Individuelle Trauer im Film
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Verhaltensweisen, was gerade <strong>im</strong> Sozialkonstrukt Familie zu Unsicherheiten und<br />
Schwierigkeiten führt. Doch erst aus der, durch die <strong>Trauer</strong> ausgelösten intensivierten<br />
Seelenschau, kann ein neuer, selbstbewusster Weltbezug, der dann auch wieder die<br />
Gemeinschaft zulässt, gefunden werden.<br />
Sowohl Giovanni als Protagonist, als auch Paola und Irene durchleben <strong>im</strong> Verlauf der<br />
Handlung eine intensive Entwicklung, die sie als dynamische Figuren kennzeichnet. 63 Bei der<br />
filmischen Umsetzung dieser existentiellen Thematik hält sich der Regisseur weitgehend an<br />
ein realistisches Erzählen, was sowohl die bildliche Darstellung als auch die psychische<br />
Entwicklung der Darsteller betrifft, die den Erkenntnissen der Thanatologie und<br />
<strong>Trauer</strong>forschung entspricht. Das Durchleben der einzelnen <strong>Trauer</strong>phasen, als Reaktion auf<br />
den Verlust eines Geliebten Menschen, stellt Moretti als einen schmerzhaften und<br />
schwierigen Weg dar, der jedoch die Chance zu einer ganzheitlichen Erfahrung birgt, wenn<br />
die <strong>Trauer</strong> angenommen und nicht verdrängt wird. Mit „Das Z<strong>im</strong>mer meines Sohnes“ entreißt<br />
Moretti die Themen Tod und <strong>Trauer</strong> ihrer modernen Verborgenheit hinter<br />
Krankenhausmauern und bringt sie in der „Höhle des Kinos“ 64 ans Licht. Im Zuschauer kann<br />
die Konfrontation mit Tod und <strong>Trauer</strong> durch den <strong>Film</strong> eine selbstreflexive Überprüfung seiner<br />
eigenen Einstellung zu diesem lebenswichtigen Thema auslösen. Die Aufgabe, die der <strong>Film</strong><br />
für sein Publikum formuliert, ist es, sich das <strong>Trauer</strong>n zu trauen. Die Botschaft ist der Aufruf,<br />
auf diese Weise zu einer „ars moriendi“ und, <strong>im</strong> Umkehrschluss daran, schließlich zu einer<br />
„ars vivendi“ zu finden. Diese Lebenskunst spielt sich zwischen den Polen ‚Individuum’ und<br />
‚Gemeinschaft’ ab und findet in einer gelassenen Einstellung gegenüber dem Schicksal ihre<br />
Verwirklichung.<br />
63 „Eine mehrd<strong>im</strong>ensionale Figur kann durch zwei Merkmale ausgezeichnet sein: erstens eine gewisse<br />
Komplexität, das heißt, die Liste der Eigenschaften und Merkmale ist vergleichsweise lang, gekennzeichnet<br />
durchaus von Gegensätzen und Widersprüchen, die eine Figur erst wirklich lebendig erscheinen lassen; zweitens<br />
eine persönlichkeitsmäßige Veränderung, das heißt, die Figur ist am Ende des <strong>Film</strong>s nicht mehr die, die sie noch<br />
am Anfang war.“ Faulstich, S. 99.<br />
64 Vgl. zu dieser Metapher: Baudry, Jean-Louis: Das Dispositiv: Metapsychologische Betrachtungen des<br />
Realitätseindrucks. In: Pias, Claus, Vogl, Joseph, Engell, Lorenz: Kursbuch Medien. Die maßgeblichen Theorien<br />
von Brecht bis Baudrillard. Stuttgart 1999.