>mt fünf Hauptpunkte: 1. Identität und Rolle der verlorenen Person. 2.<br />
Alter und Geschlecht der hinterbliebenen Person. 3. Ursachen und Umstände des Verlusts. 4. soziale und<br />
psychologische Umstände des Verlusts. 5. Persönlichkeit des Hinterbliebenen mit besonderem Bezug auf seine<br />
Fähigkeiten zur Herstellung von Liebesbeziehungen und zur Reaktion auf belastende Situationen.<br />
27 Schmied, S. 136.<br />
28 Holzschuh, Wolfgang: Die <strong>Trauer</strong> der Eltern bei Verlust eines Kindes. Eine praktisch-theologische<br />
Untersuchung. Würzburg 1998, S. 49.
8<br />
becomes the main vehicle for inclusive fitness open to them. Loss of an offspring at this t<strong>im</strong>e<br />
occurs after years of parental investment at a t<strong>im</strong>e when they generally cannot be replaced.” 29<br />
Der Tod innerhalb der Familie stellt aber auch für das Sozialsystem Familie eine erhebliche<br />
Veränderung dar. „Man kann sich das vorstellen wie bei einem Mobile, bei dem eine Figur<br />
abgeschnitten wird. Es wird in sich instabil und alle Figuren verändern ihre Position. Für<br />
jedes Mitglied des Familiensystems steht eine Neuordnung an.“ 30 Im Gefüge der sozialen<br />
Rollen, die jedes Mitglied erfüllt, kann es ebenfalls zu Verlusten kommen, wenn<br />
beispielsweise der Ehepartner seine Rolle als Vater verliert. 31<br />
Die Schwierigkeit der familiären <strong>Trauer</strong> hat ihren Ursprung in der Tatsache, dass Vater,<br />
Mutter und Geschwister jeweils individuell, gleichzeitig aber auch gemeinsam trauern, was<br />
nicht selten zu Spannungen führt. „Für viele Eltern ist das getrennte <strong>Trauer</strong>n der Normalfall.<br />
Manche weinen allein <strong>im</strong> Auto, manche <strong>im</strong> Bett, manche hinter geschlossenen Bürotüren.<br />
(…) Doch wegen der Verschiedenheit des <strong>Trauer</strong>ns haben es Eheleute oft schwer, Hilfe<br />
voneinander zu bekommen“. 32<br />
Der Verlust eines Kindes stellt sich für jede Komponente des Familiensystems anders und<br />
mehrfach dar. „Verliert ein Kind ein Geschwister, kommt es zu Mehrfachverlusten. Die Eltern<br />
sind meist nicht mehr in der Lage, dem lebenden Kind genügend Aufmerksamkeit zu geben,<br />
da sie mit der eigenen <strong>Trauer</strong> beschäftigt sind. Das lebende Kind verliert also nicht nur ein<br />
Geschwister, sondern auch einen Teil der elterlichen Zuwendung.“ 33 Nach außen verliert die<br />
Familie den Status einer ‚normalen’ Familie, was soziale Beziehungen zur Umwelt erschwert.<br />
Es sind diese Faktoren, die die <strong>Trauer</strong>, die auf den plötzlichen Tod eines Kindes folgt,<br />
besonders stark und schmerzlich werden lassen. Der Tod geschieht unzeitig, unerwartet und<br />
trifft die Hinterbliebenen unvorbereitet. Zentrale Aspekte des Sterbens zeigen sich hier<br />
konzentriert und in extremer Weise. Ein filmisches Kunstwerk, das sich mit dem Thema ‚Tod<br />
eines Kindes’ auseinandersetzt, ist das Drama „Das Z<strong>im</strong>mer meines Sohnes“ von Nanni<br />
Moretti.<br />
29<br />
Archer, John: The Nature of Grief. The Evolution and Psychology of Reactions to Loss. London 1999, S.<br />
201f.<br />
30<br />
Hirschberg, Corinna: In: Brennpunkt Gemeinde 3/2004. Impulse für missionarische Verkündigung und<br />
Gemeindeaufbau. Studienbrief D 21: <strong>Trauer</strong>nde Kinder – wahrnehmen, verstehen und begleiten. Stuttgart 2004,<br />
S. 5.<br />
31<br />
Auf die geschlechtsspezifischen Unterschiede kann hier nicht weiter eingegangen werden. Es lässt sich aber<br />
sagen, dass Frauen das Zeigen von <strong>Trauer</strong>reaktionen gesellschaftlich mehr zugestanden wird als Männern. Vgl.<br />
Bowlby, S. 138. Vgl. auch die griechische Tradition der Myroloja-Klagegesänge, die von speziell<br />
ausgebildeteten ‚Klageweibern’ ausgeübt wird. In: Canacakis, Jorgos: Ich sehe deine Träne. <strong>Trauer</strong>n, Klagen,<br />
Leben können. Stuttgart 1993, S. 88-99.<br />
32<br />
Rothman, Juliet Cassuto: Wenn ein Kind gestorben ist. <strong>Trauer</strong>begleiter für verwaiste Eltern. Freiburg/Breisgau<br />
1998.<br />
33 Hirschberg, S. 5 f.
2.7. <strong>Trauer</strong> <strong>im</strong> <strong>Film</strong>: Das Z<strong>im</strong>mer meines Sohnes<br />
2.7.1. Der Regisseur Nanni Moretti<br />
9<br />
Nanni Moretti, der 1953 in Bruncio, Italien, geboren wurde, ist ein italienischer <strong>Film</strong>emacher,<br />
Produzent und Schauspieler. Er startete seine professionelle Karriere mit dem <strong>Film</strong> „Ecce<br />
Bombo“ (dt. Der Nichtstuer) <strong>im</strong> Jahr 1978. „Die <strong>im</strong>plizite Thematik des <strong>Film</strong>s - die Suche<br />
eines eigenen Standorts innerhalb der Linken - kehrt in späteren <strong>Film</strong>en in veränderter Form<br />
wieder. Einfallsreiche, witzige, widersinnige Dialoge, offene Kritik an der Gesellschaft und<br />
die bewusste Abkehr von filmischen Konventionen - Moretti hat seinen Stil und seine<br />
Sprache (die Leichtigkeit, der Witz, das Absurde), sein Lebensthema (die Linke, die Politik),<br />
den Schauplatz vieler seiner <strong>Film</strong>e (Rom) (…) bereits gefunden.“ 34 Mit „Sogni d’oro“ (dt.<br />
Goldene Träume) gewann Moretti 1981 den ‚Goldenen Löwen’ in Venedig. Ein<br />
internationaler Erfolg gelang ihm 1994 mit „Caro diario“ (dt. Liebes Tagebuch), einem <strong>Film</strong>,<br />
der sich aus drei autobiographisch angehauchten Episoden zusammensetzt und in dem Moretti<br />
erstmals sich selbst und unter seinem eigenen Namen spielt. „Freeing h<strong>im</strong>self from his past<br />
personae (played by h<strong>im</strong>self, in this film as in others, under the name Michele Apicella), he<br />
prescribes his ‚cure’ through movement in t<strong>im</strong>e, through abandoning past formulas and<br />
conventions, looking for a cinema of body and brain to come into being.” 35 Auf dem<br />
<strong>Film</strong>festival in Cannes gewann dieser <strong>Film</strong> die Auszeichnung für die beste Regie. Der <strong>Film</strong><br />
„Aprile“, der 1998 in die Kinos kam, zeigt die Geschichte eines Regisseurs, der sich<br />
entscheiden muss, ob er einen Dokumentarfilm über die Linke in Italien oder ein Musical <strong>im</strong><br />
Stil der 50er-Jahre dreht. Moretti spielt in seinen <strong>Film</strong>en fast <strong>im</strong>mer die Hauptrolle, schreibt<br />
die Drehbücher größtenteils selbst und ist auch als Produzent für den <strong>Film</strong> verantwortlich,<br />
„Moretti ist ein Autorenfilmer <strong>im</strong> klassischen Sinne.“ 36 Mit dem in Ancona entstandenen<br />
Familiendrama „La stanza del figlio“ (dt. Das Z<strong>im</strong>mer meines Sohnes; 2001) konnte er seinen<br />
bisher größten Publikumserfolg feiern. Im Jahr 2006 kam der <strong>Film</strong> „Il Ca<strong>im</strong>ano“ (dt. Der<br />
Ka<strong>im</strong>an) zwei Wochen vor den italienischen Parlamentswahlen in die italienischen Kinos.<br />
Moretti spielt hier nicht sich selbst, sondern die Rolle des Silvio Berlusconi. Der <strong>Film</strong><br />
schildert, „wie es sich <strong>im</strong> ganz normal verrückten Italien der Berlusconi-Ära lebt und<br />
34 http://www.italienwelten.de/Nanni_Moretti.317.0.html 19.05.06<br />
35 Landy, Marcia: Italian <strong>Film</strong>. Cambridge 2000, S. 375.<br />
36 Bock, Hans-Michael (Hg.): Lexikon der Regisseure und Kameraleute. Reinbek bei Hamburg, 1999, S. 332f.<br />
Vgl. auch: Stiglegger, Marcus (Hg.): Splitter <strong>im</strong> Gewebe. <strong>Film</strong>emacher zwischen Autorenfilm und<br />
Mainstreamkino. Mainz 2000. 1986 schafft es Nanni Moretti auf das Titelbild der renommierten französischen<br />
Fachzeitschrift „Cahiers du Cinéma“, in der das Konzept des „Auteurs“ von François Truffaut, Claude Chabrol,<br />
Jean-Luc Godard u. a. in den 1950er Jahren entwickelt wurde. Vgl. hierzu: Moninger, Markus: <strong>Film</strong>kritik in der<br />
Krise. Die "politique des auteurs". Tübingen 1992.
10<br />
arbeitet.“ 37 Der <strong>Film</strong> gewann insgesamt 7 ‚David de Donatello’- Auszeichnungen. Diese<br />
Trophäe stellt den höchsten der italienischen <strong>Film</strong>preise dar. Für „Das Z<strong>im</strong>mer meines<br />
Sohnes“ hatte Moretti 2001 drei ‚Donatellos’ und die ‚Goldene Palme’ bei den<br />
<strong>Film</strong>festspielen in Cannes erhalten. Er selbst charakterisiert die Leitfragen seines <strong>Film</strong>s in<br />
einem Interview folgendermaßen: „Wie reagiert man auf den Tod einer Person, die man liebt?<br />
Wie lebt es sich, wenn jemand aus der näheren Umgebung stirbt?“ 38<br />
2.7.2. Sequenzplan<br />
Ein Sequenzplan von „Das Z<strong>im</strong>mer meines Sohnes“ befindet sich <strong>im</strong> Anhang auf Tabelle 1.<br />
Der Plan ermöglicht einen leichteren Überblick über die Gesamthandlung und die einzelnen<br />
Handlungsabschnitte.<br />
2.7.3. Analyse des dramaturgischen Aufbaus<br />
2.7.3.1. Exposition (0:00:00 – 0:34:03)<br />
„Der Anfang schafft bereits die Rahmenbedingungen für die erzählte Welt, denn<br />
dramaturgisch gesehen steht am Anfang die Exposition, in der Zeit und Ort der Handlung<br />
sowie die handelnden Figuren vorgestellt werden.“ 39 In der Eröffnungsszene dieses 93<br />
Minuten langen <strong>Film</strong>s wird ein knapp 50jähriger Mann (Nanni Moretti) gezeigt, der vor dem<br />
Hintergrund eines Industriehafens Dauerlauf betreibt. Der Mann heißt Giovanni und ist<br />
Psychotherapeut, Ehemann und Vater von zwei Kindern. Sein Weg führt ihn vom<br />
menschenleeren Hafen in die belebten Straßen der Stadt Ancona, einer mittelgroßen Stadt an<br />
der Adriaküste, wo er arbeitet und mit seiner Familie wohnt. Von einer Kaffeebar aus<br />
beobachtet Giovanni eine Gruppe singender Krishna Jünger, die ihren hinduistisch geprägten<br />
Glauben an die Wiedergeburt tanzend ausdrücken.<br />
Giovanni begibt sich in seine Wohnung, wo er einen Telefonanruf erhält. Es ist der Direktor<br />
der Schule, die sein Sohn, der 18-jährige Andrea (Giuseppe Sanfelice) besucht. Der Direktor<br />
bittet Giovanni zur Schule zu kommen, da er seinen Sohn verdächtige, einen Ammoniten aus<br />
der Asservatenkammer gestohlen zu haben. Eine nächste Szene zeigt Giovanni bei seiner<br />
Arbeit als Psychotherapeut. Geduldig hört er sich die Probleme seiner Patienten an und hilft<br />
mit guten Ratschlägen weiter. Als Giovannis Arbeitstag zu Ende ist, schließt er die Tür der<br />
37<br />
Schürmer, Dirk: Berlusconi <strong>im</strong> Kino. Der Ka<strong>im</strong>an, das bin ich. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 76,<br />
Ausgabe vom 30.03.2006, S. 39.<br />
38<br />
Nanni Moretti in: „Interview mit Nanni Moretti”. www.djfl.de.entertainment/stars/n/nanni_moretti_i_01.html<br />
17.05.06.<br />
39<br />
Mikos, Lothar: <strong>Film</strong>- und Fernsehanalyse. Konstanz 2003, S. 123.
11<br />
Praxis und geht hinüber in seine Wohnung, wo er gemeinsam mit Irene (Jasmin Trinca),<br />
seiner jugendlichen Tochter, Paola (Laura Morante), seiner Frau und Andrea zu Abend isst.<br />
Die Familie wird dem Zuschauer als harmonisch und ausgeglichen präsentiert. Der Vorwurf<br />
des Diebstahls, der Andrea gemacht wird, besorgt die Eltern zwar, erscheint aber nicht als ein<br />
Problem, das den Familienfrieden gefährden könnte. Das Titel gebende Z<strong>im</strong>mer des Sohnes<br />
wird zum ersten Mal gezeigt, als sich Giovanni hinein schleicht und sich darin umschaut. Es<br />
scheint, als verspüre er den Drang, zu sehen, ob er nicht doch den Ammoniten dort finden<br />
kann. In den nun folgenden Szenen, die 5 Tage der insgesamt 16 Tage erzählter Zeit<br />
umfassen, wird der Alltag der Familienmitglieder weiter ausgeleuchtet. Der Rezipient erfährt<br />
von den Ängsten und Sorgen der Patienten Giovannis, vom Basketball-Training der Tochter<br />
und Matteo, ihrem Freund. Abends folgt die Kamera in das Schlafz<strong>im</strong>mer von Giovanni und<br />
Paola, deren Ehe auch auf erotischem Gebiet intakt ist. So vergeht die Zeit relativ<br />
unspektakulär und der Zustand des mittelständischen Glücks wird als stabil präsentiert.<br />
2.7.3.2. Steigerung und Problem (0:34:04-1:22:12)<br />
Das zentrale Ereignis geschieht erst <strong>im</strong> zweiten Drittel des <strong>Film</strong>s. Am Abend des sechsten<br />
Tages n<strong>im</strong>mt das Unheil unspektakulär seinen Lauf: Eigentlich hatte sich Giovanni mit<br />
Andrea zum Laufen verabredet, doch als einer seiner Patienten, Oscar, ihn anruft und<br />
dringend um einen Hausbesuch bittet, entschließt er sich, den Lauftermin zu verschieben.<br />
Andrea geht stattdessen mit seinen Freunden zum Tauchen, wobei er verunglückt. Die<br />
folgenden Ereignisse werden <strong>im</strong> <strong>Film</strong> stark gerafft, nur schlaglichtartig und mit abrupten<br />
Zeitsprüngen erzählt.<br />
Giovanni kommt voller Sorge an den Hafen, wo Thomas und dessen Vater ihn bereits<br />
erwarten. Im Krankenhaus warten sie. Ein Bestattungsunternehmer ist anwesend, mit einem<br />
Katalog, in dem verschiedene Sargmodelle abgebildet sind. Die Aufbahrung in einem Raum<br />
des Krankenhauses wird gezeigt. Die Familie n<strong>im</strong>mt Abschied von Andrea.<br />
Das Verschließen des Sarges markiert die Endgültigkeit des Abschieds. Stand bisher die<br />
harmonische Gemeinschaft der Familie <strong>im</strong> Vordergrund, so rückt nun die Darstellung der<br />
<strong>Trauer</strong> der einzelnen Familienmitglieder in den Mittelpunkt des erzählerischen Interesses. Die<br />
verwaisten Eltern und Irene, die ihren Bruder verloren hat, werden be<strong>im</strong> Durchleben der<br />
<strong>Trauer</strong>phasen gezeigt. Der Tod Andreas hat eine nicht zu füllende Leerstelle <strong>im</strong> Gefüge der<br />
Familie hinterlassen, die auch durch das nun leer stehende Z<strong>im</strong>mer Andreas verdeutlicht wird.<br />
Die jeweils individuelle <strong>Trauer</strong> der Familienmitglieder treibt die Familie <strong>im</strong>mer weiter<br />
auseinander. Es droht der Verlust auch dieser noch verbliebenen Bande. Ein Brief einer<br />
Ferienliebe Andreas kommt unerwartet an. Paola n<strong>im</strong>mt mit der Absenderin Ariana Kontakt
12<br />
auf und lädt sie nach Ancona ein, was diese jedoch zu diesem Zeitpunkt der Geschichte noch<br />
ablehnt. Unter dramaturgischen Gesichtspunkten betrachtet wirkt dieser Aufschub als<br />
retardierendes Moment. Obwohl durch dieses Hinzutreten einer Figur von außen bereits ein<br />
Weg zur Bewältigung des Problems aufscheint, verstärkt sich die emotionale Spannung<br />
zwischen Giovanni und Paola vorerst gerade durch diesen Brief.<br />
2.7.3.3. Wendepunkt und Ansatz einer Lösung (1:22:13 – 1:32:50)<br />
Die entscheidende Wendung, hin zu einem versöhnlichen Schluss, erhält die Geschichte<br />
durch Ariana, die sich entschieden hat, die Familie doch zu besuchen. Nach kurzem Gespräch<br />
erklärt Ariana, sie und ihr Freund Stefano seien per Anhalter unterwegs. Giovanni entschließt<br />
sich, die beiden zur nächsten Autobahnauffahrt zu fahren, wo sie bessere Chancen hätten,<br />
mitgenommen zu werden. Gemeinsam mit Paola, Irene, Ariana und Stefano fahren sie los.<br />
Um die Reise abzubilden, greift Moretti auf die Zeit raffende Technik des elliptischen<br />
Erzählens zurück und zeigt nur die wichtigsten Stationen des Weges. Die Fahrt endet am<br />
frühen Morgen an einer Autobahnraststätte, die am Meer liegt. Nach einem Kaffee<br />
verabschieden sich Stefano und Ariana von der Familie. Giovanni, Paola und Irene laufen am<br />
Strand entlang. Diese letzten Bilder schließen den <strong>Film</strong> mit Aussicht auf einen positiven<br />
Umgang mit dem Tod Andreas ab. Da hier zwar der <strong>Film</strong>, nicht jedoch die Geschichte der<br />
<strong>Trauer</strong> Giovannis und seiner Familie endet, kann in Hinblick auf die Erzählform von einem<br />
offenen Ende gesprochen werden.<br />
2.7.3.4. Fazit der Analyse<br />
Die lange Exposition, die ein Drittel der <strong>Film</strong>dauer in Anspruch n<strong>im</strong>mt, stellt die Rituale der<br />
Familie dar, die zwischen Frühstück, Schule, Arbeit und Freizeit den Alltag in einer<br />
liebevollen Atmosphäre zu bewältigen hat. Dem Zuschauer wird die Möglichkeit geboten,<br />
sich aufgrund dieser ihm wahrscheinlich ebenfalls vertrauten Handlungen mit der Familie zu<br />
identifizieren. Gleichzeitig wird eine Atmosphäre bürgerlichen Glücks geschaffen und so die<br />
Fallhöhe vorbereitet. Der Kontrast, der durch die schockierende Wirkung des unerwarteten<br />
Todes geschaffen wird, wirkt so umso eindrücklicher. Da der Tod völlig ohne vorbereitenden<br />
‚suspense’ geschieht, wird für den Zuschauer deutlich, dass der Tod eine Konstante der<br />
Wirklichkeit ist, der jeder, ihn eingeschlossen, in jedem Augenblick zum Opfer fallen kann.<br />
Der Tod, als das die <strong>Trauer</strong> auslösende Ereignis in „Das Z<strong>im</strong>mer meines Sohnes“, passiert<br />
einfach ohne äußeren Anlass wie beispielsweise eine Krankheit und ohne moralischen<br />
Anspruch, wie sie etwa die Bestrafung durch Tod <strong>im</strong> Sinn einer poetischen Gerechtigkeit<br />
nach einer moralischen Verfehlung darstellen würde. Die Folgen des Verlusts des Sohnes
13<br />
nehmen den größten Teil der erzählten und der Erzählzeit ein, wodurch auf temporaler Ebene<br />
markiert wird, dass der <strong>Trauer</strong>prozess <strong>im</strong> Mittelpunkt des <strong>Film</strong>es steht - „die Analyse der<br />
Handlungsstruktur erweist sich als Schlüssel zum besseren Verständnis des <strong>Film</strong>s.“ 40<br />
Wie schon der Tod des Sohnes wird auch die <strong>Trauer</strong> realistisch, nüchtern erzählt. Gezeigt<br />
wird, wie sich ein solches Unglück auf das soziale Konstrukt Familie auswirken kann: Dem<br />
anfänglich Einigkeit stiftenden Schmerz folgt schnell eine Phase, in der die jeweils individuell<br />
empfundene <strong>Trauer</strong> die Hinterbliebenen zusehends voneinander entfremdet. Erst als Ariana<br />
und Stefano hinzukommen, zeichnet sich eine Lösung ab. In ihrer Gegenwart wird es<br />
möglich, über Andrea zu sprechen. Das, was die von Irene initiierte Messe leisten sollte, Trost<br />
und Hoffnung zu spenden, gelingt durch Ariana und Stefano, symbolisiert in der Fahrt durch<br />
die Nacht, in deren Verlauf die Familienmitglieder wieder zu einander finden. Die Fahrt endet<br />
bezeichnenderweise an einem neuen, sonnigen Tag, am Strand des Meers, dem Symbol für<br />
die Einheit von Leben und Tod. 41<br />
2.8. Analyse der Hauptfigur<br />
2.8.1. Giovanni vor der <strong>Trauer</strong><br />
Die Figur des Giovanni (Nanni Moretti) wird in den ersten Bildern des <strong>Film</strong>s eingeführt. Im<br />
Verlauf der Handlung zeigt die Kamera das Geschehen hauptsächlich aus Sicht eines<br />
unsichtbaren Begleiters Giovannis. Selten gibt es Szenen, in denen er nicht präsent ist, was<br />
ihm die Rolle der Hauptfigur zuweist. „Besonderes Interesse gilt häufig dem ersten Auftritt<br />
des Protagonisten und der Art seiner Charakterisierung. Aufgrund seiner Rolle als<br />
Wahrnehmungs- und Bedeutungszentrums <strong>im</strong> <strong>Film</strong> wird auf seine Gestaltung in aller Regel<br />
Wert gelegt, eben um die notwendige Glaubwürdigkeit und zugleich Attraktivität zu<br />
erzeugen.“ 42 In der ersten Szene begegnet Giovanni nach dem Joggen am Hafen dem Zufall in<br />
der heiteren Form einer Gruppe tanzender und singender Krishna-Jünger. Giovanni kann<br />
diese Begegnung annehmen und summt die Melodie der Krishna Jünger bis nach Hause. Dort<br />
wird er erneut mit etwas Unerwartetem konfrontiert: sein Sohn soll einen Ammoniten<br />
gestohlen haben. Auch hierfür hat Giovanni eine Lösung parat und sucht das klärende<br />
Gespräch mit dem Direktor und den Eltern der Schulkameraden. Im ersten Drittel des <strong>Film</strong>s<br />
wird Giovanni als treu sorgender, manchmal überbehütender Familienvater gezeigt, für den<br />
das Leben in stabilen, harmonischen Bahnen verläuft. Das Unerwartete kann er geschickt in<br />
seinen Alltag integrieren. Die Familie lebt in Harmonie zusammen, was beispielsweise in<br />
40 Faulstich, Werner: Grundkurs <strong>Film</strong>analyse. München 2002, S. 86.<br />
41 Vgl. Selbmann, Sibylle: Selbmann, Sibylle: Mythos Wasser: Symbolik und Kulturgeschichte. Karlsruhe 1995.<br />
42 Faulstich, S. 97.
14<br />
einer Szene dokumentiert wird, in der alle vier Familienmitglieder bei einer Autofahrt zu<br />
sehen sind: Im Radio läuft ein italienischer Schlager, Giovanni singt laut mit und auch Paolo,<br />
Andrea und Irene st<strong>im</strong>men ein. So entsteht ein <strong>im</strong>provisiertes Quartett als Sinnbild der<br />
Familie: Jede Figur ist für sich, doch gleichzeitig eingebettet in den Sinn spendenden Rahmen<br />
der Familie. 43 Die gefestigten Beziehungen lassen den Diebstahl und die Erkenntnis, dass<br />
Irenes Freund Haschisch raucht, als kleine Irritationen erscheinen, die diese Feste jedoch nicht<br />
erschüttern können.<br />
Als Giovanni Irene zusammen mit Paola bei einer Latein-Übersetzung hilft, fällt der Satz<br />
„Mit wenig Mühe wirst Du geführt werden.“ 44 Hiermit wird die Aufgabe, die ihm die<br />
Ereignisse der zwei letzten Drittel der Handlung auferlegen, bereits angedeutet. Für ihn geht<br />
es um Akzeptieren des Zufalls, auch, wenn dieser nicht heiter, wie in der Szene mit den<br />
tanzenden Krishna-Jüngern, sondern grausam und schmerzhaft ist.<br />
Einige Male wird Giovanni be<strong>im</strong> Joggen gezeigt. In der Anstrengung seines Körpers findet er<br />
Nähe zu sich und Abstand von den Neurosen, mit denen er in seiner Funktion als<br />
Psychotherapeut täglich konfrontiert wird. Die Spannung zwischen Nähe und Abstand,<br />
Int<strong>im</strong>ität und Distanz formuliert eine weitere Problemebene des <strong>Film</strong>s, die sich in seiner<br />
Arbeit spiegelt. Die Verschränkung zwischen der Arbeitswelt und dem Privatbereich wird<br />
auch verdeutlicht durch den Umstand, dass Praxis und Wohnung räumlich direkt miteinander<br />
verbunden sind. Als Psychotherapeut n<strong>im</strong>mt Giovanni die Rolle des Übervaters ein, die<br />
geprägt ist von unerschütterlicher Ruhe. Er hört zu und hat für die Probleme seiner Patienten<br />
Tipps und Lösungen, auch wenn diese teilweise nur in einer von ihm <strong>im</strong>aginierten Traumwelt<br />
existieren. 45 Ähnlich wie bei der Lateinübersetzung <strong>im</strong> Kreis der Familie geht es auch in den<br />
Therapiesitzungen um Gelassenheit. Seiner Patientin Raffaela, rät er zu mehr Gelassenheit,<br />
denn man könne nicht alles was passiert best<strong>im</strong>men und sei auch nicht für Alles<br />
verantwortlich.<br />
Als Andrea jedoch bei einem Tauchunfall verunglückt, macht gerade er sich für den Tod<br />
seines Sohnes in verantwortlich, denn eigentlich hatte er sich mit ihm zum Joggen verabredet,<br />
musste ihm aber dann aus beruflichem Pflichtgefühl absagen, da ein Patient, Oscar, dringend<br />
seine Hilfe benötigte.<br />
43 Dass <strong>im</strong> Radio keine politischen Nachrichten kommen, weist darauf hin, dass es in „Das Z<strong>im</strong>mer meines<br />
Sohnes“ um die private Geschichte dieser Familie geht.<br />
44 0:15:47<br />
45 0:23:40
2.8.2. Der <strong>Trauer</strong>prozess Giovannis<br />
15<br />
2.8.2.1. Die erste Phase des Nicht-Wahr-Haben-Wollens<br />
Die Nachricht über den Tod seines Sohnes löst bei Giovanni zunächst einen Schock aus, der<br />
ihn sprachlos werden lässt. Giovanni fährt zu Irene, die gerade ein Basketballspiel zu<br />
bestreiten hat und ohne Worte zu wechseln wird klar, dass etwas Außergewöhnliches passiert<br />
sein muss. Zuhause umarmen sich die Familienmitglieder und sind in gemeinsamer Sorge und<br />
geteiltem Schmerz vereinigt, gesprochen wird jedoch nicht. Im Wartesaal des Krankenhauses<br />
versucht Giovanni zwar einen Anruf zu tätigen, doch seine St<strong>im</strong>me versagt und er findet<br />
keine Worte. Das Unfassbare ist gleichzeitig das Unaussprechliche, Etwas, das nicht in die<br />
sprachliche Realität geholt werden kann. 46<br />
Die Aufbahrung Andreas, die in Nahaufnahmen gezeigt wird, vollzieht sich ebenfalls ohne<br />
Worte. Als der Sarg geschlossen wird, beginnt sich bereits abzuzeichnen, dass jeder <strong>im</strong> Leid<br />
für sich stehen muss.<br />
Giovanni kann den Zufall in seiner grausamen Form nicht annehmen, sondern flüchtet sich<br />
vor der Erkenntnis des Todes seines Sohnes in Reizüberflutung. Auf dem Rummelplatz sucht<br />
er <strong>im</strong> Trubel Ablenkung, begegnet dort aber ständig Symbolen des Lebens, wie einem<br />
Karussell oder einer Spielzeug-Pferderennbahn. Der Zuschauer sieht ihn, wie er sich mit<br />
wütendem Gesicht von einem Fahrgeschäft durchschütteln lässt und wie er ziellos durch das<br />
Gewühl läuft, eine Reaktion die seine Seele vor dem unerträglich starken Schmerz schützen<br />
soll. Er verneint und distanziert sich vom Anerkennen der Realität des Todes auch durch das<br />
bruchlose Fortführen seiner täglichen Arbeit als Psychotherapeut.<br />
Ein vorsichtiges Annähern geschieht erst be<strong>im</strong> Schreiben der Kondolenzbriefe, das ein<br />
soziales Muster des <strong>Trauer</strong>ns darstellt und auf das in solchen Fällen zurückgegriffen werden<br />
kann, um den Schmerz zu kanalisieren. Bei dieser Arbeit, die Giovanni und Paola gemeinsam<br />
erledigen, werden Erinnerungen wach und besprochen, wodurch eine Möglichkeit entsteht,<br />
den bisher äußeren Bezug zu Andrea zu internalisieren. Giovanni beginnt nun zwar, sich der<br />
Wirklichkeit zu stellen, doch er verharrt lange in diesem<br />
Übergangstadium zur zweiten Phase der <strong>Trauer</strong>. Verantwortlich dafür ist sein Empfinden,<br />
eine Mitschuld an Andreas Tod zu tragen. Symptomatisch für seine Selbstvorwürfe und sein<br />
Verlangen, das Geschehene ungeschehen zu machen ist, dass er sich <strong>im</strong>mer wieder dieselbe<br />
46 So wie die Sprache vor dem Tod verstummt, zeigt Moretti auch den Tod, indem er die Bilder ‚verstummen’<br />
lässt. Das tragische Ereignis selbst ist nicht zu sehen. In einer Montagesequenz, die mit schnellen Schnitten<br />
arbeitet, werden Andrea bei der Abfahrt des Schlauchboots, Paola, die auf dem Markt angerempelt wird, Irene,<br />
die mit ihren Freunden Mofa fährt und Giovanni, dem ein hupender LKW entgegenkommt gezeigt. Es handelt<br />
sich lediglich um Vorzeichen und Andeutungen, die suggerieren, dass jedem der Beteiligten etwas zustoßen<br />
könnte. Dass Andrea tot ist, wird erst in der Szene, in der Paola mit Ariana telefoniert zur Sprache gebracht.
16<br />
Sequenz eines Liedes anhört. 47 Hier kann er die Zeit zurück drehen, <strong>im</strong> Leben jedoch nicht.<br />
Gleichzeitig dient ihm das Medium Musik zur St<strong>im</strong>ulation von Erinnerungen an seinen Sohn.<br />
<strong>Film</strong>isch wird dies in Traumsequenzen gezeigt, in denen Giovanni und Andrea joggen und<br />
somit das getan hätten, was eigentlich geplant war. In seiner Phantasie kann Giovanni die<br />
Realität so entwerfen, dass das schmerzhafte Erlebnis nicht stattgefunden hat, <strong>im</strong> Leben hat er<br />
darauf jedoch keinen Einfluss mehr. 48<br />
2.8.2.2. Die zweite Phase der aufbrechende Emotionen<br />
Diese Ohnmacht und die Schuldgefühle lassen Giovanni zum Detektiv werden, eine typische<br />
Reaktion in der zweiten <strong>Trauer</strong>phase nach Verena Kast. 49 Er begibt sich auf die Suche nach<br />
einem Schuldigen und forscht be<strong>im</strong> Tauchhändler nach, ob Andrea möglicherweise wegen<br />
eines technischen Versagens gestorben sei. 50 Weiterhin hadert er, sich mit der Realität<br />
abzufinden. In <strong>im</strong>mer wiederkehrenden <strong>im</strong>aginären Bildern malt er sich aus, was passiert<br />
wäre, wenn er seinem Sohn nicht abgesagt hätte, 51 doch in seiner Praxis wird er mit<br />
Problemen konfrontiert, die ihn ständig an den geschehenen Verlust erinnern. So kommt<br />
Oscar, der Patient, wegen dem Giovanni den Termin nicht einhalten konnte, in die Praxis und<br />
spricht über seine Angst zu sterben und welche Auswirkungen das für seine Mutter hätte,<br />
bevor er merkt, wie sehr dieses Thema Giovanni selbst betrifft. 52 Giovanni sagt zwar, er solle<br />
sich darüber keine Sorgen machen und versucht, seiner Rolle als Arzt gerecht zu werden,<br />
doch die nötige Distanz zwischen Arzt und Patient bröckelt, da er Oscar ständig mit dem Tod<br />
des Sohnes in Verbindung bringt. 53 Gerade Giovanni, der seine Patienten sonst gut versteht<br />
und mit deren Gefühlen souverän umgehen kann, weiß nun nicht mehr weiter.<br />
Der Helfer braucht selbst Hilfe und sucht einen befreundeten Kollegen auf, der ihm rät, offen<br />
mit Oscar zu sprechen. Der Weg zur Lösung dieses Problems geht über die Anerkennung der<br />
veränderten Situation <strong>im</strong> darüber Sprechen als Akt der kommunikativen Verwirklichung und<br />
Verankerung der Emotionen in zwischenmenschlicher Realität. Dafür muss Giovanni die<br />
Distanz zwischen Arzt und Patient aufgeben.<br />
Die Distanz-Nähe Problematik zeichnet sich auch innerhalb der Familie ab. Dort gestaltet sich<br />
die Situation <strong>im</strong>mer schwieriger. War der gemeinsame Schmerz am Anfang noch ein<br />
verbindendes, Nähe schaffendes Element, so treibt die jeweils individuell empfunden und<br />
47<br />
0:47:10<br />
48<br />
0:50:05<br />
49<br />
Iskenius-Emmler, 99.<br />
50<br />
0:48:00<br />
51<br />
0:49:08<br />
52<br />
0:49:12<br />
53<br />
0:58:20
17<br />
ausgelebte <strong>Trauer</strong> die Familie mehr und mehr auseinander: Die institutionalisierte Instanz des<br />
Gottesdienstes wird zwar noch gemeinsam durchlaufen, erscheint aber sinnentleert und kann<br />
keinen Trost bieten, besonders nicht für Giovanni.<br />
Bevor sein Sohn starb, war Giovanni ein Profi in der Deutung von Gedanken und Träumen,<br />
doch nun weiß er mit den metaphorischen Worten des Pfarrers nichts anzufangen. „Wenn der<br />
Hausvater wüsste, wann in der Nacht der Dieb kommt, würde er wach bleiben. Was heißt<br />
das?“ schreit Giovanni verzweifelt. Den Versuch des Pfarrers, den Tod als eine schicksalhafte<br />
Verknüpfung von Zufällen darzustellen, will Giovanni nicht gelten lassen. Seine Wut bricht<br />
aus ihm hervor, wenn er zerbrochene, aber wieder geklebte Tassen aus dem Schrank zieht und<br />
sie zynisch als Abfall, von dem man sich trennen müsse, bezeichnet. Aus psychologischer<br />
Sicht ist damit jedoch bereits ein Fortschritt auf dem Weg zu einer Bewältigung der <strong>Trauer</strong><br />
getan. Das Ende von Dingen und Menschen und die notwendige Distanzierung durch<br />
Trennung werden zur Sprache gebracht und mit entsprechenden Gefühlen verknüpft.<br />
Es ist ein erster Ansatz, das Schicksal zu akzeptieren. Die aufbrechenden Empfindungen, die<br />
Giovanni nun an sich heran lässt, werden so stark, dass er seine Arbeit einstellen muss, da er<br />
seinen Patienten nicht weiter helfen kann. Er wird <strong>im</strong> Gegenteil zynisch und vergisst die<br />
gebotene Rücksichtsnahme, was erneut den Verlust der notwendigen Distanz markiert. Ihren<br />
Höhepunkt erreichen die schmerzhaften Gefühle, als Giovanni während einer Therapiesitzung<br />
an den Tod Andreas erinnert wird und in Tränen ausbricht. 54<br />
2.8.2.3. Die dritte Phase des Suchens und Sich-Trennens<br />
Nachdem Giovanni sich der <strong>Trauer</strong> geöffnet hat, kann er den nächsten Schritt auf dem Weg<br />
zur Heilung wagen. Der Beschluss, die Arbeit zu unterbrechen ist ein Zeichen für die<br />
Anerkennung der geänderten Realität und der Tatsache, dass das bisherige Leben nicht<br />
fortgeführt werden kann, als sei nichts geschehen. Sein Verhältnis zum Tod seines Sohnes hat<br />
sich von der Leugnung hin zu einem Akzeptieren gewandelt. Es ist Giovanni nun möglich,<br />
Plätze aufzusuchen, die mit Andrea in enger Beziehung stehen, ohne dass der Schmerz<br />
unerträglich ist. 55 Die Gelassenheit, zu der er Raffaella anfangs geraten hatte, kann er nun<br />
langsam bei sich zulassen. Er sucht die aussöhnenden Aspekte des Schicksals. Auch in Bezug<br />
auf seine Familie kommt es zu einer Hinwendung, weg vom eigenen egozentrischen Schmerz,<br />
hin zu seinen Mitmenschen. 56 Die Gegenwart beginnt sowohl zeitlich als auch <strong>im</strong> personellen<br />
Umfeld langsam wieder in den Mittelpunkt zu rücken.<br />
54 1:06:58.<br />
55 1:16:00<br />
56 1:16:04
18<br />
Giovanni führt die <strong>Trauer</strong>arbeit nun aktiv weiter und erkundigt sich nach dem<br />
Musikgeschmack Andreas bei einem Musikhändler, wo er auch eine CD kauft. Sein Wunsch<br />
nach einer Übersetzung der Texte drückt das große Interesse für die Weltsicht seines Sohnes<br />
aus, die er, nun als einen Teil seiner eigenen Persönlichkeit, erfahren möchte. Der Inhalt des<br />
Liedes wird bildlich umgesetzt, wenn Brian Eno singt: “You talk to me/as if from a<br />
distance/And I reply/With <strong>im</strong>pressions chosen from another t<strong>im</strong>e:“ 57 Die Assoziationen, die<br />
durch das Hören bei Giovanni ausgelöst werden, lassen ihn wieder in <strong>im</strong>aginären Kontakt mit<br />
Andrea treten, doch provozieren keine Weinanfälle mehr. Das bedeutendste Ereignis auf dem<br />
Weg zur Heilung ist das Eintreffen von Ariana, die die Familie unerwarteterweise doch noch<br />
besucht. Durch das Auftauchen von Ariana kommt Bewegung in die erstarrte Situation<br />
innerhalb der Familie. Durch sie wird der Schritt heraus aus der zirkulären Geschlossenheit<br />
der eigenen Erinnerungen möglich. Auf bildlicher Ebene verweist dies auf den von Andrea<br />
gestohlenen Ammonit, dieser „Schnecke mit Spiralen“ 58 . Während die <strong>Trauer</strong>arbeit die<br />
einzelnen Personen bis zu diesem Punkt in die Tiefe ihrer Seele geführt hat, ändert sich nun<br />
die Richtung dieses Weges und führt spiralförmig, also nicht geradlinig aber zielgerichtet<br />
nach außen, so dass Gemeinschaft langsam wieder möglich wird.<br />
Giovanni öffnet Ariana die Tür am frühen Abend des 15. Tages. Gemeinsam warten die<br />
beiden auf Paola und betrachten in der Zwischenzeit Fotos, die Andrea für Ariana gefertigt<br />
hatte. Andrea ist darauf in lustigen Posen in seinem Z<strong>im</strong>mer zu sehen. Zum ersten Mal seit<br />
seinem Tod wird Giovanni wieder lächelnd gezeigt: „Das ist witzig, nicht wahr?“ 59 Das<br />
Medium der Fotografie, in dem der Brückenschlag zwischen verlorener Vergangenheit und<br />
erlebter Jetztzeit möglich wird, geleitet das Trauma des Verlusts in den heilenden Trost der<br />
Erinnerung. 60<br />
2.8.2.4. Die vierte Phase des neuen Selbst- und Weltbezugs<br />
Die Autofahrt als Tätigkeit der Fortbewegung verweist auf die Weiterentwicklung auf<br />
emotionalem Gebiet, die die Figuren durchleben. Die Fahrt, die durch Nacht und einen<br />
57<br />
Die CD ist von Brian Eno, der Titel des <strong>im</strong> on- und später aus dem off gespielten Liedes lautet: „By this river“<br />
und befindet sich auf dem Album „Before and after science“ von 1977 (Virgin Music). “Here we are/ Stuck by<br />
this river, You and I/ Underneath a sky that's ever falling down, down, down Ever falling down./Through the<br />
day/As if on an ocean/Waiting here, Always failing to remember why we came, came, came/I wonder why we<br />
came. /You talk to me/as if from a distance/And I reply/With <strong>im</strong>pressions chosen from another t<strong>im</strong>e, t<strong>im</strong>e,<br />
t<strong>im</strong>e/From another t<strong>im</strong>e.”<br />
58<br />
Paola zu Giovanni 0:16:16.<br />
59<br />
1:22:12<br />
60<br />
Vgl. hierzu: Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt/M. 1985. In<br />
diesem Aufsatz erscheint die Fotografie als Schattenbild, das die Spur des Gewesenen als Erinnerungsform<br />
vergegenwärtigt (ebd. S.14). Durch die Abbildung des Referenten stellt das Foto eine Wiederkehr des Toten dar<br />
(ebd. S.30) und indem es den Gegenstand gegenwärtig macht, hilft es gleichzeitig bei der Bewältigung von Tod<br />
und <strong>Trauer</strong> (ebd. S. 92-105).
19<br />
Tunnel führt, wird zu einer „Reise in ein Land hinter dem Leid“ 61 und erscheint somit als „rite<br />
de passage“. 62 Durch die inzwischen geschehene Verinnerlichung Andreas kann das Unglück<br />
nun auch aus der Distanz betrachtet werden. Giovanni beginnt die Unwiderruflichkeit des<br />
Todes zu verstehen und findet zu einem Selbstbild, das weniger von Schuld als durch<br />
Hilfsbereitschaft und Verständnis geprägt ist. Dass sich Ariana einen neuen Freund, der an die<br />
Stelle seines Sohnes gerückt ist, gesucht hat, kann er akzeptieren und als Zeichen der<br />
Hoffnung interpretieren. In Ariana begegnet ihm der personifizierte Rat, der zu Anfang des<br />
<strong>Film</strong>s aus der Latein-Übersetzung gesprochen hat: „Mit wenig Mühe wirst Du geführt<br />
werden.“ In einer der letzten Szenen, die die Autofahrt der Familie zu Beginn des <strong>Film</strong>s<br />
spiegelt, fahren Giovannis Familie und Ariana und Stefan durch die Nacht und beginnen<br />
gemeinsam zu singen. Der trennende Aspekt der <strong>Trauer</strong> wird durch die aufke<strong>im</strong>ende<br />
Hoffnung auf ein Weiterleben in positivem Gedenken an Andrea aufgehoben. Der Weg, der<br />
durch Ariana wieder als Möglichkeit erscheint, ist der, der in eine Normalität, die mit der<br />
Erfahrung des Todes gelassen umgeht, führt. Giovanni scheint die Aufgaben, die ihm der<br />
<strong>Trauer</strong>prozess auferlegt hat, bewältigt zu haben.<br />
3. Schluss: Die Botschaft des <strong>Film</strong>s<br />
In „Das Z<strong>im</strong>mer meines Sohnes“ zeigt Nanni Moretti drei Möglichkeiten, wie mit dem<br />
Schicksal in seiner grausamen Form, dem Tod, umgegangen werden kann. Dafür greift er auf<br />
eine Familie zurück, die den Verlust eines Sohnes zu beklagen hat. Im Mittelpunkt des<br />
Psychogramms steht der Vater, der an der <strong>Trauer</strong> zu zerbrechen droht, da er nicht mit dem<br />
Schmerz umzugehen weiß. Der natürliche Prozess des <strong>Trauer</strong>ns ist ihm fremd geworden und<br />
er kann nur auf wenige tradierte Verhaltensweisen zurückgreifen um sich von Bindungen, die<br />
nicht mehr lebendig sind, zu lösen. Weder das eingangs gezeigte hinduistische Modell in<br />
Form der tanzenden Krishna-Jünger, noch die christliche Lehre von der Auferweckung,<br />
dargestellt <strong>im</strong> Gottesdienstbesuch, konnten ihm Trost spenden.<br />
Auch zwischen den Familienmitgliedern kommt es zu Spannungen, da Wut und <strong>Trauer</strong> die<br />
Figuren voneinander entfremden, weil sie sie auf ihre jeweilige Individualität zurückwerfen<br />
und so die Fremdheit aufzeigen, die auch zwischen Personen, die sich sehr nahe stehen,<br />
<strong>im</strong>mer existiert, <strong>im</strong> Alltag aber nicht so deutlich hervortritt. Moretti zeigt, dass <strong>Trauer</strong> ein<br />
Prozess der Trennung ist, nicht nur vom geliebten Objekt, sondern auch von bisher gelebten<br />
61 Kühn, Heike: Das Z<strong>im</strong>mer meines Sohnes. http://www.kinofenster.de/ausgaben/kf0112/film1.htm. 21.05.06.<br />
62 Vgl.: van Gennep, Arnold: Übergangsriten. Frankfurt/.M. 1986. Der Ethnologe prägte den Begriff der<br />
Übergangsriten in seinem Buch „Les Rites de passage“ von 1909. Bezeichnet werden damit Riten, die mit<br />
Veränderungen <strong>im</strong> Leben eines Menschen verbunden sind. Dieser Übergang ist ein Prozess der Transformation,<br />
der von einem Zustand in einen nächsten oder von einer Welt in eine andere führt.
20<br />
Verhaltensweisen, was gerade <strong>im</strong> Sozialkonstrukt Familie zu Unsicherheiten und<br />
Schwierigkeiten führt. Doch erst aus der, durch die <strong>Trauer</strong> ausgelösten intensivierten<br />
Seelenschau, kann ein neuer, selbstbewusster Weltbezug, der dann auch wieder die<br />
Gemeinschaft zulässt, gefunden werden.<br />
Sowohl Giovanni als Protagonist, als auch Paola und Irene durchleben <strong>im</strong> Verlauf der<br />
Handlung eine intensive Entwicklung, die sie als dynamische Figuren kennzeichnet. 63 Bei der<br />
filmischen Umsetzung dieser existentiellen Thematik hält sich der Regisseur weitgehend an<br />
ein realistisches Erzählen, was sowohl die bildliche Darstellung als auch die psychische<br />
Entwicklung der Darsteller betrifft, die den Erkenntnissen der Thanatologie und<br />
<strong>Trauer</strong>forschung entspricht. Das Durchleben der einzelnen <strong>Trauer</strong>phasen, als Reaktion auf<br />
den Verlust eines Geliebten Menschen, stellt Moretti als einen schmerzhaften und<br />
schwierigen Weg dar, der jedoch die Chance zu einer ganzheitlichen Erfahrung birgt, wenn<br />
die <strong>Trauer</strong> angenommen und nicht verdrängt wird. Mit „Das Z<strong>im</strong>mer meines Sohnes“ entreißt<br />
Moretti die Themen Tod und <strong>Trauer</strong> ihrer modernen Verborgenheit hinter<br />
Krankenhausmauern und bringt sie in der „Höhle des Kinos“ 64 ans Licht. Im Zuschauer kann<br />
die Konfrontation mit Tod und <strong>Trauer</strong> durch den <strong>Film</strong> eine selbstreflexive Überprüfung seiner<br />
eigenen Einstellung zu diesem lebenswichtigen Thema auslösen. Die Aufgabe, die der <strong>Film</strong><br />
für sein Publikum formuliert, ist es, sich das <strong>Trauer</strong>n zu trauen. Die Botschaft ist der Aufruf,<br />
auf diese Weise zu einer „ars moriendi“ und, <strong>im</strong> Umkehrschluss daran, schließlich zu einer<br />
„ars vivendi“ zu finden. Diese Lebenskunst spielt sich zwischen den Polen ‚Individuum’ und<br />
‚Gemeinschaft’ ab und findet in einer gelassenen Einstellung gegenüber dem Schicksal ihre<br />
Verwirklichung.<br />
63 „Eine mehrd<strong>im</strong>ensionale Figur kann durch zwei Merkmale ausgezeichnet sein: erstens eine gewisse<br />
Komplexität, das heißt, die Liste der Eigenschaften und Merkmale ist vergleichsweise lang, gekennzeichnet<br />
durchaus von Gegensätzen und Widersprüchen, die eine Figur erst wirklich lebendig erscheinen lassen; zweitens<br />
eine persönlichkeitsmäßige Veränderung, das heißt, die Figur ist am Ende des <strong>Film</strong>s nicht mehr die, die sie noch<br />
am Anfang war.“ Faulstich, S. 99.<br />
64 Vgl. zu dieser Metapher: Baudry, Jean-Louis: Das Dispositiv: Metapsychologische Betrachtungen des<br />
Realitätseindrucks. In: Pias, Claus, Vogl, Joseph, Engell, Lorenz: Kursbuch Medien. Die maßgeblichen Theorien<br />
von Brecht bis Baudrillard. Stuttgart 1999.
Verwendete Literatur<br />
Pr<strong>im</strong>ärliteratur<br />
“Das Z<strong>im</strong>mer meines Sohnes”. Italien 2001. Produktion: Sacher <strong>Film</strong>/Bac<br />
<strong>Film</strong>s/StudioCanal/Rai Cinema/Tele+. Produzent: Angelo Barbagallo, Nanni Moretti.<br />
Regie: Nanni Moretti. Buch: Linda Ferri, Nanni Moretti, Heidrun Schleef.<br />
Sekundärliteratur<br />
Archer, John: The Nature of Grief. The Evolution and Psychology of Reactions to Loss.<br />
London 1999.<br />
Ariès, Philippe: Studien zur Geschichte des Todes <strong>im</strong> Abendland. München 1976.<br />
Arnold, Wilhelm; Eyseneck, Jürgen; Meili, Richard (Hg.): Lexikon der Psychologie.<br />
11. Auflage, Bd. III. Freiburg 1980.<br />
Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung Identität in frühen Hochkultu-<br />
ren. München 1992.<br />
Assmann, Jan: Der Tod als Thema der Kulturtheorie. Todesbilder und Totenriten <strong>im</strong> Alten<br />
Ägypten. Frankfurt/M. 2000.<br />
Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt/M. 1985.<br />
Bock, Hans-Michael (Hg.): Lexikon der Regisseure und Kameraleute. Reinbek b. Hamburg<br />
1999.<br />
Bohrer, Karl Heinz: Der Abschied: Theorie der <strong>Trauer</strong>. Frankfurt/M. 1996.<br />
Bowlby, John: Verlust, <strong>Trauer</strong> und Depression. Frankfurt/M. 1983.<br />
Boym, Svetlana: The Future of Nostalgia. New York 2001.<br />
Canacakis, Jorgos: Ich sehe deine Träne. <strong>Trauer</strong>n, Klagen, Leben können. Stuttgart 1993.<br />
Davis, Fred: Yearning for Yesterday. A Sociology of Nostalgia. New York 1979.<br />
Eno, Brian: Before and after Science. Virgin Music 1977.<br />
Elias, Norbert: Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen. 7. Aufl. Frankfurt/M.<br />
1991.<br />
Faulstich, Werner: Grundkurs <strong>Film</strong>analyse. München 2002.<br />
Freud, Sigmund: Studienausgabe. Hgg. von Mitscherlich, Alexander; Richards, Angela;<br />
Strachey, James. Bd. III. Frankfurt/M. 1975.<br />
Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis. Stuttgart 1967.<br />
Haverkamp, Anselm: Laub voll <strong>Trauer</strong>. Hölderlins späte Allegorie. München 1991.<br />
Hirschberg, Corinna: <strong>Trauer</strong>nde Kinder – wahrnehmen, verstehen und begleiten. In:<br />
Brennpunkt Gemeinde 3/2004. Impulse für missionarische Verkündigung und<br />
Gemeindeaufbau. Studienbrief D 21. Stuttgart 2004.<br />
Holzschuh, Wolfgang: Die <strong>Trauer</strong> der Eltern bei Verlust eines Kindes. Eine praktisch<br />
theologische Untersuchung. Würzburg 1998.<br />
Iskenius-Emmler, Hildegard: Psychologische Aspekte von Tod und <strong>Trauer</strong> bei Kindern und<br />
Jugendlichen. Frankfurt/M. 1988.<br />
Kast, Verena: <strong>Trauer</strong>n. Phasen und Chancen des psychischen Prozesses. Berlin 1982.<br />
Klibanski, Raymon: Panofsky, Erwin; Saxl, Franz: Saturn und Melancholie. 2. Aufl.<br />
Frankfurt/M. 1990.<br />
Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 24. durchges. und erw.<br />
Aufl. von Elmar Seebold. Berlin 2002.<br />
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Sterberituale und Todeszeremonien. Ihr Wandel in der Zeit. Frankfurt/O. 1997.<br />
Laager Jacques (Hg.): Ars moriendi. Die Kunst, gut zu leben und gut zu sterben. Texte von<br />
Cicero bis Luther. Zürich 1996.<br />
Landy, Marcia: Italian <strong>Film</strong>. Cambridge 2000.<br />
Mikos, Lothar: <strong>Film</strong>- und Fernsehanalyse. Konstanz 2003.
Mischke, Marianne: Der Umgang mit dem Tod. Vom Wandel in der abendländischen Ge-<br />
schichte. Berlin 1996.<br />
Ochsmann, Randolph; Howe, Jürgen (Hg.): <strong>Trauer</strong> – Ontologische Konfrontation. Bericht<br />
über die 2. Tagung zur Thanato-Psychologie vom 23.- 24. November 1989 in Osna<br />
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Pias, Claus, Vogl, Joseph, Engell, Lorenz (Hg,): Kursbuch medien. Die maßgeblichen<br />
Theorien von Brecht bis Baudrillard. Stuttgart 1999.<br />
Rothman, Juliet Cassuto: Wenn ein Kind gestorben ist. <strong>Trauer</strong>begleiter für verwaiste Eltern.<br />
Freiburg/Breisgau 1998.<br />
Scherer, Georg: Das Problem des Todes in der Philosophie. Darmstadt 1979.<br />
Schmied, Gerhard: Sterben und <strong>Trauer</strong>n in der modernen Gesellschaft. Opladen 1985.<br />
Selbmann, Sibylle: Selbmann, Sibylle: Mythos Wasser: Symbolik und Kulturgeschichte.<br />
Karlsruhe 1995.<br />
Spiegl, Yorick: Der Prozess des <strong>Trauer</strong>ns. Analyse und Beratung. Mainz 1973.<br />
Stiglegger, Marcus (Hg.): Splitter <strong>im</strong> Gewebe. <strong>Film</strong>emacher zwischen Autorenfilm und<br />
Mainstreamkino. Mainz 2000.<br />
Worden, J. William: Beratung und Therapie in <strong>Trauer</strong>fällen. Ein Handbuch. Stuttgart 1987.<br />
van Gennep, Arnold: Übergangsriten. Frankfurt/.M. 1986.<br />
Zarnegin, Kathy: Buchstäblich traurig. Basel 2004.<br />
Zeitungen und Internet<br />
Schürmer, Dirk: Berlusconi <strong>im</strong> Kino. Der Ka<strong>im</strong>an, das bin ich. In: Frankfurter Allgemeine<br />
Zeitung, Nr. 76, Ausgabe vom 30.03.2006.<br />
http://www.kinofenster.de/ausgaben/kf0112/film1.htm. Abruf 21.05.06.<br />
www.djfl.de.entertainment/stars/n/nanni_moretti_i_01.html. Abruf 17.05.06.<br />
http://www.italienwelten.de/Nanni_Moretti.317.0.html. Abruf 19.05.06.
Tabelle 1: Sequenzplan „Das Z<strong>im</strong>mer meines Sohnes“<br />
Tag 1<br />
0:00:00 Stadt: Vater Giovanni joggt am menschenleeren Hafen. Kommt in die mit<br />
Menschen gefüllten Straßen, in ein Café, Hare Krishna Jünger tanzen vorbei.<br />
Er geht auf Straße und bestaunt sie.<br />
0:03: 05 Wohnung: Anruf vom Direktor.<br />
0:03:25 Schule: Direktor macht Vorwurf, dass Sohn Andrea und Freund<br />
Thomas ein Fossil gestohlen hätten.<br />
0:04:30 Praxis: Psychoanalyse mit zwangsneurotischer Frau. G. rät zu mehr<br />
Gelassenheit: man könne nicht alles best<strong>im</strong>men. Sie fühle sich schuldig, aber<br />
sie sollte lernen, Muße zu empfinden.<br />
0:05:37 Praxis: G. beobachtet Patientin aus dem Fenster. .<br />
Patient Oscar erzählt von Falltürträumen. Es kommt ihm wie<br />
Zeitverschwendung vor.<br />
0:06:35 Wohnung: Alltag G.´s zu Ende, G. und seine Frau, Paola am Telefon.<br />
0:07:30 Wohnung: Gemeinsam mit Irene, der Tochter, reden sie über Klänge<br />
verschiedener Sportarten. Andrea kommt dazu. Ganze Familie am Essenstisch.<br />
0:09:00 Wohnung: Eltern <strong>im</strong> Schlafz<strong>im</strong>mer, reden über Diebstahl und Ammonit als<br />
„Schnecke mit Spiralen“.<br />
Tag 2<br />
0:09.31 Autofahrt mit A. zu Luciano und Phillipo.<br />
0:10:05 Bei Phillipo: Diskussion, ob Phillipo den Diebstahl gesehen hat. Er gibt es<br />
gezwungenermaßen zu.<br />
0:11:10 Eltern reden über Vorfall. G. findet, dass Phillipo von seinem Vater schlecht<br />
behandelt worden sei. Andrea <strong>im</strong> Hintergrund an Spielautomat.<br />
0:11:40 Praxis: Patient erzählt, dass er Angst habe, eine Vergewaltigung zu begehen. Er<br />
hat den <strong>Film</strong>, den er von G. empfohlen bekam angesehen. G. findet, dass die<br />
Entscheidung, diesen <strong>Film</strong> anzusehen ein Fortschritt sei. Patient schaut lieber<br />
Pornos und n<strong>im</strong>mt Valium. Ist der Meinung, dass der Erfinder des Valiums ein<br />
Genie war, der schaffe es, dass es den Leuten gut geht. Der schon.<br />
0:12:25 Praxis/Wohnung: Arbeitstag Ende. G. sitzt am Schreibtisch über Notizen, steht<br />
auf und geht in das Z<strong>im</strong>mer des Sohnes: G. schaut sich um. Sitzt auf Bett.<br />
Denkt nach.
Tag 3<br />
0:13:30 Praxis: Patient Oscar erzählt von Träumen. Sagt, es gäbe keinen Grund zur<br />
Sorge, alle fänden er sei in Topform, auch in der Arbeit liefe es. Fragt G., wie<br />
ein Konflikt zwischen gut fühlen und sich umbringen wollen möglich sei. G.<br />
gibt keine Antwort.<br />
0:14:37 Wohnung: Irene lernt mit Matteo, einem Freund, Latein: Übersetzung „Und<br />
so werden alle Rätsel gelöst sein“. Irene kommt es vor, als würde das nichts<br />
bedeuten, aber der Freund sieht eine Bedeutung in den Worten: „In der Tat<br />
wird Alles durch Alles erleuchtet werden und Du wirst von der höchsten Natur<br />
durchdrungen und so werden alle Rätsel gelöst sein.“ auf Eltern, die an einem<br />
Tisch über Blättern sitzen, in Hörnähe. Erklärung des Freundes: „Der Mensch<br />
angesichts des Universums“. Irene hält das für übertrieben. Fragt ihn, ob er<br />
Joints geraucht hätte. Er: „Das liegt nicht am Rauchen. Du bist nicht<br />
romantisch, Du verstehst den Menschen nicht.“ Eltern machen sich Sorgen<br />
über das Kiffen und das Küssen. Sitzen über Papieren.<br />
0:15: 47 Wohnung: Eltern lernen mit Irene. „Mit wenig Mühe wirst Du geführt wer-<br />
den.“<br />
0:16:16 Wohnung: Eltern <strong>im</strong> Bett. P.: „Letztendlich hatte Matteo Recht“. G. liest<br />
Gedicht „Zehen“. Über die alten Zeiten, haben sie vergessen? Machen Liebe.<br />
Tag 4<br />
0:17:54 Praxis: Ein Mann, wohl auch Psychoanalytiker, kommt in die Praxis, findet<br />
über G.: „Analytiker in ihrem Alter sind die zynischsten, sie denken ihr Beruf<br />
sei wie jeder andere. Wer entscheidet, wann die Therapie beendet ist? Sie sind<br />
so gelassen, das beruhigt mich.“<br />
0:19:09 Autofahrt. Fahrt der ganzen Familie. Musik kommt. Erst singt nur G., dann<br />
alle.<br />
0:20:10 Tennisplatz. A. spielt Tennis. G. regt sich auf, A. spiele nicht richtig. Er<br />
schweife ab.<br />
0:20:49 G. stellt A. zur Rede: Du spielst nicht um zu gewinnen. Aber was macht es<br />
sonst für einen Sinn?<br />
0:21:17 Hafen: G. joggt<br />
Tag 5<br />
0:21:32 Museum: G. besucht P. bei Arbeit. Kataloge sind aus Versehen zum Einstamp-<br />
fen geschickt worden. Reden über Spielverhalten des Sohnes. G.: Ist Andrea<br />
nicht ein bisschen seltsam in den letzten Tagen? P. Er hat dieses Fossil nicht<br />
gestohlen<br />
0:22:55 Praxis: Raffaelas Zwangsneurose: Erst hatte sie alles richtig gemacht, dann
hatte sie aber das Wort ‚langsam’ gelesen und musste das Gegenteil lesen. Sie<br />
erzählt von ihren Fehlern. Er malt gedankenverloren auf einem Blatt herum.<br />
0:23:40 Traumsequenz mit Glockenspiel der Titelmelodie. Er entwirft eine Gegenreal-<br />
ität. Motiviert sie zum Sport mit einem Schrank passender Schuhe. Meint, er<br />
sei genauso langweilig wie sie. – Traum Ende.<br />
0:24:50 G. und A. schlendern durch Laden, dann auf Sportplatz.<br />
Tag 6<br />
0:26:03 Küche, P. be<strong>im</strong> Kochen. A. hilft und gesteht Diebstahl: „Es war eine Dumm-<br />
heit, wir wollten es zurückgeben, dann fiel es runter und ging kaputt. Wir<br />
konnten es nicht kleben.“<br />
0:26:55 Praxis: Frau beschwert sich über Kälte und Distanz G.´s. Sie will aufhören. In-<br />
nerer Monolog G.: „Das sagt sie schon seit Jahren“. Ich habe versagt. Er hofft<br />
auf ein Ende. Die Frau hat sich ausgesprochen, jetzt geht es ihr besser.<br />
0:28:05 Wohnung: Familie am Essenstisch. A. roter Pullover. G. fragt, ob die Familie<br />
ins Kino mit gehe, er kenne den <strong>Film</strong> aber schon, alle Patienten erzählen<br />
davon. Andrea schlägt er vor, einen langen Lauf zum Auspowern zu machen.<br />
Er erzählt, aber niemand hört zu. Telefon klingelt, er muss zu Oscar fahren, es<br />
geht ihm nicht gut. G. verschiebt Termin mit A. zu laufen.<br />
0:30:11 Montage: G., fährt Auto, ein Laster kommt ihm hupend entgegen. P. wird<br />
angerempelt, I. fährt mit Freunden auf Roller, sie ärgern sich leichtsinnig. A.<br />
bereitet sich aufs Tauchen vor. Alle sind vom Tod gefährdet.<br />
0:31:50 Bei O.: O. war be<strong>im</strong> Arzt, auf seinen Lungen ist ein Schatten erkennbar. Er<br />
denkt er hat Lungentumor. Hat schlechtes Gewissen, weil er G. am Sonntag<br />
hat kommen lassen.<br />
0:32:35 G. am Meer.<br />
0:32: 40 G. ruft dahe<strong>im</strong> an. Niemand da.<br />
0:33:10 Autofahrt: G. fährt he<strong>im</strong>.<br />
0:33:32 Am Hafen: Nachricht vom Unfall. G. fragt „Wie geht es ihm?“ Luciano und<br />
Familie. G.: Was ist passiert? Wie geht es ihm?<br />
0:34:00 Autofahrt: G. <strong>im</strong> Auto, besorgt.<br />
0:34:12 Sporthalle: G. sucht I. be<strong>im</strong> Basketballspiel. Sie schauen sich an, I. bleibt<br />
alleine stehen, alle anderen rennen weiter.<br />
0:34:30 Wohnung: P. auch da. Alle umarmen sich, weinen.<br />
0:34:50 Krankenhaus: G. möchte ein paar Anrufe tätigen. Familie von Luciano auch da.<br />
Anrufbeantworter von Valerio. G. versucht zu sprechen, stockt. Bringt es nicht
zu Ende. P. und Tochter weinen.<br />
0:36:07 Krankenhaus: Sarg aussuchen aus Katalog. Thomas hat Kleidung mitgebracht.<br />
G.: „Der Herr muss Andrea anziehen.“ P. weint.<br />
0:36:39 Einsargungsszene: Sarg aufgebahrt, Familie steht um Sarg. P. weint. G. n<strong>im</strong>mt<br />
sie in den Arm. Irene gibt ihm einen Kuss auf die Stirn. G. auch: „Ciao,<br />
Andrea.“ P. küsst auch. Geht dann weg, will alleine sein. Wird von Frau in den<br />
Arm genommen. Deckel kommt auf Sarg. I: will ihn noch einmal sehen.<br />
Kurzer Aufschub. I: und G. stehen um Sarg. Bestatter verschließen Sarg mit<br />
Zinkdeckel und Lötzinn, dann werden die Schrauben eingebohrt.<br />
0:39:11 Wohnung: G. sitzt dahe<strong>im</strong> auf Couch. P. be<strong>im</strong> schmerzvollen Weinen.<br />
0:39:37 Rummelplatz: G. auf Jahrmarkt. Bunte Lichter, Discomusik. Spiele, Spaß,<br />
Pferderennen. Musikwechsel, Karussell, Autoskooter. Jugendliche. Schaukel,<br />
die sich wie ein Rad dreht, G. saust hoch und runter.<br />
Tag 7<br />
0:41:16 Wohnung: G. in Praxis, alleine, Zieht Fenstervorhänge zu.<br />
0:41:54 Wohnung: P. alleine <strong>im</strong> Bett, I. hat Frühstück gemacht. G. schon in Praxis. I.<br />
geht zu ihm, doch G. antwortet nicht. Sie läuft allein vor dem Frühstück herum.<br />
0:43:00 Praxis: Mann freut sich, dass er zu G. kommen darf, hier ist es ihm endlich<br />
möglich zu weinen.<br />
0:43:40 Praxis: Patient umarmt G. . Wie geht es? Entschuldigt sich. Wollte zur<br />
Beerdigung kommen. Habe es aber nicht geschafft. Sei ins Pornokino<br />
gegangen. Habe Valium genommen, hab einem Mann einen geblasen. Dann sei<br />
er zu einer Nutte, dann nach Hause, aber Roberta habe schon geschlafen.<br />
Warum habe er keine Lust auf sie?<br />
0:45:01 Wohnung: G. und P. schreiben Kondolenzbriefe. Erinnern sich. Wann willst<br />
Du wieder zur Arbeit gehen? I. kommt sie reden übers Training. Familie am<br />
Tisch. I. hat mit den Freunden gesprochen. Sie möchte eine Messe lesen lassen.<br />
Alles andere habe ihr nicht gefallen. Messe sei am wenigsten traurig. Eltern<br />
sind einverstanden.<br />
Tag 8<br />
0:46:15 Praxis: Frau. Hat ihrem Freund über ihre Krankheit erzählt, seitdem sei es bes<br />
ser. Die Frau hat Angst, dass schizophren sei. G. ermutigt sie, weiter zu<br />
machen.<br />
0:47:01 G. joggt. .<br />
0:47:10 Wohnung: P. auf Bett des Sohnes. G. hört sich <strong>im</strong>mer wieder die gleiche Szene<br />
eines Liedes an. Erinnert er sich an das joggen mit A. in einer Rückblende.
0:48:00 Tauchgeschäft: G. forscht nach. Im Tauchgeschäft fragt er nach Sauerstoff-<br />
flaschen und dem Druckmesser bei Sauerstoffflaschen.<br />
0:49:08 Erinnerungssequenz: Was wäre wenn, sie doch gelaufen wären?<br />
0:49:12 Mann mit Tumor redet über das Sterben und die Chemotherapie. Der Gedanke<br />
einen A. zu verlieren. Erkennt, dass er vergessen hat, dass er G. schmerzlich an<br />
Verlust seines Sohnes erinnerte. G. sagt, er solle sich darüber keine Sorgen<br />
machen.<br />
50:05 Erinnerungssequenz: andere Realität: Oscar ruft an, er sagt ab.<br />
0:50:40 Restaurant: G. und P. Es tut uns gut uns abzulenken. Essen. Er spricht über<br />
seine Nachforschungen. Vielleicht habe der Atemregler blockiert. Sie hat kein<br />
Verständnis. Die Ausrüstung habe funktioniert. Weinen. Andrea sei Fischen in<br />
eine Grotte gefolgt, habe die Orientierung verloren und nahm die<br />
Sauerstoffflaschen ab, um schneller Auftauchen zu können. Seine Hände waren<br />
zerkratzt, er hatte kaputte Nägel. Vielleicht ergibt es keinen Sinn, aber es ist<br />
nun mal so.<br />
0:52:22 Sporthalle. Basketballspiel. I. sie findet, sie sei gefoult worden und der<br />
Schiedsrichter hätte pfeifen müssen. Wird aggressiv, schlägt Mädchen,<br />
besch<strong>im</strong>pft Zuschauer.<br />
0:53:28 Bus, Rückfahrt. G. und P. reden über I. . Darf sie bei der Meisterschaft spielen?<br />
I. will nicht reden.<br />
Tag 9<br />
0:54:12 Kirche, Messe für Andrea. Pfarrer: „Nicht wir treffen die Verabredungen des<br />
Lebens. Gott hat diese Verabredung getroffen. Wir wissen nicht warum, wir<br />
können nur versuchen dem Unverständlichen mit Glauben zu begegnen.“ G.<br />
scheint Einwände gegen Gott zu haben. Hausvater-Gleichnis: Wüsste ein<br />
Hauvater, wann ein Dieb kommt, würde er wachen und ihn nicht ins Haus<br />
lassen. Aber wir wissen auch nicht, wann der Herr uns zu sich rufen wird.<br />
Abendmahl.<br />
0:55:11 Wohnung. Enttäuschung dahe<strong>im</strong>. G.´s Tassengleichnis: Kaputte Dinge, alles<br />
beschädigt. G. hadert mit dem Hausvatergleichnis. Verbeißt sich darin. Was für<br />
ein Satz, sucht nach Bedeutung. Lieblingsteekanne. Die Teekanne konnte<br />
geklebt werden. Nun zerbricht er sei. Beide haben Schmerzen. P. kann G.´s<br />
Schmerz nicht auffangen. Ist selbst am <strong>Trauer</strong>n.<br />
Tag 10<br />
0:56:48 Praxis: Mann mit Tumor: „Man darf sich niemals geschlagen gegeben.“ G. ist<br />
ehrlich. Konfrontiert Mann mit Realität. Desillusioniert ihn. Egal, was man tut,<br />
es passiert, das, was passieren muss. Schicksalsglaube.
0:58:20 Andere Praxis. Gespräch mit anderem Psychoanalytiker. Er hat keine Distanz<br />
mehr. Er bringt Oscar ständig mit dem Tod des Sohnes in Verbindung. Der<br />
andere rät ihm, offen mit Oscar zu sprechen.<br />
0:58:25 Sporthalle: I. trainiert alleine. Sie fragt G. warum er hier sei. Sie möchte zehn<br />
Körbe nacheinander werfen. Erkennt, dass die Eltern sie verschonen möchten.<br />
„Ihr macht euch Sorgen um mich, wechselt den Gesichtsausdruck.“ Sie hat mit<br />
Matteo Schluss gemacht.<br />
0:59:54 Wohnung: P. findet <strong>im</strong> Briefkasten ein Brief an A. „Keine der<br />
Schriftstellerinnen hatte dich so lieb wie ich. Brief von Freundin wird von P.<br />
gelesen.<br />
1:01:01 P. geht ins Z<strong>im</strong>mer des Sohnes: Kleidung, fasst roten Pullover an, berührt ihn<br />
mit Stirn, weint.<br />
1:01:40 Am Essenstisch. Alle drei reden über den Brief. Das Mädchen, Ariana, hat A.<br />
nur einmal gesehen und schon seine gesamte Persönlichkeit erkannt. Reden<br />
über die Vergangenheit A.'s. P. will A. anrufen, G. will schreiben, es klappt<br />
nicht. Mehrere Versuche. Erinnerungssequenzen: G. und A. be<strong>im</strong> Joggen. Sie<br />
joggen und er sagt, dass sie aufhören sollen, damit er noch tauchen gehen kann.<br />
, dann rät er ihm vom Tauchen ab.<br />
Tag 11<br />
1:04:07 Praxis: Patient, der auch Arzt ist: Sie sind nie streng zu mir. Ich versteh, die<br />
Leute nicht, die den Preis nicht zahlen wollen.<br />
1:04:27 Einkauf I. und P. . In der Kabine weint sie.<br />
1:05:13 Essen bei und mit anderen G. und P.. P. erzählt über den Brief und den Tod. G.<br />
will sie abhalten. P. will die A. kennen lernen. Sie habe Erinnerung an den A.<br />
in allen Einzelheiten.<br />
1:06:12 Autofahrt .<br />
1:06:30 Wohnung: P. zu G.: „Warum hast Du mich abgehalten? Du sprichst nie mit<br />
anderen darüber. Du glaubst, dass Du dann was verlierst. Du tust mir leid.“<br />
Tag 12<br />
1:06:58 Praxis: Frau erzählt von Kindern. Ich liebe Kinder müssen sie wissen. G.<br />
beginnt zu weinen.<br />
1:07:46 Wohnung: G. versucht Brief zu schreiben, malt dann aber wahllos rum.<br />
1:08.20 Praxis: G. hat mit O. über die Schuldgefühle geredet. Beide stumm.<br />
1:08:50 Wohnung: P. und G.: er macht sich vorwürfe, wenn doch nur. Sie hat kein<br />
Verständnis. „Es geht nur um Dich.“ Trennung. Keine Lust mehr zuzuhören. Er<br />
entwirft eine Gegenrealität. P:. „Man kann die Zeit nicht zurückdrehen. Du
liebst Andrea nicht. Du hast dem Mädchen nicht geschrieben. Es ist mir so was<br />
von egal was Du denkst.“<br />
1:09:40 Wohnung: G. schläft auf Couch<br />
Tag 13<br />
1:09:55 Wohnung: I. sucht Sender <strong>im</strong> Radio.<br />
1:10:00 Wohnung: P. allein <strong>im</strong> Bett.<br />
1:10:10 Wohnung: Frühstück. P. geht weg. Ruft A. an. G. fragt I.: Wie geht’s Dir? Sie:<br />
Geht so. P. sagt, dass A. einen Unfall gehabt habe, weint, dass er tot sei. Sie<br />
schlägt A. vor, zu ihr zu kommen. Sie lehnt ab. P. versucht es weiter. Alle<br />
stehen ums Telefon rum. Streicheln sie.<br />
Tag 14<br />
1:12:35 Praxis: O. will wissen, wie es der Familie geht. G. weist Frage zurück als<br />
Flucht zurück. G. verschließt sich. O. will zum letzen Mal kommen und<br />
möchte sich persönlich verabschieden und bedanken, wünscht ihm alles Gute.<br />
1:14:20 Montage: Mann versucht zu kochen, Schale platzt. Frau arbeitet, I. mit<br />
Freundin in Bar., G. allein vor Essen, macht sich Brot.<br />
1:16:04 G. auf Sportplatz.<br />
1:16:26 Wohnung: Eltern <strong>im</strong> Schlafz<strong>im</strong>mer. P. liegt <strong>im</strong> Bett, G. läuft hin und her. Er hat<br />
beschlossen seine Arbeit zu unterbrechen. Nun fühle er sich erleichtert. Besser<br />
für alle. Er könne nicht helfen, er habe keine Distanz mehr. Er fragt, ob es so<br />
schlecht um die Ehe bestellt sei.<br />
Tag 15<br />
1:17:40 Praxis: Patientin, mit Zwangsneurose. Sie will versuchen es allein zu schaffen.<br />
Sie wird auf ihn warten, bis er wieder arbeitet. Anderer Patient wird aggressiv,<br />
fühlt sich betrogen, besch<strong>im</strong>pft G., randaliert: „Es geht mir schlecht, Du<br />
Arschloch.“ G. entschuldigt sich.<br />
1:19:25 Schule: G. holt I. von Schule ab.<br />
1:19:45 Musikgeschäft: G. will CD für A. kaufen. Fragt den Händler, ob er sich an A.<br />
erinnert. Will CD mit Übersetzung der Texte. Erzählt, dass der A. ihn <strong>im</strong>mer<br />
auf den Arm genommen habe, weil er <strong>im</strong>mer nur italienische Musik gehört<br />
habe. Der Händler empfiehlt eine CD und legt Brian Eno: „By this river“ ein.<br />
1:21:29 Autofahrt. G.<br />
1:22:12 Wohnung: A. steht vor der Tür. Sie und G. warten auf Paola. A. wollte Z<strong>im</strong>mer<br />
sehen, das war ihr sehr wichtig. Hat Fotos dabei. Sie schauen sich gemeinsam<br />
die Fotos an. G. über die Fotos: „Das ist witzig, nicht wahr?“
1:24:04 P. kommt mit I. he<strong>im</strong>. P. will sich erst nicht zeigen. Dann ganze Familie<br />
zusammen. P. sagt, sie habe sich A. anders vorgestellt. Sie wollen essen gehen,<br />
sie könnte hier schlafen. Aber ihr Freund, Stefano, mit dem sie per Anhalter<br />
unterwegs ist, wartet unten.<br />
1:25:25 Autofahrt: G. am Steuer, Rest der Familie <strong>im</strong> Auto zusammen mit Stefano und<br />
Ariana.<br />
1:25:41 Raststätte. „Alemagna“ Verabschiedung. Trennung: A., S. und Familie, die die<br />
beiden durchs Fenster betrachten der Raststätte betrachten.<br />
1:26:55 Autofahrt. Wieder alle <strong>im</strong> Auto. G. möchte die Tramper bis zur Abzweigung<br />
nach Genua bringen, sie essen Chips. Sie fahren durch die Nacht, G. fährt, die<br />
anderen schlafen. G. zu P.: „Wir können sie doch nicht aufwecken, sie schlafen<br />
schon so fest. Schlaf Du nicht auch noch ein, halten wir uns gegenseitig wach.“<br />
1:28:09 Autofahrt, nachts, in Tunnel.<br />
Tag 16<br />
1:28:44 Autofahrt. Inzwischen ist es Morgen. Aus Tunnel, Autobahnraststätte. Meer.<br />
Frankreichfahne. G. und P. steigen aus, laufen zusammen an den Strand. I. regt<br />
sich auf, weil sie Training hat. Alle lachen wieder.<br />
30:20 Parkplatz: Eltern reden über die Tramper. G. zu P.: „Was glaubst Du, sind die<br />
beiden zusammen? Nein sag nichts.“<br />
1:31:00 Abschied am Busbahnhof. A. verspricht zu schreiben, wenn sie angekommen<br />
sind.<br />
1:31:50 Strand: Familie läuft ans Meer.<br />
1:32:50 Strand: Familie aus Sicht des Busses, der sich entfernt.<br />
1:33:11 Ende. Dunkler Bildschirm. Cast, Credit.