Zyklisch-serielle Narration. Johann Wolfgang von Goethes
Zyklisch-serielle Narration. Johann Wolfgang von Goethes
Zyklisch-serielle Narration. Johann Wolfgang von Goethes
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Universität Karlsruhe (TH)<br />
Institut für Literaturwissenschaft<br />
HS: <strong>Zyklisch</strong>-<strong>serielle</strong> <strong>Narration</strong>. Von der romantischen Rahmenerzählung zur Daily Soap<br />
WS 2002/ 03<br />
Prof. Dr. Andreas Böhn, Christine Mielke M.A.<br />
<strong>Zyklisch</strong>-<strong>serielle</strong> <strong>Narration</strong>.<br />
<strong>Johann</strong> <strong>Wolfgang</strong> <strong>von</strong> <strong>Goethes</strong> Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten<br />
Claudia Pinkas
<strong>Johann</strong> <strong>Wolfgang</strong> <strong>von</strong> Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten<br />
Inhalt<br />
Einleitung....................................................................................................................................<br />
1. Entstehungskontext..........................................................................................................<br />
2. Inhalt und formale Struktur............................................................................................ 8<br />
2.1 Die Rahmenhandlung<br />
2.2 Die Binnenerzählungen<br />
2.2.1 Die vier ‚Geistergeschichten’ und ‚Liebesabenteuer’<br />
2.2.2 Die zwei ‚moralischen Erzählungen’<br />
2.2.3 Das ‚Märchen’<br />
3. Zur Ästhetik des zyklisch-<strong>serielle</strong>n Erzählens………………………………….. 17<br />
3.1 Die mündliche Erzählsituation<br />
3.2 Das Spiel mit Parallelsituationen<br />
3.3 ‚Cliffhanger’ und Unterbrechungen<br />
3.4 Die potentielle Unendlichkeit des Textes<br />
4. Zur gesellschaftlichen Funktion der ‚Unterhaltungen’………………………... 26<br />
4.1 Unterhaltung als ‚Zerstreuung’<br />
4.2 Unterhaltung als ‚aufklärerischer Dialog’<br />
5. Schlußbemerkungen……………………………………………………………<br />
Literaturverzeichnis……………………………………………………………………. 30<br />
3<br />
5<br />
29
<strong>Johann</strong> <strong>Wolfgang</strong> <strong>von</strong> Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten<br />
Einleitung<br />
Die Prinzipien der Wiederholung und der Serialität werden vor dem Hintergrund der modernen<br />
Ästhetik im Allgemeinen als ‚nicht-künstlerisch’ angesehen: In Serie hergestellte Produktionen<br />
verweist die moderne Kunsttheorie eher in den Bereich des Handwerks – im Bereich der Kunst<br />
dagegen zählt vor allem das Kriterium der Neuheit, der innovative Charakter eines Werks und<br />
einhergehend damit dessen Originalität und Individualität.<br />
In unserer gegenwärtigen, ‚post-modernen’ Epoche jedoch beginnen die ästhetischen<br />
Kriterien der modernen Kunsttheorie sich allmählich zu verändern. Zunehmend wird auch den<br />
industrieähnlichen, seriell hergestellten Produkten der Massenmedien (so z.B. den Fernsehserien<br />
und Daily Soaps) ein ästhetischer ‚Wert’ zugesprochen. In seinem Aufsatz Serialität im Universum<br />
der Kunst und der Massenmedien (1986) geht Umberto Eco auf derartige Entwicklungen ein und<br />
kommt zu dem „[…] paradoxen Ergebnis, daß sich im Zeitalter der Elektronik – statt das<br />
Phänomen des Schocks, der Unterbrechung, der Neuigkeit und der Frustration <strong>von</strong><br />
Erwartungen zu betonen – eine Wiederkehr des <strong>Zyklisch</strong>en, des Periodischen, des Regelhaften<br />
abzeichnet.“ 1<br />
Derartige Prinzipien der Wiederholung, der Zyklenhaftigkeit und der Serialität besitzen ihre<br />
Vorläufer jedoch zunächst einmal außerhalb der elektronischen Medien, nämlich im Medium<br />
der Literatur. <strong>Zyklisch</strong>-<strong>serielle</strong> Erzählstrategien finden sich so bereits in der mittelalterlichen<br />
arabischen Literatur (z.B. Tausendundeine Nacht, Das Papageienbuch) sowie in der romanischen<br />
Renaissance-Literatur (z.B. Giovanni di Boccaccios Il Decamerone) wieder. Der erste<br />
deutschsprachige Erzählzyklus ist schließlich <strong>Johann</strong> <strong>Wolfgang</strong> <strong>von</strong> <strong>Goethes</strong> Text Unterhaltungen<br />
deutscher Ausgewanderten <strong>von</strong> 1795, der in dieser Arbeit näher behandelt werden soll. 2 Im Zentrum<br />
der Arbeit soll dabei zum Einen die Ästhetik des zyklisch-<strong>serielle</strong>n Erzählens in den<br />
Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten stehen, d.h. die Frage nach den spezifischen ästhetischen<br />
Merkmalen der ‚in Serie’ erzählten Geschichten. Zum Anderen soll auf die gesellschaftliche<br />
Funktion des zyklisch-<strong>serielle</strong>n Erzählens näher eingegangen werden: Hier soll untersucht<br />
werden, inwiefern das Geschichten-Erzählen in einem geselligen Kreis in den Unterhaltungen<br />
deutscher Ausgewanderten einen direkten Einfluß auf die Gesellschaft selbst besitzt.<br />
1 Umberto Eco: Serialität im Universum der Kunst und der Massenmedien. In: ders.: Im Labyrinth der Vernunft. Texte<br />
über Kunst und Zeichen, Leipzig 1989, S. 301 – 324, S. 319.<br />
2 Bei den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten handelt es sich um den ersten wirklich bekannten<br />
deutschsprachigen Erzählzyklus; es waren jedoch bereits vor diesem Text in Deutschland Erzählungen entstanden,<br />
die an die Tradition der orientalischen und romanischen Erzählzyklen anknüpften. Zu nennen ist hier insbesondere<br />
Christoph Martin Wielands Erzählung Der goldene Spiegel (1772), ein Zyklus vorgelesener Manuskriptfiktionen.<br />
3
<strong>Johann</strong> <strong>Wolfgang</strong> <strong>von</strong> Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten<br />
Im ersten Kapitel dieser Arbeit möchte ich zunächst den Entstehungskontext der Unterhaltungen<br />
deutscher Ausgewanderten umreißen. Ich gehe hier insbesondere auf die Entstehung des Textes vor<br />
dem Hintergrund der Ereignisse der Französischen Revolution sowie die Veröffentlichung in<br />
der <strong>von</strong> Friedrich Schiller herausgegebene Zeitschrift Die Horen näher ein. Im zweiten Kapitel<br />
soll der Inhalt und die formale Struktur des Textes beschrieben werden; in diesem<br />
Zusammenhang möchte ich vor allem auch auf die verschiedenen im Text formulierten ‚Erzähl-<br />
Theorien’ näher eingehen. Im dritten Kapitel befasse ich mich anschließend mit den<br />
verschiedenen Merkmalen einer Ästhetik des zyklisch-<strong>serielle</strong>n Erzählens: In den Unterhaltungen<br />
deutscher Ausgewanderten handelt es sich dabei vor allem um die ‚Mündlichkeit’ der Erzählsituation,<br />
das ‚Spiel mit Parallelsituationen’, den Einbau <strong>von</strong> ‚Cliffhangern’ und Unterbrechungen sowie<br />
die potentielle ‚Unendlichkeit’ des Textes. Abschließend möchte ich im vierten Kapitel die<br />
soziale Funktion des gesellschaftlichen Erzählens näher beschreiben. In diesem Zusammenhang<br />
soll auch die Frage gestellt werden, inwiefern das gesellschaftliche Erzählen in <strong>Goethes</strong><br />
Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten einen rein unterhaltenden Wert besitzt, bzw. inwiefern es<br />
zu Veränderungen innerhalb der Erzähl-Gesellschaft führt und damit auch zu einem<br />
‚politischen Instrument’ wird.<br />
4
<strong>Johann</strong> <strong>Wolfgang</strong> <strong>von</strong> Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten<br />
1. Entstehungskontext<br />
Das zyklisch-<strong>serielle</strong> Erzählen in der Tradition der arabischen Erzählungen Tausendundeine Nacht<br />
und Giovanni di Boccaccios Il Decamerone erlebte in Deutschland im 19. Jahrhundert eine<br />
ausgesprochene Blütezeit. Insbesondere <strong>von</strong> den romantischen Autoren (so z.B. Achim <strong>von</strong><br />
Arnim, Clemens Brentano, Ludwig Tieck, E.T.A. Hoffmann und Wilhelm Hauff) wurde die<br />
Form der zyklischen Rahmenerzählung, welche in Gesellschaft vorgetragene, locker durch<br />
Gespräche und Kommentare verknüpfte Erzählungen zu einer größeren Einheit zusammenfaßt,<br />
vielfach wieder aufgegriffen und zu neuen Erzählformen und -techniken weiterentwickelt. 3<br />
Vorausgegangen war diesen Entwicklungen jedoch ein Text, der in erster Linie vor dem<br />
Hintergrund aufklärerischer und klassischer Diskurse zu sehen ist: <strong>Johann</strong> <strong>Wolfgang</strong> <strong>von</strong><br />
<strong>Goethes</strong> Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. Zentrales Thema des Erzählzyklus sind die<br />
Ereignisse der Französischen Revolution sowie die darauf folgenden politischen Unruhen und<br />
militärischen Auseinandersetzungen in Deutschland. Der Text stellt hier vor allem auch eine<br />
Reflexion der politischen Ereignisse der Zeit sowie der daraus folgenden Konsequenzen für die<br />
Rolle der Literatur dar.<br />
Den politischen Hintergrund für die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten bildet der erste<br />
Koalitionskrieg und die Besetzung linksrheinischer Gebiete durch die französische<br />
Revolutionsarmee. Gleich zu Beginn des Textes heißt es:<br />
„In jenen unglücklichen Tagen, welche für Deutschland, für Europa, ja für die übrige Welt die traurigsten Folgen<br />
hatten, als das Heer der Franken durch eine übelverwahrte Lücke in unser Vaterland einbrach, verließ eine edle<br />
Familie ihre Besitzungen in jenen Gegenden und entfloh über den Rhein, […].“ (125) 4<br />
Der Text nimmt hier Bezug auf den Durchbruch der Revolutionsarmee unter General Custine<br />
1792 bei Landau. Infolge dieses Durchbruchs und der anschließenden Besetzung<br />
3 Die Vorliebe der romantischen Autoren für die Form der zyklischen Rahmenerzählung ist wohl auch vor dem<br />
Hintergrund einer generellen Tendenz zu fragmentartigen Texten und Gattungsvermischungen zu sehen. Insgesamt<br />
verläuft die Entwicklung der deutschsprachigen Erzählzyklen jedoch nicht linear; die zyklische Rahmenerzählung<br />
bleibt in Deutschland stets eine interessante Randerescheinung. Vgl.: Andreas Jäggi: Die Rahmenerzählung im<br />
19. Jahrhundert. Untersuchungen zur Technik und Funktion einer Sonderform der fingierten Wirklichkeitsaussage,<br />
Bern 1994, S. 37.<br />
4 Seitenangaben in Klammern zitiert nach: <strong>Johann</strong> <strong>Wolfgang</strong> <strong>von</strong> Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten.<br />
In: ders.: Werke, Bd. 6: Romane und Novellen I, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, hrsg. v. Erich Trunz,<br />
13. durchges. und erw. Ausgabe, München 1993, S. 125 – 241.<br />
5
<strong>Johann</strong> <strong>Wolfgang</strong> <strong>von</strong> Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten<br />
linksrheinischer Territorien muß eine adlige Familie ihre Herrschaftsgüter verlassen und sich auf<br />
die Flucht begeben. Während die kleine Flüchtlingsgruppe um die verwitwete Baronesse <strong>von</strong> C.<br />
anfangs durch die gemeinsame Notlage vereinigt scheint, findet im weiteren Verlauf der<br />
Erzählung jedoch schon bald eine Polarisierung der Gesellschaft in verschiedene politische<br />
Lager statt: Die Diskussion um die Belagerung <strong>von</strong> Mainz 1792 bildet hier den Ausgangspunkt<br />
für einen leidenschaftlichen politischen Streit zwischen dem pro-revolutionär gesinnten Vetter<br />
Karl und dem konservativ denkenden Geheimrat <strong>von</strong> S. (131f.). Die Baronesse ist über diesen<br />
Zwischenfall so erbost, daß sie dem kleinen Zirkel <strong>von</strong> nun an ausschließlich leichte,<br />
unpolitische Unterhaltung verordnet – sämtliche Gespräche über das „Interesse des Tages“<br />
(139) sollen verbannt werden. Mit der hier angeführten Forderung nach „freundschaftlicher<br />
Unterhaltung“ (140) und „geselliger Bildung“ (137) sind die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten<br />
schließlich vor allem auch als eine Stellungnahme zur Rolle der Literatur in einer Zeit, die <strong>von</strong><br />
tiefgreifender politischer Instabilität geprägt ist, zu verstehen.<br />
Die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten wurden 1795 erstmals in der <strong>von</strong> Friedrich Schiller<br />
herausgegebenen Zeitschrift Die Horen (und damit in der programmatischen Zeitschrift der<br />
deutschen Klassik) veröffentlicht. Hier wurden einzelne Folgen der Unterhaltungen deutscher<br />
Ausgewanderten wechselweise mit Briefen aus Schillers philosophisch-ästhetischer Abhandlung<br />
Über die ästhetische Erziehung des Menschen, in einer Reihe <strong>von</strong> Briefen (1794/ 95) abgedruckt. Beide<br />
Texte stehen aufeinander bezogen; sie reflektieren philosophisch-ästhetisch und erzählerisch die<br />
Ereignisse der Französischen Revolution.<br />
Eine Auseinandersetzung mit den Revolutionsereignissen hatte zunächst Friedrich Schiller<br />
in seiner Abhandlung Über die ästhetische Erziehung des Menschen angestrebt. In dieser Abhandlung<br />
(die aus einer Reihe <strong>von</strong> Briefen an Herzog Friedrich Christian <strong>von</strong> Holstein-Augustenburg<br />
hervorgegangen war) ergreift er grundsätzlich Stellung gegen eine gewaltsame revolutionäre<br />
Umgestaltung eines Staates: Im Zentrum steht bei Schiller die Auffassung, daß politische und<br />
gesellschaftliche Veränderungen nur auf der Grundlage einer moralischen Verbesserung des<br />
einzelnen Menschen stattfinden können; infolge einer derartigen „Veredelung des Charakters“ 5<br />
würden sich politische Verbesserungen schließlich gleichsam <strong>von</strong> selbst und vor allem gewaltlos<br />
vollziehen. Das ‚Werkzeug’ zu einer derartigen moralischen Veredelung des Einzelnen ist für<br />
Friedrich Schiller dabei die ‚schöne Kunst’, also die klassische Literatur.<br />
Im Ankündigungskommentar der Horen hat Schiller die in den Briefen vertretene Position<br />
wieder aufgegriffen. Er fordert hier eine absolute Zurückhaltung in politischen Urteilen und ein<br />
5 Im Neunten Brief heißt es dazu: „Alle Verbesserung im Politischen soll <strong>von</strong> Veredelung des Charakters ausgehen<br />
[…]“. Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, in einer Reihe <strong>von</strong> Briefen. In: ders.: Sämtliche Werke,<br />
Bd. 5, hrsg. v. Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, München, 1962, S. 570 – 669, S. 593.<br />
6
<strong>Johann</strong> <strong>Wolfgang</strong> <strong>von</strong> Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten<br />
„strenges Stillschweigen“ über das „Lieblingsthema des Tages“ 6. Zu Beginn der Ankündigung<br />
heißt es:<br />
„Zu einer Zeit, wo das nahe Geräusch des Krieges das Vaterland ängstiget, wo der Kampf politischer<br />
Meinungen und Interessen diesen Krieg beinahe in jedem Zirkel erneuert und nur allzuoft Musen und Grazien<br />
daraus verscheucht, wo weder in den Gesprächen noch in den Schriften des Tages vor diesem allverfolgenden<br />
Dämon der Staatskritik Rettung ist, möchte es ebenso gewagt als verdienstlich sein, den so sehr zerstreuten<br />
Leser zu einer Unterhaltung <strong>von</strong> ganz entgegengesetzter Art einzuladen.“ 7<br />
Die zentrale Funktion der Literatur sieht Schiller hier abermals in einer ästhetischen Erziehung<br />
des Menschen: Indem sie sich alle Beziehungen zum jetzigen Weltlauf verbietet und an die Stelle<br />
der politischen Tagesaktualitäten Geschichte, Philosophie und „heitere, leidenschaftsfreie<br />
Unterhaltung“ 8 setzt, soll die Literatur (bzw. die Zeitschrift Die Horen) nach einer moralischästhetischen<br />
Verbesserung des Menschen streben, <strong>von</strong> welcher man sich schließlich auch eine<br />
allgemeine Verbesserung des gesellschaftlichen Zustandes erhofft.<br />
In Auseinandersetzung mit diesem ästhetischem Programm Schillers war schließlich auch<br />
<strong>Goethes</strong> Erzählzyklus Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten entstanden. Die Erzählung hatte<br />
Goethe – wie in einer Reihe <strong>von</strong> Briefen dokumentiert ist – eigens für die Horen verfaßt,<br />
wodurch das philosophisch-ästhetische Programm der Horen auch zu einer Art ‚äußerstem<br />
Rahmen’ für die Erzählung wird. So spiegelt sich die <strong>von</strong> Schiller geforderte Zurückhaltung in<br />
politischen Urteilen auch in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten wieder; ebenso wie die<br />
Horen-Gesellschaft bildet auch die Gesellschaft in den Unterhaltungen einen Zirkel, aus dem<br />
Gespräche über Politik und Tagesaktualitäten ausgeschlossen sind. Und schließlich soll auch in<br />
<strong>Goethes</strong> Unterhaltungen die Literatur – in diesem Fall die mündlich vorgetragenen Erzählungen –<br />
einer moralischen Verbesserung des Menschen dienen: Durch die verschiedenen Erzählungen<br />
sowie deren anschließende Diskussion soll eine ‚ästhetische Erziehung’ der einzelnen<br />
Gesellschaftsmitglieder stattfinden, welche schließlich in die Utopie eines friedvollen<br />
Zusammenlebens mündet. Eine derartige Gesellschaftsutopie wird in der letzten Erzählung,<br />
dem ‚Märchen’, vorgeführt.<br />
6 Friedrich Schiller: Die Horen. Ankündigung. In: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 5, hrsg. v. Gerhard Fricke und<br />
Herbert G. Göpfert, München, 1962, S. 870 – 873, S. 870.<br />
7 Ebd.<br />
8 Es heißt hier: „Einer heitern und leidenschaftsfreien Unterhaltung soll sie [Anm.: die Zeitschrift] gewidmet<br />
sein, und dem Geist und Herzen des Lesers, den der Anblick der Zeitbegebenheiten bald entrüstet, bald<br />
niederschlägt, eine fröhliche Zerstreuung gewähren.“ Ebd., S. 871.<br />
7
<strong>Johann</strong> <strong>Wolfgang</strong> <strong>von</strong> Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten<br />
Diese (<strong>von</strong> Schiller und Goethe gemeinsam vertretene) ‚klassische’ Literaturauffassung hat<br />
schließlich auch zur Folge, daß in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten ein weitgehender<br />
Verzicht auf die Darstellung der Probleme der aktuellen Realität stattfindet: Die herrschenden<br />
Konflikte und Widersprüche des Zeitgeschehens werden weitgehend ausgespart und an ihre<br />
Stelle eine utopisch vorgreifende Idealisierung der Wirklichkeit gesetzt.<br />
2. Inhalt und formale Struktur<br />
Nachdem ich im ersten Kapitel versucht habe, den historisch-kulturellen Kontext, in welchem<br />
die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten entstanden, zu umreißen, möchte ich im zweiten<br />
Kapitel auf den Inhalt sowie auf die formale Struktur des Textes näher eingehen. In diesem<br />
Zusammenhang möchte ich vor allem auch das ‚Vorbild’ für die Unterhaltungen deutscher<br />
Ausgewanderten, den Novellenzyklus Il Decamerone Giovanni di Boccaccios, sowie die<br />
verschiedenen im Text formulierten ‚Erzähl-Theorien’ ansprechen.<br />
<strong>Goethes</strong> Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten gelten im Allgemeinen als die erste<br />
deutschsprachige zyklische Rahmenerzählung. In Anlehnung an die Definition <strong>von</strong> Andreas<br />
Jäggi handelt es sich bei der zyklischen Rahmenerzählung um eine Sonderform des<br />
mehrschichtigen Erzählens, bei der (im Unterschied zur gerahmten Einzelerzählung) einer<br />
fortlaufenden Rahmenhandlung mehrere Binnenerzählungen gegenüberstehen. Neben der so<br />
entstehenden charakteristischen Zweischichtigkeit der Erzählung zeichnet sich die<br />
Rahmenerzählung nach Jäggi insbesondere auch durch eine mündliche Erzählsituation aus, d.h.<br />
üblicherweise wird in einem geselligen Kreis <strong>von</strong> mehreren Personen erzählt. 9<br />
Darüber hinaus gelten die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten jedoch nicht nur als der erste<br />
deutschsprachige Erzählzyklus, der Text wird vor allem auch als der eigentliche Beginn der<br />
deutschen Novelle angesehen. 10 Vorbild für die Unterhaltungen war dabei der Novellenzyklus<br />
Il Decamerone <strong>von</strong> Giovanni di Boccaccio (1348 – 1353), was – neben den offensichtlichen<br />
Parallelitäten der beiden Texte – auch durch ein Zitat Schillers belegt ist:<br />
9 Formen der Herausgeber- oder Manuskriptfiktion sind damit <strong>von</strong> der Rahmenerzählung ausgeschlossen. Jäggi:<br />
Rahmenerzählung, S. 59 – 77.<br />
10 Vgl.: <strong>Wolfgang</strong> Rath: Kap. „Ästhetische Erziehung und novellistisches Programm. <strong>Goethes</strong> ‚Unterhaltungen<br />
deutscher Ausgewanderten’ und ihre Entstehung <strong>von</strong> dem Hintergrund der Französischen Revolution – Didaktik der<br />
Entsagung und ‚Ferdinandnovelle’“. In: ders.: Die Novelle. Konzept und Geschichte, Göttingen 2000, S. 92 – 102.<br />
8
<strong>Johann</strong> <strong>Wolfgang</strong> <strong>von</strong> Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten<br />
„Da Sie mich auffordern, Ihnen zu sagen, was ich für die ersten Stücke [Anm.: der Horen] noch <strong>von</strong> Ihrer Hand<br />
wünsche, so erinnere ich Sie an die Idee, die Geschichte des ehrlichen Prokurators aus dem Boccaz zu<br />
bearbeiten.“ 11<br />
Neben derartigen Übernahmen <strong>von</strong> Novellen aus bereits bestehenden Zyklen ist ein<br />
wesentliches ‚novellistisches’ Kennzeichen der Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten vor allem<br />
auch die Thematisierung der (<strong>von</strong> Goethe selbst später als Definition der Novelle angeführten)<br />
‚unerhörten Begebenheit’ 12 der Französischen Revolution: Als etwas vormals Unvorstellbares,<br />
Undenkbares hatten die Revolutionsereignisse Europa erschüttert und erfüllten somit die<br />
ursprüngliche Bedeutung des italienischen Begriffs novela. 13<br />
Die Formen der Novellendichtung und der Rahmenerzählung erscheinen in <strong>Goethes</strong><br />
Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten schließlich auf vielfache Weise miteinander verknüpft: So<br />
sind es zunächst einmal verschiedene Novellen, die in die Rahmenerzählung eingebaut werden<br />
(z.B. die sogenannte ‚Prokurator-Novelle’ und die ‚Ferdinand-Novelle’); die Kurzform der<br />
Novelle wird hier durch die Form der Rahmenerzählung zusätzlich betont. Zudem findet eine<br />
Steigerung der (scheinbaren) Objektivität der Novelle durch das ‚Dazwischenschalten’ eines<br />
Erzähl-Rahmens statt, 14 und schließlich verweisen auch die verschiedenen Erzähler-Figuren in<br />
der Rahmenhandlung auf die eigentliche Ursprungssituation der Novelle: das mündliche<br />
Erzählen in Gesellschaft. Auf diese Weise ergänzen sich die Formen der klassisch-romanischen<br />
Novelle und der Rahmenerzählung in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten und bespiegeln<br />
sich gegenseitig.<br />
11 Schiller an Goethe, 28. Oktober 1794. In: Goethe: Werke, Bd. 6, S. 606. Die ‚Geschichte vom ehrlichen<br />
Prokurator’ stammt allerdings nicht aus Boccaccios Decamerone sondern aus den Cent nouvelles nouvelles, einem<br />
französischen Erzählzyklus, der 1482 erstmals anonym erschienen war.<br />
12 In <strong>Goethes</strong> berühmter Novellendefinition wird die Novelle beschrieben als „[…] eine sich ereignete unerhörte<br />
Begebenheit“. Goethe zu Eckermann, 29. 01. 1827. Zitiert nach: Rath: Die Novelle, S. 105.<br />
13 Ebd., S. 93.<br />
14 Auf die ‚scheinbare Objektivität’ der Novelle hatte bereits Friedrich Schlegel in der Nachricht <strong>von</strong> den poetischen<br />
Werken des <strong>Johann</strong>es Boccaccio (1801) verwiesen. Nach Schlegel ist die Novelle zu einer ‚indirekten und verborgenen<br />
Subjektivität’ besonders gut geeignet, da sie sich „[…] sehr zum Objektiven neigt, und wiewohl sie das Lokale und das<br />
Costum gerne mit Genauigkeit bestimmt, es doch gern im allgemeinen hält, […].“ Friedrich Schlegel: Nachricht <strong>von</strong> den<br />
poetischen Werken des <strong>Johann</strong>es Boccaccio. In: ders.: Dichtungen und Aufsätze, hrsg. v. Wolfdietrich Rasch, München/<br />
Wien 1984, S. 343 – 365, S. 363.<br />
9
<strong>Johann</strong> <strong>Wolfgang</strong> <strong>von</strong> Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten<br />
2.1 Die Rahmenhandlung<br />
In der Rahmenhandlung der Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten wird (wie bereits in Kap.1<br />
angesprochen) die Flucht einer adligen Familie <strong>von</strong> ihren linksrheinischen Besitzungen nach<br />
dem Einfall der Truppen der französischen Revolutionsarmee beschrieben. Die Baronesse <strong>von</strong><br />
C., eine „entschlossene“ und „tätige“ Witwe <strong>von</strong> mittleren Jahren (125), erweist sich auf dieser<br />
Flucht bald als die Anführerin einer „kleinen Karawane“ (125) und versammelt auf einem<br />
abgelegenen Landgut am rechten Rheinufer einen Kreis <strong>von</strong> deutschen ‚Ausgewanderten’ um<br />
sich. Bald jedoch machen sich die radikal verschiedenen politischen Gesinnungen der einzelnen<br />
Gesellschaftsmitglieder bemerkbar, und nach einer heftigen politischen Auseinandersetzung<br />
zwischen dem pro-revolutionär gesinnten Vetter Karl und dem konservativ denkenden<br />
Geheimrat <strong>von</strong> S. verläßt der Geheimrat samt Familie das Landgut. Nach diesem Zwischenfall<br />
verbietet die Baronesse sämtliche Gespräche über Politik und Tagesaktualitäten innerhalb der<br />
Gesellschaft und fordert <strong>von</strong> nun an ausschließlich ‚leichte’, unpolitische Unterhaltung. Ein alter<br />
Geistlicher bietet sich daraufhin an, den kleinen Zirkel mit einer Sammlung <strong>von</strong> Erzählungen zu<br />
unterhalten.<br />
Auffällig an dem Beginn der Rahmenhandlung sind zunächst einmal die vielfältigen<br />
Parallelen zur Rahmenhandlung <strong>von</strong> Giovanni di Boccaccios Novellenzyklus Il Decamerone:<br />
Ähnlich wie im Decamerone befindet sich auch in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten eine<br />
Gesellschaft <strong>von</strong> adligen Personen in einer existentiellen Notlage – bei Boccaccio ist es die in<br />
Florenz wütende Pest, bei Goethe sind es die Ereignisse der Französischen Revolution, die die<br />
kleine Gruppe zur Flucht auf ein abgelegenes Landgut veranlassen. Auf diesem Landgut erzählt<br />
man sich nun gegenseitig Geschichten, d.h. der Erzähl-Anlaß ist in beiden Fällen eine<br />
Krisensituation. 15 Während das Geschichtenerzählen im Decamerone jedoch als eine ‚Flucht’ vor<br />
der bedrückenden Realität und als der Entwurf einer Gegenwelt verstanden werden kann,<br />
bleiben in Unterhaltungen die politischen Ereignisse stets im Hintergrund präsent: Die erzählten<br />
Geschichten sollen hier nicht ausschließlich der Zerstreuung, Ablenkung und ‚Unterhaltung’ der<br />
Anwesenden dienen sondern die Gesellschaft gleichzeitig moralisch ‚erziehen’ und ihr das Ideal<br />
„geselliger Bildung“ (137) vermitteln. Hannelore Schlaffer schreibt in ihrer Poetik der Novelle<br />
dazu:<br />
„Bei Boccaccio ist die Pest eine schwarze Folie, die bunte Bilder übermalen und verdrängen. Bei Goethe<br />
hingegen verdrängt die Revolution die Poesie. […] Ihre [Anm.: gemeint sind hier die Rahmenfiguren] ganze<br />
15 In den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten findet sich genau genommen sogar eine ‚doppelte Krise’: die<br />
Ereignisse der Französischen Revolution sowie der politische Streit zwischen Karl und dem Geheimrat.<br />
10
<strong>Johann</strong> <strong>Wolfgang</strong> <strong>von</strong> Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten<br />
Anstrengung geht dahin, die Situation wiederherzustellen, in der heiteres Erzählen noch möglich ist. Boccaccios<br />
Novellenfiguren sind gedankenlose Sünder, Goethe macht seine Novellenrunde zu Repräsentanten eines<br />
welthistorischen Umsturzes, in dem auch die Novelle untergeht.“ 16<br />
Gemeinsam ist beiden Texten schließlich wiederum, daß sich aus der Krisensituation der<br />
Rahmenhandlung eine Kontrastwirkung zwischen Rahmenhandlung und Binnenerzählungen<br />
ergibt: Während der Rahmen die düsteren Ereignisse der Französischen Revolution bzw. der<br />
Pest in Florenz thematisiert, spielen sich die unterhaltenden Binnenerzählungen generell in<br />
einem heiteren, nahezu idyllischen Umfeld ab. 17<br />
2.2 Die Binnenerzählungen<br />
Bei den Binnenerzählungen der Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten scheint es sich zunächst<br />
um eine lose, durch Gespräche und Kommentare verknüpfte Folge <strong>von</strong> Erzählungen, ähnlich<br />
denen des Decamerone, zu handeln. Bei näherer Betrachtung fällt jedoch auf, daß die Folge der<br />
Erzählungen nach dem Prinzip einer Steigerung aufgebaut ist: Am Vorabend des eigentlichen<br />
‚Erzähltags’ erzählen die jungen Leute der Gesellschaft und der Geistliche sich zunächst vier<br />
relativ triviale ‚Geistergeschichten’ und ‚Liebesabenteuer’; es handelt sich hier um Erzählungen,<br />
die vorwiegend unterhaltenden Charakter besitzen und keiner weiteren Deutung bedürfen. Am<br />
eigentlichen ‚Erzähltag’ beginnt der Geistliche dann mit zwei ‚moralischen Erzählungen’, in<br />
welchen sittlich-moralische Konfliktsituationen dargestellt werden. Den ‚krönenden Abschluß’<br />
des Erzähltages bildet schließlich ein ‚Märchen’, welches als ein reines, freies Spiel der Phantasie<br />
gelten kann. Durch diese Aufteilung zerfällt die Ebene der Binnenerzählungen in drei<br />
verschiedene Stufen des Erzählens, welche zugleich verschiedene erzählerische Gattungen<br />
repräsentieren: Die erste Stufe enthält die Gattungen der Anekdote und des Schwanks, die<br />
zweite Stufe enthält die Gattung der Novelle und die dritte und ‚höchste’ Stufe des Erzählens<br />
enthält die Gattung des Märchens.<br />
16 Hannelore Schlaffer: Poetik der Novelle, Stuttgart/ Weimar 1993, S. 17.<br />
17 In gerade umgekehrter Weise verfuhren die Autoren des Biedermeier: Hier findet sich häufig ein ‚idyllischer<br />
Rahmen’, der in Kontrast zu den eher düsteren Binnenerzählungen steht. Als Beispiel kann unter anderem Gotthelfs<br />
Schwarze Spinne (1842) genannt werden; hier steht die idyllische Szene einer bäuerlichen Tauffeier in starkem Kontrast<br />
zu der unheimlichen Erzählung der Binnenhandlung. Vgl.: Jäggi: Rahmenerzählung, S. 116f.<br />
11
<strong>Johann</strong> <strong>Wolfgang</strong> <strong>von</strong> Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten<br />
Voraussetzung für eine derartige Steigerung der Erzählungen ist schließlich auch ein Wandel der<br />
verschiedenen ‚Erzähl-Theorien’, welche <strong>von</strong> den Figuren der Rahmenhandlung diskutiert<br />
werden und die erzählten Geschichten damit begleiten: So betont der alte Geistliche anfangs,<br />
der Reiz einer Geschichte sei ihre „Neuheit“ (141), doch bald darauf nennt er als „reineren,<br />
schöneren Reiz“ den „Charakter“ (143). Zu Beginn des zweiten Erzähltages erläutert dann auch<br />
die Baronesse ihr Konzept einer guten Erzählung. Es heißt hier:<br />
„Jene Erzählungen machen mir keine Freude, bei welchen nach Weise der ‚Tausendundeinen Nacht’ eine<br />
Begebenheit in die andere eingeschachtelt, ein Interesse durch das andere verdrängt wird, wo sich der Erzähler<br />
genötigt sieht, die Neugierde, die er auf eine leichtsinnige Weise erregt hat, durch Unterbrechung zu reizen und<br />
die Aufmerksamkeit, anstatt sie durch eine vernünftige Folge zu befriedigen, nur durch seltsame und keineswegs<br />
lobenswürdige Kunstgriffe aufzuspannen. Ich tadle das Bestreben, aus Geschichten, die sich der Einheit des<br />
Gedichts nähern sollen, rhapsodische Rätsel zu machen und den Geschmack immer tiefer zu verderben. Die<br />
Gegenstände Ihrer Erzählungen gebe ich Ihnen ganz frei; aber lassen Sie uns wenigstens an der Form sehen, daß<br />
wir in guter Gesellschaft sind. Geben Sie uns zum Anfang eine Geschichte <strong>von</strong> wenig Personen und<br />
Begebenheiten, die gut erfunden und gedacht ist, wahr, natürlich und nicht gemein, soviel Handlung als nötig<br />
und soviel Gesinnung als nötig, […].“ (166f.)<br />
Die hier <strong>von</strong> der Figur der Baronesse formulierte Forderung nach einer ‚Einheit’ der<br />
Geschichten sowie nach einer ‚vernünftigen Folge’ trifft im Ansatz auch <strong>Goethes</strong><br />
Novellenkonzeption. 18 Mit dem Entwurf der verschiedenen ‚Erzähl-Theorien’ in der<br />
Rahmenhandlung der Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten findet somit stets auch ein<br />
Rückbezug auf die Gesamtstruktur des Textes statt.<br />
Neben der Steigerung der Erzählungen ist ein weiteres auffälliges Strukturmerkmal der<br />
Binnenerzählungen in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten das Prinzip der Parallelität:<br />
Jeweils zwei Erzählungen sind einander zugeordnet (die beiden ‚Geistergeschichten’, die beiden<br />
‚Liebesgeschichten’ sowie die beiden ‚moralischen Geschichten’); das ‚Märchen’ am Schluß des<br />
Textes steht als einzige Erzählung gesondert da. 19 Auch dieses Prinzip der ‚Parallelgeschichten’<br />
18 Die Einsträngigkeit der Handlung sowie ihre zielstrebige Durchführung gilt neben der ‚Ereignishaftigkeit’ und<br />
der ‚Unerhörtheit’ der Handlung als ein Kernpunkt der <strong>Goethes</strong>chen Novellistik Vgl.: Erhard Marz: <strong>Goethes</strong><br />
Rahmenerzählungen (1794 – 1821). Untersuchungen zur <strong>Goethes</strong>chen Erzählkunst, Frankfurt am Main 1985, S. 16f.<br />
19 In einem Brief an Humboldt spricht Goethe da<strong>von</strong>, ein zweites, durchgehend ‚allegorisches’ Märchen zu<br />
entwerfen, das dem ersten Märchen parallel zugeordnet werden sollte; diesen Plan hat er jedoch nie verwirklicht.<br />
Goethe an Humboldt, 27. Mai 1796. In: Goethe: Werke, Bd. 6, S. 609. Erhard Marz schreibt hierzu: „Manches spricht<br />
dafür, daß er [Anm.: Goethe] die Lust zur Weiterarbeit an den Unterhaltungen verloren und vor Schwierigkeiten, die<br />
sich einzustellen schienen, kapituliert hat, weshalb das Werk unvollendet blieb.“ Marz: <strong>Goethes</strong> Rahmenerzählungen,<br />
S. 186.<br />
12
<strong>Johann</strong> <strong>Wolfgang</strong> <strong>von</strong> Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten<br />
wird in der Rahmenerzählung der Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten als erzähltheoretisches<br />
Konzept näher ausgeführt. So meint die Baronesse, nachdem der alte Geistliche die ‚Prokurator-<br />
Novelle’ vorgetragen hat:<br />
„Haben Sie noch eine Geschichte dieser Art, so wünschten wir sie zu hören. Ich liebe mir sehr<br />
Parallelgeschichten. Eine deutet auf die andere hin und erklärt ihren Sinn besser als viele trockene Worte.“ (187)<br />
Durch den strengen Aufbau der Binnenerzählungen nach den Prinzipien der Steigerung und der<br />
Parallelität wird insgesamt die ästhetische Einheit und Geschlossenheit des Textes unterstrichen.<br />
<strong>Goethes</strong> Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, die zunächst wie eine lockere, fragmenthafte<br />
Aneinanderreihung <strong>von</strong> Gesprächen, Kommentaren und Erzählungen erscheinen, erhalten<br />
durch diese Kompositionstechnik eine festgefügte Gesamtstruktur. 20<br />
2.2.1 Die vier ‚Geistergeschichten’ und ‚Liebesabenteuer’<br />
Den Beginn der Binnenerzählungen in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten bilden vier<br />
‚Geistergeschichten’ und ‚Liebesabenteuer’, die am Vorabend des eigentlichen ‚Erzähl-Tages’<br />
<strong>von</strong> den jungen Leuten der Gesellschaft sowie <strong>von</strong> dem alten Geistlichen vorgetragen werden.<br />
Die Baronesse ist hierbei nicht anwesend und so herrscht eine eher zwanglose, unkonventionelle<br />
Atmosphäre – man will sich <strong>von</strong> neu eintreffenden Nachrichten über die politische Lage<br />
ablenken und redet vom „Romanhaften, vom Geisterhaften“ (146).<br />
Auf die Bitte <strong>von</strong> Luise erzählt der alte Geistliche zunächst die ‚Geschichte <strong>von</strong> der<br />
Sängerin Antonelli’, welche die problematische Freundschafts- bzw. Liebesbeziehung zwischen<br />
einer in Neapel lebenden Sängerin namens Antonelli und ihrem Verehrer, einem jungen<br />
Kaufmann aus Genua, thematisiert: Während die Sängerin ein rein freundschaftliches Verhältnis<br />
zu dem jungen Kaufmann zu pflegen wünscht, versucht der junge Mann unter allen Umständen<br />
eine Liebesbeziehung daraus zu entwickeln. Die Sängerin bricht daraufhin jeden weiteren<br />
Kontakt ab; selbst als der junge Mann auf dem Sterbebett um einen letzten Besuch bittet,<br />
weigert sie sich, ihn zu sehen. Im zweiten Teil der Erzählung kehrt der abgewiesene Liebhaber<br />
schließlich als ‚Geistererscheinung’ zurück: In Form einer „lang nachtönende[n] Stimme“ (152),<br />
20 Vgl.: Rolf Geißler: Zur Einheit <strong>von</strong> <strong>Goethes</strong> „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“. In: ders.: Zeigen und<br />
Erkennen. Aufsätze zur Literatur <strong>von</strong> Goethe bis Jonke, München 1979, S. 9 – 19, S. 9f.<br />
13
<strong>Johann</strong> <strong>Wolfgang</strong> <strong>von</strong> Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten<br />
in Form <strong>von</strong> Schüssen „[…] wie aus einer Flinte oder stark geladnen Pistole, […]“ (154), als<br />
„lautes Händeklatschen“ (155) und schließlich als eine angenehme „Melodie“ (156) macht sich<br />
der einstige Verehrer auch nach seinem Tode aus dem Grab bemerkbar.<br />
Die ‚Geschichte <strong>von</strong> der Sängerin Antonelli’ ruft in der Gesellschaft lebhafte Reaktionen<br />
hervor. Da man sich über die näheren Umstände der ‚Geistererscheinung’ jedoch nicht einig<br />
wird, bietet sich Fritz an, anstelle einer Antwort eine weitere Geschichte zu erzählen: Es folgt<br />
die ‚Geschichte vom Klopfgeist’, in welcher Fritz (der im Gegensatz zum alten Geistlichen ein<br />
deutlich weniger erfahrener Redner ist) in knappen Worten die Geschichte eines Mädchens<br />
wiedergibt, die im eigenen Haus auf Schritt und Tritt <strong>von</strong> einem merkwürdigen Klopfen verfolgt<br />
wird. Auf die Androhung ihres Vaters, er werde sie verprügeln, falls das Klopfen nicht aufhöre,<br />
verschwindet das merkwürdige Geräusch plötzlich.<br />
Die beiden letzten Geschichten des Abends werden <strong>von</strong> Karl erzählt; es handelt sich hier<br />
um Erzählungen aus den Memoiren des Marschalls Bassompierre, welche Karl in seinem<br />
eigenen Namen wiedergibt. 21 Bei der ‚Geschichte <strong>von</strong> der schönen Krämerin’ sowie der<br />
‚Geschichte vom Schleier’ handelt es sich um Liebesgeschichten; im Zentrum werden Ehe,<br />
Liebe und Sexualität thematisiert. In den beiden Erzählungen werden schließlich auch<br />
verschiedene (adlige sowie bürgerliche) Liebesideale aufgegriffen.<br />
2.2.2 Die zwei ‚moralischen Erzählungen’<br />
Das eigentliche Geschichtenerzählen beginnt in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten am<br />
zweiten Erzähl-Tag: Die Gesellschaft sitzt nach dem Frühstück zusammen, und der alte<br />
Geistliche erkundigt sich bei der Baronesse, ob dies die richtige Gelegenheit für den Vortrag<br />
einer Geschichte sei. Daraufhin erläutert die Baronesse – sozusagen als eine Einleitung zu den<br />
darauf folgenden Erzählungen – ihr Konzept einer guten Erzählung (vgl. Kap. 2.2); der<br />
Geistliche erzählt anschließend die ‚Geschichte vom Prokurator’ sowie auf Luises Wunsch die<br />
‚Geschichte <strong>von</strong> Schuld und Wandel Ferdinands’. Bei beiden Erzählungen handelt es sich um<br />
sogenannte ‚moralische Erzählungen’, d.h. es handelt sich um Erzählungen, die (im Gegensatz<br />
zu der eher ‚trivialen’ Unterhaltungsliteratur des Vorabends) das richtige Handeln des Einzelnen<br />
in moralisch-sittlichen Konfliktsituationen thematisieren. In der ‚Prokurator-Novelle’ weist ein<br />
ehrlicher Prokurator so das erotische Angebot der jungen Frau eines sich auf Reisen<br />
befindlichen Kaufmanns zurück; in der ‚Novelle <strong>von</strong> Ferdinand’ wird der Diebstahl des<br />
21 Die beiden Erzählungen hat Goethe den Mémoires des französischen Marschalls François de Bassompierre<br />
entnommen, die 1666 zum ersten Mal veröffentlicht wurden. Es handelt sich hier um eine weitgehend getreue<br />
Übersetzung der Texte Bassompierres.<br />
14
<strong>Johann</strong> <strong>Wolfgang</strong> <strong>von</strong> Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten<br />
väterlichen Geldes sowie die anschließende Reue und Einsicht des jungen Ferdinand<br />
thematisiert. Mit diesen beiden ‚moralischen Erzählungen’ erweist sich der alte Geistliche als ein<br />
Vertreter der zu dieser Zeit gerade berühmt gewordenen kantischen Philosophie: Das<br />
‚Moralische’ wird hier bestimmt als die Kraft, aus Überzeugung eines Besseren gegen die eigene<br />
Neigung zu handeln, d.h. die subjektive Neigung des Einzelnen soll sich (auf der Basis des<br />
kategorischen Imperativ) einer allgemeinen Gesetzlichkeit des Handelns unterordnen. 22<br />
Die aufklärerischen philosophischen Ansichten des alten Geistlichen werden nicht nur in<br />
den Binnenerzählungen sondern vor allem auch in den längeren Gesprächen mit Luise auf der<br />
Ebene der Rahmenhandlung verdeutlicht. So belehrt der Geistliche Luise im Dialog unter<br />
anderem darüber, was eine ‚moralische Erzählung’ sei:<br />
„Nur diejenige Erzählung verdient moralisch genannt zu werden, die uns zeigt, daß der Mensch in sich eine<br />
Kraft habe, aus Überzeugung eines Bessern selbst gegen seine Neigung zu handeln. Dieses lehrt uns diese<br />
Geschichte, und keine moralische Geschichte kann uns etwas anderes lehren.“ (186).<br />
Mit dieser Aussage liefert der alte Geistliche schließlich auch eine neue Definition der Rolle der<br />
Literatur: Während die literarischen Vorträge des Vorabends vorwiegend der Unterhaltung<br />
sowie dem ‚Zeitvertreib’ der Zuhörer dienen sollten, sollen die beiden ‚moralischen<br />
Erzählungen’ die Zuhörer nun ‚belehren’ und ihnen Einsichten in sittlich-moralische<br />
Entscheidungsprozesse vermitteln. Die Literatur übernimmt in den beiden ‚moralischen<br />
Erzählungen’ somit weitgehend eine ‚aufklärerische’ bzw. ‚erzieherische’ Funktion.<br />
2.2.3 Das ‚Märchen’<br />
Den Abschluß des zweiten Erzähltages und damit auch das Ende der Unterhaltungen deutscher<br />
Ausgewanderten bildet ein ‚Märchen’, welches abermals <strong>von</strong> dem alten Geistlichen erzählt wird.<br />
Das ‚Märchen’ kann im Gegensatz zu den vorhergegangenen Erzählungen als ein freies Spiel der<br />
Phantasie verstanden werden; es handelt sich hier um ein „Produkt der Einbildungskraft“ (209),<br />
durch das die Zuhörer „an nichts und an alles erinnert werden sollen“ (209). Die Sprache des<br />
22 Der ‚kategorische Imperativ’ Immanuel Kants (1724 – 1804) lautet in seiner allgemeinsten Formulierung:<br />
„Handle so, daß die Maxime deines Handelns jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten<br />
könnte.“ Nach Kant ist der Mensch prinzipiell nur dann frei, wenn er sich für das ‚sittlich Gute’ entscheidet, d.h.<br />
wenn er seine Entscheidungen gemäß dem ‚kategorischen Imperativ’ trifft.<br />
15
<strong>Johann</strong> <strong>Wolfgang</strong> <strong>von</strong> Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten<br />
‚Märchens’ ist symbolisch und bildhaft; orientalische und christlich-abendländische Symbolik<br />
vermischen sich hier. 23 Zum Erzählstil des ‚Märchens’ schreibt Erich Trunz:<br />
„Mit den ersten Worten sind wir in einer fremden Welt, die beschrieben wird, als sei sie bekannt: der Fluß, der<br />
Fährmann usw.; sie ist so selbstverständlich da wie die Welt eines Traums, wenn wir schlafen. Es gibt Geister,<br />
Menschen, Tiere, Pflanzen und anorganische Gegenstände; sie alle zusammen machen die Welt des Märchens<br />
aus.“ 24<br />
Ein zentrales Motiv des ‚Märchens’ ist die Schlange, welche sich am Ende der Erzählung für die<br />
Allgemeinheit aufopfert und als eine Brücke die zwei zuvor getrennten Ufer eines Flusses<br />
miteinander verbindet. Diese Brücke, mittels derer „[…] die nachbarlichen Ufer erst zu Ländern<br />
belebt und verbunden werden“ (238), wurde in den zeitgenössischen Interpretationen häufig als<br />
eine politische Anspielung auf die beiden durch die Revolutionsereignisse entzweiten<br />
Nachbarländer Frankreich und Deutschland gedeutet. Mit der Beschreibung eines<br />
Weltzustandes, in welchem das gegenseitige Helfen und die uneigennützige Aufopferung des<br />
Einzelnen für die Allgemeinheit eine zentrale Rolle spielen, steht am Schluß des ‚Märchens’ der<br />
Entwurf einer Gesellschaftsutopie: Die anfangs chaotische und desolate Welt des ‚Märchens’<br />
findet durch das Opfer des Einzelnen für die Allgemeinheit zu einer neuen Ordnung.<br />
Mit dem ‚Märchen’ ist in <strong>Goethes</strong> Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten die letzte und<br />
höchste Stufe des Erzählens erreicht. Die Binnenerzählungen führen auf diese Weise weg <strong>von</strong><br />
den aktuellen politischen Themen, über allgemeine Überlegungen zu sittlich-moralischen Fragen<br />
bis hin zu dem Entwurf einer (weitgehend abstrakten) Gesellschaftsutopie. Inwiefern das<br />
Geschichtenerzählen in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten damit ein Ausweichen vor den<br />
aktuellen Zeitproblemen darstellt oder vielmehr im ‚Märchen’, in der Sprache der Kunst, eine<br />
Antwort auf die politischen Fragestellungen der Zeit gefunden wird, bleibt dem Leser selbst<br />
überlassen. 25<br />
23 So ist beispielsweise in <strong>Goethes</strong> ‚Märchen’ die Schlange nicht wie in der Bibel ein Symbol der Verführung,<br />
sondern ein Symbol der uneigennützigen Aufopferungsbereitschaft. Ein weiteres wichtiges Motiv ist das Licht,<br />
welches hier als das Symbol der Aufklärung gelten kann. Vgl.: Carl Niekerk: Kap. Das Märchen im Kontext der<br />
‚Unterhaltungen’. In: ders.: Bildungskrisen. Die Frage nach dem Subjekt in <strong>Goethes</strong> „Unterhaltungen deutscher<br />
Ausgewanderten“, Tübingen 1995, S. 135 – 152, S. 137f.<br />
24 Erich Trunz: Nachwort zu den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Goethe: Werke, Bd. 6, S. 611 – 623,<br />
S. 620.<br />
25 Bei Erich Trunz heißt es dazu: „Das Geschichten-Erzählen, zu dem die Baronin und der Alte die jungen<br />
Leute hinführen, scheint zunächst ein Ausweichen vor den Zeitproblemen zu sein. Aber in Wirklichkeit ist es nur ein<br />
Ablenken <strong>von</strong> der Oberfläche, den politischen Zänkereien, und ein Hinführen zu den tieferen Fragen der Gesinnung<br />
und Gesittung.“ Ebd., S. 612.<br />
16
<strong>Johann</strong> <strong>Wolfgang</strong> <strong>von</strong> Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten<br />
3. Zur Ästhetik des zyklisch-<strong>serielle</strong>n Erzählens<br />
Nachdem ich in den vorausgegangenen Kapiteln versucht habe, einen eher allgemeinen<br />
Überblick über die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten zu geben, möchte ich im Folgenden auf<br />
die Ästhetik des zyklisch-<strong>serielle</strong>n Erzählens sowie auf dessen gesellschaftliche Funktion näher<br />
eingehen. Zu den spezifischen Eigenarten einer Ästhetik des zyklisch-<strong>serielle</strong>n Erzählens in<br />
<strong>Goethes</strong> Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten gehören dabei:<br />
1. Die Gestaltung einer mündlichen Erzählsituation im Erzählrahmen: Die Simulation der<br />
Mündlichkeit eröffnet hier grundsätzliche Möglichkeiten einer (fiktiven) Interaktion<br />
zwischen Erzählerfiguren und Rezipienten, d.h. die einzelnen Binnenerzählungen können<br />
innerhalb des Textes kommentiert und diskutiert werden.<br />
2. Das ‚Spiel mit Parallelsituationen’: Unter einer ‚Parallelsituation’ wird hier die Übertragung<br />
eines Ereignisses der Ebene der Binnenerzählungen auf die Ebene der Rahmenhandlung<br />
verstanden. Durch ein derartiges Ineinandergreifen der verschiedenen Fiktionsebenen wird<br />
grundsätzlich eine stärkere Verflechtung <strong>von</strong> Binnenerzählung und Rahmenhandlung<br />
erreicht.<br />
3. Der Einbau <strong>von</strong> ‚Cliffhangern’ und Unterbrechungen: Als sogenannter ‚Cliffhanger’ wird<br />
der abrupte Handlungsabbruch an einer besonders spannenden Stelle bezeichnet, der<br />
zugleich das Ende einer Erzähleinheit markiert. ‚Cliffhanger’ dienen in Ezählzyklen<br />
grundsätzlich der stärkeren Bindung des Lesers an den Text; das Interesse des Lesers soll<br />
trotz einer Unterbrechung des Textes aufrechterhalten werden. 26<br />
4. Die potentielle ‚Unendlichkeit’ des Textes: Hiermit ist die prinzipielle Unabgeschlossenheit<br />
des Erzählzyklus Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten gemeint: Da die Rahmenerzählung in<br />
sich nicht abgeschlossen ist, könnten theoretisch beliebig viele weitere Binnenerzählungen<br />
an den Erzählzyklus angehängt werden; der Text wird damit – zumindest als Möglichkeit –<br />
‚unendlich’.<br />
26 Vgl.: Martin Jurga: Der Cliffhanger. Formen, Funktionen und Verwendungsweisen eines <strong>serielle</strong>n Inszenierungsbausteins. In:<br />
Inszenierungsgesellschaft. Ein einführendes Handbuch, hrsg. v. Herbert Willems und Martin Jurga, Opladen/<br />
Wiesbaden 1998, S. 471 – 488, S. 472.<br />
17
<strong>Johann</strong> <strong>Wolfgang</strong> <strong>von</strong> Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten<br />
3.1 Die mündliche Erzählsituation<br />
Die Fiktion einer mündlichen Erzählsituation ist traditionell ein Kennzeichen des zyklisch<strong>serielle</strong>n<br />
Erzählens. Bereits in den arabischen Erzählungen Tausendundeine Nacht und<br />
Das Papageienbuch wird so im Erzählrahmen eine Ausgangssituation konstruiert, innerhalb der die<br />
einzelnen Binnenerzählungen mündlich vorgetragen werden; wiederkehrend findet sich die<br />
Fiktion einer mündlichen Erzählsituation in den Novellenzyklen der Renaissance. Eine derartige<br />
mündliche Kommunikationssituation ist zudem häufig verknüpft mit einer Krisensituation: In<br />
den traditionellen Erzählzyklen ist das Fortführen einer Serie <strong>von</strong> Erzählungen oftmals<br />
ausschlaggebend für das Überleben der Erzählerfiguren; die Erzählerfiguren erzählen sozusagen<br />
um ‚Kopf und Kragen’. 27<br />
In Anlehnung an diese Traditionen findet sich schließlich auch in <strong>Goethes</strong> Unterhaltungen<br />
deutscher Ausgewanderten die Fiktion einer mündlichen Erzählsituation verknüpft mit einer<br />
existentiellen Notlage: Vor dem Hintergrund der lebensbedrohlichen Ereignisse der<br />
Französischen Revolution erzählt sich hier eine Gruppe Adliger in einem geselligen Kreis<br />
verschiedene Geschichten. Ähnlich wie im Decamerone Boccaccios, an das sich der Text der<br />
Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten hier stark anlehnt, dienen die mündlich vorgetragenen<br />
Geschichten der Unterhaltung, Zerstreuung sowie der Ablenkung <strong>von</strong> der eigenen Notlage und<br />
27 So erzählt beispielsweise in Tausendundeine Nacht die schöne Schehrezâde dem Sultan jede Nacht eine<br />
Geschichte, die jeweils am spannendsten Moment abbricht und in der nächsten Nacht fortgeführt werden muß – und<br />
Schehrezâde damit vor dem Tod bewahrt. Auf ähnliche Weise verhindert auch im Papageienbuch das Fortführen einer<br />
Serie spannender Erzählungen den Tod eines klugen Papageien. In seiner Einleitung zum Il Decamerone Giovanni di<br />
Boccaccios spricht André Jolles in diesem Zusammenhang auch <strong>von</strong> ‚Halserzählungen’: „Hier rettet sich entweder<br />
jemand das Leben, indem er seine Geschichte erzählt, oder indem man erzählt wird ein gefährlicher Termin<br />
überschritten. […] Eine Rahmenerzählung ist also, außer einer Reihe Illustrationen zur Lebensweisheit und Moral,<br />
meistens auch noch eine Halserzählung.“ André Jolles: Einleitung. In: Giovanni di Boccaccio: Das Dekameron. Mit 110<br />
Holzschnitten der italienischen Ausgabe <strong>von</strong> 1492, Deutsch <strong>von</strong> Albert Wesselski, Frankfurt am Main/ Leipzig 1999,<br />
S. XVf.<br />
Auch Wulf Segebrecht geht in seinem Aufsatz Geselligkeit und Gesellschaft auf das Geschichtenerzählen ‚um Kopf<br />
und Kragen’ näher ein. Es heißt hier: „Man erzählt offenbar Geschichten nicht nur, um das Allgemeinmenschliche<br />
des Erzählens selbst zu demonstrieren, sondern ebenso, um das Schrecklich-Drohende, das Tödliche abzuwehren.<br />
[…] Mit anderen Worten: Die gesellige Erzählsituation verweist auf eine existentielle Notsituation.“ Wulf Segebrecht:<br />
Geselligkeit und Gesellschaft. Überlegungen zur Situation des Erzählens im geselligen Rahmen. In: Germanistischromanische<br />
Monatsschrift, Bd. 56 (N. F. 25), 1975, S. 306 – 322, S. 308.<br />
18
<strong>Johann</strong> <strong>Wolfgang</strong> <strong>von</strong> Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten<br />
– im Falle der <strong>Goethes</strong>chen Unterhaltungen – schließlich auch der Belehrung sowie der „geselligen<br />
Bildung“ (137) der einzelnen Gesellschaftsmitglieder.<br />
Ein wesentliches Kennzeichen der Simulation der Mündlichkeit ist schließlich auch die<br />
Möglichkeit einer (fiktiven) Interaktion zwischen Erzählerfiguren und Rezipienten. Im<br />
Gegensatz zu Formen der schriftlichen Kommunikation zeichnet sich die mündliche<br />
Kommunikation ja gerade dadurch aus, daß hier direkte und spontane Rückmeldungen der<br />
Zuhörer möglich sind. Diese Interaktion <strong>von</strong> Erzählerfiguren und Rezipienten steht in <strong>Goethes</strong><br />
Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten dann auch verstärkt im Vordergrund: Sobald hier eine der<br />
Figuren der Rahmenhandlung eine Geschichte zu Ende erzählt hat, schließen sich sofort<br />
spontane Nachfragen und Kommentare der Zuhörer an; häufig folgt auch eine längere<br />
Diskussion innerhalb der Gesellschaft sowie eine abschließende Bewertung des Erzählten. 28 In<br />
den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten beeinflussen die Erzählungen somit einerseits die<br />
Reaktionen der Zuhörer, andererseits nehmen die Zuhörer selbst auch Einfluß auf das, was<br />
erzählt wird, indem sie bestimmte Anforderungen an die Erzählungen stellen und hier<br />
verschiedene ‚Erzähl-Konzepte’ formulieren (vgl. Kap. 2.2).<br />
Damit unterscheiden sich die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten schließlich auch stark<br />
<strong>von</strong> Rahmenerzählungen wie z.B. Giovanni di Boccaccios Il Decamerone: Während im Decamerone<br />
generell sehr wenig über die einzelnen Novellen diskutiert wird (die Reaktionen auf die<br />
Erzählungen beschränken sich hier hauptsächlich auf Lob, Gelächter oder das ‚schamhafte<br />
Erröten’ der Damen), finden sich in <strong>Goethes</strong> Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten sehr lange<br />
Diskussionen bzw. lange Dialoge, die die erzählten Geschichten begleiten. 29 Auf formaler Ebene<br />
hat dies schließlich auch eine Kontrastwirkung <strong>von</strong> Binnenerzählungen und Rahmenhandlung<br />
zur Folge: Im Gegensatz zu den Binnenerzählungen, die durchgehend in Prosa verfaßt sind,<br />
28Eine derartige Interaktion <strong>von</strong> Erzählern und Zuhörern findet sich in verschiedenen Rahmenerzählungen<br />
wieder. So werden beispielsweise in der Rahmenhandlung <strong>von</strong> Ludwig Tiecks Erzählzyklus Phantasus die Herren einer<br />
kleinen Gesellschaft aufgefordert, der Reihe nach ihre Dichtungen vorzutragen; die Damen der Gesellschaft bieten<br />
sich an, diese anschließend zu bewerten und zu kritisieren. Es heißt hier: „O vortrefflich! Rief Clara aus, und dann<br />
wollen wir Mädchen und Frauen nach der Lektür die Rezensenten spielen, und uns über alles lustig machen, was wir<br />
nicht verstanden, oder was uns nicht gefallen hat.“ Ludwig Tieck: Phantasus. In: ders.: Schriften, Bd. 6, hrsg. v.<br />
Manfred Frank u.a., Frankfurt a. M. 1985, S. 90.<br />
29 Durch diese langen Dialoge erscheint die Rahmenhandlung der Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten<br />
stellenweise relativ ‚langatmig’. Hannelore Schlaffer schreibt hierzu: „Die Langweiligkeit dieses Werkes, die schon<br />
Schiller, seinen [Anm.: <strong>Goethes</strong>] ersten Herausgeber, verärgerte, rührt <strong>von</strong> den extensiven theoretischen<br />
Überlegungen her, die die Rahmengesellschaft anstellt, ehe es endlich ans Erzählen geht.“ Schlaffer: Poetik der Novelle,<br />
S. 14.<br />
19
<strong>Johann</strong> <strong>Wolfgang</strong> <strong>von</strong> Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten<br />
erscheint die Rahmenhandlung zum großen Teil als Dialog und nimmt stellenweise sogar die<br />
Form eines Dramentextes an. 30<br />
Die zentrale Stellung der mündlichen Erzählsituation hat insgesamt sowohl eine Tendenz<br />
zum ‚Realismus’ als auch eine grundsätzliche Verringerung der Distanz zum Leser zur Folge. So<br />
wird in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten durch die langen Gespräche in der<br />
Rahmenhandlung zum Einen eine ‚realistische’ Darstellung der Rahmenfiguren erreicht: Anders<br />
als beispielsweise im Decamerone, wo die Figuren der Rahmenhandlung eher ‚typisiert’ wirken und<br />
wenig individuelle Züge besitzen, werden hier die verschiedenen Charaktere der Rahmenfiguren<br />
plastisch dargestellt.<br />
Zum anderen bewirkt die Fiktion der Mündlichkeit schließlich auch stets eine Verringerung<br />
der räumlichen und zeitlichen Distanz zwischen dem ‚Autor’ eines Textes (hier: dem fiktionalen<br />
Erzähler) und dem Rezipienten (bzw. dem Leser). Indem die Figuren der Rahmenhandlung<br />
ausführlich über die Binnenerzählungen diskutieren wird auch der Leser selbst angeregt, sich<br />
eine Meinung über das Erzählte zu bilden; er wird sozusagen „[…] in die laufende Diskussion<br />
der Rahmengesellschaft […] miteinbezogen“ 31. Volker Klotz schreibt hierzu:<br />
„Ihm [Anm.: dem Leser] begegnet im Text eine sinnfällige Entsprechung zur eigenen momentanen Tätigkeit: in<br />
sich aufzunehmen, was ein anderer, der allerdings räumlich und zeitlich nicht zur Stelle ist, erzählend <strong>von</strong> sich<br />
gibt. Was also bei üblicher Buchlektüre unterbunden oder auseinandergerissen ist – der leibhaftige<br />
Wechselkontakt zwischen erzählendem Autor und aufnehmendem Leser – das ereignet sich hier beim zyklischen<br />
Erzählen im Buch selbst.“ 32<br />
Durch die Form der Rahmenerzählung wird somit auch stets die lebensweltliche Einbettung<br />
eines (Schrift-) Textes simuliert. Was bei der schriftlichen Kommunikation verloren geht,<br />
nämlich der direkte und unvermittelte Kontakt zwischen dem Autor und dem Rezipienten eines<br />
Textes, wird durch die mündliche Erzählsituation in der Rahmenhandlung (zumindest auf<br />
fiktionaler Ebene) wiederhergestellt. Die spontane Interaktion mit dem Erzähler wird hier durch<br />
die Figuren der Rahmenhandlung übernommen; an der Stelle des Lesers kommentieren bzw.<br />
kritisieren die Figuren der Rahmenhandlung den Text.<br />
30 In diesem Fall wird nur noch der Name des jeweiligen Dialogpartners angegeben, darauf folgt ein Doppel-<br />
punkt und dann in direkter Rede der Text.<br />
31 Jäggi: Rahmenerzählung, S. 122.<br />
32 Klotz: Erzählen als Enttöten, S. 320.<br />
20
<strong>Johann</strong> <strong>Wolfgang</strong> <strong>von</strong> Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten<br />
3.2 Das Spiel mit Parallelsituationen<br />
Neben der zentralen Stellung der mündlichen Erzählsituation in den Unterhaltungen deutscher<br />
Ausgewanderten gehört auch das Spiel mit ‚Parallelsituationen’ zu den spezifischen Merkmalen des<br />
zyklisch-<strong>serielle</strong>n Erzählens. Der Begriff ‚Parallelsituation’ bezeichnet hier die Übertragung eines<br />
Ereignisses der Ebene der Binnenerzählungen auf die Ebene der Rahmenhandlung, oder mit<br />
anderen Worten: Um eine ‚Parallelsituation’ handelt es sich, wenn sich auf der Ebene der<br />
Rahmenhandlung plötzlich ähnliche Dinge abspielen, wie sie sich zuvor bereits auf der Ebene<br />
der Binnenerzählungen zugetragen haben. Ein Beispiel für eine derartige ‚Parallelsituation’ ist in<br />
den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten die Episode mit dem zerbrochenen Schreibtisch (159f):<br />
Nachdem Fritz die ‚Geschichte vom Klopfgeist’ zu Ende erzählt hat, und sich innerhalb der<br />
Gesellschaft eine Diskussion über ‚unerklärliche Phänomene’ anschließt, ertönt in der<br />
Zimmerecke plötzlich ein lauter Knall – scheinbar ohne äußere Einwirkung ist die Platte eines<br />
alten Schreibtischs quer durchgerissen. Es heißt hier:<br />
„Kaum hatte er [Anm.: Fritz] ausgeredet, als in der Ecke des Zimmers auf einmal ein sehr starker Knall sich<br />
hören ließ. Alle führen auf, und Karl sagte scherzend: ‚Es wird sich doch kein sterbender Liebhaber hören<br />
lassen?’“ (159) 33<br />
Fast gleichzeitig trifft die Nachricht ein, daß das Nachbargut in Flammen stehe, auf welchem<br />
sich ein ‚Zwillings-Schreibtisch’, der aus dem gleichen Holz und <strong>von</strong> dem selben Meister<br />
angefertigt wurde, befindet. Man vermutet, daß der Schreibtisch wohl gerade zu dem Zeitpunkt<br />
zerbrochen ist, als sein ‚Gegenstück’ auf dem Nachbargut verbrannt ist. Andreas Jäggi schreibt<br />
dazu:<br />
„Dadurch ist eine Parallelsituation entstanden. Die eben gerade erzählten Geschichten handeln <strong>von</strong><br />
(vermeintlich) übersinnlichen Phänomenen, gleichzeitig ereignet sich auf der Rahmenebene etwas, das ebenfalls,<br />
wenn nicht <strong>von</strong> Geisterhand herrührend, so doch zu den Naturphänomenen zu rechnen ist, die sich der Mensch<br />
nicht erklären kann. Somit werden Rahmen und Binnenerzählung zu Parallelgeschichten.“ 34<br />
Das Thema des ‚Unerklärlichen’, des ‚Spukhaften’ wird hier also <strong>von</strong> der Fiktionsebene zweiter<br />
Stufe (der Ebene der Binnenerzählungen) auf die Fiktionsebene erster Stufe (die Ebene der<br />
33 Mit der Anspielung auf den ‚sterbenden Liebhaber’ wird hier noch einmal konkret Bezug auf die zuvor<br />
erzählten Spukgeschichten genommen.<br />
34 Jäggi: Rahmenerzählung, S. 122.<br />
21
<strong>Johann</strong> <strong>Wolfgang</strong> <strong>von</strong> Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten<br />
Rahmenhandlung) übertragen – und impliziert damit schließlich auch eine weitere Übertragung<br />
auf die Ebene der ‚Alltagswelt’ des Lesers. Durch die Parallelsituation wird dem Leser suggeriert,<br />
daß sich ähnliche Dinge auch in seinem eigenen, lebensweltlichen Umfeld abspielen könnten; es<br />
findet hier also grundsätzlich eine ‚Miteinbeziehung’ des Lesers bzw. eine Verringerung der<br />
Distanz zwischen Leser und Text statt.<br />
Darüber hinaus hat das Spiel mit Parallelsituationen schließlich auch stets eine stärkere<br />
Verflechtung der fiktionalen Welt der Binnenerzählungen mit der der Rahmenhandlung zur<br />
Folge. Durch das Ineinandergreifen der verschiedenen Fiktionsebenen wird in den Unterhaltungen<br />
deutscher Ausgewanderten die ‚übernatürliche’, ‚irrationale’ Welt der Spukgeschichten mit der<br />
‚rationalen’ Alltagswelt der Rahmenfiguren verknüpft – es findet hier sozusagen eine Synthese<br />
<strong>von</strong> ‚Wirklichkeit’ und ‚Fiktion’ statt. 35<br />
3.3 ‚Cliffhanger’ und Unterbrechungen<br />
Auch sogenannte ‚Cliffhanger’ und Unterbrechungen gehören zu den wesentlichen Eigenarten<br />
einer Ästhetik des zyklisch-<strong>serielle</strong>n Erzählens. Unter einem ‚Cliffhanger’ versteht man dabei<br />
den abrupten Handlungsabbruch an einer besonders spannenden Stelle des Textes, der zugleich<br />
das Endes einer Erzähleinheit markiert.<br />
Der Begriff ‚Cliffhanger’ kommt ursprünglich aus dem amerikanischen Stummfilmkino des<br />
frühen 20. Jahrhunderts und bezeichnet hier eine Situation, in welcher der Filmheld bildlich ‚an<br />
einer Klippe’ hängt (und die Frage, auf welche Weise er gerettet wird, bis zur nächsten Folge<br />
aufgeschoben wird). 36 Die Technik des ‚Cliffhangers’ ist jedoch viel älter und wurde so<br />
beispielsweise bereits in den arabischen Erzählungen Tausendundeine Nacht <strong>von</strong> der Erzählerin<br />
Scheherezâde meisterlich angewendet.<br />
35 Das Spiel mit den verschiedenen Fiktionsebenen war somit auch in den romantischen Rahmenerzählungen<br />
sehr beliebt; auch hier dient das Ineinanderschachteln der verschiedenen Fiktionsebenen dazu, eine Welt des<br />
‚Irrrationalen’ und des ‚Imaginären’ mit der rationalen ‚Alltagswelt’ zu verknüpfen. Andreas Jäggi schreibt dazu: „Für<br />
die Romantiker erwies sich die Zweischichtigkeit der Form [Anm.: der Rahmenerzählung] als ideal, ihr Verständnis<br />
der Existenz einer übernatürlichen Welt neben der Alltagswelt in eine entsprechende Form zu kleiden.“ Jäggi:<br />
Rahmenerzählung, S. 253.<br />
36 Vgl.: Jurga: Der Cliffhanger, S. 475. Die Funktion des Cliffhangers sieht Martin Jurga vor allem in der<br />
Einbindung des Zuschauers bzw. des Lesers in das erzählte Geschehen. Die Unterbrechung soll den Zuschauer dazu<br />
anregen, die entstehenden ‚Leerstellen’ des Textes ausfüllen und sich Gedanken über den weiteren Verlauf der<br />
Erzählung zu machen.<br />
22
<strong>Johann</strong> <strong>Wolfgang</strong> <strong>von</strong> Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten<br />
In <strong>Goethes</strong> Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten findet sich zunächst einmal eine deutliche<br />
Ablehnung derartiger Techniken der Spannungssteigerung formuliert. So drückt die Baronesse<br />
zu Beginn des zweiten Erzähl-Tages ihr Mißfallen gegenüber den Erzählstrategien aus<br />
Tausendundeine Nacht aus:<br />
„Jene Erzählungen machen mir keine Freude, bei welchen nach Weise der ‚Tausendundeinen Nacht’ eine<br />
Begebenheit in die andere eingeschachtelt, ein Interesse durch das andere verdrängt wird, wo sich der Erzähler<br />
genötigt sieht, die Neugierde, die er auf eine leichtsinnige Weise erregt hat, durch Unterbrechung zu reizen und<br />
die Aufmerksamkeit, anstatt sie durch eine vernünftige Folge zu befriedigen, nur durch seltsame und keineswegs<br />
lobenswürdige Kunstgriffe aufzuspannen.“ (166f.)<br />
Im weiteren Verlauf des Textes zeigt sich jedoch, daß der alte Geistliche als Erzähler die<br />
Neugierde seiner Zuhörer gerade durch derartige Unterbrechungen und Verzögerungen des<br />
Handlungsverlaufs zu steigern weiß: So lehnt er nach dem Ende des ersten Teils der ‚Ferdinand-<br />
Novelle’ Luises Wunsch, die Geschichte fertig zu erzählen, zunächst mit den Worten „Sie ist<br />
wirklich schon aus“ (205) ab; wenig später läßt er sich jedoch überreden und erzählt – im<br />
Anschluß an die ‚Entwicklung’ – nun auch noch das ‚Ende’ der Geschichte.<br />
Die Technik des ‚Cliffhangers’ wird schließlich nicht nur <strong>von</strong> den Erzählerfiguren innerhalb<br />
des Textes angewendet; auch Goethe selbst griff bei der Publikation der Unterhaltungen deutscher<br />
Ausgewanderten zu diesem Mittel der Spannungssteigerung. Auf die Spitze getrieben hatte er das<br />
Spiel mit den Unterbrechungen, als er die siebte Folge der Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten<br />
nach dem Ende des ersten Teils der ‚Ferdinand-Novelle’ mitten im Satz „Diese Geschichte<br />
gefällt mir!“ (204) abbrechen ließ und die Horen-Leser ganze zwei Monate auf die Fortsetzung<br />
„[…] sagte Luise, […]“ (204) warten ließ. Diese Unterbrechungen des Handlungsverlaufs<br />
wurden beim zeitgenössischen Publikum jedoch überwiegend negativ aufgenommen und so<br />
erschien das ‚Märchen’ dann schließlich im Oktober 1795 in der zehnten Ausgabe der Horen auf<br />
den Wunsch Schillers hin auch als Ganzes, obwohl Goethe auch hier zunächst eine Trennung<br />
des Textes in zwei Teile gefordert hatte. 37<br />
37Vgl. Siegrid Bauschinger: ‚Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten’. In: <strong>Goethes</strong> Erzählwerk. Interpretationen,<br />
hrsg. v. Paul Michael Lützeler und James E. McLeod, Stuttgart 1995, S. 134 – 167, S. 156f.<br />
23
<strong>Johann</strong> <strong>Wolfgang</strong> <strong>von</strong> Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten<br />
3.4 Die potentielle Unendlichkeit des Textes<br />
Eine Besonderheit des zyklisch-<strong>serielle</strong>n Erzählens in <strong>Goethes</strong> Unterhaltungen deutscher<br />
Ausgewanderten ist schließlich auch die offene Form der Rahmenerzählung und damit<br />
einhergehend die potentielle ‚Unendlichkeit’ des Textes. Im Gegensatz zu Erzählzyklen wie dem<br />
Il Decamerone Giovanni di Boccaccios, im welchem die Erzähl-Gesellschaft am zehnten Tag<br />
beschließt, das Landgut, auf welches man sich zurückgezogen hatte zu verlassen und nach<br />
Florenz zurückzukehren (und das gesellschaftliche Erzählen somit räumlich – auf das Landgut –<br />
und zeitlich – auf zehn Tage – begrenzt ist), ist die Rahmenhandlung der Unterhaltungen deutscher<br />
Ausgewanderten nicht abgeschlossen; der gesamte Text bricht mit dem ‚Märchen’ als der letzten<br />
Binnenerzählung ab. Durch diese prinzipielle Offenheit der Rahmenhandlung könnten nun<br />
jedoch beliebig viele weitere Binnenerzählungen an den Text ‚angehängt’ werden, der Text wird<br />
dadurch – zumindest als Möglichkeit – ‚unendlich’.<br />
Auf eine derartige ‚potentielle Unendlichkeit’ des Textes hat bereits Goethe selbst<br />
verwiesen; so schreibt er in einem Brief an Schiller: „‚Das Märchen’. Ich würde die<br />
‚Unterhaltungen’ damit schließen, und es würde vielleicht nicht übel sein, wenn sie durch ein<br />
Produkt der Einbildungskraft gleichsam ins Unendliche ausliefen.“ 38 Der Gedanke des<br />
‚Unendlichen’ bzw. auch des ‚Unvollendeten’ spielt in <strong>Goethes</strong> Dichtung schließlich insgesamt<br />
eine wichtige Rolle: So hat Goethe einerseits zahlreiche Dichtungsfragmente hinterlassen (und<br />
auch der Erzählzyklus Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten ist in diesem Sinne eigentlich ein<br />
‚unvollendetes’ Fragment, dessen geplante Fortsetzung nie ausgeführt wurde); andererseits wird<br />
der Gedanke der ‚Unabgeschlossenheit’ bzw. der ‚Unvollendung’ bei Goethe auch zu einem<br />
zentralen Prinzip des zyklisch-<strong>serielle</strong>n Erzählens. Die Form der Rahmenerzählung spiegelt hier<br />
eine prinzipielle ‚Offenheit’ des Textes wieder und ermöglicht damit auch ein ‚Über-Sich-<br />
Hinausweisen’ des einzelnen Textes. Erhard Marz schreibt dazu:<br />
„Der für den Dichter charakteristische evolutionistische Schaffensprozeß ist – wie seine Vorliebe für die<br />
Zyklustechnik – Ausdruck der tiefen inneren Überzeugung, daß jedes vollendete Einzelne begrenzt ist und sich<br />
letztlich nur als Teil eines umfassenden Unvollendeten begreifen läßt. Um den Gedanken der Unvollendung<br />
konkret Gestalt werden zu lassen, bedient sich Goethe der offenen Form der Rahmenerzählung.“ 39<br />
38 Goethe an Schiller, 17. August 1795. In: Goethe: Werke, Bd. 6, S. 606.<br />
39 Marz: <strong>Goethes</strong> Rahmenerzählungen, S. 11.<br />
24
<strong>Johann</strong> <strong>Wolfgang</strong> <strong>von</strong> Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten<br />
Auf die potentielle ‚Unendlichkeit’ <strong>serielle</strong>r Texte geht schließlich auch Umberto Eco in seinem<br />
Aufsatz Serialität im Universum der Kunst und der Massenmedien (1986) näher ein. Eco beschreibt hier<br />
verschiedene zyklisch-<strong>serielle</strong> Erzählformen des Fernsehens und kommt zu dem Ergebnis, „[…]<br />
daß wir mit dem Phänomen der Fernsehserien ein neues Konzept der ‚Unendlichkeit des<br />
Textes’ vor uns haben; der Text nimmt die Rhythmen der gleichen ‚Alltäglichkeit’ an, in denen<br />
er produziert wird und die er spiegelt.“ 40 Nach Eco liegt die eigentliche Faszination derartiger<br />
Texte nicht in den einzelnen Variationen einer Serie, sondern in der ‚Variabilität’ des Textes<br />
selbst, d.h. in dem Umstand, „[…]daß die Reihe möglicher Variationen potentiell unendlich<br />
ist.“ 41<br />
Neben der offenen, ‚unabgeschlossenen’ Rahmenhandlung besitzt schließlich auch die letzte<br />
Binnenerzählung der Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, das ‚Märchen’ (mit dem der Text ja<br />
‚ins Unendliche auslaufen’ soll), wesentliche Merkmale einer ‚Ästhetik der Serialität’: Zu den<br />
wichtigen Gestaltungsmerkmalen des ‚Märchens’ gehören so die Prinzipien der ‚Variation’, des<br />
‚Nicht-Figurativen’, des ‚Ornamentalen’ und des ‚A-Semantischen’. 42 Das ‚Märchen’ ist als ein<br />
freies Spiel der Phantasie zu verstehen, es soll „an nichts und an alles“ erinnern (209) und es soll<br />
„zugleich bedeutend und deutungslos“ sein. 43 Das ‚Märchen’ orientiert sich damit vor allem<br />
auch an gegenstandsfreier Kunst – so wird beispielsweise im Text selbst der Vergleich mit<br />
Musik gebracht:<br />
„‚Wissen Sie nicht’, sagte Karl zum Alten, ‚uns irgendein Märchen zu erzählen? Die Einbildungskraft ist ein<br />
schönes Vermögen, nur mag ich nicht gern, wenn sie das, was wirklich geschehen ist, verarbeiten will. […] Sie<br />
muß sich, deucht mich, an keinen Gegenstand hängen, sie muß uns keinen Gegenstand aufdrängen wollen, sie<br />
soll, wenn sie Kunstwerke hervorbringt, nur wie eine Musik auf uns selbst spielen, uns in uns selbst bewegen,<br />
und zwar so, daß wir vergessen, daß etwas außer uns sei, das diese Bewegung hervorbringt.’“ (209)<br />
Mit den Gestaltungsprinzipien des ‚Nicht-Gegenständlichen’ und des ‚A-Semantischen’ tritt das<br />
‚Märchen’ hier auch für die vollständige Unabhängigkeit und Autonomie des Ästhetischen ein.<br />
40 Eco: Serialität, S. 318.<br />
41 Eco schreibt hier: „Was wir genießen sollen – so möchte es die postmoderne Ästhetik – , ist der Umstand,<br />
daß die Reihe möglicher Variationen potentiell unendlich ist.“ Ebd.<br />
42 Eco spricht in diesem Zusammenhang auch <strong>von</strong> einer ‚postmodernen’ oder ‚neobarocken Ästhetik’. Ebd.,<br />
S. 322.<br />
43 In einem Brief an Humboldt schreibt Goethe: „Was Sie über das ‚Märchen’ sagen, hat mich unendlich gefreut.<br />
Es war freilich eine schwere Aufgabe, zugleich bedeutend und deutungslos zu sein. Ich habe noch ein anderes im<br />
Sinne, das aber, gerade umgekehrt, ganz allegorisch werden soll und das also ein sehr subordiniertes Kunstwerk geben<br />
müßte, […].“ Goethe an Humboldt, 27. Mai 1796. In: Goethe: Werke, Bd. 6, S. 609.<br />
25
<strong>Johann</strong> <strong>Wolfgang</strong> <strong>von</strong> Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten<br />
Insgesamt wird der Text des ‚Märchens’ dadurch jedoch auch relativ schwer ‚lesbar’ und<br />
‚abstrakt’.<br />
4. Zur gesellschaftlichen Funktion der ‚Unterhaltungen’<br />
Im vierten und letzten Kapitel dieser Arbeit möchte ich abschließend auf die gesellschaftliche<br />
Funktion des Erzählens in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten näher eingehen. Im<br />
Zentrum soll dabei die Frage stehen, inwiefern das gesellschaftliche Erzählen in den<br />
Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten einen rein unterhaltenden Wert besitzt, bzw. inwiefern es<br />
zu Veränderungen innerhalb der Erzähl-Gesellschaft führt und damit auch zu einem ‚politischen<br />
Instrument’ wird.<br />
In diesem Zusammenhang fällt auf, daß der Begriff der ‚Unterhaltung’ in <strong>Goethes</strong> Text<br />
doppeldeutig zu verstehen ist: Zum einen meint ‚Unterhaltung’ hier ‚Zerstreuung’ oder<br />
‚Ablenkung’ (und bezeichnet damit die ‚gute Unterhaltungsliteratur’, die die Baronesse <strong>von</strong> der<br />
Erzählrunde fordert); zum anderen wird der Begriff der ‚Unterhaltung’ auch als Synonym für<br />
‚Dialog’ verwendet (und bezeichnet hier vor allem die ‚lehrhaften Gespräche’, wie sie z.B.<br />
zwischen dem alten Geistlichen und der jungen, unbeherrschten Luise stattfinden).<br />
4.1 Unterhaltung als ‚Zerstreuung’<br />
Das gesellschaftliche Erzählen dient in <strong>Goethes</strong> Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten zunächst<br />
einmal der ‚Zerstreuung’ der Gesellschaft, der Ablenkung <strong>von</strong> den politischen Streitereien und<br />
den Tagesaktualitäten. So fordert die Baronesse zu Beginn der Erzählung, sämtliche Gespräche<br />
über das „Interesse des Tages“ (139) zu verbannen und statt dessen die „Früchte einer<br />
freundschaftlichen Unterhaltung“ (140) zu genießen. Innerhalb der Gesellschaft soll <strong>von</strong> nun an<br />
(fiktionale) ‚Unterhaltungsliteratur’ vorgetragen werden – anstelle der zuvor diskutierten<br />
‚Tagesaktualitäten’, d.h. (auf Fakten beruhender) Nachrichten oder Berichte. Dieses Konzept<br />
der ‚Unterhaltungsliteratur’ wird innerhalb der Gesellschaft kontrovers diskutiert: Während<br />
Luise in derartigen Erzählungen vor allem „skandalöse Geschichten“ (144), eine „Sammlung<br />
lüsterner Späße“ (143) sieht, verteidigt der alte Geistliche die ‚triviale Unterhaltungsliteratur’ und<br />
vergleicht seine Sammlung <strong>von</strong> leicht zugänglichen, unterhaltsamen und gut erzählten<br />
Geschichten mit einem ‚leichten Nachtisch’:<br />
26
<strong>Johann</strong> <strong>Wolfgang</strong> <strong>von</strong> Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten<br />
„[…] wenn aber die Gesellschaft nach einer ernsthaften Unterhaltung auf eine kurze Zeit ausruhen, wenn sie<br />
sich, <strong>von</strong> manchem Guten schon gesättigt, nach einem leichten Nachtische umsiehet, alsdann werd ich bereit<br />
sein und wünsche, daß das, was ich vorsetzen werde, nicht unschmackhaft befunden werde.“ (145f.)<br />
Der Erzähl-Rahmen liefert hier schließlich auch eine Legitimation für die ‚Trivialität’ der<br />
Geschichten selbst: Durch das ‚Dazwischenschalten’ eines mündlichen Erzählers in der<br />
Rahmenhandlung findet eine Rechtfertigung der üblicherweise als ‚trivial’ geltenden literarischen<br />
Gattungen wie der Anekdote, des Schwanks und der Novelle statt. 44<br />
Der gezielte Vortrag <strong>von</strong> ‚Unterhaltungsliteratur’ in den Unterhaltungen deutscher<br />
Ausgewanderten kann so einerseits als der Versuch einer Aufwertung bestimmter literarischer<br />
Gattungen angesehen werden; andererseits kann das gesellschaftliche Erzählen hier aber auch<br />
verstanden werden als der Versuch einer Ablenkung <strong>von</strong> politischen Fragen und den Problemen<br />
der Zeit.<br />
4.2 Unterhaltung als ‚aufklärerischer Dialog’<br />
Neben der ‚Ablenkung’ und der ‚Zerstreuung’ der Zuhörer besitzt das gesellschaftliche Erzählen<br />
in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten schließlich auch eine ‚aufklärerische’, pädagogische<br />
Funktion: Die vorgetragenen Erzählungen, ebenso wie die sich daran anschließenden<br />
Diskussionen, sollen der ‚Belehrung’ der einzelnen Gesellschaftsmitglieder – insbesondere der<br />
jungen, ‚unbeherrschten’ Luise und dem zur ‚Heftigkeit’ neigenden Karl – dienen; sie sollen zu<br />
einer ‚Mäßigung’ der subjektiven Leidenschaften führen. Das Ideal einer „geselligen Bildung“<br />
(137), zu dem das Geschichtenerzählen hier hinführen soll, wird abermals <strong>von</strong> der Baronesse<br />
formuliert:<br />
„Aber Kinder, in Gesellschaft laßt uns nicht vergessen, wieviel wir sonst schon, ehe alle diese Sachen zur<br />
Sprache kamen, um gesellig zu sein, <strong>von</strong> unseren Eigenheiten aufopfern mußten, und daß jeder, solange die Welt<br />
stehen wird, um gesellig zu sein, wenigstens äußerlich sich wird beherrschen müssen.“ (137)<br />
44 Auch Giovanni di Boccaccios Novellenzyklus Il Decamerone kann so als der Versuch einer Aufwertung<br />
mündlich überlieferter, als ‚volkstümlich’ geltender Erzähltraditionen gesehen werden. Bei Wulf Segebrecht heißt es<br />
dazu: „Der Rahmen ist diejenige Stelle im literarischen Werk, an der sich die Poesie die Legitimation dafür verschafft,<br />
daß sie in der Form des Geschichtenerzählens auftritt, und an der sie ihren Sinn erläutert.“ Segebrecht: Geselligkeit und<br />
Gesellschaft, S. 307.<br />
27
<strong>Johann</strong> <strong>Wolfgang</strong> <strong>von</strong> Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten<br />
In diesem Zusammenhang kann der Text der Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten schließlich<br />
auch als ein Gegenentwurf zu einer sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts abzeichnenden ‚Krise<br />
des Dialogs’ 45 gesehen werden: Am Ausgang des 18. Jahrhunderts (also zum Zeitpunkt der<br />
Entstehung der Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten) wurden die aufklärerischen Traditionen<br />
bereits zunehmend in Frage gestellt; die Formen des Gesprächs bzw. des ‚aufklärerischen<br />
Dialogs’ wurden zunehmend abgelöst <strong>von</strong> monologischen Konzepten, d.h. <strong>von</strong> Konzepten der<br />
Selbstbefragung sowie einer generellen Skepsis an der Fähigkeit zur Kommunikation. Carl<br />
Niekerk schreibt hierzu:<br />
„So aufgefaßt verweist das Konzept der ‚Unterhaltung’ trotz aller Mehrdeutigkeit, die Goethe ihr zuschreibt, auf<br />
eine Tradition der Aufklärung, die […] um die Wende zum 19. Jahrhundert eine Krise durchmacht und<br />
zunehmend in Frage gestellt zu werden droht.“ 46<br />
Das Geschichtenerzählen in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten kann in diesem<br />
Zusammenhang auch verstanden werden als ein Plädoyer für den Dialog und für die<br />
Kommunikation; es bietet hier einen Ausweg aus einer Situation, in der ansonsten keine<br />
Kommunikation mehr möglich ist. 47<br />
45 Carl Niekerk sieht die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten so als einen Gegenentwurf zu einer sich gegen<br />
Ende des 18. Jahrhunderts abzeichnenden ‚Krise des Dialogs’: „Die Unterhaltungen lassen sich als eine Apologie des<br />
Dialogs verstehen. Die eigentlichen Gespräche, die eigentlichen ‚Unterhaltungen’ also, entwickeln sich aus der<br />
Spannung zwischen einer konstanten Gefährdung oder Auflösung des Dialogs zugunsten monologischer Konzepte<br />
einerseits und einem Festhalten an dem Glauben an den Nutzen des Dialogs andererseits.“ Carl Niekerk:<br />
Bildungskrisen. Die Frage nach dem Subjekt in <strong>Goethes</strong> „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“, Tübingen 1995<br />
(Stauffenburg-Colloquium; Bd. 38), S. 111 – 134, S. 117.<br />
46 Ebd., S. 122.<br />
47 Daß die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten auch ganz anders gelesen werden können, zeigt der Text<br />
Geselligkeit und Gesellschaft <strong>von</strong> Wulf Segebrecht. Segebrecht sieht das gesellschaftliche Erzählen in den Unterhaltungen<br />
deutscher Ausgewanderten als ein ‚Wiederherstellen der alten Ordnungen’ an und betont die konservative Grundtendenz<br />
des Textes. Segebrecht: Geselligkeit und Gesellschaft, S. 312f.<br />
28
<strong>Johann</strong> <strong>Wolfgang</strong> <strong>von</strong> Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten<br />
5. Schlußbemerkungen<br />
Insgesamt ist die Verwendung zyklisch-<strong>serielle</strong>r Formen des Erzählens in <strong>Johann</strong> <strong>Wolfgang</strong> <strong>von</strong><br />
<strong>Goethes</strong> Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten vor allem als ein Experimentieren mit (zumindest<br />
in Deutschland) neuen Erzählverfahren anzusehen: Mit der Einbettung verschiedener<br />
Binnenerzählungen in eine mündliche Erzählsituation, dem Spiel mit ‚Parallelsituationen’ und<br />
‚Cliffhangern’ ebenso wie – auf inhaltlicher Ebene – einer grundsätzlichen ‚Trivialität’ der<br />
Geschichten, markieren die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten einen wichtigen Punkt in der<br />
Entwicklung des zyklisch-<strong>serielle</strong>n Erzählens, welche sich <strong>von</strong> den mittelalterlichen, arabischen<br />
Erzählzyklen bis hin zu den seriell produzierten Texten der modernen Massenmedien erstreckt.<br />
In diesem Zusammenhang muß jedoch auch gesehen werden, daß die Unterhaltungen deutscher<br />
Ausgewanderten grundsätzlich für ein kleines, elitäres Publikum konzipiert worden waren und die<br />
Verwendung <strong>von</strong> Erzähltechniken wie des ‚Cliffhangers’ hier in erster Linie ein ‚ästhetisches<br />
Spiel’ darstellte – während sie im Gegensatz dazu beispielsweise in den ‚Fortsetzungsromanen’<br />
Charles Dickens’ eine Folge der Publikation der Texte innerhalb des zu dieser Zeit massenhaft<br />
entstehenden Zeitschriftenwesens war.<br />
29
<strong>Johann</strong> <strong>Wolfgang</strong> <strong>von</strong> Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten<br />
Literaturverzeichnis<br />
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Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, in einer Reihe <strong>von</strong> Briefen. In: ders.:<br />
Sämtliche Werke, Bd. 5, hrsg. v. Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, München, 1962,<br />
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Erkennen. Aufsätze zur Literatur <strong>von</strong> Goethe bis Jonke, München 1979, S. 9 – 19.<br />
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31