Zyklisch-serielle Narration. Johann Wolfgang von Goethes
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<strong>Johann</strong> <strong>Wolfgang</strong> <strong>von</strong> Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten<br />
2.1 Die Rahmenhandlung<br />
In der Rahmenhandlung der Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten wird (wie bereits in Kap.1<br />
angesprochen) die Flucht einer adligen Familie <strong>von</strong> ihren linksrheinischen Besitzungen nach<br />
dem Einfall der Truppen der französischen Revolutionsarmee beschrieben. Die Baronesse <strong>von</strong><br />
C., eine „entschlossene“ und „tätige“ Witwe <strong>von</strong> mittleren Jahren (125), erweist sich auf dieser<br />
Flucht bald als die Anführerin einer „kleinen Karawane“ (125) und versammelt auf einem<br />
abgelegenen Landgut am rechten Rheinufer einen Kreis <strong>von</strong> deutschen ‚Ausgewanderten’ um<br />
sich. Bald jedoch machen sich die radikal verschiedenen politischen Gesinnungen der einzelnen<br />
Gesellschaftsmitglieder bemerkbar, und nach einer heftigen politischen Auseinandersetzung<br />
zwischen dem pro-revolutionär gesinnten Vetter Karl und dem konservativ denkenden<br />
Geheimrat <strong>von</strong> S. verläßt der Geheimrat samt Familie das Landgut. Nach diesem Zwischenfall<br />
verbietet die Baronesse sämtliche Gespräche über Politik und Tagesaktualitäten innerhalb der<br />
Gesellschaft und fordert <strong>von</strong> nun an ausschließlich ‚leichte’, unpolitische Unterhaltung. Ein alter<br />
Geistlicher bietet sich daraufhin an, den kleinen Zirkel mit einer Sammlung <strong>von</strong> Erzählungen zu<br />
unterhalten.<br />
Auffällig an dem Beginn der Rahmenhandlung sind zunächst einmal die vielfältigen<br />
Parallelen zur Rahmenhandlung <strong>von</strong> Giovanni di Boccaccios Novellenzyklus Il Decamerone:<br />
Ähnlich wie im Decamerone befindet sich auch in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten eine<br />
Gesellschaft <strong>von</strong> adligen Personen in einer existentiellen Notlage – bei Boccaccio ist es die in<br />
Florenz wütende Pest, bei Goethe sind es die Ereignisse der Französischen Revolution, die die<br />
kleine Gruppe zur Flucht auf ein abgelegenes Landgut veranlassen. Auf diesem Landgut erzählt<br />
man sich nun gegenseitig Geschichten, d.h. der Erzähl-Anlaß ist in beiden Fällen eine<br />
Krisensituation. 15 Während das Geschichtenerzählen im Decamerone jedoch als eine ‚Flucht’ vor<br />
der bedrückenden Realität und als der Entwurf einer Gegenwelt verstanden werden kann,<br />
bleiben in Unterhaltungen die politischen Ereignisse stets im Hintergrund präsent: Die erzählten<br />
Geschichten sollen hier nicht ausschließlich der Zerstreuung, Ablenkung und ‚Unterhaltung’ der<br />
Anwesenden dienen sondern die Gesellschaft gleichzeitig moralisch ‚erziehen’ und ihr das Ideal<br />
„geselliger Bildung“ (137) vermitteln. Hannelore Schlaffer schreibt in ihrer Poetik der Novelle<br />
dazu:<br />
„Bei Boccaccio ist die Pest eine schwarze Folie, die bunte Bilder übermalen und verdrängen. Bei Goethe<br />
hingegen verdrängt die Revolution die Poesie. […] Ihre [Anm.: gemeint sind hier die Rahmenfiguren] ganze<br />
15 In den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten findet sich genau genommen sogar eine ‚doppelte Krise’: die<br />
Ereignisse der Französischen Revolution sowie der politische Streit zwischen Karl und dem Geheimrat.<br />
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