23.10.2012 Aufrufe

Individuelle Trauer im Film

Individuelle Trauer im Film

Individuelle Trauer im Film

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Universität Karlsruhe<br />

Institut für Literaturwissenschaft<br />

Hauptseminar: „Erinnerung, <strong>Trauer</strong> und Nostalgie <strong>im</strong> <strong>Film</strong>“<br />

(WS 2005/06)<br />

Prof. Dr. Andreas Böhn<br />

<strong>Individuelle</strong> <strong>Trauer</strong> <strong>im</strong> <strong>Film</strong><br />

Giovannis <strong>Trauer</strong>prozess in<br />

"Das Z<strong>im</strong>mer meines Sohnes" von Nanni Moretti<br />

Jörg Hartmann<br />

Blumenstr. 27<br />

69115 Heidelberg<br />

06221/7279906<br />

Germanistik (MA)<br />

1. Semester<br />

Matrikelnr.: 1079256


Inhaltsverzeichnis<br />

1. Einleitung...............................................................................................................1<br />

2. Hauptteil.................................................................................................................1<br />

2.1. <strong>Trauer</strong>: Emotion und Ausdruck.........................................................................1<br />

2.2. Sigmund Freud und die <strong>Trauer</strong>..........................................................................2<br />

2.3. Kollektive <strong>Trauer</strong> ..............................................................................................3<br />

2.4. <strong>Trauer</strong> <strong>im</strong> kulturellen Wandel ...........................................................................3<br />

2.5. <strong>Trauer</strong>modelle ...................................................................................................5<br />

2.5.1. Die vier Phasen der <strong>Trauer</strong>arbeit nach Verena Kast .................................5<br />

2.5.1.1. Die erste Phase des Nicht-Wahrhabens-Wollens.....................................5<br />

2.5.1.2. Die zweite Phase der aufbrechenden Emotionen .....................................6<br />

2.5.1.3. Die dritte Phase des Suchens und Sich-Trennens ....................................6<br />

2.5.1.4. Die vierte Phase des neuen Selbst- und Weltbezugs................................7<br />

2.6. <strong>Trauer</strong> nach dem Tod eines Kindes...................................................................7<br />

2.7. <strong>Trauer</strong> <strong>im</strong> <strong>Film</strong>: Das Z<strong>im</strong>mer meines Sohnes ...................................................9<br />

2.7.1. Der Regisseur Nanni Moretti ....................................................................9<br />

2.7.2. Sequenzplan ............................................................................................10<br />

2.7.3. Analyse des dramaturgischen Aufbaus ...................................................10<br />

2.7.3.1. Exposition (0:00:00 – 0:34:03) ..............................................................10<br />

2.7.3.2. Steigerung und Problem (0:34:04-1:22:12)............................................11<br />

2.7.3.3. Wendepunkt und Ansatz einer Lösung (1:22:13 – 1:32:50) ..................12<br />

2.7.3.4. Fazit der Analyse....................................................................................12<br />

2.8. Analyse der Hauptfigur ...................................................................................13<br />

2.8.1. Giovanni vor der <strong>Trauer</strong>..........................................................................13<br />

2.8.2. Der <strong>Trauer</strong>prozess Giovannis..................................................................15<br />

2.8.2.1. Die erste Phase des Nicht-Wahr-Haben-Wollens ..................................15<br />

2.8.2.2. Die zweite Phase der aufbrechende Emotionen .....................................16<br />

2.8.2.3. Die dritte Phase des Suchens und Sich-Trennens ..................................17<br />

2.8.2.4. Die vierte Phase des neuen Selbst- und Weltbezugs..............................18<br />

3. Schluss: Die Botschaft des <strong>Film</strong>s.........................................................................19<br />

Verwendete Literatur<br />

Anhang: Tabelle 1: Sequenzplan


1. Einleitung<br />

1<br />

Unter der Vielfalt der menschlichen Emotionen ist die ‚<strong>Trauer</strong>’ zwar die schmerzhafteste,<br />

gleichzeitig aber auch die, die am meisten Potential für die Entwicklung zu einer ‚reifen’<br />

Persönlichkeit birgt. Trotz dieser Tatsache ist die <strong>Trauer</strong>, als seelische Reaktion auf einen<br />

erlittenen Verlust, an den gesellschaftlichen und medialen Rand gedrängt. Häufig löst der Tod<br />

einer Person be<strong>im</strong> Zuschauer eines <strong>Film</strong>es nicht etwa Betroffenheit, <strong>Trauer</strong> oder Wut aus,<br />

sondern dient als Auslöser der Handlung <strong>im</strong> Kr<strong>im</strong>i, in dem der narrative Strang der<br />

Aufklärung des Verbrechens, selten aber die <strong>Trauer</strong> der Hinterbliebenen in den Mittelpunkt<br />

filmischen Erzählens rückt. Die Aufarbeitung der <strong>Trauer</strong> findet <strong>im</strong> Unterhaltungskino kaum statt.<br />

Die gestalterische Auseinandersetzung mit diesem Thema wird meist in unabhängig produzierten<br />

<strong>Film</strong>en gesucht. Der <strong>Film</strong> „Das Z<strong>im</strong>mer meines Sohnes“ 1 des italienischen Regisseurs Nanni<br />

Moretti stellt ein solches Werk dar. Es soll <strong>im</strong> Folgenden hinsichtlich des dramaturgischen<br />

Aufbaus und der Darstellung der <strong>Trauer</strong> der Hauptfigur analysiert werden. Dies geschieht,<br />

nachdem mit einem vorangestellten Teil, der die Darstellung der <strong>Trauer</strong> aus Sicht der<br />

Wissenschaft sowie die Beschreibung des historisch-gesellschaftlichen Wandels <strong>im</strong> Umgang mit<br />

dieser Emotion nachzeichnet, die theoretischen Grundlagen gelegt wurden. Bei der<br />

Figurenanalyse kommt das von Verena Kast formulierte Phasenmodell der <strong>Trauer</strong> 2 zur<br />

Anwendung. Auf eine Analyse der anderen Figuren und auf Bauformen wie Schnitt und Musik<br />

kann aufgrund des beschränkten Umfangs dieser Arbeit nur am Rande eingegangen werden.<br />

2. Hauptteil<br />

2.1. <strong>Trauer</strong>: Emotion und Ausdruck<br />

Das Wort „<strong>Trauer</strong>“ hat seine etymologischen Wurzeln <strong>im</strong> althochdeutschen Wort „truren“,<br />

das mit „den Kopf sinken lassen“ oder „die Augen niederschlagen“ 3 übersetzt werden kann.<br />

Die Übersetzungen bezeichnen zwei für die <strong>Trauer</strong> typische körperliche Ausdruckweisen und<br />

stellen dabei eine anthropologische Konstante der Physiognomie dar: „Dieses spezifisch<br />

traurige Gesicht ist bei Vertretern aller Kulturen gleich und wird auch auf Photographien<br />

transkulturell einer traurigen St<strong>im</strong>mung richtig zugeordnet. Ein weiterer Ausdruck von <strong>Trauer</strong><br />

1 Das Z<strong>im</strong>mer meines Sohnes. Italien 2001. Produktion: Sacher <strong>Film</strong>/Bac <strong>Film</strong>s/StudioCanal/Rai Cinema/Tele+.<br />

Produzent: Angelo Barbagallo, Nanni Moretti. Regie: Nanni Moretti. Buch: Linda Ferri, Nanni Moretti, Heidrun<br />

Schleef. Kamera: Giuseppe Lanci Musik: Nicola Piovani Schnitt: Esmeralda Calabria. Darsteller: Nanni Moretti<br />

(Giovanni), Laura Morante (Paola), Jasmine Trinca (Irene), Giuseppe Sanfelice (Andrea), Silvio Orlando (Oscar)<br />

Länge: 99 Min.<br />

2 Kast, Verena: <strong>Trauer</strong>n. Phasen und Chancen des psychischen Prozesses. Berlin 1982.<br />

3 Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 24. durchges. und erw. Aufl. von Elmar<br />

Seebold. Berlin 2002, S. 926.


2<br />

ist eine eingesunkene, tonuslose Haltung mit hängenden Schultern, bei Naturvölkern oft ein<br />

Zusammenkauern auf dem Boden.“ 4<br />

2.2. Sigmund Freud und die <strong>Trauer</strong><br />

Während die Melancholie schon in der griechischen Antike Gegenstand der Beschäftigung in<br />

Philosophie und Poesie 5 war, ist die Untersuchung der <strong>Trauer</strong> eine neuzeitliche Erscheinung.<br />

Eine der ersten wissenschaftlich-systematischen Abhandlungen über dieses Gefühl stellt die<br />

1917 erschiene Schrift „<strong>Trauer</strong> und Melancholie“ 6 von Sigmund Freud dar. Hierin entwirft er<br />

ein psychoanalytisches Modell der <strong>Trauer</strong>reaktion, das sich bis heute als grundlegend für die<br />

weitere Theoriebildung erwiesen hat. ‚<strong>Trauer</strong>’ ist nach Freud „regelmäßig die Reaktion auf<br />

den Verlust einer geliebten Person oder einer an ihre Stelle gerückten Abstraktion wie<br />

Vaterland, Freiheit, ein Ideal usw.“ 7 Im Unterschied zur pathologisierten Melancholie<br />

erscheint die <strong>Trauer</strong> als gesunde emotionale Reaktion auf einen erlittenen Verlust. Sie „enthält<br />

den Verlust des Interesses für die Außenwelt (...), den Verlust der Fähigkeit, irgend ein neues<br />

Liebesobjekt zu wählen (...), die Abwendung von jeder Leistung, die nicht mit dem Andenken<br />

des Verstorbenen in Beziehung steht“ 8 . Ihre Aufgabe sei es, das Ich mit dem geschehenen<br />

Verlust zu konfrontieren, so dass es diesem in einem aktiven Prozess möglich wird, seine<br />

libidinösen Energien langsam vom verlorenen Liebesobjekt ab zu ziehen um sich danach<br />

wieder der Realität bzw. neuen Bindungen zuwenden zu können. Dieser als ‚<strong>Trauer</strong>arbeit’<br />

bezeichnete Prozess sei zwar mit Schmerzen verbunden, doch notwendig, denn „tatsächlich<br />

wird aber das Ich nach der Vollendung der <strong>Trauer</strong>arbeit wieder frei und ungehemmt.“ 9 Die<br />

<strong>Trauer</strong>arbeit gilt als abgeschlossen, wenn „das verlorene Objekt nirgends mehr unwillkürlich<br />

erwartet wird und wenn auch die Vorstellung und Erinnerung an das Objekt keinen<br />

<strong>Trauer</strong>effekt, keine Tränen mehr auslöst.“ 10<br />

4<br />

Schleidt, Margret: Humanethologische Aspekte der <strong>Trauer</strong>. In: Ochsmann, Randolph; Howe, Jürgen (Hg.):<br />

<strong>Trauer</strong> – Ontologische Konfrontation. Bericht über die 2. Tagung zur Thanato-Psychologie vom 23.- 24.<br />

November 1989 in Osnabrück. Stuttgart 1991, S. 13.<br />

5<br />

Vgl. Klibanski, Raymon: Panofsky, Erwin; Saxl, Franz: Saturn und Melancholie. 2. Aufl., Frankfurt/M. 1990.<br />

Auch: Haverkamp, Anselm: Laub voll <strong>Trauer</strong>. Hölderlins späte Allegorie. München 1991.<br />

Sowie: Bohrer, Karl Heinz: Der Abschied: Theorie der <strong>Trauer</strong>. Frankfurt/M. 1996.<br />

6<br />

Freud, Sigmund: <strong>Trauer</strong> und Melancholie. In: ders.: Studienausgabe. Hgg. von Mitscherlich, Alexander;<br />

Richards, Angela; Strachey, James. Bd. III. Frankfurt/M. 1975, S. 197-212.<br />

7<br />

Ders. S. 212.<br />

8<br />

Ders. S. 198.<br />

9<br />

Ders. S. 199.<br />

10<br />

Tomann, Walter: <strong>Trauer</strong>. In: Lexikon der Psychologie. Hgg von Arnold, Wilhelm; Eyseneck, Jürgen; Meili,<br />

Richard. 11. Auflage, Bd. III. Freiburg 1980, S. 2350f.<br />

Vgl. hierzu: Turnhe<strong>im</strong>, Michael: <strong>Trauer</strong>, Melancholie und Psychoanalyse. In: Zarnegin: Kathy: Buchstäblich<br />

traurig. Basel 2004, S. 161-173: Anhand eines Briefs, den Freud 1929 an Ludwig Binswanger, dessen Sohn<br />

gestorben war, schrieb, stellt Turnhe<strong>im</strong> die These auf, dass es „bei Freud zwei Sichtweisen der <strong>Trauer</strong>“ (ebd. S.<br />

161) gegeben habe. Während die klassisch gewordene, in „<strong>Trauer</strong> und Melancholie“ beschriebene Reaktion mit


2.3. Kollektive <strong>Trauer</strong><br />

3<br />

Freud spricht ausdrücklich davon, dass <strong>Trauer</strong>reaktionen nicht nur durch den Verlust von<br />

geliebten Menschen, sondern auch durch den Verlust abstrakterer Dinge und Ideen<br />

hervorgerufen werden. So best<strong>im</strong>mt Svetlana Boym beispielsweise das mit der <strong>Trauer</strong><br />

verwandte Gefühl der Nostalgie als eine nur durch He<strong>im</strong>kehr erfüllbare Manie des<br />

Verlangens, die mit dem Verlust der He<strong>im</strong>at bzw. der Abwesenheit von dieser einhergeht:<br />

“Nostalgia (from nostos – return home, and algia – longing) is a longing for a home that no<br />

longer exists or has never existed. Nostalgia is a sent<strong>im</strong>ent of loss and displacement.” 11 Der<br />

Begriff ‚He<strong>im</strong>at’, als ein Begriff, der nicht nur ein best<strong>im</strong>mtes geographisches<br />

Herkunftsgebiet eines einzelnen Menschen umfasst, sondern auch eine ideelle Gemeinschaft<br />

verschiedener Menschen einschließt, verweist beispielhaft darauf, dass <strong>Trauer</strong> nicht nur auf<br />

individueller, sondern auch auf kollektiver Ebene stattfinden kann. Auslöser für kollektive<br />

<strong>Trauer</strong> können beispielsweise durch Kriege oder Terroranschläge erlittene gesellschaftliche<br />

Traumata sein. Ein Weg, die kollektive <strong>Trauer</strong> zu verarbeiten, sind zentral ausgerichtete<br />

Gedenkfeiern, bei denen die Erinnerung an die Vergangenheit eine große Rolle spielt, 12 da sie<br />

es durch ein symbolisches Wiederholen der traumatischen Situation ermöglicht, diese <strong>im</strong> Sinn<br />

einer Integration in das kollektive Selbstverständnis einer Gemeinschaft zu verarbeiten.<br />

2.4. <strong>Trauer</strong> <strong>im</strong> kulturellen Wandel<br />

Zu den schmerzvollsten Erfahrungen <strong>im</strong> Leben eines einzelnen Menschen gehört der Verlust<br />

einer oder mehrerer nahe stehenden Personen durch deren Tod. 13 Diesem unkontrollierbar<br />

stattfindenden Ereignis wurde seit Urzeiten in den meisten Kulturen mit Todes- bzw.<br />

Begräbnis- und <strong>Trauer</strong>ritualen begegnet. So weisen bereits Skelettfunde aus der älteren<br />

Steinzeit (9000-5000 v. Chr.) Spuren ritueller Verstümmelungen auf und sind insofern<br />

Zeichen eines bewussten Umgangs mit dem Tod. 14 In seinem mentalitätsgeschichtlichen<br />

einer vollständigen Loslösung der Libido vom Objekt endete, schreibt Freud zwölf Jahre später, dass „alles, was<br />

an die Stelle des geliebten Wesens rückt, doch etwas anderes bleibt“ (zit. nach Turnhe<strong>im</strong>, S. 166).<br />

11 Boym, Svetlana: The Future of Nostalgia. New York 2001, S. XIII.<br />

Vgl. Hierzu auch: Davis, Fred: Yearning for Yesterday. A Sociology of Nostalgia. New York 1979.<br />

12 Vgl. hierzu die Theorie des ‚kollektiven Gedächtnisses’, wie sie von dem französischen Soziologen Maurice<br />

Halbwachs in den 1920er Jahren geprägt wurde, in: Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis. Stuttgart<br />

1967, sowie dessen Weiterentwicklung zum Konzept des ‚kulturellen Gedächtnisses’ durch den Ägyptologen Jan<br />

Assmann in: Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung Identität in frühen Hochkulturen.<br />

München 1992.<br />

13 Auf das Problem der Definition des Todesbegriffs kann in dieser Arbeit nicht weiter eingegangen werden,<br />

weshalb die aus dem medizinischen Bereich stammende Gleichsetzung des Todes mit dem Hirntod übernommen<br />

wird. Zur Problematik vgl.: Scherer, Georg: Das Problem des Todes in der Philosophie. Darmstadt 1979.<br />

14 Vgl.: Krumrey, Antje: Sterberituale und Todeszeremonien. Ihr Wandel in der Zeit. Frankfurt/O. 1997.


4<br />

Werk „Studien zur Geschichte des Todes <strong>im</strong> Abendland“ 15 verfolgt Phillipe Ariès die sich <strong>im</strong><br />

Laufe der Zeit ändernden Einstellungen zum Tod <strong>im</strong> westlichen Kulturkreis. Dabei macht er<br />

<strong>im</strong> 19. Jahrhundert einen Wandel aus: vom Tod, als einem bis dahin akzeptierten und<br />

integrierten Bestandteil des Lebens, hin zu einer Einstellung, die den Tod anderer nicht mehr<br />

so bereitwillig hinn<strong>im</strong>mt. Die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung hat inzwischen dazu<br />

geführt, dass sich der Schauplatz des Sterbens (wie <strong>im</strong> Übrigen auch der des anderen Pols, der<br />

Geburt) <strong>im</strong> 20. Jahrhundert hinter die Mauern der Krankenhäuser verlagert hat. Sterben und<br />

Tod finden nun nicht mehr in einem gesellschaftlichen und familiären Alltag statt, sondern<br />

vollziehen sich von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt in darauf spezialisierten<br />

Institutionen. Fortschritte in verschiedenen Bereichen der kulturellen Entwicklung (Agrar-,<br />

Wirtschafts-, Sozialsektor etc.) und lebensverlängernde Maßnahmen haben dazu geführt, dass<br />

der Prozess des Sterbens sowohl <strong>im</strong>mer später <strong>im</strong> Leben eines Menschen beginnt als auch<br />

länger dauert. Dieses von Gerhard Schmied als „langes Sterben“ und „seltenes Sterben“ 16<br />

bezeichnete Charakteristikum des Sterbens in der Moderne hat zur Folge, dass in der<br />

westlichen Gesellschaft die Angst vor dem Tod nicht stets präsent ist. „Die Indifferenz<br />

gegenüber dem Tod wird dann aufgebrochen, wenn jemand mit dem Tod direkt konfrontiert<br />

wird, sei dies in der Form, dass er den Tod eines nahen Angehörigen miterlebt oder dass er<br />

selbst längere Zeit in Lebensgefahr schwebt.“ 17 Der gesellschaftlichen Verdrängung des<br />

Todes entspricht dann häufig eine weitgehende Unsicherheit, wie mit dem Phänomen<br />

umgegangen werden soll, da eine „ars moriendi“ 18 fehlt. Weiter hat die gesellschaftliche<br />

Ausdifferenzierung und Säkularisierung <strong>im</strong> Verlauf des Zivilisationsprozesses bewirkt, dass<br />

der Rückhalt durch gesellschaftliche Bezugssysteme schwächer geworden ist. „Ein<br />

Informalisierungsschub <strong>im</strong> Rahmen dieses Prozesses hat dazu geführt, dass eine ganze Reihe<br />

herkömmlicher Verhaltensroutinen, darunter auch der Gebrauch ritueller Floskeln, in den<br />

Krisensituationen des menschlichen Lebens für viele Menschen suspekt und zum Teil<br />

peinlich geworden ist.“ 19<br />

15 Ariès, Philippe: Studien zur Geschichte des Todes <strong>im</strong> Abendland. München 1976. Vgl. hierzu auch den<br />

Beitrag von Thomas Macho „Tod und <strong>Trauer</strong> <strong>im</strong> kulturwissenschaftlichen Vergleich“ in: Assmann, Jan: Der Tod<br />

als Thema der Kulturtheorie. Todesbilder und Totenriten <strong>im</strong> Alten Ägypten. Frankfurt/M. 2000, S. 89-112.<br />

16 Schmied, Gerhard: Sterben und <strong>Trauer</strong>n in der modernen Gesellschaft. Opladen 1985.<br />

17 Schmied, S. 79.<br />

18 Vgl. hierzu: Laager Jacques (Hg.): Ars moriendi. Die Kunst, gut zu leben und gut zu sterben. Texte von Cicero<br />

bis Luther. Zürich 1996.<br />

19 Elias, Norbert: Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen. 7. Aufl. Frankfurt/M. 1991, S. 45.<br />

Vgl. hierzu auch Mischke, Marianne: Der Umgang mit dem Tod. Vom Wandel in der abendländischen<br />

Geschichte. Berlin 1996, S. 15: „Wenn die Menschen in der heutigen Gesellschaft überhaupt von Sterben und<br />

Tod sprechen wollen, dann müssen sie nicht nur das kollektive Tabu, ihre eigenen Ängste und<br />

Verdrängungstendenzen überwinden, sondern auch ihr sprachliches Unvermögen, das in dem Mangel an in<br />

Sprache zurückfließende Erfahrung begründet ist.“


2.5. <strong>Trauer</strong>modelle<br />

5<br />

Seit Ende der 1960er Jahre wurden zahlreiche wissenschaftliche und<br />

populärwissenschaftliche Arbeiten über Tod, Sterben und <strong>Trauer</strong> veröffentlicht, wobei in<br />

Bezug auf die <strong>Trauer</strong> sowohl Phasenmodelle als auch zielorientierte Modelle entwickelt<br />

wurden. Elisabeth Kübler-Ross formulierte, angeregt durch ihre Arbeit mit Sterbenden, ein<br />

Phasenmodell des Sterbeprozesses, das bald auch auf den Prozess des <strong>Trauer</strong>ns übertragen<br />

wurde. 20 Hierbei gilt es zu beachten, dass die Phasen weder zeitlich terminiert sind noch in<br />

chronologisch-singulärer Reihenfolge auftreten müssen, sondern auch in unterschiedlicher<br />

Reihenfolge mehrmals und unter Auslassung best<strong>im</strong>mter Stadien erscheinen können und<br />

somit weniger als Regeln denn als häufig beobachtete Verhaltensweisen zu betrachten sind.<br />

Den Beginn des <strong>Trauer</strong>prozesses, dem die <strong>Trauer</strong> um einen geliebten Menschen zu Grunde<br />

liegt, bildet der Verlust dieses geliebten Menschen. Das Ende der <strong>Trauer</strong> ist gekennzeichnet<br />

durch die erfolgreiche Integrierung der Verlusterfahrung und damit einhergehend durch eine<br />

gelungene Neuordnung des Lebensgefüges der Hinterbliebenen. Der schwer wiegende<br />

Einschnitt in die Biografie, den der Tod eines nahe stehenden Menschen bildet, hat zur Folge,<br />

dass bisherige Maßstäbe und Bezugssysteme an Bestand verlieren und neu konzipiert werden<br />

müssen. An die trauernde Person stellt jede Phase best<strong>im</strong>mte Anforderungen, die es in diesem<br />

Sinn zu bewältigen gilt, um einen gesunden, letzten Endes abgeschlossenen <strong>Trauer</strong>prozess zu<br />

gewährleisten.<br />

2.5.1. Die vier Phasen der <strong>Trauer</strong>arbeit nach Verena Kast<br />

Die Schweizer Psychologin Verena Kast entwickelte durch Beobachtung von <strong>Trauer</strong>nden und<br />

deren Träume ein vier Phasen umfassendes Modell der <strong>Trauer</strong>arbeit.<br />

2.5.1.1. Die erste Phase des Nicht-Wahrhaben-Wollens<br />

Die erste Phase, die direkt auf den Verlust folgt, ist meist geprägt von einer sofortigen<br />

Verdrängung des auslösenden Ereignisses und einer schockartigen Empfindungslosigkeit.<br />

Häufig treten dabei direkte körperliche Schockreaktionen wie schneller Puls, Schwitzen und<br />

Übelkeit auf. „Die Empfindungslosigkeit dient nach Kast nicht nur der Verdrängung des<br />

Verlusterlebnisses, sondern auch als Schutz vor der Überwältigung durch ein Gefühl, mit dem<br />

man nicht umgehen kann. Kast versteht die verschiedenen Gefühlsausbrüche <strong>im</strong><br />

<strong>Trauer</strong>prozess als ‚Ausfaltung’ dieses ersten Gefühls, das sich unmittelbar nach dem Tod<br />

20 Vgl. hierzu: Kübler – Ross, Elisabeth: Interviews mit Sterbenden. Stuttgart 1971.<br />

Sowie Spiegl, Yorick: Der Prozess des <strong>Trauer</strong>ns. Analyse und Beratung. Mainz 1973. Sowie: Bowlby, John:<br />

Verlust, <strong>Trauer</strong> und Depression. Frankfurt/M. 1983. Sowie: Worden, J. William: Beratung und Therapie in<br />

<strong>Trauer</strong>fällen. Ein Handbuch. Stuttgart 1987.


6<br />

eines geliebten Menschen einstellt.“ 21 Ein erstes Teilziel des <strong>Trauer</strong>prozesses ist erreicht,<br />

wenn das Akzeptieren der Unwiderruflichkeit des Geschehens den Abschied ermöglicht. Der<br />

bisherige Bezug zur äußeren Person wird internalisiert, was als Chance zur Individuation des<br />

Hinterbliebenen gesehen werden kann: „Gleichzeitig integriert sich emotionell etwas<br />

bewusster in die eigene Psyche, was den <strong>Trauer</strong>nden an diesen Menschen gebunden hat, nun<br />

als eigenes Erlebnis, nicht mehr raubbar, auch nicht durch den Tod.“ 22<br />

2.5.1.2. Die zweite Phase der aufbrechenden Emotionen<br />

Das Erkennen des Ausmaßes des Verlustes löst ein Chaos intensiver Gefühle aus. Abhängig<br />

von der Persönlichkeit des Betroffenen mischen sich Angst, Wut und Verzweiflung mit<br />

Sehnsucht und Liebe. Da die Ohnmacht des Menschen gegenüber dem Tod in dieser Phase<br />

selten eingesehen werden kann, kommt es häufig zu Schuldgefühlen oder Zorn gegenüber<br />

Dritten. „Das Bemühen, einen Schuldigen für den Tod des Verstorbenen zu finden, deutet<br />

nach Kast darauf hin, dass wir das Gefühl der Ohnmacht nicht wahrhaben wollen und uns<br />

durch die Suche nach dem Schuldigen vorspiegeln wollen, dass wir so hilflos eigentlich doch<br />

nicht sind.“ 23<br />

2.5.1.3. Die dritte Phase des Suchens und Sich-Trennens<br />

Als weitere Reaktion folgt auf den Verlust eine Phase des Suchens. Ge- bzw. aufgesucht<br />

werden Orte und Tätigkeiten, die in enger Verbindung mit dem Verstorbenen stehen. Das<br />

Suchen findet aber auch in inneren Zwiegesprächen seinen Ausdruck. Sinn dieses Verhaltens<br />

ist es die Beziehung zum Verstorbenen als Bestandteil in die eigene Psyche zu integrieren, so<br />

dass eine Loslösung stattfinden kann. „Dieses Suchen – Finden – Trennen erlaubt es, sich mit<br />

dem Partner auseinander zu setzen, etwas in sich zu entdecken, was mit dem verstorbenen<br />

Menschen zusammenhängt, und dennoch zu spüren, dass mit den alten Lebensumständen<br />

nicht mehr zu rechnen ist, dass das eigene Welt- und Selbstverständnis umgebaut werden<br />

muss.“ 24 Wichtig für eine erfolgreiche <strong>Trauer</strong>arbeit ist, dass die Erlebnisse mit dem<br />

Verstorbenen zur Sprache gebracht werden können. Doch „obwohl die Unterstützung der<br />

Umwelt für die Bewältigung der einzelnen <strong>Trauer</strong>phasen sehr wesentlich ist, darf nach Kast<br />

jedoch nicht außer acht gelassen werden, dass die durch den Tod hervorgerufene Handlung<br />

letztlich von jedem Betroffenen selbst getragen werden muss.“ 25<br />

21 Iskenius-Emmler, Hildegard: Psychologische Aspekte von Tod und <strong>Trauer</strong> bei Kindern und Jugendlichen.<br />

Frankfurt/M. 1988, S. 98f.<br />

22 Kast, S. 46.<br />

23 Iskenius-Emmler, S. 99.<br />

24 Kast, S. 70.<br />

25 Iskenius-Emmler, S. 102.


2.5.1.4. Die vierte Phase des neuen Selbst- und Weltbezugs<br />

7<br />

Nach dem Bewältigen der oben genannten Schritte ist der <strong>Trauer</strong>nde in der Lage, den Verlust<br />

der geliebten Person vollständig zu akzeptieren. Ruhe und Frieden kehren in die Seele, in der<br />

der Verstorbene als innerer Begleiter seinen Platz gefunden hat, zurück. Das Gefühl für die<br />

eigene Person und Realität pendelt sich ein, so dass es dem <strong>Trauer</strong>nden wieder möglich wird,<br />

das eigene Leben aktiv zu gestalten. Im Idealfall sind die Erfahrung des Todes und das<br />

Wissen der Möglichkeit des Überstehens der <strong>Trauer</strong> auf positive Weise in das neue<br />

Selbstbewusstsein integriert.<br />

2.6. <strong>Trauer</strong> nach dem Tod eines Kindes<br />

Der Tod eines geliebten Menschen bedeutet eine schwere Zäsur <strong>im</strong> Leben der<br />

Hinterbliebenen. Erfolg und zeitlicher Rahmen des <strong>Trauer</strong>prozesses sind dabei von<br />

verschiedenen Faktoren abhängig. 26 Der Tod eines Kindes innerhalb einer Familie stellt die<br />

Hinterbliebenen vor besondere Herausforderungen, denn „in der Familie als der Int<strong>im</strong>gruppe<br />

gewinnen Gefühle – solche der Zuneigung wie der Abneigung - eine Bedeutung wie in keiner<br />

anderen Lebenssphäre. Was den einzelnen zutiefst anrührt ist entsprechend das Sterben von<br />

Kindern, Gatten, Eltern, Großeltern.“ 27 Während der Tod eines Familienmitglieds der älteren<br />

Generation noch <strong>im</strong> Sinnkontext einer abgeschlossenen Lebenserfahrung gedeutet werden<br />

kann, stellt der Verlust eines Kindes eine Zerstörung der Generationenfolge dar, so dass<br />

solche Sinnzuschreibungen nicht mehr möglich sind.<br />

Hierdurch gestaltet sich der <strong>Trauer</strong>prozess besonders schwierig und schmerzlich. Während<br />

der Tod eines älteren Menschen als Verlust von gelebter Vergangenheit und Gegenwart<br />

aufgefasst werden kann, erscheint der Verlust eines Kindes besonders für die Eltern auch als<br />

Verlust der Zukunft. „Gesellschaftliche und persönliche Vorstellungen von Sinn und Fülle<br />

eines Lebens zerbrechen am Tod eines Kindes, denn gemessen an den gängigen Maßstäben<br />

lässt sich eine positive Lebensbilanz schwer ziehen.“ 28 John Archer führt den besonderen<br />

Schmerz in diesem Sinn auf biologische Gründe zurück: „We would also predict a high<br />

intensity of grief under these circumstances from the Darwinian perspective in view of the<br />

relative reproductive values of older parents and their offspring. Parent’s own reproductive<br />

value declines throughout adult life, and helping their adult offspring and grandchildren<br />

26 Vgl. hierzu Bowlby, S. 224ff. Er best<strong>im</strong>mt fünf Hauptpunkte: 1. Identität und Rolle der verlorenen Person. 2.<br />

Alter und Geschlecht der hinterbliebenen Person. 3. Ursachen und Umstände des Verlusts. 4. soziale und<br />

psychologische Umstände des Verlusts. 5. Persönlichkeit des Hinterbliebenen mit besonderem Bezug auf seine<br />

Fähigkeiten zur Herstellung von Liebesbeziehungen und zur Reaktion auf belastende Situationen.<br />

27 Schmied, S. 136.<br />

28 Holzschuh, Wolfgang: Die <strong>Trauer</strong> der Eltern bei Verlust eines Kindes. Eine praktisch-theologische<br />

Untersuchung. Würzburg 1998, S. 49.


8<br />

becomes the main vehicle for inclusive fitness open to them. Loss of an offspring at this t<strong>im</strong>e<br />

occurs after years of parental investment at a t<strong>im</strong>e when they generally cannot be replaced.” 29<br />

Der Tod innerhalb der Familie stellt aber auch für das Sozialsystem Familie eine erhebliche<br />

Veränderung dar. „Man kann sich das vorstellen wie bei einem Mobile, bei dem eine Figur<br />

abgeschnitten wird. Es wird in sich instabil und alle Figuren verändern ihre Position. Für<br />

jedes Mitglied des Familiensystems steht eine Neuordnung an.“ 30 Im Gefüge der sozialen<br />

Rollen, die jedes Mitglied erfüllt, kann es ebenfalls zu Verlusten kommen, wenn<br />

beispielsweise der Ehepartner seine Rolle als Vater verliert. 31<br />

Die Schwierigkeit der familiären <strong>Trauer</strong> hat ihren Ursprung in der Tatsache, dass Vater,<br />

Mutter und Geschwister jeweils individuell, gleichzeitig aber auch gemeinsam trauern, was<br />

nicht selten zu Spannungen führt. „Für viele Eltern ist das getrennte <strong>Trauer</strong>n der Normalfall.<br />

Manche weinen allein <strong>im</strong> Auto, manche <strong>im</strong> Bett, manche hinter geschlossenen Bürotüren.<br />

(…) Doch wegen der Verschiedenheit des <strong>Trauer</strong>ns haben es Eheleute oft schwer, Hilfe<br />

voneinander zu bekommen“. 32<br />

Der Verlust eines Kindes stellt sich für jede Komponente des Familiensystems anders und<br />

mehrfach dar. „Verliert ein Kind ein Geschwister, kommt es zu Mehrfachverlusten. Die Eltern<br />

sind meist nicht mehr in der Lage, dem lebenden Kind genügend Aufmerksamkeit zu geben,<br />

da sie mit der eigenen <strong>Trauer</strong> beschäftigt sind. Das lebende Kind verliert also nicht nur ein<br />

Geschwister, sondern auch einen Teil der elterlichen Zuwendung.“ 33 Nach außen verliert die<br />

Familie den Status einer ‚normalen’ Familie, was soziale Beziehungen zur Umwelt erschwert.<br />

Es sind diese Faktoren, die die <strong>Trauer</strong>, die auf den plötzlichen Tod eines Kindes folgt,<br />

besonders stark und schmerzlich werden lassen. Der Tod geschieht unzeitig, unerwartet und<br />

trifft die Hinterbliebenen unvorbereitet. Zentrale Aspekte des Sterbens zeigen sich hier<br />

konzentriert und in extremer Weise. Ein filmisches Kunstwerk, das sich mit dem Thema ‚Tod<br />

eines Kindes’ auseinandersetzt, ist das Drama „Das Z<strong>im</strong>mer meines Sohnes“ von Nanni<br />

Moretti.<br />

29<br />

Archer, John: The Nature of Grief. The Evolution and Psychology of Reactions to Loss. London 1999, S.<br />

201f.<br />

30<br />

Hirschberg, Corinna: In: Brennpunkt Gemeinde 3/2004. Impulse für missionarische Verkündigung und<br />

Gemeindeaufbau. Studienbrief D 21: <strong>Trauer</strong>nde Kinder – wahrnehmen, verstehen und begleiten. Stuttgart 2004,<br />

S. 5.<br />

31<br />

Auf die geschlechtsspezifischen Unterschiede kann hier nicht weiter eingegangen werden. Es lässt sich aber<br />

sagen, dass Frauen das Zeigen von <strong>Trauer</strong>reaktionen gesellschaftlich mehr zugestanden wird als Männern. Vgl.<br />

Bowlby, S. 138. Vgl. auch die griechische Tradition der Myroloja-Klagegesänge, die von speziell<br />

ausgebildeteten ‚Klageweibern’ ausgeübt wird. In: Canacakis, Jorgos: Ich sehe deine Träne. <strong>Trauer</strong>n, Klagen,<br />

Leben können. Stuttgart 1993, S. 88-99.<br />

32<br />

Rothman, Juliet Cassuto: Wenn ein Kind gestorben ist. <strong>Trauer</strong>begleiter für verwaiste Eltern. Freiburg/Breisgau<br />

1998.<br />

33 Hirschberg, S. 5 f.


2.7. <strong>Trauer</strong> <strong>im</strong> <strong>Film</strong>: Das Z<strong>im</strong>mer meines Sohnes<br />

2.7.1. Der Regisseur Nanni Moretti<br />

9<br />

Nanni Moretti, der 1953 in Bruncio, Italien, geboren wurde, ist ein italienischer <strong>Film</strong>emacher,<br />

Produzent und Schauspieler. Er startete seine professionelle Karriere mit dem <strong>Film</strong> „Ecce<br />

Bombo“ (dt. Der Nichtstuer) <strong>im</strong> Jahr 1978. „Die <strong>im</strong>plizite Thematik des <strong>Film</strong>s - die Suche<br />

eines eigenen Standorts innerhalb der Linken - kehrt in späteren <strong>Film</strong>en in veränderter Form<br />

wieder. Einfallsreiche, witzige, widersinnige Dialoge, offene Kritik an der Gesellschaft und<br />

die bewusste Abkehr von filmischen Konventionen - Moretti hat seinen Stil und seine<br />

Sprache (die Leichtigkeit, der Witz, das Absurde), sein Lebensthema (die Linke, die Politik),<br />

den Schauplatz vieler seiner <strong>Film</strong>e (Rom) (…) bereits gefunden.“ 34 Mit „Sogni d’oro“ (dt.<br />

Goldene Träume) gewann Moretti 1981 den ‚Goldenen Löwen’ in Venedig. Ein<br />

internationaler Erfolg gelang ihm 1994 mit „Caro diario“ (dt. Liebes Tagebuch), einem <strong>Film</strong>,<br />

der sich aus drei autobiographisch angehauchten Episoden zusammensetzt und in dem Moretti<br />

erstmals sich selbst und unter seinem eigenen Namen spielt. „Freeing h<strong>im</strong>self from his past<br />

personae (played by h<strong>im</strong>self, in this film as in others, under the name Michele Apicella), he<br />

prescribes his ‚cure’ through movement in t<strong>im</strong>e, through abandoning past formulas and<br />

conventions, looking for a cinema of body and brain to come into being.” 35 Auf dem<br />

<strong>Film</strong>festival in Cannes gewann dieser <strong>Film</strong> die Auszeichnung für die beste Regie. Der <strong>Film</strong><br />

„Aprile“, der 1998 in die Kinos kam, zeigt die Geschichte eines Regisseurs, der sich<br />

entscheiden muss, ob er einen Dokumentarfilm über die Linke in Italien oder ein Musical <strong>im</strong><br />

Stil der 50er-Jahre dreht. Moretti spielt in seinen <strong>Film</strong>en fast <strong>im</strong>mer die Hauptrolle, schreibt<br />

die Drehbücher größtenteils selbst und ist auch als Produzent für den <strong>Film</strong> verantwortlich,<br />

„Moretti ist ein Autorenfilmer <strong>im</strong> klassischen Sinne.“ 36 Mit dem in Ancona entstandenen<br />

Familiendrama „La stanza del figlio“ (dt. Das Z<strong>im</strong>mer meines Sohnes; 2001) konnte er seinen<br />

bisher größten Publikumserfolg feiern. Im Jahr 2006 kam der <strong>Film</strong> „Il Ca<strong>im</strong>ano“ (dt. Der<br />

Ka<strong>im</strong>an) zwei Wochen vor den italienischen Parlamentswahlen in die italienischen Kinos.<br />

Moretti spielt hier nicht sich selbst, sondern die Rolle des Silvio Berlusconi. Der <strong>Film</strong><br />

schildert, „wie es sich <strong>im</strong> ganz normal verrückten Italien der Berlusconi-Ära lebt und<br />

34 http://www.italienwelten.de/Nanni_Moretti.317.0.html 19.05.06<br />

35 Landy, Marcia: Italian <strong>Film</strong>. Cambridge 2000, S. 375.<br />

36 Bock, Hans-Michael (Hg.): Lexikon der Regisseure und Kameraleute. Reinbek bei Hamburg, 1999, S. 332f.<br />

Vgl. auch: Stiglegger, Marcus (Hg.): Splitter <strong>im</strong> Gewebe. <strong>Film</strong>emacher zwischen Autorenfilm und<br />

Mainstreamkino. Mainz 2000. 1986 schafft es Nanni Moretti auf das Titelbild der renommierten französischen<br />

Fachzeitschrift „Cahiers du Cinéma“, in der das Konzept des „Auteurs“ von François Truffaut, Claude Chabrol,<br />

Jean-Luc Godard u. a. in den 1950er Jahren entwickelt wurde. Vgl. hierzu: Moninger, Markus: <strong>Film</strong>kritik in der<br />

Krise. Die "politique des auteurs". Tübingen 1992.


10<br />

arbeitet.“ 37 Der <strong>Film</strong> gewann insgesamt 7 ‚David de Donatello’- Auszeichnungen. Diese<br />

Trophäe stellt den höchsten der italienischen <strong>Film</strong>preise dar. Für „Das Z<strong>im</strong>mer meines<br />

Sohnes“ hatte Moretti 2001 drei ‚Donatellos’ und die ‚Goldene Palme’ bei den<br />

<strong>Film</strong>festspielen in Cannes erhalten. Er selbst charakterisiert die Leitfragen seines <strong>Film</strong>s in<br />

einem Interview folgendermaßen: „Wie reagiert man auf den Tod einer Person, die man liebt?<br />

Wie lebt es sich, wenn jemand aus der näheren Umgebung stirbt?“ 38<br />

2.7.2. Sequenzplan<br />

Ein Sequenzplan von „Das Z<strong>im</strong>mer meines Sohnes“ befindet sich <strong>im</strong> Anhang auf Tabelle 1.<br />

Der Plan ermöglicht einen leichteren Überblick über die Gesamthandlung und die einzelnen<br />

Handlungsabschnitte.<br />

2.7.3. Analyse des dramaturgischen Aufbaus<br />

2.7.3.1. Exposition (0:00:00 – 0:34:03)<br />

„Der Anfang schafft bereits die Rahmenbedingungen für die erzählte Welt, denn<br />

dramaturgisch gesehen steht am Anfang die Exposition, in der Zeit und Ort der Handlung<br />

sowie die handelnden Figuren vorgestellt werden.“ 39 In der Eröffnungsszene dieses 93<br />

Minuten langen <strong>Film</strong>s wird ein knapp 50jähriger Mann (Nanni Moretti) gezeigt, der vor dem<br />

Hintergrund eines Industriehafens Dauerlauf betreibt. Der Mann heißt Giovanni und ist<br />

Psychotherapeut, Ehemann und Vater von zwei Kindern. Sein Weg führt ihn vom<br />

menschenleeren Hafen in die belebten Straßen der Stadt Ancona, einer mittelgroßen Stadt an<br />

der Adriaküste, wo er arbeitet und mit seiner Familie wohnt. Von einer Kaffeebar aus<br />

beobachtet Giovanni eine Gruppe singender Krishna Jünger, die ihren hinduistisch geprägten<br />

Glauben an die Wiedergeburt tanzend ausdrücken.<br />

Giovanni begibt sich in seine Wohnung, wo er einen Telefonanruf erhält. Es ist der Direktor<br />

der Schule, die sein Sohn, der 18-jährige Andrea (Giuseppe Sanfelice) besucht. Der Direktor<br />

bittet Giovanni zur Schule zu kommen, da er seinen Sohn verdächtige, einen Ammoniten aus<br />

der Asservatenkammer gestohlen zu haben. Eine nächste Szene zeigt Giovanni bei seiner<br />

Arbeit als Psychotherapeut. Geduldig hört er sich die Probleme seiner Patienten an und hilft<br />

mit guten Ratschlägen weiter. Als Giovannis Arbeitstag zu Ende ist, schließt er die Tür der<br />

37<br />

Schürmer, Dirk: Berlusconi <strong>im</strong> Kino. Der Ka<strong>im</strong>an, das bin ich. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 76,<br />

Ausgabe vom 30.03.2006, S. 39.<br />

38<br />

Nanni Moretti in: „Interview mit Nanni Moretti”. www.djfl.de.entertainment/stars/n/nanni_moretti_i_01.html<br />

17.05.06.<br />

39<br />

Mikos, Lothar: <strong>Film</strong>- und Fernsehanalyse. Konstanz 2003, S. 123.


11<br />

Praxis und geht hinüber in seine Wohnung, wo er gemeinsam mit Irene (Jasmin Trinca),<br />

seiner jugendlichen Tochter, Paola (Laura Morante), seiner Frau und Andrea zu Abend isst.<br />

Die Familie wird dem Zuschauer als harmonisch und ausgeglichen präsentiert. Der Vorwurf<br />

des Diebstahls, der Andrea gemacht wird, besorgt die Eltern zwar, erscheint aber nicht als ein<br />

Problem, das den Familienfrieden gefährden könnte. Das Titel gebende Z<strong>im</strong>mer des Sohnes<br />

wird zum ersten Mal gezeigt, als sich Giovanni hinein schleicht und sich darin umschaut. Es<br />

scheint, als verspüre er den Drang, zu sehen, ob er nicht doch den Ammoniten dort finden<br />

kann. In den nun folgenden Szenen, die 5 Tage der insgesamt 16 Tage erzählter Zeit<br />

umfassen, wird der Alltag der Familienmitglieder weiter ausgeleuchtet. Der Rezipient erfährt<br />

von den Ängsten und Sorgen der Patienten Giovannis, vom Basketball-Training der Tochter<br />

und Matteo, ihrem Freund. Abends folgt die Kamera in das Schlafz<strong>im</strong>mer von Giovanni und<br />

Paola, deren Ehe auch auf erotischem Gebiet intakt ist. So vergeht die Zeit relativ<br />

unspektakulär und der Zustand des mittelständischen Glücks wird als stabil präsentiert.<br />

2.7.3.2. Steigerung und Problem (0:34:04-1:22:12)<br />

Das zentrale Ereignis geschieht erst <strong>im</strong> zweiten Drittel des <strong>Film</strong>s. Am Abend des sechsten<br />

Tages n<strong>im</strong>mt das Unheil unspektakulär seinen Lauf: Eigentlich hatte sich Giovanni mit<br />

Andrea zum Laufen verabredet, doch als einer seiner Patienten, Oscar, ihn anruft und<br />

dringend um einen Hausbesuch bittet, entschließt er sich, den Lauftermin zu verschieben.<br />

Andrea geht stattdessen mit seinen Freunden zum Tauchen, wobei er verunglückt. Die<br />

folgenden Ereignisse werden <strong>im</strong> <strong>Film</strong> stark gerafft, nur schlaglichtartig und mit abrupten<br />

Zeitsprüngen erzählt.<br />

Giovanni kommt voller Sorge an den Hafen, wo Thomas und dessen Vater ihn bereits<br />

erwarten. Im Krankenhaus warten sie. Ein Bestattungsunternehmer ist anwesend, mit einem<br />

Katalog, in dem verschiedene Sargmodelle abgebildet sind. Die Aufbahrung in einem Raum<br />

des Krankenhauses wird gezeigt. Die Familie n<strong>im</strong>mt Abschied von Andrea.<br />

Das Verschließen des Sarges markiert die Endgültigkeit des Abschieds. Stand bisher die<br />

harmonische Gemeinschaft der Familie <strong>im</strong> Vordergrund, so rückt nun die Darstellung der<br />

<strong>Trauer</strong> der einzelnen Familienmitglieder in den Mittelpunkt des erzählerischen Interesses. Die<br />

verwaisten Eltern und Irene, die ihren Bruder verloren hat, werden be<strong>im</strong> Durchleben der<br />

<strong>Trauer</strong>phasen gezeigt. Der Tod Andreas hat eine nicht zu füllende Leerstelle <strong>im</strong> Gefüge der<br />

Familie hinterlassen, die auch durch das nun leer stehende Z<strong>im</strong>mer Andreas verdeutlicht wird.<br />

Die jeweils individuelle <strong>Trauer</strong> der Familienmitglieder treibt die Familie <strong>im</strong>mer weiter<br />

auseinander. Es droht der Verlust auch dieser noch verbliebenen Bande. Ein Brief einer<br />

Ferienliebe Andreas kommt unerwartet an. Paola n<strong>im</strong>mt mit der Absenderin Ariana Kontakt


12<br />

auf und lädt sie nach Ancona ein, was diese jedoch zu diesem Zeitpunkt der Geschichte noch<br />

ablehnt. Unter dramaturgischen Gesichtspunkten betrachtet wirkt dieser Aufschub als<br />

retardierendes Moment. Obwohl durch dieses Hinzutreten einer Figur von außen bereits ein<br />

Weg zur Bewältigung des Problems aufscheint, verstärkt sich die emotionale Spannung<br />

zwischen Giovanni und Paola vorerst gerade durch diesen Brief.<br />

2.7.3.3. Wendepunkt und Ansatz einer Lösung (1:22:13 – 1:32:50)<br />

Die entscheidende Wendung, hin zu einem versöhnlichen Schluss, erhält die Geschichte<br />

durch Ariana, die sich entschieden hat, die Familie doch zu besuchen. Nach kurzem Gespräch<br />

erklärt Ariana, sie und ihr Freund Stefano seien per Anhalter unterwegs. Giovanni entschließt<br />

sich, die beiden zur nächsten Autobahnauffahrt zu fahren, wo sie bessere Chancen hätten,<br />

mitgenommen zu werden. Gemeinsam mit Paola, Irene, Ariana und Stefano fahren sie los.<br />

Um die Reise abzubilden, greift Moretti auf die Zeit raffende Technik des elliptischen<br />

Erzählens zurück und zeigt nur die wichtigsten Stationen des Weges. Die Fahrt endet am<br />

frühen Morgen an einer Autobahnraststätte, die am Meer liegt. Nach einem Kaffee<br />

verabschieden sich Stefano und Ariana von der Familie. Giovanni, Paola und Irene laufen am<br />

Strand entlang. Diese letzten Bilder schließen den <strong>Film</strong> mit Aussicht auf einen positiven<br />

Umgang mit dem Tod Andreas ab. Da hier zwar der <strong>Film</strong>, nicht jedoch die Geschichte der<br />

<strong>Trauer</strong> Giovannis und seiner Familie endet, kann in Hinblick auf die Erzählform von einem<br />

offenen Ende gesprochen werden.<br />

2.7.3.4. Fazit der Analyse<br />

Die lange Exposition, die ein Drittel der <strong>Film</strong>dauer in Anspruch n<strong>im</strong>mt, stellt die Rituale der<br />

Familie dar, die zwischen Frühstück, Schule, Arbeit und Freizeit den Alltag in einer<br />

liebevollen Atmosphäre zu bewältigen hat. Dem Zuschauer wird die Möglichkeit geboten,<br />

sich aufgrund dieser ihm wahrscheinlich ebenfalls vertrauten Handlungen mit der Familie zu<br />

identifizieren. Gleichzeitig wird eine Atmosphäre bürgerlichen Glücks geschaffen und so die<br />

Fallhöhe vorbereitet. Der Kontrast, der durch die schockierende Wirkung des unerwarteten<br />

Todes geschaffen wird, wirkt so umso eindrücklicher. Da der Tod völlig ohne vorbereitenden<br />

‚suspense’ geschieht, wird für den Zuschauer deutlich, dass der Tod eine Konstante der<br />

Wirklichkeit ist, der jeder, ihn eingeschlossen, in jedem Augenblick zum Opfer fallen kann.<br />

Der Tod, als das die <strong>Trauer</strong> auslösende Ereignis in „Das Z<strong>im</strong>mer meines Sohnes“, passiert<br />

einfach ohne äußeren Anlass wie beispielsweise eine Krankheit und ohne moralischen<br />

Anspruch, wie sie etwa die Bestrafung durch Tod <strong>im</strong> Sinn einer poetischen Gerechtigkeit<br />

nach einer moralischen Verfehlung darstellen würde. Die Folgen des Verlusts des Sohnes


13<br />

nehmen den größten Teil der erzählten und der Erzählzeit ein, wodurch auf temporaler Ebene<br />

markiert wird, dass der <strong>Trauer</strong>prozess <strong>im</strong> Mittelpunkt des <strong>Film</strong>es steht - „die Analyse der<br />

Handlungsstruktur erweist sich als Schlüssel zum besseren Verständnis des <strong>Film</strong>s.“ 40<br />

Wie schon der Tod des Sohnes wird auch die <strong>Trauer</strong> realistisch, nüchtern erzählt. Gezeigt<br />

wird, wie sich ein solches Unglück auf das soziale Konstrukt Familie auswirken kann: Dem<br />

anfänglich Einigkeit stiftenden Schmerz folgt schnell eine Phase, in der die jeweils individuell<br />

empfundene <strong>Trauer</strong> die Hinterbliebenen zusehends voneinander entfremdet. Erst als Ariana<br />

und Stefano hinzukommen, zeichnet sich eine Lösung ab. In ihrer Gegenwart wird es<br />

möglich, über Andrea zu sprechen. Das, was die von Irene initiierte Messe leisten sollte, Trost<br />

und Hoffnung zu spenden, gelingt durch Ariana und Stefano, symbolisiert in der Fahrt durch<br />

die Nacht, in deren Verlauf die Familienmitglieder wieder zu einander finden. Die Fahrt endet<br />

bezeichnenderweise an einem neuen, sonnigen Tag, am Strand des Meers, dem Symbol für<br />

die Einheit von Leben und Tod. 41<br />

2.8. Analyse der Hauptfigur<br />

2.8.1. Giovanni vor der <strong>Trauer</strong><br />

Die Figur des Giovanni (Nanni Moretti) wird in den ersten Bildern des <strong>Film</strong>s eingeführt. Im<br />

Verlauf der Handlung zeigt die Kamera das Geschehen hauptsächlich aus Sicht eines<br />

unsichtbaren Begleiters Giovannis. Selten gibt es Szenen, in denen er nicht präsent ist, was<br />

ihm die Rolle der Hauptfigur zuweist. „Besonderes Interesse gilt häufig dem ersten Auftritt<br />

des Protagonisten und der Art seiner Charakterisierung. Aufgrund seiner Rolle als<br />

Wahrnehmungs- und Bedeutungszentrums <strong>im</strong> <strong>Film</strong> wird auf seine Gestaltung in aller Regel<br />

Wert gelegt, eben um die notwendige Glaubwürdigkeit und zugleich Attraktivität zu<br />

erzeugen.“ 42 In der ersten Szene begegnet Giovanni nach dem Joggen am Hafen dem Zufall in<br />

der heiteren Form einer Gruppe tanzender und singender Krishna-Jünger. Giovanni kann<br />

diese Begegnung annehmen und summt die Melodie der Krishna Jünger bis nach Hause. Dort<br />

wird er erneut mit etwas Unerwartetem konfrontiert: sein Sohn soll einen Ammoniten<br />

gestohlen haben. Auch hierfür hat Giovanni eine Lösung parat und sucht das klärende<br />

Gespräch mit dem Direktor und den Eltern der Schulkameraden. Im ersten Drittel des <strong>Film</strong>s<br />

wird Giovanni als treu sorgender, manchmal überbehütender Familienvater gezeigt, für den<br />

das Leben in stabilen, harmonischen Bahnen verläuft. Das Unerwartete kann er geschickt in<br />

seinen Alltag integrieren. Die Familie lebt in Harmonie zusammen, was beispielsweise in<br />

40 Faulstich, Werner: Grundkurs <strong>Film</strong>analyse. München 2002, S. 86.<br />

41 Vgl. Selbmann, Sibylle: Selbmann, Sibylle: Mythos Wasser: Symbolik und Kulturgeschichte. Karlsruhe 1995.<br />

42 Faulstich, S. 97.


14<br />

einer Szene dokumentiert wird, in der alle vier Familienmitglieder bei einer Autofahrt zu<br />

sehen sind: Im Radio läuft ein italienischer Schlager, Giovanni singt laut mit und auch Paolo,<br />

Andrea und Irene st<strong>im</strong>men ein. So entsteht ein <strong>im</strong>provisiertes Quartett als Sinnbild der<br />

Familie: Jede Figur ist für sich, doch gleichzeitig eingebettet in den Sinn spendenden Rahmen<br />

der Familie. 43 Die gefestigten Beziehungen lassen den Diebstahl und die Erkenntnis, dass<br />

Irenes Freund Haschisch raucht, als kleine Irritationen erscheinen, die diese Feste jedoch nicht<br />

erschüttern können.<br />

Als Giovanni Irene zusammen mit Paola bei einer Latein-Übersetzung hilft, fällt der Satz<br />

„Mit wenig Mühe wirst Du geführt werden.“ 44 Hiermit wird die Aufgabe, die ihm die<br />

Ereignisse der zwei letzten Drittel der Handlung auferlegen, bereits angedeutet. Für ihn geht<br />

es um Akzeptieren des Zufalls, auch, wenn dieser nicht heiter, wie in der Szene mit den<br />

tanzenden Krishna-Jüngern, sondern grausam und schmerzhaft ist.<br />

Einige Male wird Giovanni be<strong>im</strong> Joggen gezeigt. In der Anstrengung seines Körpers findet er<br />

Nähe zu sich und Abstand von den Neurosen, mit denen er in seiner Funktion als<br />

Psychotherapeut täglich konfrontiert wird. Die Spannung zwischen Nähe und Abstand,<br />

Int<strong>im</strong>ität und Distanz formuliert eine weitere Problemebene des <strong>Film</strong>s, die sich in seiner<br />

Arbeit spiegelt. Die Verschränkung zwischen der Arbeitswelt und dem Privatbereich wird<br />

auch verdeutlicht durch den Umstand, dass Praxis und Wohnung räumlich direkt miteinander<br />

verbunden sind. Als Psychotherapeut n<strong>im</strong>mt Giovanni die Rolle des Übervaters ein, die<br />

geprägt ist von unerschütterlicher Ruhe. Er hört zu und hat für die Probleme seiner Patienten<br />

Tipps und Lösungen, auch wenn diese teilweise nur in einer von ihm <strong>im</strong>aginierten Traumwelt<br />

existieren. 45 Ähnlich wie bei der Lateinübersetzung <strong>im</strong> Kreis der Familie geht es auch in den<br />

Therapiesitzungen um Gelassenheit. Seiner Patientin Raffaela, rät er zu mehr Gelassenheit,<br />

denn man könne nicht alles was passiert best<strong>im</strong>men und sei auch nicht für Alles<br />

verantwortlich.<br />

Als Andrea jedoch bei einem Tauchunfall verunglückt, macht gerade er sich für den Tod<br />

seines Sohnes in verantwortlich, denn eigentlich hatte er sich mit ihm zum Joggen verabredet,<br />

musste ihm aber dann aus beruflichem Pflichtgefühl absagen, da ein Patient, Oscar, dringend<br />

seine Hilfe benötigte.<br />

43 Dass <strong>im</strong> Radio keine politischen Nachrichten kommen, weist darauf hin, dass es in „Das Z<strong>im</strong>mer meines<br />

Sohnes“ um die private Geschichte dieser Familie geht.<br />

44 0:15:47<br />

45 0:23:40


2.8.2. Der <strong>Trauer</strong>prozess Giovannis<br />

15<br />

2.8.2.1. Die erste Phase des Nicht-Wahr-Haben-Wollens<br />

Die Nachricht über den Tod seines Sohnes löst bei Giovanni zunächst einen Schock aus, der<br />

ihn sprachlos werden lässt. Giovanni fährt zu Irene, die gerade ein Basketballspiel zu<br />

bestreiten hat und ohne Worte zu wechseln wird klar, dass etwas Außergewöhnliches passiert<br />

sein muss. Zuhause umarmen sich die Familienmitglieder und sind in gemeinsamer Sorge und<br />

geteiltem Schmerz vereinigt, gesprochen wird jedoch nicht. Im Wartesaal des Krankenhauses<br />

versucht Giovanni zwar einen Anruf zu tätigen, doch seine St<strong>im</strong>me versagt und er findet<br />

keine Worte. Das Unfassbare ist gleichzeitig das Unaussprechliche, Etwas, das nicht in die<br />

sprachliche Realität geholt werden kann. 46<br />

Die Aufbahrung Andreas, die in Nahaufnahmen gezeigt wird, vollzieht sich ebenfalls ohne<br />

Worte. Als der Sarg geschlossen wird, beginnt sich bereits abzuzeichnen, dass jeder <strong>im</strong> Leid<br />

für sich stehen muss.<br />

Giovanni kann den Zufall in seiner grausamen Form nicht annehmen, sondern flüchtet sich<br />

vor der Erkenntnis des Todes seines Sohnes in Reizüberflutung. Auf dem Rummelplatz sucht<br />

er <strong>im</strong> Trubel Ablenkung, begegnet dort aber ständig Symbolen des Lebens, wie einem<br />

Karussell oder einer Spielzeug-Pferderennbahn. Der Zuschauer sieht ihn, wie er sich mit<br />

wütendem Gesicht von einem Fahrgeschäft durchschütteln lässt und wie er ziellos durch das<br />

Gewühl läuft, eine Reaktion die seine Seele vor dem unerträglich starken Schmerz schützen<br />

soll. Er verneint und distanziert sich vom Anerkennen der Realität des Todes auch durch das<br />

bruchlose Fortführen seiner täglichen Arbeit als Psychotherapeut.<br />

Ein vorsichtiges Annähern geschieht erst be<strong>im</strong> Schreiben der Kondolenzbriefe, das ein<br />

soziales Muster des <strong>Trauer</strong>ns darstellt und auf das in solchen Fällen zurückgegriffen werden<br />

kann, um den Schmerz zu kanalisieren. Bei dieser Arbeit, die Giovanni und Paola gemeinsam<br />

erledigen, werden Erinnerungen wach und besprochen, wodurch eine Möglichkeit entsteht,<br />

den bisher äußeren Bezug zu Andrea zu internalisieren. Giovanni beginnt nun zwar, sich der<br />

Wirklichkeit zu stellen, doch er verharrt lange in diesem<br />

Übergangstadium zur zweiten Phase der <strong>Trauer</strong>. Verantwortlich dafür ist sein Empfinden,<br />

eine Mitschuld an Andreas Tod zu tragen. Symptomatisch für seine Selbstvorwürfe und sein<br />

Verlangen, das Geschehene ungeschehen zu machen ist, dass er sich <strong>im</strong>mer wieder dieselbe<br />

46 So wie die Sprache vor dem Tod verstummt, zeigt Moretti auch den Tod, indem er die Bilder ‚verstummen’<br />

lässt. Das tragische Ereignis selbst ist nicht zu sehen. In einer Montagesequenz, die mit schnellen Schnitten<br />

arbeitet, werden Andrea bei der Abfahrt des Schlauchboots, Paola, die auf dem Markt angerempelt wird, Irene,<br />

die mit ihren Freunden Mofa fährt und Giovanni, dem ein hupender LKW entgegenkommt gezeigt. Es handelt<br />

sich lediglich um Vorzeichen und Andeutungen, die suggerieren, dass jedem der Beteiligten etwas zustoßen<br />

könnte. Dass Andrea tot ist, wird erst in der Szene, in der Paola mit Ariana telefoniert zur Sprache gebracht.


16<br />

Sequenz eines Liedes anhört. 47 Hier kann er die Zeit zurück drehen, <strong>im</strong> Leben jedoch nicht.<br />

Gleichzeitig dient ihm das Medium Musik zur St<strong>im</strong>ulation von Erinnerungen an seinen Sohn.<br />

<strong>Film</strong>isch wird dies in Traumsequenzen gezeigt, in denen Giovanni und Andrea joggen und<br />

somit das getan hätten, was eigentlich geplant war. In seiner Phantasie kann Giovanni die<br />

Realität so entwerfen, dass das schmerzhafte Erlebnis nicht stattgefunden hat, <strong>im</strong> Leben hat er<br />

darauf jedoch keinen Einfluss mehr. 48<br />

2.8.2.2. Die zweite Phase der aufbrechende Emotionen<br />

Diese Ohnmacht und die Schuldgefühle lassen Giovanni zum Detektiv werden, eine typische<br />

Reaktion in der zweiten <strong>Trauer</strong>phase nach Verena Kast. 49 Er begibt sich auf die Suche nach<br />

einem Schuldigen und forscht be<strong>im</strong> Tauchhändler nach, ob Andrea möglicherweise wegen<br />

eines technischen Versagens gestorben sei. 50 Weiterhin hadert er, sich mit der Realität<br />

abzufinden. In <strong>im</strong>mer wiederkehrenden <strong>im</strong>aginären Bildern malt er sich aus, was passiert<br />

wäre, wenn er seinem Sohn nicht abgesagt hätte, 51 doch in seiner Praxis wird er mit<br />

Problemen konfrontiert, die ihn ständig an den geschehenen Verlust erinnern. So kommt<br />

Oscar, der Patient, wegen dem Giovanni den Termin nicht einhalten konnte, in die Praxis und<br />

spricht über seine Angst zu sterben und welche Auswirkungen das für seine Mutter hätte,<br />

bevor er merkt, wie sehr dieses Thema Giovanni selbst betrifft. 52 Giovanni sagt zwar, er solle<br />

sich darüber keine Sorgen machen und versucht, seiner Rolle als Arzt gerecht zu werden,<br />

doch die nötige Distanz zwischen Arzt und Patient bröckelt, da er Oscar ständig mit dem Tod<br />

des Sohnes in Verbindung bringt. 53 Gerade Giovanni, der seine Patienten sonst gut versteht<br />

und mit deren Gefühlen souverän umgehen kann, weiß nun nicht mehr weiter.<br />

Der Helfer braucht selbst Hilfe und sucht einen befreundeten Kollegen auf, der ihm rät, offen<br />

mit Oscar zu sprechen. Der Weg zur Lösung dieses Problems geht über die Anerkennung der<br />

veränderten Situation <strong>im</strong> darüber Sprechen als Akt der kommunikativen Verwirklichung und<br />

Verankerung der Emotionen in zwischenmenschlicher Realität. Dafür muss Giovanni die<br />

Distanz zwischen Arzt und Patient aufgeben.<br />

Die Distanz-Nähe Problematik zeichnet sich auch innerhalb der Familie ab. Dort gestaltet sich<br />

die Situation <strong>im</strong>mer schwieriger. War der gemeinsame Schmerz am Anfang noch ein<br />

verbindendes, Nähe schaffendes Element, so treibt die jeweils individuell empfunden und<br />

47<br />

0:47:10<br />

48<br />

0:50:05<br />

49<br />

Iskenius-Emmler, 99.<br />

50<br />

0:48:00<br />

51<br />

0:49:08<br />

52<br />

0:49:12<br />

53<br />

0:58:20


17<br />

ausgelebte <strong>Trauer</strong> die Familie mehr und mehr auseinander: Die institutionalisierte Instanz des<br />

Gottesdienstes wird zwar noch gemeinsam durchlaufen, erscheint aber sinnentleert und kann<br />

keinen Trost bieten, besonders nicht für Giovanni.<br />

Bevor sein Sohn starb, war Giovanni ein Profi in der Deutung von Gedanken und Träumen,<br />

doch nun weiß er mit den metaphorischen Worten des Pfarrers nichts anzufangen. „Wenn der<br />

Hausvater wüsste, wann in der Nacht der Dieb kommt, würde er wach bleiben. Was heißt<br />

das?“ schreit Giovanni verzweifelt. Den Versuch des Pfarrers, den Tod als eine schicksalhafte<br />

Verknüpfung von Zufällen darzustellen, will Giovanni nicht gelten lassen. Seine Wut bricht<br />

aus ihm hervor, wenn er zerbrochene, aber wieder geklebte Tassen aus dem Schrank zieht und<br />

sie zynisch als Abfall, von dem man sich trennen müsse, bezeichnet. Aus psychologischer<br />

Sicht ist damit jedoch bereits ein Fortschritt auf dem Weg zu einer Bewältigung der <strong>Trauer</strong><br />

getan. Das Ende von Dingen und Menschen und die notwendige Distanzierung durch<br />

Trennung werden zur Sprache gebracht und mit entsprechenden Gefühlen verknüpft.<br />

Es ist ein erster Ansatz, das Schicksal zu akzeptieren. Die aufbrechenden Empfindungen, die<br />

Giovanni nun an sich heran lässt, werden so stark, dass er seine Arbeit einstellen muss, da er<br />

seinen Patienten nicht weiter helfen kann. Er wird <strong>im</strong> Gegenteil zynisch und vergisst die<br />

gebotene Rücksichtsnahme, was erneut den Verlust der notwendigen Distanz markiert. Ihren<br />

Höhepunkt erreichen die schmerzhaften Gefühle, als Giovanni während einer Therapiesitzung<br />

an den Tod Andreas erinnert wird und in Tränen ausbricht. 54<br />

2.8.2.3. Die dritte Phase des Suchens und Sich-Trennens<br />

Nachdem Giovanni sich der <strong>Trauer</strong> geöffnet hat, kann er den nächsten Schritt auf dem Weg<br />

zur Heilung wagen. Der Beschluss, die Arbeit zu unterbrechen ist ein Zeichen für die<br />

Anerkennung der geänderten Realität und der Tatsache, dass das bisherige Leben nicht<br />

fortgeführt werden kann, als sei nichts geschehen. Sein Verhältnis zum Tod seines Sohnes hat<br />

sich von der Leugnung hin zu einem Akzeptieren gewandelt. Es ist Giovanni nun möglich,<br />

Plätze aufzusuchen, die mit Andrea in enger Beziehung stehen, ohne dass der Schmerz<br />

unerträglich ist. 55 Die Gelassenheit, zu der er Raffaella anfangs geraten hatte, kann er nun<br />

langsam bei sich zulassen. Er sucht die aussöhnenden Aspekte des Schicksals. Auch in Bezug<br />

auf seine Familie kommt es zu einer Hinwendung, weg vom eigenen egozentrischen Schmerz,<br />

hin zu seinen Mitmenschen. 56 Die Gegenwart beginnt sowohl zeitlich als auch <strong>im</strong> personellen<br />

Umfeld langsam wieder in den Mittelpunkt zu rücken.<br />

54 1:06:58.<br />

55 1:16:00<br />

56 1:16:04


18<br />

Giovanni führt die <strong>Trauer</strong>arbeit nun aktiv weiter und erkundigt sich nach dem<br />

Musikgeschmack Andreas bei einem Musikhändler, wo er auch eine CD kauft. Sein Wunsch<br />

nach einer Übersetzung der Texte drückt das große Interesse für die Weltsicht seines Sohnes<br />

aus, die er, nun als einen Teil seiner eigenen Persönlichkeit, erfahren möchte. Der Inhalt des<br />

Liedes wird bildlich umgesetzt, wenn Brian Eno singt: “You talk to me/as if from a<br />

distance/And I reply/With <strong>im</strong>pressions chosen from another t<strong>im</strong>e:“ 57 Die Assoziationen, die<br />

durch das Hören bei Giovanni ausgelöst werden, lassen ihn wieder in <strong>im</strong>aginären Kontakt mit<br />

Andrea treten, doch provozieren keine Weinanfälle mehr. Das bedeutendste Ereignis auf dem<br />

Weg zur Heilung ist das Eintreffen von Ariana, die die Familie unerwarteterweise doch noch<br />

besucht. Durch das Auftauchen von Ariana kommt Bewegung in die erstarrte Situation<br />

innerhalb der Familie. Durch sie wird der Schritt heraus aus der zirkulären Geschlossenheit<br />

der eigenen Erinnerungen möglich. Auf bildlicher Ebene verweist dies auf den von Andrea<br />

gestohlenen Ammonit, dieser „Schnecke mit Spiralen“ 58 . Während die <strong>Trauer</strong>arbeit die<br />

einzelnen Personen bis zu diesem Punkt in die Tiefe ihrer Seele geführt hat, ändert sich nun<br />

die Richtung dieses Weges und führt spiralförmig, also nicht geradlinig aber zielgerichtet<br />

nach außen, so dass Gemeinschaft langsam wieder möglich wird.<br />

Giovanni öffnet Ariana die Tür am frühen Abend des 15. Tages. Gemeinsam warten die<br />

beiden auf Paola und betrachten in der Zwischenzeit Fotos, die Andrea für Ariana gefertigt<br />

hatte. Andrea ist darauf in lustigen Posen in seinem Z<strong>im</strong>mer zu sehen. Zum ersten Mal seit<br />

seinem Tod wird Giovanni wieder lächelnd gezeigt: „Das ist witzig, nicht wahr?“ 59 Das<br />

Medium der Fotografie, in dem der Brückenschlag zwischen verlorener Vergangenheit und<br />

erlebter Jetztzeit möglich wird, geleitet das Trauma des Verlusts in den heilenden Trost der<br />

Erinnerung. 60<br />

2.8.2.4. Die vierte Phase des neuen Selbst- und Weltbezugs<br />

Die Autofahrt als Tätigkeit der Fortbewegung verweist auf die Weiterentwicklung auf<br />

emotionalem Gebiet, die die Figuren durchleben. Die Fahrt, die durch Nacht und einen<br />

57<br />

Die CD ist von Brian Eno, der Titel des <strong>im</strong> on- und später aus dem off gespielten Liedes lautet: „By this river“<br />

und befindet sich auf dem Album „Before and after science“ von 1977 (Virgin Music). “Here we are/ Stuck by<br />

this river, You and I/ Underneath a sky that's ever falling down, down, down Ever falling down./Through the<br />

day/As if on an ocean/Waiting here, Always failing to remember why we came, came, came/I wonder why we<br />

came. /You talk to me/as if from a distance/And I reply/With <strong>im</strong>pressions chosen from another t<strong>im</strong>e, t<strong>im</strong>e,<br />

t<strong>im</strong>e/From another t<strong>im</strong>e.”<br />

58<br />

Paola zu Giovanni 0:16:16.<br />

59<br />

1:22:12<br />

60<br />

Vgl. hierzu: Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt/M. 1985. In<br />

diesem Aufsatz erscheint die Fotografie als Schattenbild, das die Spur des Gewesenen als Erinnerungsform<br />

vergegenwärtigt (ebd. S.14). Durch die Abbildung des Referenten stellt das Foto eine Wiederkehr des Toten dar<br />

(ebd. S.30) und indem es den Gegenstand gegenwärtig macht, hilft es gleichzeitig bei der Bewältigung von Tod<br />

und <strong>Trauer</strong> (ebd. S. 92-105).


19<br />

Tunnel führt, wird zu einer „Reise in ein Land hinter dem Leid“ 61 und erscheint somit als „rite<br />

de passage“. 62 Durch die inzwischen geschehene Verinnerlichung Andreas kann das Unglück<br />

nun auch aus der Distanz betrachtet werden. Giovanni beginnt die Unwiderruflichkeit des<br />

Todes zu verstehen und findet zu einem Selbstbild, das weniger von Schuld als durch<br />

Hilfsbereitschaft und Verständnis geprägt ist. Dass sich Ariana einen neuen Freund, der an die<br />

Stelle seines Sohnes gerückt ist, gesucht hat, kann er akzeptieren und als Zeichen der<br />

Hoffnung interpretieren. In Ariana begegnet ihm der personifizierte Rat, der zu Anfang des<br />

<strong>Film</strong>s aus der Latein-Übersetzung gesprochen hat: „Mit wenig Mühe wirst Du geführt<br />

werden.“ In einer der letzten Szenen, die die Autofahrt der Familie zu Beginn des <strong>Film</strong>s<br />

spiegelt, fahren Giovannis Familie und Ariana und Stefan durch die Nacht und beginnen<br />

gemeinsam zu singen. Der trennende Aspekt der <strong>Trauer</strong> wird durch die aufke<strong>im</strong>ende<br />

Hoffnung auf ein Weiterleben in positivem Gedenken an Andrea aufgehoben. Der Weg, der<br />

durch Ariana wieder als Möglichkeit erscheint, ist der, der in eine Normalität, die mit der<br />

Erfahrung des Todes gelassen umgeht, führt. Giovanni scheint die Aufgaben, die ihm der<br />

<strong>Trauer</strong>prozess auferlegt hat, bewältigt zu haben.<br />

3. Schluss: Die Botschaft des <strong>Film</strong>s<br />

In „Das Z<strong>im</strong>mer meines Sohnes“ zeigt Nanni Moretti drei Möglichkeiten, wie mit dem<br />

Schicksal in seiner grausamen Form, dem Tod, umgegangen werden kann. Dafür greift er auf<br />

eine Familie zurück, die den Verlust eines Sohnes zu beklagen hat. Im Mittelpunkt des<br />

Psychogramms steht der Vater, der an der <strong>Trauer</strong> zu zerbrechen droht, da er nicht mit dem<br />

Schmerz umzugehen weiß. Der natürliche Prozess des <strong>Trauer</strong>ns ist ihm fremd geworden und<br />

er kann nur auf wenige tradierte Verhaltensweisen zurückgreifen um sich von Bindungen, die<br />

nicht mehr lebendig sind, zu lösen. Weder das eingangs gezeigte hinduistische Modell in<br />

Form der tanzenden Krishna-Jünger, noch die christliche Lehre von der Auferweckung,<br />

dargestellt <strong>im</strong> Gottesdienstbesuch, konnten ihm Trost spenden.<br />

Auch zwischen den Familienmitgliedern kommt es zu Spannungen, da Wut und <strong>Trauer</strong> die<br />

Figuren voneinander entfremden, weil sie sie auf ihre jeweilige Individualität zurückwerfen<br />

und so die Fremdheit aufzeigen, die auch zwischen Personen, die sich sehr nahe stehen,<br />

<strong>im</strong>mer existiert, <strong>im</strong> Alltag aber nicht so deutlich hervortritt. Moretti zeigt, dass <strong>Trauer</strong> ein<br />

Prozess der Trennung ist, nicht nur vom geliebten Objekt, sondern auch von bisher gelebten<br />

61 Kühn, Heike: Das Z<strong>im</strong>mer meines Sohnes. http://www.kinofenster.de/ausgaben/kf0112/film1.htm. 21.05.06.<br />

62 Vgl.: van Gennep, Arnold: Übergangsriten. Frankfurt/.M. 1986. Der Ethnologe prägte den Begriff der<br />

Übergangsriten in seinem Buch „Les Rites de passage“ von 1909. Bezeichnet werden damit Riten, die mit<br />

Veränderungen <strong>im</strong> Leben eines Menschen verbunden sind. Dieser Übergang ist ein Prozess der Transformation,<br />

der von einem Zustand in einen nächsten oder von einer Welt in eine andere führt.


20<br />

Verhaltensweisen, was gerade <strong>im</strong> Sozialkonstrukt Familie zu Unsicherheiten und<br />

Schwierigkeiten führt. Doch erst aus der, durch die <strong>Trauer</strong> ausgelösten intensivierten<br />

Seelenschau, kann ein neuer, selbstbewusster Weltbezug, der dann auch wieder die<br />

Gemeinschaft zulässt, gefunden werden.<br />

Sowohl Giovanni als Protagonist, als auch Paola und Irene durchleben <strong>im</strong> Verlauf der<br />

Handlung eine intensive Entwicklung, die sie als dynamische Figuren kennzeichnet. 63 Bei der<br />

filmischen Umsetzung dieser existentiellen Thematik hält sich der Regisseur weitgehend an<br />

ein realistisches Erzählen, was sowohl die bildliche Darstellung als auch die psychische<br />

Entwicklung der Darsteller betrifft, die den Erkenntnissen der Thanatologie und<br />

<strong>Trauer</strong>forschung entspricht. Das Durchleben der einzelnen <strong>Trauer</strong>phasen, als Reaktion auf<br />

den Verlust eines Geliebten Menschen, stellt Moretti als einen schmerzhaften und<br />

schwierigen Weg dar, der jedoch die Chance zu einer ganzheitlichen Erfahrung birgt, wenn<br />

die <strong>Trauer</strong> angenommen und nicht verdrängt wird. Mit „Das Z<strong>im</strong>mer meines Sohnes“ entreißt<br />

Moretti die Themen Tod und <strong>Trauer</strong> ihrer modernen Verborgenheit hinter<br />

Krankenhausmauern und bringt sie in der „Höhle des Kinos“ 64 ans Licht. Im Zuschauer kann<br />

die Konfrontation mit Tod und <strong>Trauer</strong> durch den <strong>Film</strong> eine selbstreflexive Überprüfung seiner<br />

eigenen Einstellung zu diesem lebenswichtigen Thema auslösen. Die Aufgabe, die der <strong>Film</strong><br />

für sein Publikum formuliert, ist es, sich das <strong>Trauer</strong>n zu trauen. Die Botschaft ist der Aufruf,<br />

auf diese Weise zu einer „ars moriendi“ und, <strong>im</strong> Umkehrschluss daran, schließlich zu einer<br />

„ars vivendi“ zu finden. Diese Lebenskunst spielt sich zwischen den Polen ‚Individuum’ und<br />

‚Gemeinschaft’ ab und findet in einer gelassenen Einstellung gegenüber dem Schicksal ihre<br />

Verwirklichung.<br />

63 „Eine mehrd<strong>im</strong>ensionale Figur kann durch zwei Merkmale ausgezeichnet sein: erstens eine gewisse<br />

Komplexität, das heißt, die Liste der Eigenschaften und Merkmale ist vergleichsweise lang, gekennzeichnet<br />

durchaus von Gegensätzen und Widersprüchen, die eine Figur erst wirklich lebendig erscheinen lassen; zweitens<br />

eine persönlichkeitsmäßige Veränderung, das heißt, die Figur ist am Ende des <strong>Film</strong>s nicht mehr die, die sie noch<br />

am Anfang war.“ Faulstich, S. 99.<br />

64 Vgl. zu dieser Metapher: Baudry, Jean-Louis: Das Dispositiv: Metapsychologische Betrachtungen des<br />

Realitätseindrucks. In: Pias, Claus, Vogl, Joseph, Engell, Lorenz: Kursbuch Medien. Die maßgeblichen Theorien<br />

von Brecht bis Baudrillard. Stuttgart 1999.


1. Einleitung<br />

1<br />

Unter der Vielfalt der menschlichen Emotionen ist die ‚<strong>Trauer</strong>’ zwar die schmerzhafteste,<br />

gleichzeitig aber auch die, die am meisten Potential für die Entwicklung zu einer ‚reifen’<br />

Persönlichkeit birgt. Trotz dieser Tatsache ist die <strong>Trauer</strong>, als seelische Reaktion auf einen<br />

erlittenen Verlust, an den gesellschaftlichen und medialen Rand gedrängt. Häufig löst der Tod<br />

einer Person be<strong>im</strong> Zuschauer eines <strong>Film</strong>es nicht etwa Betroffenheit, <strong>Trauer</strong> oder Wut aus,<br />

sondern dient als Auslöser der Handlung <strong>im</strong> Kr<strong>im</strong>i, in dem der narrative Strang der<br />

Aufklärung des Verbrechens, selten aber die <strong>Trauer</strong> der Hinterbliebenen in den Mittelpunkt<br />

filmischen Erzählens rückt. Die Aufarbeitung der <strong>Trauer</strong> findet <strong>im</strong> Unterhaltungskino kaum statt.<br />

Die gestalterische Auseinandersetzung mit diesem Thema wird meist in unabhängig produzierten<br />

<strong>Film</strong>en gesucht. Der <strong>Film</strong> „Das Z<strong>im</strong>mer meines Sohnes“ 1 des italienischen Regisseurs Nanni<br />

Moretti stellt ein solches Werk dar. Es soll <strong>im</strong> Folgenden hinsichtlich des dramaturgischen<br />

Aufbaus und der Darstellung der <strong>Trauer</strong> der Hauptfigur analysiert werden. Dies geschieht,<br />

nachdem mit einem vorangestellten Teil, der die Darstellung der <strong>Trauer</strong> aus Sicht der<br />

Wissenschaft sowie die Beschreibung des historisch-gesellschaftlichen Wandels <strong>im</strong> Umgang mit<br />

dieser Emotion nachzeichnet, die theoretischen Grundlagen gelegt wurden. Bei der<br />

Figurenanalyse kommt das von Verena Kast formulierte Phasenmodell der <strong>Trauer</strong> 2 zur<br />

Anwendung. Auf eine Analyse der anderen Figuren und auf Bauformen wie Schnitt und Musik<br />

kann aufgrund des beschränkten Umfangs dieser Arbeit nur am Rande eingegangen werden.<br />

2. Hauptteil<br />

2.1. <strong>Trauer</strong>: Emotion und Ausdruck<br />

Das Wort „<strong>Trauer</strong>“ hat seine etymologischen Wurzeln <strong>im</strong> althochdeutschen Wort „truren“,<br />

das mit „den Kopf sinken lassen“ oder „die Augen niederschlagen“ 3 übersetzt werden kann.<br />

Die Übersetzungen bezeichnen zwei für die <strong>Trauer</strong> typische körperliche Ausdruckweisen und<br />

stellen dabei eine anthropologische Konstante der Physiognomie dar: „Dieses spezifisch<br />

traurige Gesicht ist bei Vertretern aller Kulturen gleich und wird auch auf Photographien<br />

transkulturell einer traurigen St<strong>im</strong>mung richtig zugeordnet. Ein weiterer Ausdruck von <strong>Trauer</strong><br />

1 Das Z<strong>im</strong>mer meines Sohnes. Italien 2001. Produktion: Sacher <strong>Film</strong>/Bac <strong>Film</strong>s/StudioCanal/Rai Cinema/Tele+.<br />

Produzent: Angelo Barbagallo, Nanni Moretti. Regie: Nanni Moretti. Buch: Linda Ferri, Nanni Moretti, Heidrun<br />

Schleef. Kamera: Giuseppe Lanci Musik: Nicola Piovani Schnitt: Esmeralda Calabria. Darsteller: Nanni Moretti<br />

(Giovanni), Laura Morante (Paola), Jasmine Trinca (Irene), Giuseppe Sanfelice (Andrea), Silvio Orlando (Oscar)<br />

Länge: 99 Min.<br />

2 Kast, Verena: <strong>Trauer</strong>n. Phasen und Chancen des psychischen Prozesses. Berlin 1982.<br />

3 Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 24. durchges. und erw. Aufl. von Elmar<br />

Seebold. Berlin 2002, S. 926.


2<br />

ist eine eingesunkene, tonuslose Haltung mit hängenden Schultern, bei Naturvölkern oft ein<br />

Zusammenkauern auf dem Boden.“ 4<br />

2.2. Sigmund Freud und die <strong>Trauer</strong><br />

Während die Melancholie schon in der griechischen Antike Gegenstand der Beschäftigung in<br />

Philosophie und Poesie 5 war, ist die Untersuchung der <strong>Trauer</strong> eine neuzeitliche Erscheinung.<br />

Eine der ersten wissenschaftlich-systematischen Abhandlungen über dieses Gefühl stellt die<br />

1917 erschiene Schrift „<strong>Trauer</strong> und Melancholie“ 6 von Sigmund Freud dar. Hierin entwirft er<br />

ein psychoanalytisches Modell der <strong>Trauer</strong>reaktion, das sich bis heute als grundlegend für die<br />

weitere Theoriebildung erwiesen hat. ‚<strong>Trauer</strong>’ ist nach Freud „regelmäßig die Reaktion auf<br />

den Verlust einer geliebten Person oder einer an ihre Stelle gerückten Abstraktion wie<br />

Vaterland, Freiheit, ein Ideal usw.“ 7 Im Unterschied zur pathologisierten Melancholie<br />

erscheint die <strong>Trauer</strong> als gesunde emotionale Reaktion auf einen erlittenen Verlust. Sie „enthält<br />

den Verlust des Interesses für die Außenwelt (...), den Verlust der Fähigkeit, irgend ein neues<br />

Liebesobjekt zu wählen (...), die Abwendung von jeder Leistung, die nicht mit dem Andenken<br />

des Verstorbenen in Beziehung steht“ 8 . Ihre Aufgabe sei es, das Ich mit dem geschehenen<br />

Verlust zu konfrontieren, so dass es diesem in einem aktiven Prozess möglich wird, seine<br />

libidinösen Energien langsam vom verlorenen Liebesobjekt ab zu ziehen um sich danach<br />

wieder der Realität bzw. neuen Bindungen zuwenden zu können. Dieser als ‚<strong>Trauer</strong>arbeit’<br />

bezeichnete Prozess sei zwar mit Schmerzen verbunden, doch notwendig, denn „tatsächlich<br />

wird aber das Ich nach der Vollendung der <strong>Trauer</strong>arbeit wieder frei und ungehemmt.“ 9 Die<br />

<strong>Trauer</strong>arbeit gilt als abgeschlossen, wenn „das verlorene Objekt nirgends mehr unwillkürlich<br />

erwartet wird und wenn auch die Vorstellung und Erinnerung an das Objekt keinen<br />

<strong>Trauer</strong>effekt, keine Tränen mehr auslöst.“ 10<br />

4<br />

Schleidt, Margret: Humanethologische Aspekte der <strong>Trauer</strong>. In: Ochsmann, Randolph; Howe, Jürgen (Hg.):<br />

<strong>Trauer</strong> – Ontologische Konfrontation. Bericht über die 2. Tagung zur Thanato-Psychologie vom 23.- 24.<br />

November 1989 in Osnabrück. Stuttgart 1991, S. 13.<br />

5<br />

Vgl. Klibanski, Raymon: Panofsky, Erwin; Saxl, Franz: Saturn und Melancholie. 2. Aufl., Frankfurt/M. 1990.<br />

Auch: Haverkamp, Anselm: Laub voll <strong>Trauer</strong>. Hölderlins späte Allegorie. München 1991.<br />

Sowie: Bohrer, Karl Heinz: Der Abschied: Theorie der <strong>Trauer</strong>. Frankfurt/M. 1996.<br />

6<br />

Freud, Sigmund: <strong>Trauer</strong> und Melancholie. In: ders.: Studienausgabe. Hgg. von Mitscherlich, Alexander;<br />

Richards, Angela; Strachey, James. Bd. III. Frankfurt/M. 1975, S. 197-212.<br />

7<br />

Ders. S. 212.<br />

8<br />

Ders. S. 198.<br />

9<br />

Ders. S. 199.<br />

10<br />

Tomann, Walter: <strong>Trauer</strong>. In: Lexikon der Psychologie. Hgg von Arnold, Wilhelm; Eyseneck, Jürgen; Meili,<br />

Richard. 11. Auflage, Bd. III. Freiburg 1980, S. 2350f.<br />

Vgl. hierzu: Turnhe<strong>im</strong>, Michael: <strong>Trauer</strong>, Melancholie und Psychoanalyse. In: Zarnegin: Kathy: Buchstäblich<br />

traurig. Basel 2004, S. 161-173: Anhand eines Briefs, den Freud 1929 an Ludwig Binswanger, dessen Sohn<br />

gestorben war, schrieb, stellt Turnhe<strong>im</strong> die These auf, dass es „bei Freud zwei Sichtweisen der <strong>Trauer</strong>“ (ebd. S.<br />

161) gegeben habe. Während die klassisch gewordene, in „<strong>Trauer</strong> und Melancholie“ beschriebene Reaktion mit


2.3. Kollektive <strong>Trauer</strong><br />

3<br />

Freud spricht ausdrücklich davon, dass <strong>Trauer</strong>reaktionen nicht nur durch den Verlust von<br />

geliebten Menschen, sondern auch durch den Verlust abstrakterer Dinge und Ideen<br />

hervorgerufen werden. So best<strong>im</strong>mt Svetlana Boym beispielsweise das mit der <strong>Trauer</strong><br />

verwandte Gefühl der Nostalgie als eine nur durch He<strong>im</strong>kehr erfüllbare Manie des<br />

Verlangens, die mit dem Verlust der He<strong>im</strong>at bzw. der Abwesenheit von dieser einhergeht:<br />

“Nostalgia (from nostos – return home, and algia – longing) is a longing for a home that no<br />

longer exists or has never existed. Nostalgia is a sent<strong>im</strong>ent of loss and displacement.” 11 Der<br />

Begriff ‚He<strong>im</strong>at’, als ein Begriff, der nicht nur ein best<strong>im</strong>mtes geographisches<br />

Herkunftsgebiet eines einzelnen Menschen umfasst, sondern auch eine ideelle Gemeinschaft<br />

verschiedener Menschen einschließt, verweist beispielhaft darauf, dass <strong>Trauer</strong> nicht nur auf<br />

individueller, sondern auch auf kollektiver Ebene stattfinden kann. Auslöser für kollektive<br />

<strong>Trauer</strong> können beispielsweise durch Kriege oder Terroranschläge erlittene gesellschaftliche<br />

Traumata sein. Ein Weg, die kollektive <strong>Trauer</strong> zu verarbeiten, sind zentral ausgerichtete<br />

Gedenkfeiern, bei denen die Erinnerung an die Vergangenheit eine große Rolle spielt, 12 da sie<br />

es durch ein symbolisches Wiederholen der traumatischen Situation ermöglicht, diese <strong>im</strong> Sinn<br />

einer Integration in das kollektive Selbstverständnis einer Gemeinschaft zu verarbeiten.<br />

2.4. <strong>Trauer</strong> <strong>im</strong> kulturellen Wandel<br />

Zu den schmerzvollsten Erfahrungen <strong>im</strong> Leben eines einzelnen Menschen gehört der Verlust<br />

einer oder mehrerer nahe stehenden Personen durch deren Tod. 13 Diesem unkontrollierbar<br />

stattfindenden Ereignis wurde seit Urzeiten in den meisten Kulturen mit Todes- bzw.<br />

Begräbnis- und <strong>Trauer</strong>ritualen begegnet. So weisen bereits Skelettfunde aus der älteren<br />

Steinzeit (9000-5000 v. Chr.) Spuren ritueller Verstümmelungen auf und sind insofern<br />

Zeichen eines bewussten Umgangs mit dem Tod. 14 In seinem mentalitätsgeschichtlichen<br />

einer vollständigen Loslösung der Libido vom Objekt endete, schreibt Freud zwölf Jahre später, dass „alles, was<br />

an die Stelle des geliebten Wesens rückt, doch etwas anderes bleibt“ (zit. nach Turnhe<strong>im</strong>, S. 166).<br />

11 Boym, Svetlana: The Future of Nostalgia. New York 2001, S. XIII.<br />

Vgl. Hierzu auch: Davis, Fred: Yearning for Yesterday. A Sociology of Nostalgia. New York 1979.<br />

12 Vgl. hierzu die Theorie des ‚kollektiven Gedächtnisses’, wie sie von dem französischen Soziologen Maurice<br />

Halbwachs in den 1920er Jahren geprägt wurde, in: Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis. Stuttgart<br />

1967, sowie dessen Weiterentwicklung zum Konzept des ‚kulturellen Gedächtnisses’ durch den Ägyptologen Jan<br />

Assmann in: Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung Identität in frühen Hochkulturen.<br />

München 1992.<br />

13 Auf das Problem der Definition des Todesbegriffs kann in dieser Arbeit nicht weiter eingegangen werden,<br />

weshalb die aus dem medizinischen Bereich stammende Gleichsetzung des Todes mit dem Hirntod übernommen<br />

wird. Zur Problematik vgl.: Scherer, Georg: Das Problem des Todes in der Philosophie. Darmstadt 1979.<br />

14 Vgl.: Krumrey, Antje: Sterberituale und Todeszeremonien. Ihr Wandel in der Zeit. Frankfurt/O. 1997.


4<br />

Werk „Studien zur Geschichte des Todes <strong>im</strong> Abendland“ 15 verfolgt Phillipe Ariès die sich <strong>im</strong><br />

Laufe der Zeit ändernden Einstellungen zum Tod <strong>im</strong> westlichen Kulturkreis. Dabei macht er<br />

<strong>im</strong> 19. Jahrhundert einen Wandel aus: vom Tod, als einem bis dahin akzeptierten und<br />

integrierten Bestandteil des Lebens, hin zu einer Einstellung, die den Tod anderer nicht mehr<br />

so bereitwillig hinn<strong>im</strong>mt. Die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung hat inzwischen dazu<br />

geführt, dass sich der Schauplatz des Sterbens (wie <strong>im</strong> Übrigen auch der des anderen Pols, der<br />

Geburt) <strong>im</strong> 20. Jahrhundert hinter die Mauern der Krankenhäuser verlagert hat. Sterben und<br />

Tod finden nun nicht mehr in einem gesellschaftlichen und familiären Alltag statt, sondern<br />

vollziehen sich von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt in darauf spezialisierten<br />

Institutionen. Fortschritte in verschiedenen Bereichen der kulturellen Entwicklung (Agrar-,<br />

Wirtschafts-, Sozialsektor etc.) und lebensverlängernde Maßnahmen haben dazu geführt, dass<br />

der Prozess des Sterbens sowohl <strong>im</strong>mer später <strong>im</strong> Leben eines Menschen beginnt als auch<br />

länger dauert. Dieses von Gerhard Schmied als „langes Sterben“ und „seltenes Sterben“ 16<br />

bezeichnete Charakteristikum des Sterbens in der Moderne hat zur Folge, dass in der<br />

westlichen Gesellschaft die Angst vor dem Tod nicht stets präsent ist. „Die Indifferenz<br />

gegenüber dem Tod wird dann aufgebrochen, wenn jemand mit dem Tod direkt konfrontiert<br />

wird, sei dies in der Form, dass er den Tod eines nahen Angehörigen miterlebt oder dass er<br />

selbst längere Zeit in Lebensgefahr schwebt.“ 17 Der gesellschaftlichen Verdrängung des<br />

Todes entspricht dann häufig eine weitgehende Unsicherheit, wie mit dem Phänomen<br />

umgegangen werden soll, da eine „ars moriendi“ 18 fehlt. Weiter hat die gesellschaftliche<br />

Ausdifferenzierung und Säkularisierung <strong>im</strong> Verlauf des Zivilisationsprozesses bewirkt, dass<br />

der Rückhalt durch gesellschaftliche Bezugssysteme schwächer geworden ist. „Ein<br />

Informalisierungsschub <strong>im</strong> Rahmen dieses Prozesses hat dazu geführt, dass eine ganze Reihe<br />

herkömmlicher Verhaltensroutinen, darunter auch der Gebrauch ritueller Floskeln, in den<br />

Krisensituationen des menschlichen Lebens für viele Menschen suspekt und zum Teil<br />

peinlich geworden ist.“ 19<br />

15 Ariès, Philippe: Studien zur Geschichte des Todes <strong>im</strong> Abendland. München 1976. Vgl. hierzu auch den<br />

Beitrag von Thomas Macho „Tod und <strong>Trauer</strong> <strong>im</strong> kulturwissenschaftlichen Vergleich“ in: Assmann, Jan: Der Tod<br />

als Thema der Kulturtheorie. Todesbilder und Totenriten <strong>im</strong> Alten Ägypten. Frankfurt/M. 2000, S. 89-112.<br />

16 Schmied, Gerhard: Sterben und <strong>Trauer</strong>n in der modernen Gesellschaft. Opladen 1985.<br />

17 Schmied, S. 79.<br />

18 Vgl. hierzu: Laager Jacques (Hg.): Ars moriendi. Die Kunst, gut zu leben und gut zu sterben. Texte von Cicero<br />

bis Luther. Zürich 1996.<br />

19 Elias, Norbert: Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen. 7. Aufl. Frankfurt/M. 1991, S. 45.<br />

Vgl. hierzu auch Mischke, Marianne: Der Umgang mit dem Tod. Vom Wandel in der abendländischen<br />

Geschichte. Berlin 1996, S. 15: „Wenn die Menschen in der heutigen Gesellschaft überhaupt von Sterben und<br />

Tod sprechen wollen, dann müssen sie nicht nur das kollektive Tabu, ihre eigenen Ängste und<br />

Verdrängungstendenzen überwinden, sondern auch ihr sprachliches Unvermögen, das in dem Mangel an in<br />

Sprache zurückfließende Erfahrung begründet ist.“


2.5. <strong>Trauer</strong>modelle<br />

5<br />

Seit Ende der 1960er Jahre wurden zahlreiche wissenschaftliche und<br />

populärwissenschaftliche Arbeiten über Tod, Sterben und <strong>Trauer</strong> veröffentlicht, wobei in<br />

Bezug auf die <strong>Trauer</strong> sowohl Phasenmodelle als auch zielorientierte Modelle entwickelt<br />

wurden. Elisabeth Kübler-Ross formulierte, angeregt durch ihre Arbeit mit Sterbenden, ein<br />

Phasenmodell des Sterbeprozesses, das bald auch auf den Prozess des <strong>Trauer</strong>ns übertragen<br />

wurde. 20 Hierbei gilt es zu beachten, dass die Phasen weder zeitlich terminiert sind noch in<br />

chronologisch-singulärer Reihenfolge auftreten müssen, sondern auch in unterschiedlicher<br />

Reihenfolge mehrmals und unter Auslassung best<strong>im</strong>mter Stadien erscheinen können und<br />

somit weniger als Regeln denn als häufig beobachtete Verhaltensweisen zu betrachten sind.<br />

Den Beginn des <strong>Trauer</strong>prozesses, dem die <strong>Trauer</strong> um einen geliebten Menschen zu Grunde<br />

liegt, bildet der Verlust dieses geliebten Menschen. Das Ende der <strong>Trauer</strong> ist gekennzeichnet<br />

durch die erfolgreiche Integrierung der Verlusterfahrung und damit einhergehend durch eine<br />

gelungene Neuordnung des Lebensgefüges der Hinterbliebenen. Der schwer wiegende<br />

Einschnitt in die Biografie, den der Tod eines nahe stehenden Menschen bildet, hat zur Folge,<br />

dass bisherige Maßstäbe und Bezugssysteme an Bestand verlieren und neu konzipiert werden<br />

müssen. An die trauernde Person stellt jede Phase best<strong>im</strong>mte Anforderungen, die es in diesem<br />

Sinn zu bewältigen gilt, um einen gesunden, letzten Endes abgeschlossenen <strong>Trauer</strong>prozess zu<br />

gewährleisten.<br />

2.5.1. Die vier Phasen der <strong>Trauer</strong>arbeit nach Verena Kast<br />

Die Schweizer Psychologin Verena Kast entwickelte durch Beobachtung von <strong>Trauer</strong>nden und<br />

deren Träume ein vier Phasen umfassendes Modell der <strong>Trauer</strong>arbeit.<br />

2.5.1.1. Die erste Phase des Nicht-Wahrhaben-Wollens<br />

Die erste Phase, die direkt auf den Verlust folgt, ist meist geprägt von einer sofortigen<br />

Verdrängung des auslösenden Ereignisses und einer schockartigen Empfindungslosigkeit.<br />

Häufig treten dabei direkte körperliche Schockreaktionen wie schneller Puls, Schwitzen und<br />

Übelkeit auf. „Die Empfindungslosigkeit dient nach Kast nicht nur der Verdrängung des<br />

Verlusterlebnisses, sondern auch als Schutz vor der Überwältigung durch ein Gefühl, mit dem<br />

man nicht umgehen kann. Kast versteht die verschiedenen Gefühlsausbrüche <strong>im</strong><br />

<strong>Trauer</strong>prozess als ‚Ausfaltung’ dieses ersten Gefühls, das sich unmittelbar nach dem Tod<br />

20 Vgl. hierzu: Kübler – Ross, Elisabeth: Interviews mit Sterbenden. Stuttgart 1971.<br />

Sowie Spiegl, Yorick: Der Prozess des <strong>Trauer</strong>ns. Analyse und Beratung. Mainz 1973. Sowie: Bowlby, John:<br />

Verlust, <strong>Trauer</strong> und Depression. Frankfurt/M. 1983. Sowie: Worden, J. William: Beratung und Therapie in<br />

<strong>Trauer</strong>fällen. Ein Handbuch. Stuttgart 1987.


6<br />

eines geliebten Menschen einstellt.“ 21 Ein erstes Teilziel des <strong>Trauer</strong>prozesses ist erreicht,<br />

wenn das Akzeptieren der Unwiderruflichkeit des Geschehens den Abschied ermöglicht. Der<br />

bisherige Bezug zur äußeren Person wird internalisiert, was als Chance zur Individuation des<br />

Hinterbliebenen gesehen werden kann: „Gleichzeitig integriert sich emotionell etwas<br />

bewusster in die eigene Psyche, was den <strong>Trauer</strong>nden an diesen Menschen gebunden hat, nun<br />

als eigenes Erlebnis, nicht mehr raubbar, auch nicht durch den Tod.“ 22<br />

2.5.1.2. Die zweite Phase der aufbrechenden Emotionen<br />

Das Erkennen des Ausmaßes des Verlustes löst ein Chaos intensiver Gefühle aus. Abhängig<br />

von der Persönlichkeit des Betroffenen mischen sich Angst, Wut und Verzweiflung mit<br />

Sehnsucht und Liebe. Da die Ohnmacht des Menschen gegenüber dem Tod in dieser Phase<br />

selten eingesehen werden kann, kommt es häufig zu Schuldgefühlen oder Zorn gegenüber<br />

Dritten. „Das Bemühen, einen Schuldigen für den Tod des Verstorbenen zu finden, deutet<br />

nach Kast darauf hin, dass wir das Gefühl der Ohnmacht nicht wahrhaben wollen und uns<br />

durch die Suche nach dem Schuldigen vorspiegeln wollen, dass wir so hilflos eigentlich doch<br />

nicht sind.“ 23<br />

2.5.1.3. Die dritte Phase des Suchens und Sich-Trennens<br />

Als weitere Reaktion folgt auf den Verlust eine Phase des Suchens. Ge- bzw. aufgesucht<br />

werden Orte und Tätigkeiten, die in enger Verbindung mit dem Verstorbenen stehen. Das<br />

Suchen findet aber auch in inneren Zwiegesprächen seinen Ausdruck. Sinn dieses Verhaltens<br />

ist es die Beziehung zum Verstorbenen als Bestandteil in die eigene Psyche zu integrieren, so<br />

dass eine Loslösung stattfinden kann. „Dieses Suchen – Finden – Trennen erlaubt es, sich mit<br />

dem Partner auseinander zu setzen, etwas in sich zu entdecken, was mit dem verstorbenen<br />

Menschen zusammenhängt, und dennoch zu spüren, dass mit den alten Lebensumständen<br />

nicht mehr zu rechnen ist, dass das eigene Welt- und Selbstverständnis umgebaut werden<br />

muss.“ 24 Wichtig für eine erfolgreiche <strong>Trauer</strong>arbeit ist, dass die Erlebnisse mit dem<br />

Verstorbenen zur Sprache gebracht werden können. Doch „obwohl die Unterstützung der<br />

Umwelt für die Bewältigung der einzelnen <strong>Trauer</strong>phasen sehr wesentlich ist, darf nach Kast<br />

jedoch nicht außer acht gelassen werden, dass die durch den Tod hervorgerufene Handlung<br />

letztlich von jedem Betroffenen selbst getragen werden muss.“ 25<br />

21 Iskenius-Emmler, Hildegard: Psychologische Aspekte von Tod und <strong>Trauer</strong> bei Kindern und Jugendlichen.<br />

Frankfurt/M. 1988, S. 98f.<br />

22 Kast, S. 46.<br />

23 Iskenius-Emmler, S. 99.<br />

24 Kast, S. 70.<br />

25 Iskenius-Emmler, S. 102.


2.5.1.4. Die vierte Phase des neuen Selbst- und Weltbezugs<br />

7<br />

Nach dem Bewältigen der oben genannten Schritte ist der <strong>Trauer</strong>nde in der Lage, den Verlust<br />

der geliebten Person vollständig zu akzeptieren. Ruhe und Frieden kehren in die Seele, in der<br />

der Verstorbene als innerer Begleiter seinen Platz gefunden hat, zurück. Das Gefühl für die<br />

eigene Person und Realität pendelt sich ein, so dass es dem <strong>Trauer</strong>nden wieder möglich wird,<br />

das eigene Leben aktiv zu gestalten. Im Idealfall sind die Erfahrung des Todes und das<br />

Wissen der Möglichkeit des Überstehens der <strong>Trauer</strong> auf positive Weise in das neue<br />

Selbstbewusstsein integriert.<br />

2.6. <strong>Trauer</strong> nach dem Tod eines Kindes<br />

Der Tod eines geliebten Menschen bedeutet eine schwere Zäsur <strong>im</strong> Leben der<br />

Hinterbliebenen. Erfolg und zeitlicher Rahmen des <strong>Trauer</strong>prozesses sind dabei von<br />

verschiedenen Faktoren abhängig. 26 Der Tod eines Kindes innerhalb einer Familie stellt die<br />

Hinterbliebenen vor besondere Herausforderungen, denn „in der Familie als der Int<strong>im</strong>gruppe<br />

gewinnen Gefühle – solche der Zuneigung wie der Abneigung - eine Bedeutung wie in keiner<br />

anderen Lebenssphäre. Was den einzelnen zutiefst anrührt ist entsprechend das Sterben von<br />

Kindern, Gatten, Eltern, Großeltern.“ 27 Während der Tod eines Familienmitglieds der älteren<br />

Generation noch <strong>im</strong> Sinnkontext einer abgeschlossenen Lebenserfahrung gedeutet werden<br />

kann, stellt der Verlust eines Kindes eine Zerstörung der Generationenfolge dar, so dass<br />

solche Sinnzuschreibungen nicht mehr möglich sind.<br />

Hierdurch gestaltet sich der <strong>Trauer</strong>prozess besonders schwierig und schmerzlich. Während<br />

der Tod eines älteren Menschen als Verlust von gelebter Vergangenheit und Gegenwart<br />

aufgefasst werden kann, erscheint der Verlust eines Kindes besonders für die Eltern auch als<br />

Verlust der Zukunft. „Gesellschaftliche und persönliche Vorstellungen von Sinn und Fülle<br />

eines Lebens zerbrechen am Tod eines Kindes, denn gemessen an den gängigen Maßstäben<br />

lässt sich eine positive Lebensbilanz schwer ziehen.“ 28 John Archer führt den besonderen<br />

Schmerz in diesem Sinn auf biologische Gründe zurück: „We would also predict a high<br />

intensity of grief under these circumstances from the Darwinian perspective in view of the<br />

relative reproductive values of older parents and their offspring. Parent’s own reproductive<br />

value declines throughout adult life, and helping their adult offspring and grandchildren<br />

26 Vgl. hierzu Bowlby, S. 224ff. Er best<strong>im</strong>mt fünf Hauptpunkte: 1. Identität und Rolle der verlorenen Person. 2.<br />

Alter und Geschlecht der hinterbliebenen Person. 3. Ursachen und Umstände des Verlusts. 4. soziale und<br />

psychologische Umstände des Verlusts. 5. Persönlichkeit des Hinterbliebenen mit besonderem Bezug auf seine<br />

Fähigkeiten zur Herstellung von Liebesbeziehungen und zur Reaktion auf belastende Situationen.<br />

27 Schmied, S. 136.<br />

28 Holzschuh, Wolfgang: Die <strong>Trauer</strong> der Eltern bei Verlust eines Kindes. Eine praktisch-theologische<br />

Untersuchung. Würzburg 1998, S. 49.


8<br />

becomes the main vehicle for inclusive fitness open to them. Loss of an offspring at this t<strong>im</strong>e<br />

occurs after years of parental investment at a t<strong>im</strong>e when they generally cannot be replaced.” 29<br />

Der Tod innerhalb der Familie stellt aber auch für das Sozialsystem Familie eine erhebliche<br />

Veränderung dar. „Man kann sich das vorstellen wie bei einem Mobile, bei dem eine Figur<br />

abgeschnitten wird. Es wird in sich instabil und alle Figuren verändern ihre Position. Für<br />

jedes Mitglied des Familiensystems steht eine Neuordnung an.“ 30 Im Gefüge der sozialen<br />

Rollen, die jedes Mitglied erfüllt, kann es ebenfalls zu Verlusten kommen, wenn<br />

beispielsweise der Ehepartner seine Rolle als Vater verliert. 31<br />

Die Schwierigkeit der familiären <strong>Trauer</strong> hat ihren Ursprung in der Tatsache, dass Vater,<br />

Mutter und Geschwister jeweils individuell, gleichzeitig aber auch gemeinsam trauern, was<br />

nicht selten zu Spannungen führt. „Für viele Eltern ist das getrennte <strong>Trauer</strong>n der Normalfall.<br />

Manche weinen allein <strong>im</strong> Auto, manche <strong>im</strong> Bett, manche hinter geschlossenen Bürotüren.<br />

(…) Doch wegen der Verschiedenheit des <strong>Trauer</strong>ns haben es Eheleute oft schwer, Hilfe<br />

voneinander zu bekommen“. 32<br />

Der Verlust eines Kindes stellt sich für jede Komponente des Familiensystems anders und<br />

mehrfach dar. „Verliert ein Kind ein Geschwister, kommt es zu Mehrfachverlusten. Die Eltern<br />

sind meist nicht mehr in der Lage, dem lebenden Kind genügend Aufmerksamkeit zu geben,<br />

da sie mit der eigenen <strong>Trauer</strong> beschäftigt sind. Das lebende Kind verliert also nicht nur ein<br />

Geschwister, sondern auch einen Teil der elterlichen Zuwendung.“ 33 Nach außen verliert die<br />

Familie den Status einer ‚normalen’ Familie, was soziale Beziehungen zur Umwelt erschwert.<br />

Es sind diese Faktoren, die die <strong>Trauer</strong>, die auf den plötzlichen Tod eines Kindes folgt,<br />

besonders stark und schmerzlich werden lassen. Der Tod geschieht unzeitig, unerwartet und<br />

trifft die Hinterbliebenen unvorbereitet. Zentrale Aspekte des Sterbens zeigen sich hier<br />

konzentriert und in extremer Weise. Ein filmisches Kunstwerk, das sich mit dem Thema ‚Tod<br />

eines Kindes’ auseinandersetzt, ist das Drama „Das Z<strong>im</strong>mer meines Sohnes“ von Nanni<br />

Moretti.<br />

29<br />

Archer, John: The Nature of Grief. The Evolution and Psychology of Reactions to Loss. London 1999, S.<br />

201f.<br />

30<br />

Hirschberg, Corinna: In: Brennpunkt Gemeinde 3/2004. Impulse für missionarische Verkündigung und<br />

Gemeindeaufbau. Studienbrief D 21: <strong>Trauer</strong>nde Kinder – wahrnehmen, verstehen und begleiten. Stuttgart 2004,<br />

S. 5.<br />

31<br />

Auf die geschlechtsspezifischen Unterschiede kann hier nicht weiter eingegangen werden. Es lässt sich aber<br />

sagen, dass Frauen das Zeigen von <strong>Trauer</strong>reaktionen gesellschaftlich mehr zugestanden wird als Männern. Vgl.<br />

Bowlby, S. 138. Vgl. auch die griechische Tradition der Myroloja-Klagegesänge, die von speziell<br />

ausgebildeteten ‚Klageweibern’ ausgeübt wird. In: Canacakis, Jorgos: Ich sehe deine Träne. <strong>Trauer</strong>n, Klagen,<br />

Leben können. Stuttgart 1993, S. 88-99.<br />

32<br />

Rothman, Juliet Cassuto: Wenn ein Kind gestorben ist. <strong>Trauer</strong>begleiter für verwaiste Eltern. Freiburg/Breisgau<br />

1998.<br />

33 Hirschberg, S. 5 f.


2.7. <strong>Trauer</strong> <strong>im</strong> <strong>Film</strong>: Das Z<strong>im</strong>mer meines Sohnes<br />

2.7.1. Der Regisseur Nanni Moretti<br />

9<br />

Nanni Moretti, der 1953 in Bruncio, Italien, geboren wurde, ist ein italienischer <strong>Film</strong>emacher,<br />

Produzent und Schauspieler. Er startete seine professionelle Karriere mit dem <strong>Film</strong> „Ecce<br />

Bombo“ (dt. Der Nichtstuer) <strong>im</strong> Jahr 1978. „Die <strong>im</strong>plizite Thematik des <strong>Film</strong>s - die Suche<br />

eines eigenen Standorts innerhalb der Linken - kehrt in späteren <strong>Film</strong>en in veränderter Form<br />

wieder. Einfallsreiche, witzige, widersinnige Dialoge, offene Kritik an der Gesellschaft und<br />

die bewusste Abkehr von filmischen Konventionen - Moretti hat seinen Stil und seine<br />

Sprache (die Leichtigkeit, der Witz, das Absurde), sein Lebensthema (die Linke, die Politik),<br />

den Schauplatz vieler seiner <strong>Film</strong>e (Rom) (…) bereits gefunden.“ 34 Mit „Sogni d’oro“ (dt.<br />

Goldene Träume) gewann Moretti 1981 den ‚Goldenen Löwen’ in Venedig. Ein<br />

internationaler Erfolg gelang ihm 1994 mit „Caro diario“ (dt. Liebes Tagebuch), einem <strong>Film</strong>,<br />

der sich aus drei autobiographisch angehauchten Episoden zusammensetzt und in dem Moretti<br />

erstmals sich selbst und unter seinem eigenen Namen spielt. „Freeing h<strong>im</strong>self from his past<br />

personae (played by h<strong>im</strong>self, in this film as in others, under the name Michele Apicella), he<br />

prescribes his ‚cure’ through movement in t<strong>im</strong>e, through abandoning past formulas and<br />

conventions, looking for a cinema of body and brain to come into being.” 35 Auf dem<br />

<strong>Film</strong>festival in Cannes gewann dieser <strong>Film</strong> die Auszeichnung für die beste Regie. Der <strong>Film</strong><br />

„Aprile“, der 1998 in die Kinos kam, zeigt die Geschichte eines Regisseurs, der sich<br />

entscheiden muss, ob er einen Dokumentarfilm über die Linke in Italien oder ein Musical <strong>im</strong><br />

Stil der 50er-Jahre dreht. Moretti spielt in seinen <strong>Film</strong>en fast <strong>im</strong>mer die Hauptrolle, schreibt<br />

die Drehbücher größtenteils selbst und ist auch als Produzent für den <strong>Film</strong> verantwortlich,<br />

„Moretti ist ein Autorenfilmer <strong>im</strong> klassischen Sinne.“ 36 Mit dem in Ancona entstandenen<br />

Familiendrama „La stanza del figlio“ (dt. Das Z<strong>im</strong>mer meines Sohnes; 2001) konnte er seinen<br />

bisher größten Publikumserfolg feiern. Im Jahr 2006 kam der <strong>Film</strong> „Il Ca<strong>im</strong>ano“ (dt. Der<br />

Ka<strong>im</strong>an) zwei Wochen vor den italienischen Parlamentswahlen in die italienischen Kinos.<br />

Moretti spielt hier nicht sich selbst, sondern die Rolle des Silvio Berlusconi. Der <strong>Film</strong><br />

schildert, „wie es sich <strong>im</strong> ganz normal verrückten Italien der Berlusconi-Ära lebt und<br />

34 http://www.italienwelten.de/Nanni_Moretti.317.0.html 19.05.06<br />

35 Landy, Marcia: Italian <strong>Film</strong>. Cambridge 2000, S. 375.<br />

36 Bock, Hans-Michael (Hg.): Lexikon der Regisseure und Kameraleute. Reinbek bei Hamburg, 1999, S. 332f.<br />

Vgl. auch: Stiglegger, Marcus (Hg.): Splitter <strong>im</strong> Gewebe. <strong>Film</strong>emacher zwischen Autorenfilm und<br />

Mainstreamkino. Mainz 2000. 1986 schafft es Nanni Moretti auf das Titelbild der renommierten französischen<br />

Fachzeitschrift „Cahiers du Cinéma“, in der das Konzept des „Auteurs“ von François Truffaut, Claude Chabrol,<br />

Jean-Luc Godard u. a. in den 1950er Jahren entwickelt wurde. Vgl. hierzu: Moninger, Markus: <strong>Film</strong>kritik in der<br />

Krise. Die "politique des auteurs". Tübingen 1992.


10<br />

arbeitet.“ 37 Der <strong>Film</strong> gewann insgesamt 7 ‚David de Donatello’- Auszeichnungen. Diese<br />

Trophäe stellt den höchsten der italienischen <strong>Film</strong>preise dar. Für „Das Z<strong>im</strong>mer meines<br />

Sohnes“ hatte Moretti 2001 drei ‚Donatellos’ und die ‚Goldene Palme’ bei den<br />

<strong>Film</strong>festspielen in Cannes erhalten. Er selbst charakterisiert die Leitfragen seines <strong>Film</strong>s in<br />

einem Interview folgendermaßen: „Wie reagiert man auf den Tod einer Person, die man liebt?<br />

Wie lebt es sich, wenn jemand aus der näheren Umgebung stirbt?“ 38<br />

2.7.2. Sequenzplan<br />

Ein Sequenzplan von „Das Z<strong>im</strong>mer meines Sohnes“ befindet sich <strong>im</strong> Anhang auf Tabelle 1.<br />

Der Plan ermöglicht einen leichteren Überblick über die Gesamthandlung und die einzelnen<br />

Handlungsabschnitte.<br />

2.7.3. Analyse des dramaturgischen Aufbaus<br />

2.7.3.1. Exposition (0:00:00 – 0:34:03)<br />

„Der Anfang schafft bereits die Rahmenbedingungen für die erzählte Welt, denn<br />

dramaturgisch gesehen steht am Anfang die Exposition, in der Zeit und Ort der Handlung<br />

sowie die handelnden Figuren vorgestellt werden.“ 39 In der Eröffnungsszene dieses 93<br />

Minuten langen <strong>Film</strong>s wird ein knapp 50jähriger Mann (Nanni Moretti) gezeigt, der vor dem<br />

Hintergrund eines Industriehafens Dauerlauf betreibt. Der Mann heißt Giovanni und ist<br />

Psychotherapeut, Ehemann und Vater von zwei Kindern. Sein Weg führt ihn vom<br />

menschenleeren Hafen in die belebten Straßen der Stadt Ancona, einer mittelgroßen Stadt an<br />

der Adriaküste, wo er arbeitet und mit seiner Familie wohnt. Von einer Kaffeebar aus<br />

beobachtet Giovanni eine Gruppe singender Krishna Jünger, die ihren hinduistisch geprägten<br />

Glauben an die Wiedergeburt tanzend ausdrücken.<br />

Giovanni begibt sich in seine Wohnung, wo er einen Telefonanruf erhält. Es ist der Direktor<br />

der Schule, die sein Sohn, der 18-jährige Andrea (Giuseppe Sanfelice) besucht. Der Direktor<br />

bittet Giovanni zur Schule zu kommen, da er seinen Sohn verdächtige, einen Ammoniten aus<br />

der Asservatenkammer gestohlen zu haben. Eine nächste Szene zeigt Giovanni bei seiner<br />

Arbeit als Psychotherapeut. Geduldig hört er sich die Probleme seiner Patienten an und hilft<br />

mit guten Ratschlägen weiter. Als Giovannis Arbeitstag zu Ende ist, schließt er die Tür der<br />

37<br />

Schürmer, Dirk: Berlusconi <strong>im</strong> Kino. Der Ka<strong>im</strong>an, das bin ich. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 76,<br />

Ausgabe vom 30.03.2006, S. 39.<br />

38<br />

Nanni Moretti in: „Interview mit Nanni Moretti”. www.djfl.de.entertainment/stars/n/nanni_moretti_i_01.html<br />

17.05.06.<br />

39<br />

Mikos, Lothar: <strong>Film</strong>- und Fernsehanalyse. Konstanz 2003, S. 123.


11<br />

Praxis und geht hinüber in seine Wohnung, wo er gemeinsam mit Irene (Jasmin Trinca),<br />

seiner jugendlichen Tochter, Paola (Laura Morante), seiner Frau und Andrea zu Abend isst.<br />

Die Familie wird dem Zuschauer als harmonisch und ausgeglichen präsentiert. Der Vorwurf<br />

des Diebstahls, der Andrea gemacht wird, besorgt die Eltern zwar, erscheint aber nicht als ein<br />

Problem, das den Familienfrieden gefährden könnte. Das Titel gebende Z<strong>im</strong>mer des Sohnes<br />

wird zum ersten Mal gezeigt, als sich Giovanni hinein schleicht und sich darin umschaut. Es<br />

scheint, als verspüre er den Drang, zu sehen, ob er nicht doch den Ammoniten dort finden<br />

kann. In den nun folgenden Szenen, die 5 Tage der insgesamt 16 Tage erzählter Zeit<br />

umfassen, wird der Alltag der Familienmitglieder weiter ausgeleuchtet. Der Rezipient erfährt<br />

von den Ängsten und Sorgen der Patienten Giovannis, vom Basketball-Training der Tochter<br />

und Matteo, ihrem Freund. Abends folgt die Kamera in das Schlafz<strong>im</strong>mer von Giovanni und<br />

Paola, deren Ehe auch auf erotischem Gebiet intakt ist. So vergeht die Zeit relativ<br />

unspektakulär und der Zustand des mittelständischen Glücks wird als stabil präsentiert.<br />

2.7.3.2. Steigerung und Problem (0:34:04-1:22:12)<br />

Das zentrale Ereignis geschieht erst <strong>im</strong> zweiten Drittel des <strong>Film</strong>s. Am Abend des sechsten<br />

Tages n<strong>im</strong>mt das Unheil unspektakulär seinen Lauf: Eigentlich hatte sich Giovanni mit<br />

Andrea zum Laufen verabredet, doch als einer seiner Patienten, Oscar, ihn anruft und<br />

dringend um einen Hausbesuch bittet, entschließt er sich, den Lauftermin zu verschieben.<br />

Andrea geht stattdessen mit seinen Freunden zum Tauchen, wobei er verunglückt. Die<br />

folgenden Ereignisse werden <strong>im</strong> <strong>Film</strong> stark gerafft, nur schlaglichtartig und mit abrupten<br />

Zeitsprüngen erzählt.<br />

Giovanni kommt voller Sorge an den Hafen, wo Thomas und dessen Vater ihn bereits<br />

erwarten. Im Krankenhaus warten sie. Ein Bestattungsunternehmer ist anwesend, mit einem<br />

Katalog, in dem verschiedene Sargmodelle abgebildet sind. Die Aufbahrung in einem Raum<br />

des Krankenhauses wird gezeigt. Die Familie n<strong>im</strong>mt Abschied von Andrea.<br />

Das Verschließen des Sarges markiert die Endgültigkeit des Abschieds. Stand bisher die<br />

harmonische Gemeinschaft der Familie <strong>im</strong> Vordergrund, so rückt nun die Darstellung der<br />

<strong>Trauer</strong> der einzelnen Familienmitglieder in den Mittelpunkt des erzählerischen Interesses. Die<br />

verwaisten Eltern und Irene, die ihren Bruder verloren hat, werden be<strong>im</strong> Durchleben der<br />

<strong>Trauer</strong>phasen gezeigt. Der Tod Andreas hat eine nicht zu füllende Leerstelle <strong>im</strong> Gefüge der<br />

Familie hinterlassen, die auch durch das nun leer stehende Z<strong>im</strong>mer Andreas verdeutlicht wird.<br />

Die jeweils individuelle <strong>Trauer</strong> der Familienmitglieder treibt die Familie <strong>im</strong>mer weiter<br />

auseinander. Es droht der Verlust auch dieser noch verbliebenen Bande. Ein Brief einer<br />

Ferienliebe Andreas kommt unerwartet an. Paola n<strong>im</strong>mt mit der Absenderin Ariana Kontakt


12<br />

auf und lädt sie nach Ancona ein, was diese jedoch zu diesem Zeitpunkt der Geschichte noch<br />

ablehnt. Unter dramaturgischen Gesichtspunkten betrachtet wirkt dieser Aufschub als<br />

retardierendes Moment. Obwohl durch dieses Hinzutreten einer Figur von außen bereits ein<br />

Weg zur Bewältigung des Problems aufscheint, verstärkt sich die emotionale Spannung<br />

zwischen Giovanni und Paola vorerst gerade durch diesen Brief.<br />

2.7.3.3. Wendepunkt und Ansatz einer Lösung (1:22:13 – 1:32:50)<br />

Die entscheidende Wendung, hin zu einem versöhnlichen Schluss, erhält die Geschichte<br />

durch Ariana, die sich entschieden hat, die Familie doch zu besuchen. Nach kurzem Gespräch<br />

erklärt Ariana, sie und ihr Freund Stefano seien per Anhalter unterwegs. Giovanni entschließt<br />

sich, die beiden zur nächsten Autobahnauffahrt zu fahren, wo sie bessere Chancen hätten,<br />

mitgenommen zu werden. Gemeinsam mit Paola, Irene, Ariana und Stefano fahren sie los.<br />

Um die Reise abzubilden, greift Moretti auf die Zeit raffende Technik des elliptischen<br />

Erzählens zurück und zeigt nur die wichtigsten Stationen des Weges. Die Fahrt endet am<br />

frühen Morgen an einer Autobahnraststätte, die am Meer liegt. Nach einem Kaffee<br />

verabschieden sich Stefano und Ariana von der Familie. Giovanni, Paola und Irene laufen am<br />

Strand entlang. Diese letzten Bilder schließen den <strong>Film</strong> mit Aussicht auf einen positiven<br />

Umgang mit dem Tod Andreas ab. Da hier zwar der <strong>Film</strong>, nicht jedoch die Geschichte der<br />

<strong>Trauer</strong> Giovannis und seiner Familie endet, kann in Hinblick auf die Erzählform von einem<br />

offenen Ende gesprochen werden.<br />

2.7.3.4. Fazit der Analyse<br />

Die lange Exposition, die ein Drittel der <strong>Film</strong>dauer in Anspruch n<strong>im</strong>mt, stellt die Rituale der<br />

Familie dar, die zwischen Frühstück, Schule, Arbeit und Freizeit den Alltag in einer<br />

liebevollen Atmosphäre zu bewältigen hat. Dem Zuschauer wird die Möglichkeit geboten,<br />

sich aufgrund dieser ihm wahrscheinlich ebenfalls vertrauten Handlungen mit der Familie zu<br />

identifizieren. Gleichzeitig wird eine Atmosphäre bürgerlichen Glücks geschaffen und so die<br />

Fallhöhe vorbereitet. Der Kontrast, der durch die schockierende Wirkung des unerwarteten<br />

Todes geschaffen wird, wirkt so umso eindrücklicher. Da der Tod völlig ohne vorbereitenden<br />

‚suspense’ geschieht, wird für den Zuschauer deutlich, dass der Tod eine Konstante der<br />

Wirklichkeit ist, der jeder, ihn eingeschlossen, in jedem Augenblick zum Opfer fallen kann.<br />

Der Tod, als das die <strong>Trauer</strong> auslösende Ereignis in „Das Z<strong>im</strong>mer meines Sohnes“, passiert<br />

einfach ohne äußeren Anlass wie beispielsweise eine Krankheit und ohne moralischen<br />

Anspruch, wie sie etwa die Bestrafung durch Tod <strong>im</strong> Sinn einer poetischen Gerechtigkeit<br />

nach einer moralischen Verfehlung darstellen würde. Die Folgen des Verlusts des Sohnes


13<br />

nehmen den größten Teil der erzählten und der Erzählzeit ein, wodurch auf temporaler Ebene<br />

markiert wird, dass der <strong>Trauer</strong>prozess <strong>im</strong> Mittelpunkt des <strong>Film</strong>es steht - „die Analyse der<br />

Handlungsstruktur erweist sich als Schlüssel zum besseren Verständnis des <strong>Film</strong>s.“ 40<br />

Wie schon der Tod des Sohnes wird auch die <strong>Trauer</strong> realistisch, nüchtern erzählt. Gezeigt<br />

wird, wie sich ein solches Unglück auf das soziale Konstrukt Familie auswirken kann: Dem<br />

anfänglich Einigkeit stiftenden Schmerz folgt schnell eine Phase, in der die jeweils individuell<br />

empfundene <strong>Trauer</strong> die Hinterbliebenen zusehends voneinander entfremdet. Erst als Ariana<br />

und Stefano hinzukommen, zeichnet sich eine Lösung ab. In ihrer Gegenwart wird es<br />

möglich, über Andrea zu sprechen. Das, was die von Irene initiierte Messe leisten sollte, Trost<br />

und Hoffnung zu spenden, gelingt durch Ariana und Stefano, symbolisiert in der Fahrt durch<br />

die Nacht, in deren Verlauf die Familienmitglieder wieder zu einander finden. Die Fahrt endet<br />

bezeichnenderweise an einem neuen, sonnigen Tag, am Strand des Meers, dem Symbol für<br />

die Einheit von Leben und Tod. 41<br />

2.8. Analyse der Hauptfigur<br />

2.8.1. Giovanni vor der <strong>Trauer</strong><br />

Die Figur des Giovanni (Nanni Moretti) wird in den ersten Bildern des <strong>Film</strong>s eingeführt. Im<br />

Verlauf der Handlung zeigt die Kamera das Geschehen hauptsächlich aus Sicht eines<br />

unsichtbaren Begleiters Giovannis. Selten gibt es Szenen, in denen er nicht präsent ist, was<br />

ihm die Rolle der Hauptfigur zuweist. „Besonderes Interesse gilt häufig dem ersten Auftritt<br />

des Protagonisten und der Art seiner Charakterisierung. Aufgrund seiner Rolle als<br />

Wahrnehmungs- und Bedeutungszentrums <strong>im</strong> <strong>Film</strong> wird auf seine Gestaltung in aller Regel<br />

Wert gelegt, eben um die notwendige Glaubwürdigkeit und zugleich Attraktivität zu<br />

erzeugen.“ 42 In der ersten Szene begegnet Giovanni nach dem Joggen am Hafen dem Zufall in<br />

der heiteren Form einer Gruppe tanzender und singender Krishna-Jünger. Giovanni kann<br />

diese Begegnung annehmen und summt die Melodie der Krishna Jünger bis nach Hause. Dort<br />

wird er erneut mit etwas Unerwartetem konfrontiert: sein Sohn soll einen Ammoniten<br />

gestohlen haben. Auch hierfür hat Giovanni eine Lösung parat und sucht das klärende<br />

Gespräch mit dem Direktor und den Eltern der Schulkameraden. Im ersten Drittel des <strong>Film</strong>s<br />

wird Giovanni als treu sorgender, manchmal überbehütender Familienvater gezeigt, für den<br />

das Leben in stabilen, harmonischen Bahnen verläuft. Das Unerwartete kann er geschickt in<br />

seinen Alltag integrieren. Die Familie lebt in Harmonie zusammen, was beispielsweise in<br />

40 Faulstich, Werner: Grundkurs <strong>Film</strong>analyse. München 2002, S. 86.<br />

41 Vgl. Selbmann, Sibylle: Selbmann, Sibylle: Mythos Wasser: Symbolik und Kulturgeschichte. Karlsruhe 1995.<br />

42 Faulstich, S. 97.


14<br />

einer Szene dokumentiert wird, in der alle vier Familienmitglieder bei einer Autofahrt zu<br />

sehen sind: Im Radio läuft ein italienischer Schlager, Giovanni singt laut mit und auch Paolo,<br />

Andrea und Irene st<strong>im</strong>men ein. So entsteht ein <strong>im</strong>provisiertes Quartett als Sinnbild der<br />

Familie: Jede Figur ist für sich, doch gleichzeitig eingebettet in den Sinn spendenden Rahmen<br />

der Familie. 43 Die gefestigten Beziehungen lassen den Diebstahl und die Erkenntnis, dass<br />

Irenes Freund Haschisch raucht, als kleine Irritationen erscheinen, die diese Feste jedoch nicht<br />

erschüttern können.<br />

Als Giovanni Irene zusammen mit Paola bei einer Latein-Übersetzung hilft, fällt der Satz<br />

„Mit wenig Mühe wirst Du geführt werden.“ 44 Hiermit wird die Aufgabe, die ihm die<br />

Ereignisse der zwei letzten Drittel der Handlung auferlegen, bereits angedeutet. Für ihn geht<br />

es um Akzeptieren des Zufalls, auch, wenn dieser nicht heiter, wie in der Szene mit den<br />

tanzenden Krishna-Jüngern, sondern grausam und schmerzhaft ist.<br />

Einige Male wird Giovanni be<strong>im</strong> Joggen gezeigt. In der Anstrengung seines Körpers findet er<br />

Nähe zu sich und Abstand von den Neurosen, mit denen er in seiner Funktion als<br />

Psychotherapeut täglich konfrontiert wird. Die Spannung zwischen Nähe und Abstand,<br />

Int<strong>im</strong>ität und Distanz formuliert eine weitere Problemebene des <strong>Film</strong>s, die sich in seiner<br />

Arbeit spiegelt. Die Verschränkung zwischen der Arbeitswelt und dem Privatbereich wird<br />

auch verdeutlicht durch den Umstand, dass Praxis und Wohnung räumlich direkt miteinander<br />

verbunden sind. Als Psychotherapeut n<strong>im</strong>mt Giovanni die Rolle des Übervaters ein, die<br />

geprägt ist von unerschütterlicher Ruhe. Er hört zu und hat für die Probleme seiner Patienten<br />

Tipps und Lösungen, auch wenn diese teilweise nur in einer von ihm <strong>im</strong>aginierten Traumwelt<br />

existieren. 45 Ähnlich wie bei der Lateinübersetzung <strong>im</strong> Kreis der Familie geht es auch in den<br />

Therapiesitzungen um Gelassenheit. Seiner Patientin Raffaela, rät er zu mehr Gelassenheit,<br />

denn man könne nicht alles was passiert best<strong>im</strong>men und sei auch nicht für Alles<br />

verantwortlich.<br />

Als Andrea jedoch bei einem Tauchunfall verunglückt, macht gerade er sich für den Tod<br />

seines Sohnes in verantwortlich, denn eigentlich hatte er sich mit ihm zum Joggen verabredet,<br />

musste ihm aber dann aus beruflichem Pflichtgefühl absagen, da ein Patient, Oscar, dringend<br />

seine Hilfe benötigte.<br />

43 Dass <strong>im</strong> Radio keine politischen Nachrichten kommen, weist darauf hin, dass es in „Das Z<strong>im</strong>mer meines<br />

Sohnes“ um die private Geschichte dieser Familie geht.<br />

44 0:15:47<br />

45 0:23:40


2.8.2. Der <strong>Trauer</strong>prozess Giovannis<br />

15<br />

2.8.2.1. Die erste Phase des Nicht-Wahr-Haben-Wollens<br />

Die Nachricht über den Tod seines Sohnes löst bei Giovanni zunächst einen Schock aus, der<br />

ihn sprachlos werden lässt. Giovanni fährt zu Irene, die gerade ein Basketballspiel zu<br />

bestreiten hat und ohne Worte zu wechseln wird klar, dass etwas Außergewöhnliches passiert<br />

sein muss. Zuhause umarmen sich die Familienmitglieder und sind in gemeinsamer Sorge und<br />

geteiltem Schmerz vereinigt, gesprochen wird jedoch nicht. Im Wartesaal des Krankenhauses<br />

versucht Giovanni zwar einen Anruf zu tätigen, doch seine St<strong>im</strong>me versagt und er findet<br />

keine Worte. Das Unfassbare ist gleichzeitig das Unaussprechliche, Etwas, das nicht in die<br />

sprachliche Realität geholt werden kann. 46<br />

Die Aufbahrung Andreas, die in Nahaufnahmen gezeigt wird, vollzieht sich ebenfalls ohne<br />

Worte. Als der Sarg geschlossen wird, beginnt sich bereits abzuzeichnen, dass jeder <strong>im</strong> Leid<br />

für sich stehen muss.<br />

Giovanni kann den Zufall in seiner grausamen Form nicht annehmen, sondern flüchtet sich<br />

vor der Erkenntnis des Todes seines Sohnes in Reizüberflutung. Auf dem Rummelplatz sucht<br />

er <strong>im</strong> Trubel Ablenkung, begegnet dort aber ständig Symbolen des Lebens, wie einem<br />

Karussell oder einer Spielzeug-Pferderennbahn. Der Zuschauer sieht ihn, wie er sich mit<br />

wütendem Gesicht von einem Fahrgeschäft durchschütteln lässt und wie er ziellos durch das<br />

Gewühl läuft, eine Reaktion die seine Seele vor dem unerträglich starken Schmerz schützen<br />

soll. Er verneint und distanziert sich vom Anerkennen der Realität des Todes auch durch das<br />

bruchlose Fortführen seiner täglichen Arbeit als Psychotherapeut.<br />

Ein vorsichtiges Annähern geschieht erst be<strong>im</strong> Schreiben der Kondolenzbriefe, das ein<br />

soziales Muster des <strong>Trauer</strong>ns darstellt und auf das in solchen Fällen zurückgegriffen werden<br />

kann, um den Schmerz zu kanalisieren. Bei dieser Arbeit, die Giovanni und Paola gemeinsam<br />

erledigen, werden Erinnerungen wach und besprochen, wodurch eine Möglichkeit entsteht,<br />

den bisher äußeren Bezug zu Andrea zu internalisieren. Giovanni beginnt nun zwar, sich der<br />

Wirklichkeit zu stellen, doch er verharrt lange in diesem<br />

Übergangstadium zur zweiten Phase der <strong>Trauer</strong>. Verantwortlich dafür ist sein Empfinden,<br />

eine Mitschuld an Andreas Tod zu tragen. Symptomatisch für seine Selbstvorwürfe und sein<br />

Verlangen, das Geschehene ungeschehen zu machen ist, dass er sich <strong>im</strong>mer wieder dieselbe<br />

46 So wie die Sprache vor dem Tod verstummt, zeigt Moretti auch den Tod, indem er die Bilder ‚verstummen’<br />

lässt. Das tragische Ereignis selbst ist nicht zu sehen. In einer Montagesequenz, die mit schnellen Schnitten<br />

arbeitet, werden Andrea bei der Abfahrt des Schlauchboots, Paola, die auf dem Markt angerempelt wird, Irene,<br />

die mit ihren Freunden Mofa fährt und Giovanni, dem ein hupender LKW entgegenkommt gezeigt. Es handelt<br />

sich lediglich um Vorzeichen und Andeutungen, die suggerieren, dass jedem der Beteiligten etwas zustoßen<br />

könnte. Dass Andrea tot ist, wird erst in der Szene, in der Paola mit Ariana telefoniert zur Sprache gebracht.


16<br />

Sequenz eines Liedes anhört. 47 Hier kann er die Zeit zurück drehen, <strong>im</strong> Leben jedoch nicht.<br />

Gleichzeitig dient ihm das Medium Musik zur St<strong>im</strong>ulation von Erinnerungen an seinen Sohn.<br />

<strong>Film</strong>isch wird dies in Traumsequenzen gezeigt, in denen Giovanni und Andrea joggen und<br />

somit das getan hätten, was eigentlich geplant war. In seiner Phantasie kann Giovanni die<br />

Realität so entwerfen, dass das schmerzhafte Erlebnis nicht stattgefunden hat, <strong>im</strong> Leben hat er<br />

darauf jedoch keinen Einfluss mehr. 48<br />

2.8.2.2. Die zweite Phase der aufbrechende Emotionen<br />

Diese Ohnmacht und die Schuldgefühle lassen Giovanni zum Detektiv werden, eine typische<br />

Reaktion in der zweiten <strong>Trauer</strong>phase nach Verena Kast. 49 Er begibt sich auf die Suche nach<br />

einem Schuldigen und forscht be<strong>im</strong> Tauchhändler nach, ob Andrea möglicherweise wegen<br />

eines technischen Versagens gestorben sei. 50 Weiterhin hadert er, sich mit der Realität<br />

abzufinden. In <strong>im</strong>mer wiederkehrenden <strong>im</strong>aginären Bildern malt er sich aus, was passiert<br />

wäre, wenn er seinem Sohn nicht abgesagt hätte, 51 doch in seiner Praxis wird er mit<br />

Problemen konfrontiert, die ihn ständig an den geschehenen Verlust erinnern. So kommt<br />

Oscar, der Patient, wegen dem Giovanni den Termin nicht einhalten konnte, in die Praxis und<br />

spricht über seine Angst zu sterben und welche Auswirkungen das für seine Mutter hätte,<br />

bevor er merkt, wie sehr dieses Thema Giovanni selbst betrifft. 52 Giovanni sagt zwar, er solle<br />

sich darüber keine Sorgen machen und versucht, seiner Rolle als Arzt gerecht zu werden,<br />

doch die nötige Distanz zwischen Arzt und Patient bröckelt, da er Oscar ständig mit dem Tod<br />

des Sohnes in Verbindung bringt. 53 Gerade Giovanni, der seine Patienten sonst gut versteht<br />

und mit deren Gefühlen souverän umgehen kann, weiß nun nicht mehr weiter.<br />

Der Helfer braucht selbst Hilfe und sucht einen befreundeten Kollegen auf, der ihm rät, offen<br />

mit Oscar zu sprechen. Der Weg zur Lösung dieses Problems geht über die Anerkennung der<br />

veränderten Situation <strong>im</strong> darüber Sprechen als Akt der kommunikativen Verwirklichung und<br />

Verankerung der Emotionen in zwischenmenschlicher Realität. Dafür muss Giovanni die<br />

Distanz zwischen Arzt und Patient aufgeben.<br />

Die Distanz-Nähe Problematik zeichnet sich auch innerhalb der Familie ab. Dort gestaltet sich<br />

die Situation <strong>im</strong>mer schwieriger. War der gemeinsame Schmerz am Anfang noch ein<br />

verbindendes, Nähe schaffendes Element, so treibt die jeweils individuell empfunden und<br />

47<br />

0:47:10<br />

48<br />

0:50:05<br />

49<br />

Iskenius-Emmler, 99.<br />

50<br />

0:48:00<br />

51<br />

0:49:08<br />

52<br />

0:49:12<br />

53<br />

0:58:20


17<br />

ausgelebte <strong>Trauer</strong> die Familie mehr und mehr auseinander: Die institutionalisierte Instanz des<br />

Gottesdienstes wird zwar noch gemeinsam durchlaufen, erscheint aber sinnentleert und kann<br />

keinen Trost bieten, besonders nicht für Giovanni.<br />

Bevor sein Sohn starb, war Giovanni ein Profi in der Deutung von Gedanken und Träumen,<br />

doch nun weiß er mit den metaphorischen Worten des Pfarrers nichts anzufangen. „Wenn der<br />

Hausvater wüsste, wann in der Nacht der Dieb kommt, würde er wach bleiben. Was heißt<br />

das?“ schreit Giovanni verzweifelt. Den Versuch des Pfarrers, den Tod als eine schicksalhafte<br />

Verknüpfung von Zufällen darzustellen, will Giovanni nicht gelten lassen. Seine Wut bricht<br />

aus ihm hervor, wenn er zerbrochene, aber wieder geklebte Tassen aus dem Schrank zieht und<br />

sie zynisch als Abfall, von dem man sich trennen müsse, bezeichnet. Aus psychologischer<br />

Sicht ist damit jedoch bereits ein Fortschritt auf dem Weg zu einer Bewältigung der <strong>Trauer</strong><br />

getan. Das Ende von Dingen und Menschen und die notwendige Distanzierung durch<br />

Trennung werden zur Sprache gebracht und mit entsprechenden Gefühlen verknüpft.<br />

Es ist ein erster Ansatz, das Schicksal zu akzeptieren. Die aufbrechenden Empfindungen, die<br />

Giovanni nun an sich heran lässt, werden so stark, dass er seine Arbeit einstellen muss, da er<br />

seinen Patienten nicht weiter helfen kann. Er wird <strong>im</strong> Gegenteil zynisch und vergisst die<br />

gebotene Rücksichtsnahme, was erneut den Verlust der notwendigen Distanz markiert. Ihren<br />

Höhepunkt erreichen die schmerzhaften Gefühle, als Giovanni während einer Therapiesitzung<br />

an den Tod Andreas erinnert wird und in Tränen ausbricht. 54<br />

2.8.2.3. Die dritte Phase des Suchens und Sich-Trennens<br />

Nachdem Giovanni sich der <strong>Trauer</strong> geöffnet hat, kann er den nächsten Schritt auf dem Weg<br />

zur Heilung wagen. Der Beschluss, die Arbeit zu unterbrechen ist ein Zeichen für die<br />

Anerkennung der geänderten Realität und der Tatsache, dass das bisherige Leben nicht<br />

fortgeführt werden kann, als sei nichts geschehen. Sein Verhältnis zum Tod seines Sohnes hat<br />

sich von der Leugnung hin zu einem Akzeptieren gewandelt. Es ist Giovanni nun möglich,<br />

Plätze aufzusuchen, die mit Andrea in enger Beziehung stehen, ohne dass der Schmerz<br />

unerträglich ist. 55 Die Gelassenheit, zu der er Raffaella anfangs geraten hatte, kann er nun<br />

langsam bei sich zulassen. Er sucht die aussöhnenden Aspekte des Schicksals. Auch in Bezug<br />

auf seine Familie kommt es zu einer Hinwendung, weg vom eigenen egozentrischen Schmerz,<br />

hin zu seinen Mitmenschen. 56 Die Gegenwart beginnt sowohl zeitlich als auch <strong>im</strong> personellen<br />

Umfeld langsam wieder in den Mittelpunkt zu rücken.<br />

54 1:06:58.<br />

55 1:16:00<br />

56 1:16:04


18<br />

Giovanni führt die <strong>Trauer</strong>arbeit nun aktiv weiter und erkundigt sich nach dem<br />

Musikgeschmack Andreas bei einem Musikhändler, wo er auch eine CD kauft. Sein Wunsch<br />

nach einer Übersetzung der Texte drückt das große Interesse für die Weltsicht seines Sohnes<br />

aus, die er, nun als einen Teil seiner eigenen Persönlichkeit, erfahren möchte. Der Inhalt des<br />

Liedes wird bildlich umgesetzt, wenn Brian Eno singt: “You talk to me/as if from a<br />

distance/And I reply/With <strong>im</strong>pressions chosen from another t<strong>im</strong>e:“ 57 Die Assoziationen, die<br />

durch das Hören bei Giovanni ausgelöst werden, lassen ihn wieder in <strong>im</strong>aginären Kontakt mit<br />

Andrea treten, doch provozieren keine Weinanfälle mehr. Das bedeutendste Ereignis auf dem<br />

Weg zur Heilung ist das Eintreffen von Ariana, die die Familie unerwarteterweise doch noch<br />

besucht. Durch das Auftauchen von Ariana kommt Bewegung in die erstarrte Situation<br />

innerhalb der Familie. Durch sie wird der Schritt heraus aus der zirkulären Geschlossenheit<br />

der eigenen Erinnerungen möglich. Auf bildlicher Ebene verweist dies auf den von Andrea<br />

gestohlenen Ammonit, dieser „Schnecke mit Spiralen“ 58 . Während die <strong>Trauer</strong>arbeit die<br />

einzelnen Personen bis zu diesem Punkt in die Tiefe ihrer Seele geführt hat, ändert sich nun<br />

die Richtung dieses Weges und führt spiralförmig, also nicht geradlinig aber zielgerichtet<br />

nach außen, so dass Gemeinschaft langsam wieder möglich wird.<br />

Giovanni öffnet Ariana die Tür am frühen Abend des 15. Tages. Gemeinsam warten die<br />

beiden auf Paola und betrachten in der Zwischenzeit Fotos, die Andrea für Ariana gefertigt<br />

hatte. Andrea ist darauf in lustigen Posen in seinem Z<strong>im</strong>mer zu sehen. Zum ersten Mal seit<br />

seinem Tod wird Giovanni wieder lächelnd gezeigt: „Das ist witzig, nicht wahr?“ 59 Das<br />

Medium der Fotografie, in dem der Brückenschlag zwischen verlorener Vergangenheit und<br />

erlebter Jetztzeit möglich wird, geleitet das Trauma des Verlusts in den heilenden Trost der<br />

Erinnerung. 60<br />

2.8.2.4. Die vierte Phase des neuen Selbst- und Weltbezugs<br />

Die Autofahrt als Tätigkeit der Fortbewegung verweist auf die Weiterentwicklung auf<br />

emotionalem Gebiet, die die Figuren durchleben. Die Fahrt, die durch Nacht und einen<br />

57<br />

Die CD ist von Brian Eno, der Titel des <strong>im</strong> on- und später aus dem off gespielten Liedes lautet: „By this river“<br />

und befindet sich auf dem Album „Before and after science“ von 1977 (Virgin Music). “Here we are/ Stuck by<br />

this river, You and I/ Underneath a sky that's ever falling down, down, down Ever falling down./Through the<br />

day/As if on an ocean/Waiting here, Always failing to remember why we came, came, came/I wonder why we<br />

came. /You talk to me/as if from a distance/And I reply/With <strong>im</strong>pressions chosen from another t<strong>im</strong>e, t<strong>im</strong>e,<br />

t<strong>im</strong>e/From another t<strong>im</strong>e.”<br />

58<br />

Paola zu Giovanni 0:16:16.<br />

59<br />

1:22:12<br />

60<br />

Vgl. hierzu: Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt/M. 1985. In<br />

diesem Aufsatz erscheint die Fotografie als Schattenbild, das die Spur des Gewesenen als Erinnerungsform<br />

vergegenwärtigt (ebd. S.14). Durch die Abbildung des Referenten stellt das Foto eine Wiederkehr des Toten dar<br />

(ebd. S.30) und indem es den Gegenstand gegenwärtig macht, hilft es gleichzeitig bei der Bewältigung von Tod<br />

und <strong>Trauer</strong> (ebd. S. 92-105).


19<br />

Tunnel führt, wird zu einer „Reise in ein Land hinter dem Leid“ 61 und erscheint somit als „rite<br />

de passage“. 62 Durch die inzwischen geschehene Verinnerlichung Andreas kann das Unglück<br />

nun auch aus der Distanz betrachtet werden. Giovanni beginnt die Unwiderruflichkeit des<br />

Todes zu verstehen und findet zu einem Selbstbild, das weniger von Schuld als durch<br />

Hilfsbereitschaft und Verständnis geprägt ist. Dass sich Ariana einen neuen Freund, der an die<br />

Stelle seines Sohnes gerückt ist, gesucht hat, kann er akzeptieren und als Zeichen der<br />

Hoffnung interpretieren. In Ariana begegnet ihm der personifizierte Rat, der zu Anfang des<br />

<strong>Film</strong>s aus der Latein-Übersetzung gesprochen hat: „Mit wenig Mühe wirst Du geführt<br />

werden.“ In einer der letzten Szenen, die die Autofahrt der Familie zu Beginn des <strong>Film</strong>s<br />

spiegelt, fahren Giovannis Familie und Ariana und Stefan durch die Nacht und beginnen<br />

gemeinsam zu singen. Der trennende Aspekt der <strong>Trauer</strong> wird durch die aufke<strong>im</strong>ende<br />

Hoffnung auf ein Weiterleben in positivem Gedenken an Andrea aufgehoben. Der Weg, der<br />

durch Ariana wieder als Möglichkeit erscheint, ist der, der in eine Normalität, die mit der<br />

Erfahrung des Todes gelassen umgeht, führt. Giovanni scheint die Aufgaben, die ihm der<br />

<strong>Trauer</strong>prozess auferlegt hat, bewältigt zu haben.<br />

3. Schluss: Die Botschaft des <strong>Film</strong>s<br />

In „Das Z<strong>im</strong>mer meines Sohnes“ zeigt Nanni Moretti drei Möglichkeiten, wie mit dem<br />

Schicksal in seiner grausamen Form, dem Tod, umgegangen werden kann. Dafür greift er auf<br />

eine Familie zurück, die den Verlust eines Sohnes zu beklagen hat. Im Mittelpunkt des<br />

Psychogramms steht der Vater, der an der <strong>Trauer</strong> zu zerbrechen droht, da er nicht mit dem<br />

Schmerz umzugehen weiß. Der natürliche Prozess des <strong>Trauer</strong>ns ist ihm fremd geworden und<br />

er kann nur auf wenige tradierte Verhaltensweisen zurückgreifen um sich von Bindungen, die<br />

nicht mehr lebendig sind, zu lösen. Weder das eingangs gezeigte hinduistische Modell in<br />

Form der tanzenden Krishna-Jünger, noch die christliche Lehre von der Auferweckung,<br />

dargestellt <strong>im</strong> Gottesdienstbesuch, konnten ihm Trost spenden.<br />

Auch zwischen den Familienmitgliedern kommt es zu Spannungen, da Wut und <strong>Trauer</strong> die<br />

Figuren voneinander entfremden, weil sie sie auf ihre jeweilige Individualität zurückwerfen<br />

und so die Fremdheit aufzeigen, die auch zwischen Personen, die sich sehr nahe stehen,<br />

<strong>im</strong>mer existiert, <strong>im</strong> Alltag aber nicht so deutlich hervortritt. Moretti zeigt, dass <strong>Trauer</strong> ein<br />

Prozess der Trennung ist, nicht nur vom geliebten Objekt, sondern auch von bisher gelebten<br />

61 Kühn, Heike: Das Z<strong>im</strong>mer meines Sohnes. http://www.kinofenster.de/ausgaben/kf0112/film1.htm. 21.05.06.<br />

62 Vgl.: van Gennep, Arnold: Übergangsriten. Frankfurt/.M. 1986. Der Ethnologe prägte den Begriff der<br />

Übergangsriten in seinem Buch „Les Rites de passage“ von 1909. Bezeichnet werden damit Riten, die mit<br />

Veränderungen <strong>im</strong> Leben eines Menschen verbunden sind. Dieser Übergang ist ein Prozess der Transformation,<br />

der von einem Zustand in einen nächsten oder von einer Welt in eine andere führt.


20<br />

Verhaltensweisen, was gerade <strong>im</strong> Sozialkonstrukt Familie zu Unsicherheiten und<br />

Schwierigkeiten führt. Doch erst aus der, durch die <strong>Trauer</strong> ausgelösten intensivierten<br />

Seelenschau, kann ein neuer, selbstbewusster Weltbezug, der dann auch wieder die<br />

Gemeinschaft zulässt, gefunden werden.<br />

Sowohl Giovanni als Protagonist, als auch Paola und Irene durchleben <strong>im</strong> Verlauf der<br />

Handlung eine intensive Entwicklung, die sie als dynamische Figuren kennzeichnet. 63 Bei der<br />

filmischen Umsetzung dieser existentiellen Thematik hält sich der Regisseur weitgehend an<br />

ein realistisches Erzählen, was sowohl die bildliche Darstellung als auch die psychische<br />

Entwicklung der Darsteller betrifft, die den Erkenntnissen der Thanatologie und<br />

<strong>Trauer</strong>forschung entspricht. Das Durchleben der einzelnen <strong>Trauer</strong>phasen, als Reaktion auf<br />

den Verlust eines Geliebten Menschen, stellt Moretti als einen schmerzhaften und<br />

schwierigen Weg dar, der jedoch die Chance zu einer ganzheitlichen Erfahrung birgt, wenn<br />

die <strong>Trauer</strong> angenommen und nicht verdrängt wird. Mit „Das Z<strong>im</strong>mer meines Sohnes“ entreißt<br />

Moretti die Themen Tod und <strong>Trauer</strong> ihrer modernen Verborgenheit hinter<br />

Krankenhausmauern und bringt sie in der „Höhle des Kinos“ 64 ans Licht. Im Zuschauer kann<br />

die Konfrontation mit Tod und <strong>Trauer</strong> durch den <strong>Film</strong> eine selbstreflexive Überprüfung seiner<br />

eigenen Einstellung zu diesem lebenswichtigen Thema auslösen. Die Aufgabe, die der <strong>Film</strong><br />

für sein Publikum formuliert, ist es, sich das <strong>Trauer</strong>n zu trauen. Die Botschaft ist der Aufruf,<br />

auf diese Weise zu einer „ars moriendi“ und, <strong>im</strong> Umkehrschluss daran, schließlich zu einer<br />

„ars vivendi“ zu finden. Diese Lebenskunst spielt sich zwischen den Polen ‚Individuum’ und<br />

‚Gemeinschaft’ ab und findet in einer gelassenen Einstellung gegenüber dem Schicksal ihre<br />

Verwirklichung.<br />

63 „Eine mehrd<strong>im</strong>ensionale Figur kann durch zwei Merkmale ausgezeichnet sein: erstens eine gewisse<br />

Komplexität, das heißt, die Liste der Eigenschaften und Merkmale ist vergleichsweise lang, gekennzeichnet<br />

durchaus von Gegensätzen und Widersprüchen, die eine Figur erst wirklich lebendig erscheinen lassen; zweitens<br />

eine persönlichkeitsmäßige Veränderung, das heißt, die Figur ist am Ende des <strong>Film</strong>s nicht mehr die, die sie noch<br />

am Anfang war.“ Faulstich, S. 99.<br />

64 Vgl. zu dieser Metapher: Baudry, Jean-Louis: Das Dispositiv: Metapsychologische Betrachtungen des<br />

Realitätseindrucks. In: Pias, Claus, Vogl, Joseph, Engell, Lorenz: Kursbuch Medien. Die maßgeblichen Theorien<br />

von Brecht bis Baudrillard. Stuttgart 1999.


Verwendete Literatur<br />

Pr<strong>im</strong>ärliteratur<br />

“Das Z<strong>im</strong>mer meines Sohnes”. Italien 2001. Produktion: Sacher <strong>Film</strong>/Bac<br />

<strong>Film</strong>s/StudioCanal/Rai Cinema/Tele+. Produzent: Angelo Barbagallo, Nanni Moretti.<br />

Regie: Nanni Moretti. Buch: Linda Ferri, Nanni Moretti, Heidrun Schleef.<br />

Sekundärliteratur<br />

Archer, John: The Nature of Grief. The Evolution and Psychology of Reactions to Loss.<br />

London 1999.<br />

Ariès, Philippe: Studien zur Geschichte des Todes <strong>im</strong> Abendland. München 1976.<br />

Arnold, Wilhelm; Eyseneck, Jürgen; Meili, Richard (Hg.): Lexikon der Psychologie.<br />

11. Auflage, Bd. III. Freiburg 1980.<br />

Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung Identität in frühen Hochkultu-<br />

ren. München 1992.<br />

Assmann, Jan: Der Tod als Thema der Kulturtheorie. Todesbilder und Totenriten <strong>im</strong> Alten<br />

Ägypten. Frankfurt/M. 2000.<br />

Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt/M. 1985.<br />

Bock, Hans-Michael (Hg.): Lexikon der Regisseure und Kameraleute. Reinbek b. Hamburg<br />

1999.<br />

Bohrer, Karl Heinz: Der Abschied: Theorie der <strong>Trauer</strong>. Frankfurt/M. 1996.<br />

Bowlby, John: Verlust, <strong>Trauer</strong> und Depression. Frankfurt/M. 1983.<br />

Boym, Svetlana: The Future of Nostalgia. New York 2001.<br />

Canacakis, Jorgos: Ich sehe deine Träne. <strong>Trauer</strong>n, Klagen, Leben können. Stuttgart 1993.<br />

Davis, Fred: Yearning for Yesterday. A Sociology of Nostalgia. New York 1979.<br />

Eno, Brian: Before and after Science. Virgin Music 1977.<br />

Elias, Norbert: Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen. 7. Aufl. Frankfurt/M.<br />

1991.<br />

Faulstich, Werner: Grundkurs <strong>Film</strong>analyse. München 2002.<br />

Freud, Sigmund: Studienausgabe. Hgg. von Mitscherlich, Alexander; Richards, Angela;<br />

Strachey, James. Bd. III. Frankfurt/M. 1975.<br />

Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis. Stuttgart 1967.<br />

Haverkamp, Anselm: Laub voll <strong>Trauer</strong>. Hölderlins späte Allegorie. München 1991.<br />

Hirschberg, Corinna: <strong>Trauer</strong>nde Kinder – wahrnehmen, verstehen und begleiten. In:<br />

Brennpunkt Gemeinde 3/2004. Impulse für missionarische Verkündigung und<br />

Gemeindeaufbau. Studienbrief D 21. Stuttgart 2004.<br />

Holzschuh, Wolfgang: Die <strong>Trauer</strong> der Eltern bei Verlust eines Kindes. Eine praktisch<br />

theologische Untersuchung. Würzburg 1998.<br />

Iskenius-Emmler, Hildegard: Psychologische Aspekte von Tod und <strong>Trauer</strong> bei Kindern und<br />

Jugendlichen. Frankfurt/M. 1988.<br />

Kast, Verena: <strong>Trauer</strong>n. Phasen und Chancen des psychischen Prozesses. Berlin 1982.<br />

Klibanski, Raymon: Panofsky, Erwin; Saxl, Franz: Saturn und Melancholie. 2. Aufl.<br />

Frankfurt/M. 1990.<br />

Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 24. durchges. und erw.<br />

Aufl. von Elmar Seebold. Berlin 2002.<br />

Kübler – Ross, Elisabeth: Interviews mit Sterbenden. Stuttgart: Kreuz 1971.Krumrey, Antje:<br />

Sterberituale und Todeszeremonien. Ihr Wandel in der Zeit. Frankfurt/O. 1997.<br />

Laager Jacques (Hg.): Ars moriendi. Die Kunst, gut zu leben und gut zu sterben. Texte von<br />

Cicero bis Luther. Zürich 1996.<br />

Landy, Marcia: Italian <strong>Film</strong>. Cambridge 2000.<br />

Mikos, Lothar: <strong>Film</strong>- und Fernsehanalyse. Konstanz 2003.


Mischke, Marianne: Der Umgang mit dem Tod. Vom Wandel in der abendländischen Ge-<br />

schichte. Berlin 1996.<br />

Ochsmann, Randolph; Howe, Jürgen (Hg.): <strong>Trauer</strong> – Ontologische Konfrontation. Bericht<br />

über die 2. Tagung zur Thanato-Psychologie vom 23.- 24. November 1989 in Osna<br />

brück. Stuttgart 1991.<br />

Pias, Claus, Vogl, Joseph, Engell, Lorenz (Hg,): Kursbuch medien. Die maßgeblichen<br />

Theorien von Brecht bis Baudrillard. Stuttgart 1999.<br />

Rothman, Juliet Cassuto: Wenn ein Kind gestorben ist. <strong>Trauer</strong>begleiter für verwaiste Eltern.<br />

Freiburg/Breisgau 1998.<br />

Scherer, Georg: Das Problem des Todes in der Philosophie. Darmstadt 1979.<br />

Schmied, Gerhard: Sterben und <strong>Trauer</strong>n in der modernen Gesellschaft. Opladen 1985.<br />

Selbmann, Sibylle: Selbmann, Sibylle: Mythos Wasser: Symbolik und Kulturgeschichte.<br />

Karlsruhe 1995.<br />

Spiegl, Yorick: Der Prozess des <strong>Trauer</strong>ns. Analyse und Beratung. Mainz 1973.<br />

Stiglegger, Marcus (Hg.): Splitter <strong>im</strong> Gewebe. <strong>Film</strong>emacher zwischen Autorenfilm und<br />

Mainstreamkino. Mainz 2000.<br />

Worden, J. William: Beratung und Therapie in <strong>Trauer</strong>fällen. Ein Handbuch. Stuttgart 1987.<br />

van Gennep, Arnold: Übergangsriten. Frankfurt/.M. 1986.<br />

Zarnegin, Kathy: Buchstäblich traurig. Basel 2004.<br />

Zeitungen und Internet<br />

Schürmer, Dirk: Berlusconi <strong>im</strong> Kino. Der Ka<strong>im</strong>an, das bin ich. In: Frankfurter Allgemeine<br />

Zeitung, Nr. 76, Ausgabe vom 30.03.2006.<br />

http://www.kinofenster.de/ausgaben/kf0112/film1.htm. Abruf 21.05.06.<br />

www.djfl.de.entertainment/stars/n/nanni_moretti_i_01.html. Abruf 17.05.06.<br />

http://www.italienwelten.de/Nanni_Moretti.317.0.html. Abruf 19.05.06.


Tabelle 1: Sequenzplan „Das Z<strong>im</strong>mer meines Sohnes“<br />

Tag 1<br />

0:00:00 Stadt: Vater Giovanni joggt am menschenleeren Hafen. Kommt in die mit<br />

Menschen gefüllten Straßen, in ein Café, Hare Krishna Jünger tanzen vorbei.<br />

Er geht auf Straße und bestaunt sie.<br />

0:03: 05 Wohnung: Anruf vom Direktor.<br />

0:03:25 Schule: Direktor macht Vorwurf, dass Sohn Andrea und Freund<br />

Thomas ein Fossil gestohlen hätten.<br />

0:04:30 Praxis: Psychoanalyse mit zwangsneurotischer Frau. G. rät zu mehr<br />

Gelassenheit: man könne nicht alles best<strong>im</strong>men. Sie fühle sich schuldig, aber<br />

sie sollte lernen, Muße zu empfinden.<br />

0:05:37 Praxis: G. beobachtet Patientin aus dem Fenster. .<br />

Patient Oscar erzählt von Falltürträumen. Es kommt ihm wie<br />

Zeitverschwendung vor.<br />

0:06:35 Wohnung: Alltag G.´s zu Ende, G. und seine Frau, Paola am Telefon.<br />

0:07:30 Wohnung: Gemeinsam mit Irene, der Tochter, reden sie über Klänge<br />

verschiedener Sportarten. Andrea kommt dazu. Ganze Familie am Essenstisch.<br />

0:09:00 Wohnung: Eltern <strong>im</strong> Schlafz<strong>im</strong>mer, reden über Diebstahl und Ammonit als<br />

„Schnecke mit Spiralen“.<br />

Tag 2<br />

0:09.31 Autofahrt mit A. zu Luciano und Phillipo.<br />

0:10:05 Bei Phillipo: Diskussion, ob Phillipo den Diebstahl gesehen hat. Er gibt es<br />

gezwungenermaßen zu.<br />

0:11:10 Eltern reden über Vorfall. G. findet, dass Phillipo von seinem Vater schlecht<br />

behandelt worden sei. Andrea <strong>im</strong> Hintergrund an Spielautomat.<br />

0:11:40 Praxis: Patient erzählt, dass er Angst habe, eine Vergewaltigung zu begehen. Er<br />

hat den <strong>Film</strong>, den er von G. empfohlen bekam angesehen. G. findet, dass die<br />

Entscheidung, diesen <strong>Film</strong> anzusehen ein Fortschritt sei. Patient schaut lieber<br />

Pornos und n<strong>im</strong>mt Valium. Ist der Meinung, dass der Erfinder des Valiums ein<br />

Genie war, der schaffe es, dass es den Leuten gut geht. Der schon.<br />

0:12:25 Praxis/Wohnung: Arbeitstag Ende. G. sitzt am Schreibtisch über Notizen, steht<br />

auf und geht in das Z<strong>im</strong>mer des Sohnes: G. schaut sich um. Sitzt auf Bett.<br />

Denkt nach.


Tag 3<br />

0:13:30 Praxis: Patient Oscar erzählt von Träumen. Sagt, es gäbe keinen Grund zur<br />

Sorge, alle fänden er sei in Topform, auch in der Arbeit liefe es. Fragt G., wie<br />

ein Konflikt zwischen gut fühlen und sich umbringen wollen möglich sei. G.<br />

gibt keine Antwort.<br />

0:14:37 Wohnung: Irene lernt mit Matteo, einem Freund, Latein: Übersetzung „Und<br />

so werden alle Rätsel gelöst sein“. Irene kommt es vor, als würde das nichts<br />

bedeuten, aber der Freund sieht eine Bedeutung in den Worten: „In der Tat<br />

wird Alles durch Alles erleuchtet werden und Du wirst von der höchsten Natur<br />

durchdrungen und so werden alle Rätsel gelöst sein.“ auf Eltern, die an einem<br />

Tisch über Blättern sitzen, in Hörnähe. Erklärung des Freundes: „Der Mensch<br />

angesichts des Universums“. Irene hält das für übertrieben. Fragt ihn, ob er<br />

Joints geraucht hätte. Er: „Das liegt nicht am Rauchen. Du bist nicht<br />

romantisch, Du verstehst den Menschen nicht.“ Eltern machen sich Sorgen<br />

über das Kiffen und das Küssen. Sitzen über Papieren.<br />

0:15: 47 Wohnung: Eltern lernen mit Irene. „Mit wenig Mühe wirst Du geführt wer-<br />

den.“<br />

0:16:16 Wohnung: Eltern <strong>im</strong> Bett. P.: „Letztendlich hatte Matteo Recht“. G. liest<br />

Gedicht „Zehen“. Über die alten Zeiten, haben sie vergessen? Machen Liebe.<br />

Tag 4<br />

0:17:54 Praxis: Ein Mann, wohl auch Psychoanalytiker, kommt in die Praxis, findet<br />

über G.: „Analytiker in ihrem Alter sind die zynischsten, sie denken ihr Beruf<br />

sei wie jeder andere. Wer entscheidet, wann die Therapie beendet ist? Sie sind<br />

so gelassen, das beruhigt mich.“<br />

0:19:09 Autofahrt. Fahrt der ganzen Familie. Musik kommt. Erst singt nur G., dann<br />

alle.<br />

0:20:10 Tennisplatz. A. spielt Tennis. G. regt sich auf, A. spiele nicht richtig. Er<br />

schweife ab.<br />

0:20:49 G. stellt A. zur Rede: Du spielst nicht um zu gewinnen. Aber was macht es<br />

sonst für einen Sinn?<br />

0:21:17 Hafen: G. joggt<br />

Tag 5<br />

0:21:32 Museum: G. besucht P. bei Arbeit. Kataloge sind aus Versehen zum Einstamp-<br />

fen geschickt worden. Reden über Spielverhalten des Sohnes. G.: Ist Andrea<br />

nicht ein bisschen seltsam in den letzten Tagen? P. Er hat dieses Fossil nicht<br />

gestohlen<br />

0:22:55 Praxis: Raffaelas Zwangsneurose: Erst hatte sie alles richtig gemacht, dann


hatte sie aber das Wort ‚langsam’ gelesen und musste das Gegenteil lesen. Sie<br />

erzählt von ihren Fehlern. Er malt gedankenverloren auf einem Blatt herum.<br />

0:23:40 Traumsequenz mit Glockenspiel der Titelmelodie. Er entwirft eine Gegenreal-<br />

ität. Motiviert sie zum Sport mit einem Schrank passender Schuhe. Meint, er<br />

sei genauso langweilig wie sie. – Traum Ende.<br />

0:24:50 G. und A. schlendern durch Laden, dann auf Sportplatz.<br />

Tag 6<br />

0:26:03 Küche, P. be<strong>im</strong> Kochen. A. hilft und gesteht Diebstahl: „Es war eine Dumm-<br />

heit, wir wollten es zurückgeben, dann fiel es runter und ging kaputt. Wir<br />

konnten es nicht kleben.“<br />

0:26:55 Praxis: Frau beschwert sich über Kälte und Distanz G.´s. Sie will aufhören. In-<br />

nerer Monolog G.: „Das sagt sie schon seit Jahren“. Ich habe versagt. Er hofft<br />

auf ein Ende. Die Frau hat sich ausgesprochen, jetzt geht es ihr besser.<br />

0:28:05 Wohnung: Familie am Essenstisch. A. roter Pullover. G. fragt, ob die Familie<br />

ins Kino mit gehe, er kenne den <strong>Film</strong> aber schon, alle Patienten erzählen<br />

davon. Andrea schlägt er vor, einen langen Lauf zum Auspowern zu machen.<br />

Er erzählt, aber niemand hört zu. Telefon klingelt, er muss zu Oscar fahren, es<br />

geht ihm nicht gut. G. verschiebt Termin mit A. zu laufen.<br />

0:30:11 Montage: G., fährt Auto, ein Laster kommt ihm hupend entgegen. P. wird<br />

angerempelt, I. fährt mit Freunden auf Roller, sie ärgern sich leichtsinnig. A.<br />

bereitet sich aufs Tauchen vor. Alle sind vom Tod gefährdet.<br />

0:31:50 Bei O.: O. war be<strong>im</strong> Arzt, auf seinen Lungen ist ein Schatten erkennbar. Er<br />

denkt er hat Lungentumor. Hat schlechtes Gewissen, weil er G. am Sonntag<br />

hat kommen lassen.<br />

0:32:35 G. am Meer.<br />

0:32: 40 G. ruft dahe<strong>im</strong> an. Niemand da.<br />

0:33:10 Autofahrt: G. fährt he<strong>im</strong>.<br />

0:33:32 Am Hafen: Nachricht vom Unfall. G. fragt „Wie geht es ihm?“ Luciano und<br />

Familie. G.: Was ist passiert? Wie geht es ihm?<br />

0:34:00 Autofahrt: G. <strong>im</strong> Auto, besorgt.<br />

0:34:12 Sporthalle: G. sucht I. be<strong>im</strong> Basketballspiel. Sie schauen sich an, I. bleibt<br />

alleine stehen, alle anderen rennen weiter.<br />

0:34:30 Wohnung: P. auch da. Alle umarmen sich, weinen.<br />

0:34:50 Krankenhaus: G. möchte ein paar Anrufe tätigen. Familie von Luciano auch da.<br />

Anrufbeantworter von Valerio. G. versucht zu sprechen, stockt. Bringt es nicht


zu Ende. P. und Tochter weinen.<br />

0:36:07 Krankenhaus: Sarg aussuchen aus Katalog. Thomas hat Kleidung mitgebracht.<br />

G.: „Der Herr muss Andrea anziehen.“ P. weint.<br />

0:36:39 Einsargungsszene: Sarg aufgebahrt, Familie steht um Sarg. P. weint. G. n<strong>im</strong>mt<br />

sie in den Arm. Irene gibt ihm einen Kuss auf die Stirn. G. auch: „Ciao,<br />

Andrea.“ P. küsst auch. Geht dann weg, will alleine sein. Wird von Frau in den<br />

Arm genommen. Deckel kommt auf Sarg. I: will ihn noch einmal sehen.<br />

Kurzer Aufschub. I: und G. stehen um Sarg. Bestatter verschließen Sarg mit<br />

Zinkdeckel und Lötzinn, dann werden die Schrauben eingebohrt.<br />

0:39:11 Wohnung: G. sitzt dahe<strong>im</strong> auf Couch. P. be<strong>im</strong> schmerzvollen Weinen.<br />

0:39:37 Rummelplatz: G. auf Jahrmarkt. Bunte Lichter, Discomusik. Spiele, Spaß,<br />

Pferderennen. Musikwechsel, Karussell, Autoskooter. Jugendliche. Schaukel,<br />

die sich wie ein Rad dreht, G. saust hoch und runter.<br />

Tag 7<br />

0:41:16 Wohnung: G. in Praxis, alleine, Zieht Fenstervorhänge zu.<br />

0:41:54 Wohnung: P. alleine <strong>im</strong> Bett, I. hat Frühstück gemacht. G. schon in Praxis. I.<br />

geht zu ihm, doch G. antwortet nicht. Sie läuft allein vor dem Frühstück herum.<br />

0:43:00 Praxis: Mann freut sich, dass er zu G. kommen darf, hier ist es ihm endlich<br />

möglich zu weinen.<br />

0:43:40 Praxis: Patient umarmt G. . Wie geht es? Entschuldigt sich. Wollte zur<br />

Beerdigung kommen. Habe es aber nicht geschafft. Sei ins Pornokino<br />

gegangen. Habe Valium genommen, hab einem Mann einen geblasen. Dann sei<br />

er zu einer Nutte, dann nach Hause, aber Roberta habe schon geschlafen.<br />

Warum habe er keine Lust auf sie?<br />

0:45:01 Wohnung: G. und P. schreiben Kondolenzbriefe. Erinnern sich. Wann willst<br />

Du wieder zur Arbeit gehen? I. kommt sie reden übers Training. Familie am<br />

Tisch. I. hat mit den Freunden gesprochen. Sie möchte eine Messe lesen lassen.<br />

Alles andere habe ihr nicht gefallen. Messe sei am wenigsten traurig. Eltern<br />

sind einverstanden.<br />

Tag 8<br />

0:46:15 Praxis: Frau. Hat ihrem Freund über ihre Krankheit erzählt, seitdem sei es bes<br />

ser. Die Frau hat Angst, dass schizophren sei. G. ermutigt sie, weiter zu<br />

machen.<br />

0:47:01 G. joggt. .<br />

0:47:10 Wohnung: P. auf Bett des Sohnes. G. hört sich <strong>im</strong>mer wieder die gleiche Szene<br />

eines Liedes an. Erinnert er sich an das joggen mit A. in einer Rückblende.


0:48:00 Tauchgeschäft: G. forscht nach. Im Tauchgeschäft fragt er nach Sauerstoff-<br />

flaschen und dem Druckmesser bei Sauerstoffflaschen.<br />

0:49:08 Erinnerungssequenz: Was wäre wenn, sie doch gelaufen wären?<br />

0:49:12 Mann mit Tumor redet über das Sterben und die Chemotherapie. Der Gedanke<br />

einen A. zu verlieren. Erkennt, dass er vergessen hat, dass er G. schmerzlich an<br />

Verlust seines Sohnes erinnerte. G. sagt, er solle sich darüber keine Sorgen<br />

machen.<br />

50:05 Erinnerungssequenz: andere Realität: Oscar ruft an, er sagt ab.<br />

0:50:40 Restaurant: G. und P. Es tut uns gut uns abzulenken. Essen. Er spricht über<br />

seine Nachforschungen. Vielleicht habe der Atemregler blockiert. Sie hat kein<br />

Verständnis. Die Ausrüstung habe funktioniert. Weinen. Andrea sei Fischen in<br />

eine Grotte gefolgt, habe die Orientierung verloren und nahm die<br />

Sauerstoffflaschen ab, um schneller Auftauchen zu können. Seine Hände waren<br />

zerkratzt, er hatte kaputte Nägel. Vielleicht ergibt es keinen Sinn, aber es ist<br />

nun mal so.<br />

0:52:22 Sporthalle. Basketballspiel. I. sie findet, sie sei gefoult worden und der<br />

Schiedsrichter hätte pfeifen müssen. Wird aggressiv, schlägt Mädchen,<br />

besch<strong>im</strong>pft Zuschauer.<br />

0:53:28 Bus, Rückfahrt. G. und P. reden über I. . Darf sie bei der Meisterschaft spielen?<br />

I. will nicht reden.<br />

Tag 9<br />

0:54:12 Kirche, Messe für Andrea. Pfarrer: „Nicht wir treffen die Verabredungen des<br />

Lebens. Gott hat diese Verabredung getroffen. Wir wissen nicht warum, wir<br />

können nur versuchen dem Unverständlichen mit Glauben zu begegnen.“ G.<br />

scheint Einwände gegen Gott zu haben. Hausvater-Gleichnis: Wüsste ein<br />

Hauvater, wann ein Dieb kommt, würde er wachen und ihn nicht ins Haus<br />

lassen. Aber wir wissen auch nicht, wann der Herr uns zu sich rufen wird.<br />

Abendmahl.<br />

0:55:11 Wohnung. Enttäuschung dahe<strong>im</strong>. G.´s Tassengleichnis: Kaputte Dinge, alles<br />

beschädigt. G. hadert mit dem Hausvatergleichnis. Verbeißt sich darin. Was für<br />

ein Satz, sucht nach Bedeutung. Lieblingsteekanne. Die Teekanne konnte<br />

geklebt werden. Nun zerbricht er sei. Beide haben Schmerzen. P. kann G.´s<br />

Schmerz nicht auffangen. Ist selbst am <strong>Trauer</strong>n.<br />

Tag 10<br />

0:56:48 Praxis: Mann mit Tumor: „Man darf sich niemals geschlagen gegeben.“ G. ist<br />

ehrlich. Konfrontiert Mann mit Realität. Desillusioniert ihn. Egal, was man tut,<br />

es passiert, das, was passieren muss. Schicksalsglaube.


0:58:20 Andere Praxis. Gespräch mit anderem Psychoanalytiker. Er hat keine Distanz<br />

mehr. Er bringt Oscar ständig mit dem Tod des Sohnes in Verbindung. Der<br />

andere rät ihm, offen mit Oscar zu sprechen.<br />

0:58:25 Sporthalle: I. trainiert alleine. Sie fragt G. warum er hier sei. Sie möchte zehn<br />

Körbe nacheinander werfen. Erkennt, dass die Eltern sie verschonen möchten.<br />

„Ihr macht euch Sorgen um mich, wechselt den Gesichtsausdruck.“ Sie hat mit<br />

Matteo Schluss gemacht.<br />

0:59:54 Wohnung: P. findet <strong>im</strong> Briefkasten ein Brief an A. „Keine der<br />

Schriftstellerinnen hatte dich so lieb wie ich. Brief von Freundin wird von P.<br />

gelesen.<br />

1:01:01 P. geht ins Z<strong>im</strong>mer des Sohnes: Kleidung, fasst roten Pullover an, berührt ihn<br />

mit Stirn, weint.<br />

1:01:40 Am Essenstisch. Alle drei reden über den Brief. Das Mädchen, Ariana, hat A.<br />

nur einmal gesehen und schon seine gesamte Persönlichkeit erkannt. Reden<br />

über die Vergangenheit A.'s. P. will A. anrufen, G. will schreiben, es klappt<br />

nicht. Mehrere Versuche. Erinnerungssequenzen: G. und A. be<strong>im</strong> Joggen. Sie<br />

joggen und er sagt, dass sie aufhören sollen, damit er noch tauchen gehen kann.<br />

, dann rät er ihm vom Tauchen ab.<br />

Tag 11<br />

1:04:07 Praxis: Patient, der auch Arzt ist: Sie sind nie streng zu mir. Ich versteh, die<br />

Leute nicht, die den Preis nicht zahlen wollen.<br />

1:04:27 Einkauf I. und P. . In der Kabine weint sie.<br />

1:05:13 Essen bei und mit anderen G. und P.. P. erzählt über den Brief und den Tod. G.<br />

will sie abhalten. P. will die A. kennen lernen. Sie habe Erinnerung an den A.<br />

in allen Einzelheiten.<br />

1:06:12 Autofahrt .<br />

1:06:30 Wohnung: P. zu G.: „Warum hast Du mich abgehalten? Du sprichst nie mit<br />

anderen darüber. Du glaubst, dass Du dann was verlierst. Du tust mir leid.“<br />

Tag 12<br />

1:06:58 Praxis: Frau erzählt von Kindern. Ich liebe Kinder müssen sie wissen. G.<br />

beginnt zu weinen.<br />

1:07:46 Wohnung: G. versucht Brief zu schreiben, malt dann aber wahllos rum.<br />

1:08.20 Praxis: G. hat mit O. über die Schuldgefühle geredet. Beide stumm.<br />

1:08:50 Wohnung: P. und G.: er macht sich vorwürfe, wenn doch nur. Sie hat kein<br />

Verständnis. „Es geht nur um Dich.“ Trennung. Keine Lust mehr zuzuhören. Er<br />

entwirft eine Gegenrealität. P:. „Man kann die Zeit nicht zurückdrehen. Du


liebst Andrea nicht. Du hast dem Mädchen nicht geschrieben. Es ist mir so was<br />

von egal was Du denkst.“<br />

1:09:40 Wohnung: G. schläft auf Couch<br />

Tag 13<br />

1:09:55 Wohnung: I. sucht Sender <strong>im</strong> Radio.<br />

1:10:00 Wohnung: P. allein <strong>im</strong> Bett.<br />

1:10:10 Wohnung: Frühstück. P. geht weg. Ruft A. an. G. fragt I.: Wie geht’s Dir? Sie:<br />

Geht so. P. sagt, dass A. einen Unfall gehabt habe, weint, dass er tot sei. Sie<br />

schlägt A. vor, zu ihr zu kommen. Sie lehnt ab. P. versucht es weiter. Alle<br />

stehen ums Telefon rum. Streicheln sie.<br />

Tag 14<br />

1:12:35 Praxis: O. will wissen, wie es der Familie geht. G. weist Frage zurück als<br />

Flucht zurück. G. verschließt sich. O. will zum letzen Mal kommen und<br />

möchte sich persönlich verabschieden und bedanken, wünscht ihm alles Gute.<br />

1:14:20 Montage: Mann versucht zu kochen, Schale platzt. Frau arbeitet, I. mit<br />

Freundin in Bar., G. allein vor Essen, macht sich Brot.<br />

1:16:04 G. auf Sportplatz.<br />

1:16:26 Wohnung: Eltern <strong>im</strong> Schlafz<strong>im</strong>mer. P. liegt <strong>im</strong> Bett, G. läuft hin und her. Er hat<br />

beschlossen seine Arbeit zu unterbrechen. Nun fühle er sich erleichtert. Besser<br />

für alle. Er könne nicht helfen, er habe keine Distanz mehr. Er fragt, ob es so<br />

schlecht um die Ehe bestellt sei.<br />

Tag 15<br />

1:17:40 Praxis: Patientin, mit Zwangsneurose. Sie will versuchen es allein zu schaffen.<br />

Sie wird auf ihn warten, bis er wieder arbeitet. Anderer Patient wird aggressiv,<br />

fühlt sich betrogen, besch<strong>im</strong>pft G., randaliert: „Es geht mir schlecht, Du<br />

Arschloch.“ G. entschuldigt sich.<br />

1:19:25 Schule: G. holt I. von Schule ab.<br />

1:19:45 Musikgeschäft: G. will CD für A. kaufen. Fragt den Händler, ob er sich an A.<br />

erinnert. Will CD mit Übersetzung der Texte. Erzählt, dass der A. ihn <strong>im</strong>mer<br />

auf den Arm genommen habe, weil er <strong>im</strong>mer nur italienische Musik gehört<br />

habe. Der Händler empfiehlt eine CD und legt Brian Eno: „By this river“ ein.<br />

1:21:29 Autofahrt. G.<br />

1:22:12 Wohnung: A. steht vor der Tür. Sie und G. warten auf Paola. A. wollte Z<strong>im</strong>mer<br />

sehen, das war ihr sehr wichtig. Hat Fotos dabei. Sie schauen sich gemeinsam<br />

die Fotos an. G. über die Fotos: „Das ist witzig, nicht wahr?“


1:24:04 P. kommt mit I. he<strong>im</strong>. P. will sich erst nicht zeigen. Dann ganze Familie<br />

zusammen. P. sagt, sie habe sich A. anders vorgestellt. Sie wollen essen gehen,<br />

sie könnte hier schlafen. Aber ihr Freund, Stefano, mit dem sie per Anhalter<br />

unterwegs ist, wartet unten.<br />

1:25:25 Autofahrt: G. am Steuer, Rest der Familie <strong>im</strong> Auto zusammen mit Stefano und<br />

Ariana.<br />

1:25:41 Raststätte. „Alemagna“ Verabschiedung. Trennung: A., S. und Familie, die die<br />

beiden durchs Fenster betrachten der Raststätte betrachten.<br />

1:26:55 Autofahrt. Wieder alle <strong>im</strong> Auto. G. möchte die Tramper bis zur Abzweigung<br />

nach Genua bringen, sie essen Chips. Sie fahren durch die Nacht, G. fährt, die<br />

anderen schlafen. G. zu P.: „Wir können sie doch nicht aufwecken, sie schlafen<br />

schon so fest. Schlaf Du nicht auch noch ein, halten wir uns gegenseitig wach.“<br />

1:28:09 Autofahrt, nachts, in Tunnel.<br />

Tag 16<br />

1:28:44 Autofahrt. Inzwischen ist es Morgen. Aus Tunnel, Autobahnraststätte. Meer.<br />

Frankreichfahne. G. und P. steigen aus, laufen zusammen an den Strand. I. regt<br />

sich auf, weil sie Training hat. Alle lachen wieder.<br />

30:20 Parkplatz: Eltern reden über die Tramper. G. zu P.: „Was glaubst Du, sind die<br />

beiden zusammen? Nein sag nichts.“<br />

1:31:00 Abschied am Busbahnhof. A. verspricht zu schreiben, wenn sie angekommen<br />

sind.<br />

1:31:50 Strand: Familie läuft ans Meer.<br />

1:32:50 Strand: Familie aus Sicht des Busses, der sich entfernt.<br />

1:33:11 Ende. Dunkler Bildschirm. Cast, Credit.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!