Spion des Herzens
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MyLady Royal<br />
<strong>Spion</strong> <strong>des</strong> <strong>Herzens</strong><br />
Anne Ashley<br />
Gegen ihren Willen soll die entzückende Verity an der Saison in London<br />
teilnehmen. Denn nach einer enttäuschenden Erfahrung mit Brinley<br />
Carter, dem zukünftigen Viscount Dartwood, hat sie sich geschworen,<br />
niemals zu heiraten! Doch ein großes Abenteuer erwartet sie: Kurz vor<br />
London erfährt Verity in einem zufällig belauschten Gespräch, dass ein<br />
englischer Verräter sein Unwesen treibt. Wagemutig beginnt sie auf eigene<br />
Faust Nachforschungen anzustellen, und groß ist ihr Entsetzen, als sie<br />
herausfindet, dass der <strong>Spion</strong> Brinley ist, den sie immer noch liebt – und<br />
der Verity und drei andere junge Damen zur Brautschau auf seinen<br />
Landsitz einlädt ...<br />
REGENCY... eine Zeit, in der Männer von Adel die Dame ihres <strong>Herzens</strong><br />
galant umwerben und schöne Frauen es genießen, umworben zu werden...<br />
1. Kapitel<br />
Zweifellos war es der Wunsch der meisten jungen Ladys in heiratsfähigem<br />
Alter, zumin<strong>des</strong>t eine gesellschaftliche Saison in London zu erleben.<br />
Jede hoffte, am Ende dieser immens kostspieligen Zeit ihre ehrgeizigen<br />
Verwandten zufrieden zu stellen, indem sie einen passenden und vorteilhaften<br />
Ehepartner gefunden hatte.<br />
Verity, die durch das Kutschenfenster ohne großes Interesse die vorüberfliegende<br />
Landschaft von Kent betrachtete, fragte sich, warum sie<br />
selbst in die Hauptstadt fuhr. Sie hatte nicht das Verlangen, sich unter<br />
die oberen Zehntausend zu mischen, geschweige denn ein Mitglied <strong>des</strong><br />
ton zu heiraten. Die Vorstellung, eine pflichtbewusste Ehefrau zu werden,<br />
die sich den Launen eines hochwohlgeborenen Gentleman unterordnete,<br />
hatte nichts Verlocken<strong>des</strong> für sie. Warum, um alles in der Welt, hatte sie<br />
sich zu einer Saison in London überreden lassen?<br />
Bei einem Blick auf die rundliche Frau mittleren Alters, die ihr gegenüber<br />
zufrieden ein Schläfchen hielt, musste sie unwillkürlich lächeln.<br />
Niemand, der die verwitwete Lady Clara Billington nicht genau kannte,<br />
wäre auf die Idee verfallen, dass sich hinter ihrem etwas trägen Wesen ein<br />
messerscharfer Verstand verbarg, mit dem sie die Menschen auf eine Art<br />
manipulierte, die mancher Stratege bewundert hätte.<br />
Als die gute gefederte Kutsche plötzlich schwankte, wachte ihre Tante<br />
auf. „Gütiger Himmel!“ rief sie und rückte ihren modischen Hut zurecht.<br />
„Die Straße wird immer schlechter. Erinnere mich daran, dass ich mit<br />
meinem Bruder Charles darüber ein ernstes Wort rede, Verity. Hier muss<br />
etwas getan werden.“ Nachdem Lady Billington auch die Falten ihres maronenfarbenen<br />
Reiseklei<strong>des</strong> geordnet hatte und den Kopf hob, entdeckte<br />
sie, dass ihre Nichte sie seltsam forschend anblickte. „Was ist los, Liebes?“<br />
erkundigte sie sich. „Du siehst mich an, als wäre ich eine Fremde.“<br />
„Allmählich frage ich mich, wie gut ich dich wirklich kenne, Tante Clara“,<br />
erwiderte Verity. „Seit ich das Internat verlassen habe, planst du,<br />
mich für eine Saison nach London zu bringen. Wie hast du es nur geschafft,<br />
dass ich letztendlich eingewilligt habe?“<br />
Lady Billington lächelte sie unschuldig an, dann wandte sie resolut<br />
den Kopf ab und schaute aus dem Fenster.<br />
Ihre junge Nichte hatte nur teilweise Recht. Fast von dem Tag an, an<br />
dem ihr Bruder gestorben war, hatte Lady Billington davon geträumt,<br />
seiner einzigen Tochter wenigstens eine Saison in London zu ermöglichen.<br />
Da ihr eigene Kinder versagt geblieben waren, hatte sie lebhaften Anteil<br />
am Heranwachsen ihrer Nichte und Neffen genommen, wobei Verity sehr<br />
schnell ihr Liebling geworden war. Als Veritys Mutter das Haus in Hampshire<br />
verkauft hatte und in ihre Heimat Yorkshire zurückgekehrt war, um<br />
ihrem unverheirateten älteren Bruder Lucius Redmond den Haushalt zu<br />
führen, hatte Lady Billington den Kontakt mit ihrer Schwägerin und Nichte<br />
aufrechterhalten und sie zumin<strong>des</strong>t einmal im Jahr besucht.<br />
Nach dem unerwarteten Tod von Veritys Mutter war Lady Billington ein<br />
wenig verletzt gewesen, dass Lucius zu Veritys alleinigem Vormund bestellt<br />
worden war. Da Mr. Redmond Junggeselle war, hatte er sich jedoch<br />
Lady Billingtons wohlmeinenden Rat gebeugt und Verity auf ein ausgezeichnetes<br />
Internat in Bath geschickt.<br />
Als Verity mit sechzehn die Schule verlassen hatte, war der Wildfang<br />
von einst zu einer atemberaubend hübschen jungen Dame erblüht. Sie<br />
hatte nicht nur eine exquisite Figur und zarte, klare Züge, sondern auch<br />
außergewöhnliche tiefblaue Augen, die durch eine Fülle blauschwarzer<br />
Locken noch vorteilhafter zur Geltung kamen. Leider schien sie den Gaben<br />
gegenüber, mit denen die Natur sie so reichlich ausgestattet hatte,<br />
blind zu sein. Abgesehen von gelegentlichen Besuchen bei ihrer Tante in<br />
1
Kent blieb sie in Yorkshire und half ihrem Onkel Lucius in seinem erfolgreichen<br />
Zeitungsverlag.<br />
„Deine harmlose Miene täuscht mich keine Minute, Tante Clara“, brach<br />
Verity das Schweigen. „Du bist eine schlaue Person und weiß genau, dass<br />
ich nicht hier sitzen würde, wenn du nicht gedroht hättest, mir keine von<br />
den pikanten Informationen mehr zukommen zu lassen, die für mich unschätzbar<br />
sind.“<br />
„Du bist ungerecht, mein Kind“, beschwerte Lady Billington sich gekränkt.<br />
„Ich habe dir lediglich geschrieben, dass in London nichts Erwähnenswertes<br />
los sei, weil sich nach der Flucht dieses schrecklichen korsischen<br />
Emporkömmlings die Hälfte der männlichen Mitglieder <strong>des</strong> ton auf<br />
dem Kontinent befindet. Ich war der Ansicht, du solltest mich in die<br />
Hauptstadt begleiten, weil wir gemeinsam vielleicht genügend Informationen<br />
sammeln können, aus denen du einen amüsanten kleinen Bericht<br />
verfassen kannst.“<br />
Verity war zwar nicht überzeugt, zog es in<strong>des</strong> vor, dieses Thema nicht<br />
weiter zu verfolgen. Sie war sich bewusst, dass sie ohne die Hilfe der Tante<br />
nicht imstande gewesen wäre, ihre Artikel für die Zeitung ihres Onkels<br />
zu schreiben.<br />
Er war zuerst strikt dagegen gewesen, weil er sein Journal nicht mit<br />
frivolem Klatsch beflecken wollte, wie er sich ausgedrückt hatte. Doch als<br />
Verity ihn darauf hingewiesen hatte, dass nicht nur Männer Zeitungen<br />
lasen und seine weiblichen Leserinnen es zu schätzen wüssten, wenn<br />
gelegentlich ein Artikel erscheinen würde, der ihre Interessen berücksichtigte,<br />
hatte der Onkel eingelenkt. Da er allerdings ein altmodischer Mann<br />
war und die Meinung vertrat, dass Ladys wie Verity nicht arbeiten sollten,<br />
hatte er ihre Tätigkeit von Anfang an auf einen Beitrag pro Monat beschränkt.<br />
Verity hatte sich damit zufrieden gegeben. Ihre Artikel über Mode, neue<br />
Frisuren und Schönheitsmittel hatten bei den Damen in Yorkshire großen<br />
Anklang gefunden. Am populärsten aber waren ihre Berichte über die<br />
Ereignisse während der Londoner Saison gewesen, für die Lady Billington<br />
sie mit dem nötigen Material versorgt hatte.<br />
„Wenn in London nichts los ist, können wir immer noch auf den Prinzregenten<br />
zurückgreifen“, meinte Verity nach einigem Überlegen. „Er ist<br />
immer für irgendeine Verrücktheit gut. Außerdem bin ich nicht sicher, ob<br />
wirklich alle wichtigen Mitglieder <strong>des</strong> ton das Land verlassen haben.“<br />
Lady Billington überlegte. „Während meines Aufenthalts in Kent habe<br />
ich etwas gehört, das dich interessieren könnte. Es heißt, dass Arthur<br />
Brinleys Enkelsohn dazu bestimmt ist, der nächste Viscount Dartwood zu<br />
werden.“ Als keine Antwort erfolgte, fügte sie hinzu: „Ich weiß, du hast<br />
den alten Mann sehr gern gehabt, kann mich aber nicht erinnern, dass<br />
du je seinen Enkel erwähnt hättest. Du kennst doch bestimmt Major<br />
Carter.“<br />
„Ja, ich kannte ihn“, räumte Verity ein, „habe ihn aber seit min<strong>des</strong>tens<br />
fünf Jahren nicht mehr gesehen.“<br />
Lady Billington studierte das hübsche Gesicht ihrer Nichte. „Gehe ich<br />
recht in der Annahme, dass du den Major nicht magst?“<br />
Verity runzelte die Stirn. Hegte sie tatsächlich eine Abneigung gegen<br />
Arthur Brinleys Enkelsohn, der ihr einmal sehr wehgetan hatte? Aber das<br />
schien unendlich lange her zu sein. Wenn sie während der vergangenen<br />
Jahre überhaupt an ihn gedacht hatte --- und das war nicht sehr oft gewesen<br />
---, dann nur, weil sie in der Zeitung einen Bericht über seine Heldentaten<br />
im Krieg auf der iberischen Halbinsel gelesen hatte.<br />
Verity seufzte tief. „Nein, Tante Clara, das stimmt nicht, obwohl ich ihn<br />
für einen Einfaltspinsel halte.“ Sie zuckte mit den Achseln, bevor sie hinzusetzte:<br />
„Ich sollte wohl besser über ihn reden, da er sich als so tapferer<br />
Soldat erwiesen hat. Außerdem hat er mir früher einmal das Leben gerettet.“<br />
„Gütiger Himmel“, rief Lady Billington. „Was, um alles in der Welt, ist<br />
damals geschehen?“<br />
„Nichts besonders Aufregen<strong>des</strong>“, erwiderte Verity mit einer abwehrenden<br />
Geste. „Ich wäre beinahe ertrunken, wenn Brin nicht in den See gesprungen<br />
wäre und mich gerettet hätte.“<br />
Ihre Tante schauderte. „Das war wohl zu der Zeit, als du dich wie ein<br />
Wildfang benommen hast?“<br />
„Ja, in der Tat“, bestätigte Verity, vom missbilligenden Ton ihrer Tante<br />
völlig unbeeindruckt. „Aber du hast Recht. Dass Brin den Titel erbt, wird<br />
die Damen in Yorkshire brennend interessieren. Man erzählt sich übrigens,<br />
er habe ein Offizierspatent zurückgegeben. Er ist nicht nach Yorkshire<br />
zurückgekehrt, zumin<strong>des</strong>t bis letzte Woche nicht. Ich frage mich, wo<br />
er sich versteckt hat.“<br />
„Er könnte sich in London aufhalten, Liebes. Angeblich geht es seinem<br />
Onkel sehr schlecht. Der schreckliche Kerl hat wirklich alles Menschenmögliche<br />
getan, um seinen Neffen daran zu hindern, in den Besitz <strong>des</strong><br />
Titels zu gelangen. Das ging so weit, dass er dieses arme Kind geheiratet<br />
hat, das jung genug ist, um seine Enkelin zu sein. Aber jetzt sieht es so<br />
aus, als ob der Major bald der neue Viscount Dartwood wäre.“<br />
Verity lachte. „Der gute Brin wird bald feststellen, dass demnächst alle<br />
Mütter von heiratsfähigen Töchtern hinter ihm her sind.“<br />
Lady Billington wollte ihre Nichte gerade wegen dieser spöttischen Bemerkung<br />
tadeln, als ein seltsam splittern<strong>des</strong> Geräusch zu hören war. Im<br />
nächsten Augenblick wurden sie gegen die Seite der Kutsche geworfen,<br />
die zu einem abrupten Stillstand kam.<br />
Die andere Tür wurde geöffnet und der Reitknecht Lady Billingtons<br />
streckte den Kopf herein. „Ist alles in Ordnung, Mylady?“ fragte er.<br />
„Ja, Ridge, uns geht es gut“, versicherte sie, während sie versuchte,<br />
sich wieder aufzurichten, was angesichts der schräg überhängenden Kut-<br />
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sche nicht ganz einfach war. „Was, um alles in der Welt, ist geschehen?“<br />
„Das rechte Vorderrad ist beschädigt und eine der Zugleinen gerissen.<br />
Zum Glück sind wir in Sichtweite von Sittingbourne, Madam. Wenn Sie in<br />
der anderen Kutsche zum Gasthof ‘Crown’ fahren, führen Clem und ich<br />
die Pferde dorthin. Ich werde mich unverzüglich um die Reparatur kümmern,<br />
aber heute werden wir vermutlich nicht mehr weiterfahren können.“<br />
„Wie dumm. Ich wollte eigentlich London heute noch erreichen, um<br />
Lady Swayles Gesellschaft besuchen zu können.“ Sie zuckte die Achseln.<br />
„Nun, daraus wird wohl nichts. Helfen Sie Miss Verity und mir beim Aussteigen.“<br />
Da Verity jung und schlank war, hatte sie beim Verlassen der Kutsche<br />
keine Mühe. Lady Billington, deren Körperumfang im Laufe der Jahre um<br />
einiges zugenommen hatte, fiel das nicht so leicht. Es bedurfte der vereinten<br />
Kräfte ihrer Nichte und <strong>des</strong> Reitknechts, um sie ins Freie zu befördern.<br />
Die zweite Kutsche, die ein paar Yards hinter ihnen angehalten hatte,<br />
war nicht nur hoch beladen --- Lady Billington pflegte niemals mit leichtem<br />
Gepäck zu reisen ---, in ihr saßen auch ihre persönliche Zofe, der<br />
Butler Dodd und zwei der widerwärtigsten Haustiere, die Verity je getroffen<br />
hatte: ein grüner Papagei und ein überfütterter Schoßhund namens<br />
Horace.<br />
Es entstand ein Höllenspektakel, als Verity Horace kurzerhand von<br />
seinem Platz hof und ihn dem entsetzten Butler in die Arme drückte. Der<br />
verhätschelte Pekinese war zutiefst empört darüber, dass man ihn so roh<br />
aus seinem Schlummer geweckt hatte. Er verlieh seiner Entrüstung<br />
durch lautes Kläffen Ausdruck, woraufhin der aufgeschreckte Papagei<br />
ohrenbetäubend zu kreischen begann.<br />
Der Tumult dauerte an, bis sie in den Hof <strong>des</strong> Gasthauses einbogen.<br />
Verity sprang aus der Kutsche, noch ehe der Reitknecht die Stufen hinuntergelassen<br />
hatte. „Das genügt“, erklärte sie. „Ich weigere mich, auch<br />
nur noch eine Meile mit deinen widerwärtigen Kreaturen zu fahren. Warum<br />
du diese lauten Biester mit auf Reisen nimmst, ist mir unbegreiflich.“<br />
„Aber, Liebes, so beruhige dich doch“, sagte Lady Billington beschwichtigend<br />
und folgte ihrer Nichte in den Gasthof. „Ich weiß wirklich nicht,<br />
von wem du dieses heftige Temperament hast. Dein Vater war ein ganz<br />
ruhiger Mann, und ich kann mich nicht erinnern, dass deine Mutter je die<br />
Beherrschung verloren hätte.“ Sie runzelte plötzlich die Stirn. „Aber von<br />
den Harcourts ist bekannt, dass sie schnell aus der Fassung gerieten.<br />
Dein Urgroßvater, der vierte Duke, neigte zu heftigen Wutausbrüchen.<br />
Einige seiner Familienmitglieder waren der Meinung, dass man ihn hätte<br />
ins Irrenhaus sperren müssen.“<br />
Verity bedachte sie mit einem ungnädigen Blick. „Zwischen geistiger<br />
Umnachtung und gerechtfertigtem Ärger besteht ein Unterschied, Tante<br />
Clara. Deine abscheulichen Schoßtiere stellen sogar die Geduld eines Heiligen<br />
auf die Probe. Wenn du mich zwingst, während der restlichen Fahrt<br />
nach London mit den beiden Biestern in der gleichen Kutsche zu sitzen,<br />
garantiere ich für nichts. Ich würde nicht davor zurückschrecken, dem<br />
grünen Federvieh den Hals umzudrehen und den verwöhnten Köter aus<br />
dem Fenster zu werfen.“<br />
Ihre Tante verzichtete klugerweise darauf, ihre Nichte zu belehren,<br />
dass es eine unverzeihliche Grausamkeit wäre, wehrlosen Geschöpfen<br />
etwas anzutun. „Aber Liebes, du kannst doch nicht allein hier bleiben“,<br />
wandte sie statt<strong>des</strong>sen ein.<br />
„Ridge ist bei mir, ich bin also nicht allein“, erwiderte Verity und<br />
sprach schnell weiter, um zu verhindern, dass ihre Tante die gefährliche<br />
Wendung bemerkte, die das Gespräch genommen hatte. „Lass uns eine<br />
Kleinigkeit essen und abwarten, was Ridge uns zu berichten hat. Wenn<br />
wir mit ihm gesprochen haben, entscheiden wir, was wir tun sollen.“<br />
Da Lady Billington einsah, dass das am vernünftigsten war, bestellte<br />
sie beim Wirt eine leichte Mahlzeit, bevor sie und Verity sich in die Kaffeestube<br />
zurückzogen. Dort vertrieben sie sich die Zeit damit, das lebhafte<br />
Treiben in dem viel besuchten Gasthof zu beobachten. Als Ridge endlich<br />
kam, brachte er keine guten Nachrichten. Wie es schien, konnte die Kutsche<br />
erst am nächsten Morgen repariert werden. Er schlug vor, in der<br />
Herberge zu bleiben und die Reise am folgenden Tag nach Beendigung der<br />
Arbeiten fortzusetzen.<br />
Lady Billington war mit diesem Arrangement zufrieden und rief nach<br />
dem Wirt. Doch als Verity verkündete, dass sie ebenfalls übernachten und<br />
am nächsten Tag mit Ridge fahren würde, protestierte ihre Tante empört.<br />
„Es tut mir Leid, Verity, aber das kommt nicht in Frage. Es ist undenkbar,<br />
dass du ohne Zofe hier bleibst. Du wirst mich also begleiten.“<br />
„Nein, nicht zusammen mit den schrecklichen Tieren“, beharrte Verity.<br />
Sie sah das Zucken um Ridges Lippen und –den Ausdruck von Mitgefühl<br />
in seinen Augen, bevor sie sich an den Wirt wandte, der geduldig im Hintergrund<br />
wartete. „Kann man hier eine Kutsche mieten?“<br />
„Normalerweise schon, aber zu dieser Jahreszeit wollen alle Leute zur<br />
Saison nach London, ich habe also keinen Wagen zur Verfügung.“ Er<br />
strich sich über das schüttere Haar. „Vielleicht bekommen Sie ja einen<br />
Platz in der Postkutsche.“<br />
„Du kannst nicht ohne weibliche Gesellschaft reisen“, warf ihre Tante<br />
ein. „Und Dodd kann ich dir nicht überlassen. Sie muss mir heute Abend<br />
beim Ankleiden helfen.“<br />
„Möglicherweise habe ich eine Lösung für Ihr Problem, Madam“, sagte<br />
der Wirt zu Veritys größter Freude --- und zum Entsetzen ihrer Tante.<br />
„Meine Nichte wartet ebenfalls auf die Postkutsche.“ Er deutete auf einen<br />
Ecktisch, an dem eine einzelne junge Frau saß. „Sie stand in Diensten der<br />
verwitweten Lady Longbourne. Die alte Dame ist vor einem Monat gestor-<br />
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en, und meine Nichte will sich jetzt in London eine neue Stellung suchen.“<br />
Lady Billington war nach wie vor nicht gerade glücklich darüber, dass<br />
Verity die Postkutsche benutzen wollte. Doch nachdem sie ein paar Worte<br />
mit der Nichte <strong>des</strong> Gastwirts gewechselt hatte, die eine ruhige Person mit<br />
guten Manieren zu sein schien, stimmte sie zu. Und da der Nachmittag<br />
schon ziemlich weit fortgeschritten war, verlor sie keine Zeit mehr –und<br />
setzte ihre Reise fort.<br />
Nachdem Verity sich von ihrer Tante verabschiedet hatte, setzte sie<br />
sich zu der Nichte <strong>des</strong> Wirts an den Tisch. „Ich denke, ich sollte mich vorstellen,<br />
nachdem Ihnen meine Gesellschaft ja förmlich aufgezwungen<br />
wurde“, sagte sie mit einem freundlichen Lächeln. „Mein Name ist Verity<br />
Harcourt.“<br />
„Margaret Jones, Miss, aber alle nennen mich Meg.“<br />
Verity streifte ihre neue Gefährtin mit einem prüfenden Blick. Sie trug<br />
einen grauen Mantel, dazu einen passenden Hut und wirkte sehr ordentlich.<br />
„Sie wollen sich in der Hauptstadt eine neue Stellung suchen, Meg?“<br />
„Ja, Miss. Meine Schwester lebt in London, und ich kann bei ihr wohnen,<br />
bis ich etwas finde. Die Longbournes haben mir ein Zeugnis ausgestellt.<br />
Ich war Myladys persönliche Zofe, erwarte aber nicht, etwas Ähnliches<br />
zu bekommen. Es gibt viele Mädchen, die mehr Erfahrung haben als<br />
ich. Daher muss ich alles nehmen, was ich bekommen kann.“<br />
Verity überlegte, ob sie ihr eine Stellung anbieten sollte. Im Haus ihres<br />
Onkels hatte es genügend weibliche Dienstboten gegeben, sodass sie es<br />
nie für nötig erachtet hatte, für sich eine erfahrende persönliche Zofe einzustellen.<br />
Allerdings pflegte ihre Tante sie ständig darauf hinzuweisen,<br />
dass das, was in der Wildnis von Yorkshire genügte, in der feinen Gesellschaft<br />
nicht akzeptabel war.<br />
Verity wusste, dass ihre Freiheit in London drastisch beschnitten würde.<br />
Beispielsweise war es strikt verboten, allein auszugehen. Andererseits<br />
hatte sie keine Lust, je<strong>des</strong> Mal Lady Billingtons Personal zu belästigen,<br />
wenn sie den Wunsch nach einem Spaziergang verspürte. Und von Dodd<br />
wäre es zu viel verlangt gewesen, zwei Herrinnen zu dienen, solange sich<br />
Verity in der Stadt aufhielt.<br />
Verity fasste einen schnellen Entschluss. „Würden Sie gern für mich<br />
arbeiten, Meg?“ Sie lächelte, als sie das Erstaunen der jungen Frau bemerkte.<br />
„Ich meine es ernst“, versicherte sie. „Es wird höchste Zeit für<br />
mich, eine eigene Zofe zu haben. Ich muss Sie aber warnen, dass ich den<br />
größten Teil <strong>des</strong> Jahres in Yorkshire wohne. Falls also ein ruhiges<br />
Landleben nicht nach Ihrem Geschmack ist, sollten Sie sich eine andere<br />
Stellung suchen.“<br />
„O nein, Miss, ich bin auf dem Land aufgewachsen, und Lady Longbourne<br />
ist nie weit weggefahren, als ich für sie gearbeitet habe“, beteuerte<br />
Meg, die ihr Glück kaum fassen konnte. „Es ist nur ... Wird die Dame, die<br />
bei Ihnen war, nicht zuerst mit mir sprechen wollen? Ihre Tante, nicht<br />
wahr?“<br />
„Ja, Lady Billington ist meine Tante“, bestätigte Verity. „Doch sie hat<br />
mit der Sache wenig zu tun, obwohl wir die nächsten Wochen in ihrem<br />
Haus verbringen. Mein Vormund ist derjenige, der Ihren Lohn bezahlt,<br />
und er wird sich bestimmt an unsere Abmachung halten.“<br />
„In diesem Fall muss ich mit meinem Onkel reden“, erwiderte Meg. Sie<br />
war kaum aufgestanden, als ein Hornsignal ertönte und die Postkutsche<br />
auf den Hof rollte. „Wenn Sie keinen Platz in der Kutsche bekommen,<br />
muss ich natürlich bei Ihnen bleiben.“<br />
Ein paar Minuten später beobachtete Verity, wie ein hochgewachsener<br />
Mann durch eine Seitentür hereinkam. Ein grauer capeähnlicher Mantel<br />
verhüllte weitgehend seine kräftige Gestalt. Er hatte einen altmodischen<br />
Dreispitz tief in die Stirn gezogen und die untere Gesichtshälfte durch<br />
einen dunklen Wollschal vermummt, sodass nur seine Augen zu sehen<br />
waren. Verity nahm an, dass es sich um den Kutscher handelte, denn er<br />
schaute in ihre Richtung, nachdem er mit dem Wirt und seiner Nichte ein<br />
paar Worte gewechselt hatte. Er blickte sie, wie sie meinte, unnötig lange<br />
an, bevor er nickte und wieder hinauseilte.<br />
Meg kehrte an den Tisch zurück. „Es geht in Ordnung, Miss Harcourt.<br />
Der Kutscher nimmt uns mit. Wir müssen uns aber beeilen, weil er ein<br />
bisschen hinter dem Fahrplan zurück ist.“<br />
Da sie den Reitknecht ihrer Tante nirgendwo entdecken konnte, beauftragte<br />
Verity den Wirt, Ridge von ihrer Abreise zu informieren. Dann ging<br />
sie hinaus auf den Hof.<br />
„Was? Kein Gepäck, Mädchen? Ich hoffe doch, dass ich keiner Ausreißerin<br />
behilflich bin.“<br />
Als Verity erstaunt den Kopf hob, sah sie, dass der Mann auf dem<br />
Bock sie prüfend musterte. Seine hellbraunen Augen funkelten verdächtig,<br />
und sie konnte sich <strong>des</strong> Eindrucks nicht erwehren, er könnte sich<br />
beleidigt fühlen und sie zurücklassen, wies sie ihn nicht zurecht, wie er<br />
das eigentlich verdient hatte. Sie warf lediglich stolz den Kopf zurück,<br />
bevor sie in den etwas dumpf riechenden Wagen kletterte.<br />
Zum Glück war er nicht sehr voll. Eine plumpe Frau mit einem schlafenden<br />
Kind auf dem Schoß, ein Mann in grober Arbeitskleidung, offenbar<br />
ein Bauer, und ein ganz in Schwarz gekleideter Mann in mittleren Jahren<br />
nahmen die eine Polsterbank ein. Verity und Meg die andere. Verity streifte<br />
die anderen Passagiere nur mit einem flüchtigen Blick und wandte sich<br />
dann Meg zu. Sie erzählte ihr vom schönen Haus ihres Onkels und den<br />
Plänen, die ihre Tante und sie sich für die kommende Saison ausgedacht<br />
hatten.<br />
„Nachdem die Dinge in Europa eine so unerwartete Wendung genommen<br />
haben, glaubt meine Tante nicht, dass wir in diesem Jahr in London<br />
eine besonders fröhliche Zeit erleben“, fuhr Verity fort. „Mit ein bisschen<br />
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Glück wird sie gar nicht bis Juni bleiben wollen.“<br />
„Meinen Sie die Tatsache, dass der Emporkömmling von Elba geflohen<br />
ist?“ fragte der schwarzgekleidete Mann. Da er mit einem fremdartigen<br />
Akzent sprach, richteten sich sogleich alle Blicke auf ihn.<br />
„O mein Gott“, rief die dicke Frau und presste das Kind fester an sich.<br />
„Sind Sie etwa einer von diesen heidnischen Franzosen?“<br />
„Nein, Madame, ich bin Schweizer und habe Papiere, die das beweisen.“<br />
Er wühlte in der flachen, hölzernen Schatulle, die auf seinem Schoß<br />
lag. „Und mich haben Geschäfte in Ihr Land geführt.“<br />
„Zweifellos haben Sie Ihre Reise angetreten, bevor Sie von der Flucht<br />
<strong>des</strong> Kaisers erfahren haben. Monsieur.“ Verity amüsierte sich insgeheim<br />
über das unverhohlene Misstrauen der drallen Frau.<br />
„Ja, Mademoiselle, sonst wäre ich gar nicht aufgebrochen. Aber ich<br />
denke nicht, dass ich hier in Gefahr bin“, setzte er hinzu.<br />
„Da haben Sie Recht, Monsieur. Wir können auf Wellington vertrauen,<br />
er wird uns nicht im Stich lassen“, versicherte Verity stolz. Dann wandte<br />
sie sich wieder Meg zu, die anfing, ihre Schüchternheit ihrer neuen und<br />
offenbar freundlichen Herrin gegenüber abzulegen.<br />
Während sie Meile um Meile hinter sich ließen, plauderten Verity und<br />
Meg angeregt miteinander und unterbrachen ihr Gespräch erst, als die<br />
Kutsche ohne ersichtlichen Grund langsamer wurde und dann zum Stillstand<br />
kam.<br />
Der Schweizer warf einen besorgten Blick aus dem Fenster.<br />
„Was mag da los sein, Mademoiselle?“<br />
Sie zuckte gleichgültig die Schultern. Da sie es nicht eilig hatte, London<br />
zu erreichen, kümmerte sie eine mögliche Verzögerung nicht sonderlich.<br />
Als sie von draußen Stimmen hörte, nahm sie an, dass jemand dem<br />
Kutscher signalisiert hatte, anzuhalten, möglicherweise um ihn vor einer<br />
Gefahrenquelle zu warnen. Nach kaum einer Minute setzten sie die Fahrt,<br />
wenn auch in langsamerem Tempo, fort. Nach einigen hundert Metern<br />
blieb die Kutsche im Hof eines kleinen Gasthofes erneut stehen, und der<br />
Begleiter <strong>des</strong> Postillions öffnete den Wagenschlag.<br />
„Eine halbe Meile von hier ist ein Baum auf die Straße gestürzt“, erklärte<br />
er. „Es hat sich dahinter eine Schlange von Fahrzeugen gebildet.<br />
Wir warten hier, bis das Hindernis entfernt worden ist. Der Kutscher sagt,<br />
dass Sie die Zeit dazu nutzen können, etwas zu essen. Anschließend wird<br />
er außer zum Pferdewechsel nicht mehr Station machen.“<br />
„Ein guter Vorschlag“, meinte Verity und ließ sich von dem Mann beim<br />
Aussteigen helfen. „Dafür kann man niemand verantwortlich machen.“<br />
„Gut zu wissen, dass Sie ein vernünftiges Mädchen sind. Vielleicht sind<br />
Sie doch keine Ausreißerin“, ertönte vom Bock wieder die Stimme mit dem<br />
breiten Yorkshire-Dialekt.<br />
Prompt verfehlte Verity die Stufe. Sie blieb mit dem Absatz hängen und<br />
wäre gestürzt, wenn der Kutschenbegleiter sie nicht festgehalten hätte.<br />
„Da sehen Sie, was Sie angerichtet haben“, fauchte sie und betrachtete<br />
den zerrissenen Rocksaum, bevor sie den Kopf hob und den Kutscher<br />
vorwurfsvoll anblickte. „Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie Ihre dummen<br />
Bemerkungen in Zukunft für sich behalten würden.“<br />
Sein lautes, sonores Lachen folgte ihr, während sie mit Meg in den<br />
Gasthof ging. Verity war zwar temperamentvoll, beruhigte sich aber<br />
schnell wieder und pflegte ihren Ärger nur an denjenigen auszulassen, die<br />
sich ihren Zorn zugezogen hatten. Als Meg sich erbot, den Volant festzustecken,<br />
versicherte sie, den Schaden selbst beheben zu können, und bat<br />
sie höflich, sich um den Imbiss zu kümmern.<br />
Außer den Passagieren der Kutsche saß nur noch ein Gast in der<br />
Gaststube, ein mittelgroßer, untersetzter Mann, der einen Krug Ale vor<br />
sich stehen hatte und aus dem Fenster starrte. Da sogar Verity zu sittsam<br />
war, um ihren Unterrock in Gegenwart von Mitgliedern <strong>des</strong> männlichen<br />
Geschlechts zu flicken, schaute sie sich nach einem Ort um, wo sie allein<br />
sein konnte.<br />
Der Gasthof war nur klein, und es schien keinen Privatsalon zu geben.<br />
Als sie jedoch einen Gang entdeckte, der von der Schankstube wegführte,<br />
gelang es ihr, unbemerkt hinauszuschlüpfen. Die erste Tür auf dem Gang<br />
stand halb offen, und Verity spähte ohne zu zögern in das Zimmer. Der<br />
Raum war leer, doch auf dem Tisch befanden sich die Reste einer Mahlzeit.<br />
Vor dem Fenster stand ein Wandschirm. Als sie sich dahinter versteckte,<br />
stellte sie fest, dass er die Zugluft abhalten sollte, die durch das<br />
schlecht schließende Fenster drang.<br />
Verity war mit ihrer Arbeit fertig und vertaute gerade die restlichen<br />
Nadeln in ihrem Retikül, als sie plötzlich Schritte hörte und jemand den<br />
Raum betrat. Sie hatte nie unter Scheu gelitten, sodass es ihr nicht peinlich<br />
gewesen wäre, sich zu zeigen und den verständlichen Grund für ihre<br />
Anwesenheit zu erklären. Warum sie sich dagegen entschied, wusste sie<br />
selbst nicht.<br />
Als sie durch einen Spalt <strong>des</strong> Paravents spähte, erblickte sie einen<br />
Mann, der mit dem Rücken zu ihr vor dem Kamingitter stand. Obwohl sie<br />
sein Gesicht nicht sehen konnte, erkannte sie in ihm ohne Schwierigkeiten<br />
den Gast, der in der Schankstube aus dem Fenster gestarrt hatte. Auf<br />
einmal hörte sie, dass noch jemand hereinkam.<br />
Eine Stimme mit eindeutig fremdartigen Akzent sagte: „Es war klug<br />
von Ihnen, mich hier zu treffen, Monsieur. Woher wussten Sie, dass wir<br />
hier einen ungeplanten Halt einlegen würden?“<br />
„Sie sind nicht der Einzige, der Verstand besitzt“, erwiderte der andere<br />
gereizt. „Ich kam sehr früh an unserem vereinbarten Treffpunkt an und<br />
hörte von dem Baum, der die Straße blockiert. Es lag auf der Hand, dass<br />
der Kutscher in diesem Gasthof Rast machen würde, bis das Hindernis<br />
beseitigt ist. Ich habe am Fenster nach Ihnen Ausschau gehalten und auf<br />
eine Chance gehofft, Ihnen die Botschaft meines Herrn zu übermitteln.“<br />
5
Das Auge an den Spalt im Wandschirm gepresst, hatte Verity den Ausländer,<br />
<strong>des</strong>sen dünne Lippen sich zu einem unangenehmen Lächeln verzogen<br />
hatte, genau im Blickfeld. In der Kutsche hatte sie ihm kaum Beachtung<br />
geschenkt. Jetzt war sie nicht mehr sicher, dass er war, was er<br />
zu sein vorgab. In seinen harten grauen Augen stand ein berechnender<br />
Ausdruck. Aufmerksam lauschte sie seinen Worten.<br />
„Wir haben nur wenig Zeit, und es wäre nicht gut, wenn wir zusammen<br />
gesehen würden. Haben Sie etwas für mich?“<br />
„Jetzt nicht, aber mein Herr wird sich mit Ihnen am Freitagabend um<br />
acht Uhr am gewohnten Ort treffen.“<br />
„Ach ja, ich weiß, im Gasthof von diesem kleinen Ort, diesem kleinen<br />
Frampington. Lietell, lietell Frampington ...“ Der klang dieses Namens<br />
schien ihm zu gefallen. „In Ordnung. Teilen Sie Ihrem Herrn mit, dass ich<br />
dort sein werde. Und erinnern Sie Ihn daran, dass die Sache dringend ist.<br />
Mein geliebter Kaiser benötigt Informationen über Wellingtons Pläne.“<br />
2. Kapitel<br />
Verity war immer stolz auf das blaue Blut der Harcourts gewesen, das<br />
durch ihre Adern floss. Wie in jeder anderen Familie hatte es natürlich<br />
auch schwarze Schafe gegeben. Zum Beispiel der dritte Duke, den man<br />
verdächtigt hatte, seine erste Frau ermordet zu haben, was allerdings nie<br />
hatte bewiesen werden können. Doch sogar die, deren Namen höchstens<br />
im Flüsterton erwähnt wurden, hatten stets loyal zur Krone gestanden.<br />
Drei ihrer Cousins waren in den Konflikt mit Frankreich verwickelt,<br />
und wenn Verity als Junge zur Welt gekommen wäre, hätte sie sich bestimmt<br />
in den Dienst <strong>des</strong> Königs gestellt. Es hatte ihr nie an Mut oder<br />
Risikofreude gemangelt --- eine Tatsache, die ihre Tante manche schlaflose<br />
Nacht gekostet hatte. Lady Billington wäre daher überrascht gewesen,<br />
wenn sie gewusst hätte, dass Verity die Knie zitterten, während sie beobachtete,<br />
wie der Ausländer und sein Komplize den Raum verließen.<br />
Der Kaiser ...? Wellington ...? Die Worte schienen von den Wänden widerzuhallen.<br />
Gütiger Himmel, worüber war sie das gestolpert? Und was,<br />
um alles in der Welt, sollte sie nun tun?<br />
Ihren ersten Impuls, den Ausländer zur Rede zu stellen und ihn dann<br />
den Behörden zu übergeben, verwarf sie wieder. Es bestand die Möglichkeit,<br />
dass man ihr nicht glauben würde. Ihr Wort hätte gegen das seine<br />
gestanden, und zweifellos führte er authentisch aussehende Dokumente<br />
mit sich, aus denen hervorging, dass er der harmlose Schweizer Uhrmacher<br />
war, der er zu sein behauptete. Außerdem war da noch der andere<br />
Mann zu bedenken, der anscheinend nur ein Diener war, der als Bote<br />
fungierte. Doch wenn sie einen direkten Blick auf sein Gesicht werfen und<br />
den Behörden eine genaue Beschreibung liefern könnte, würde dies mög-<br />
licherweise zu seinem Herrn, dem eigentlichen Verräter führen.<br />
Nachdem sie sich ihre weitere Vorgehensweise überlegt hatte, wollte<br />
Verity ihr Versteck verlassen. Diesmal wurde sie durch ein Hausmädchen<br />
daran gehindert, das im Schneckentempo das Geschirr zusammenräumte.<br />
Obwohl sie eigentlich keine Zeit verlieren durfte, musste Verity ausharren.<br />
Es war lebenswichtig, dass niemand von ihrer Anwesenheit in<br />
diesem Raum etwas wusste.<br />
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis das Mädchen mit der Arbeit fertig<br />
war. Gleich darauf eilte Verity auch schon zum Eingang der<br />
Schankstube zurück. Rechts von ihr war die Theke, an der der Kutschenbegleiter<br />
neben dem Passagier stand, der wie ein Farmer wirkte. Die dicke<br />
Frau saß an einem Ecktisch und fütterte ihr Kind mit Suppe. Schließlich<br />
entdeckte Verity auch ihre neue Zofe.<br />
Meg unterhielt sich mit jemand, der sich außerhalb von Veritys Blickfeld<br />
befand. Vermutlich war es der <strong>Spion</strong>, doch darüber war Verity nicht<br />
sonderlich besorgt. Meg ahnte nichts von seinem Wahren Beruf und würde<br />
sich völlig normal benehmen. Von dem Boten war nichts zu sehen.<br />
Verity raffte ihre Röcke und lief den Gang zurück bis zu einer Tür,<br />
durch die man, wie sie vermutet hatte, zu den Ställen gelangte. Der Himmel<br />
war wolkenverhangen, doch es war noch hell genug, um die Außengebäude<br />
deutlich erkennen zu können.<br />
Der Hof schien verlassen zu sein. Das einzige Geräusch verursachten<br />
die Pferde, die sich in ihren Geschirren bewegten. Die Postkutsche stand<br />
nur ein paar Meter vom Eingang <strong>des</strong> Stalles entfernt. Als sie sich etwa auf<br />
gleicher Höhe befand, bemerkte sie an der Rückfront <strong>des</strong> Wagens eine<br />
Bewegung. Bei näherem Hinschauen erkannte sie den Kutscher, der mit<br />
dem Rücken zu ihr auf das freie Land hinausblickte, während er eine Zigarre<br />
rauchte. Er schien sich ihrer Gegenwart nicht bewusst zu sein.<br />
Nachdem sie das letzte Stück auf Zehenspitzen zurückgelegt hatte, stellte<br />
sie enttäuscht fest, dass der große Stall leer war.<br />
„Was tappen Sie hier herum, Mädchen?“<br />
Verity fuhr herum. Der Kutscher stand am Tor und versperrte ihr den<br />
Ausgang. „Bereitet es Ihnen etwa Vergnügen, sich von hinten anzuschleichen<br />
und unschuldige Damen fast zu Tode zu erschrecken?“ erkundigte<br />
sie sich hochmütig.<br />
Er warf den Stummel der Zigarre in eine Pfütze, verschränkte die Arme<br />
vor der Brust und ließ seinen Blick unverschämt an ihr hinunter wandern.<br />
„Allmählich frage ich mich, ob Sie wirklich so unschuldig sind,<br />
Mädchen, und wie es kommt, dass Sie mit der Postkutsche reisen.“<br />
Verity war es gewöhnt, mit Respekt und Höflichkeit behandelt zu werden,<br />
doch dieser Mann schien seinen eigenen Gesetzen zu folgen. Sie wollte<br />
ihn schon empört zurechtweisen, überlegte es sich aber dann anders.<br />
„Wie lange sind Sie schon hier draußen? Und haben Sie zufällig gesehen,<br />
wie ein Mann in einem grauen Mantel ähnlich dem Ihren den Gast-<br />
6
hof verlassen hat?“ fragte sie.<br />
„Ha! Ich hatte also Recht. Sie sind durchgebrannt, und Ihr Liebhaber<br />
hat Sie im Stich gelassen.“<br />
„Seien Sie nicht albern.“ Veritys Geduld war erschöpft. „Ich habe weder<br />
Zeit noch Lust, mich mit Ihnen auf eine Diskussion einzulassen. Beantworten<br />
Sie gefälligst meine Fragen, Sie Tölpel.“<br />
„Ein Tölpel bin ich?“ In seiner nicht unattraktiven tiefen Stimme<br />
schwang unmissverständlich ein scharfer Ton mit. Bevor Verity reagieren<br />
konnte, war er mit drei großen Schritten bei ihr und hob sie mühelos<br />
hoch.<br />
Gleich darauf fand sie sich in einem Heuhaufen wieder. Der Kutscher<br />
lag halb auf ihr und hielt sie mit seinem Körper gefangen. Als Verity, die<br />
weniger ängstlich als schockiert war, mit den Fäusten auf ihn einhämmerte,<br />
packte er ihre Handgelenke und presste diese mit einer seiner großen<br />
Hände über ihrem Kopf ins Stroh. Während er seinen Hut abnahm,<br />
erhaschte sie einen Blick auf sein volles, leicht gewelltes Haar. Dann legte<br />
er ihr die andere Hand über die Augen, sein fester warmer Mund verschloss<br />
den ihren und hinderte sie so daran, ihn weiter zu beschimpfen.<br />
Verity verspürte zum ersten Mal so etwas wie Furcht, weil sie sich an<br />
die strikte Mahnung ihrer Tante erinnerte, sich stets davor zu hüten, mit<br />
einem Mann allein zu sein. Jetzt dämmerte ihr, dass sie gut daran getan<br />
hätte, diese Warnung zu beherzigen. Sie war sich aber auch bewusst,<br />
dass er nur gerade genügend Kraft benutzte, um sie festzuhalten. Ihr Busen<br />
wurde nicht von seiner breiten Brust gedrückt, ihre Handgelenke taten<br />
bei seinem Griff nicht weh, ihre Lippen wurden nicht wund unter der<br />
federleichten Berührung seiner Lippen, die sehr sanft die ihren teilten.<br />
Sie hatte sich nie zuvor in einer derart kompromittierenden Lage befunden.<br />
Niemals hatte sich ein Mann solche Freiheiten bei ihr erlaubt.<br />
Statt in<strong>des</strong> beleidigt und angewidert zu sein, konnte sie nicht verhindern,<br />
dass ihre Lippen als Reaktion auf seinen Kuss einladend bebten. Sein<br />
Mund passte so perfekt auf den ihren, als ob sie eins wären ... Irgendwie<br />
glaubte sie, ihm zu gehören, als wären sie legal miteinander verbunden.<br />
Sie wollte nicht, dass dieses wunderbare Gefühl, bei dem ihr das Blut<br />
heißer durch die Adern floss, jemals endete.<br />
Unvermittelt löste er sich von ihr und verbarg sein Gesicht wieder unter<br />
dem Schal, bevor Verity auch nur die Chance hatte, die Augen zu öffnen.<br />
„Das war eindeutig, Mädchen“, sagte er. „Sie sind noch nie geküsst<br />
worden und haben diese Erfahrung sehr genossen, denke ich.“<br />
Sein Spott brachte Verity jäh in die Realität zurück. Verletzt, gedemütigt<br />
und gleichermaßen wütend, stand sie auf. „Wie können Sie es wagen,<br />
mich wie eine Dirne zu behandeln?“ fuhr sie ihn an, während sie sich<br />
bemühte, die an ihrem Rock haftenden Halme abzustreifen. „Ich werde<br />
mich bei Ihren Vorgesetzten über Sie beschweren.“<br />
Natürlich war ihr klar, dass es sich um eine leere Drohung handelte,<br />
und allem Anschein nach wusste er das ebenfalls. Laut lachend drehte er<br />
sich um und bückte sich, um seinen Dreispitz aufzuheben.<br />
Veritys Augen funkelten gefährlich. Und als sie vor sich etwas sah,<br />
woran sie ihren Rachedurst befriedigen konnte, vermochte sie sich nicht<br />
zu beherrschen. Sie holte mit dem in einem festen Schuh steckenden Fuß<br />
aus und versetzte dem Kutscher einen wohlgezielten Tritt gegen das Hinterteil,<br />
der so kräftig war, dass der Mann vornüber ins Heu stürzte.<br />
„Sie kleine ...! Warten Sie, bis ich sie erwische!“<br />
Verity hatte nicht die Absicht, zu warten. Eine Konfrontation mit diesem<br />
schrecklichen Menschen genügte ihr. Sie verließ den Stall, lief<br />
schnell über den Hof und hielt erst inne, als sie wieder die Schankstube<br />
betrat.<br />
Meg blickte sie besorgt an. „Miss Verity, wo waren Sie? Ich wollte mich<br />
gerade auf die Suche nach Ihnen machen.“<br />
So nonchalant wie möglich setzte Verity sich an den Tisch. „Ich bin<br />
wirklich sehr dankbar, dass Sie sich so um mein Wohlbefinden sorgen,<br />
Meg.“ Sie sprach absichtlich laut, sodass der angebliche Uhrenmacher am<br />
Nebentisch sie hören konnte. „Aber mitunter muss man allein sein. Außerdem<br />
verlangt es die Schicklichkeit, dass man bestimmte Orte allein<br />
aufsucht.“<br />
Die Erklärung schien alle zu befriedigen. Meg wurde feuerrot, und der<br />
Ausländer hüstelte, bevor er nach seinem Weinglas griff.<br />
Es wäre wohl eine gute Gelegenheit gewesen, den Schweizer --- falls er<br />
tatsächlich Schweizer war --- in ein Gespräch zu verwickeln. Aber würde<br />
er nicht misstrauisch werden, wenn Verity plötzlich Interesse an ihm zeigte?<br />
Allerdings fühlte sie sich nach der nervenaufreibenden Episode im<br />
Stall momentan außerstande, scheinbar harmlose Fragen zu stellen. Andererseits<br />
hielt sie es für ihre Pflicht, über den Mann so viel wie möglich<br />
herauszufinden.<br />
Glücklicherweise wurde ihr die Entscheidung durch den Wachmann<br />
abgenommen. Der Begleiter <strong>des</strong> Postillions informierte die Reisenden,<br />
dass der Baum von der Straße geräumt worden wäre, und sie sofort weiterfahren<br />
würden.<br />
Mit gesenktem Blick stieg Verity in den Wagen. Sie spürte, dass der<br />
Kutscher sie beobachtete und sich zweifellos über ihr Unbehagen amüsierte.<br />
Vermutlich trieb er die Pferde nur <strong>des</strong>halb zu einem halsbrecherischen<br />
Tempo an, um ihr die Fahrt so ungemütlich wie möglich zu machen.<br />
Verity klammerte sich an den Haltegurt und wunderte sich, wie die<br />
anderen Reisenden, Meg ausgenommen, bei diesem Gerüttel schlafen<br />
konnten. Selbst der „Uhrmacher“ hatte die Augen geschlossen und so<br />
musste Verity leider darauf verzichten, ihn diskret auszuhorchen. Infolge<strong>des</strong>sen<br />
war sie am Abend bei ihrer Ankunft in London nicht gerade bester<br />
Laune.<br />
7
Sie beauftragte Meg, eine Droschke zu mieten, und wollte gerade den<br />
Hof der Poststation überqueren, als sie merkte, dass sie ihr Retikül vergessen<br />
hatte. Die anderen Passagiere hatten die Kutsche bereits verlassen,<br />
und Verity ärgerte sich maßlos, dass sie ihren Beutel holen musste,<br />
statt den <strong>Spion</strong> im Auge zu behalten. Kaum hatte sie den Fuß auf die oberste<br />
Stufe <strong>des</strong> kleinen Treppchens gesetzt, als ihr jemand die Hand entgegenstreckte,<br />
um ihr beim Aussteigen zu helfen. Es war der dreiste Kutscher!<br />
Nun war es vollends um ihre Beherrschung geschehen.<br />
„Sie sind nicht nur ein ungebildeter Tölpel, sondern auch der schlechteste<br />
Kutscher, der jemals Zügel in der Hand hatte“, schimpfte sie. „Und<br />
jetzt verschwinden Sie endlich!“<br />
Er brach in schallen<strong>des</strong> Gelächter aus. Bevor Verity eine weitere<br />
schneidende Bemerkung formulieren konnte, fasste er sie mit beiden<br />
Händen um die schlanke Taille und hob sie so mühelos aus der Kutsche,<br />
als wäre sie leicht wie eine Feder. „Sie sind zu einem hübschen Ding herangewachsen,<br />
Miss Harcourt, und das gefällt mir gut.“<br />
Als Verity ausholte, wich er geschickt dem Schlag aus, sodass sie ihn<br />
verfehlte. Sie musste sich damit zufrieden geben, mit erhobenem Kopf<br />
über den Hof zu stolzieren. Dabei klang ihr sein Lachen immer noch in<br />
den Ohren.<br />
„Haben Sie gesehen, welchen Weg der Ausländer eingeschlagen hat,<br />
Meg?“ fragte sie, nachdem sie sich vergeblich nach ihm umgeschaut hatte.<br />
„Nein, Miss, ich war damit beschäftigt, einen Wagen zu mieten.“<br />
Da es sinnlos war, auf Londons belebten Straßen nach dem <strong>Spion</strong> zu<br />
suchen, nannte Verity dem Fahrer die Adresse ihrer Tante und kletterte<br />
in die Droschke.<br />
„Dieser schreckliche Kutscher“, sagte sie. „Wenn ich rachsüchtig wäre,<br />
würde ich mich bei seinem Vorgesetzen über ihn beschweren. Haben Sie<br />
gemerkt, wie der Mann mich behandelt hat?“<br />
Meg hatte tatsächlich beobachtet, auf welche Weise man ihrer jungen<br />
Herrin aus der Kutsche geholfen hatte. „Er war ein bisschen frech, Miss“,<br />
räumte sie ein und konnte nur mit Mühe ein Kichern unterdrücken. „Außerdem<br />
war er sehr von Ihnen angetan.“<br />
„So eine Unverschämtheit! Wenn dieser Bursche noch einmal meinen<br />
Weg kreuzt, werde ich ...“ Verity richtete sich plötzlich auf. „Meg, er kannte<br />
mich. Er wusste meinen Namen“, rief sie ungläubig.<br />
„Aber natürlich, Miss, den habe ich ihm im Gasthof meines Onkels genannt.“<br />
„Nein, Meg, ich bin sicher, dass wir uns schon früher begegnet sind. Er<br />
stammt aus Yorkshire. Sein Dialekt war echt.“ Verity überlegte. „Wer<br />
könnte er sein?“<br />
3. Kapitel<br />
Lady Billington pflegte nie im Bett zu frühstücken, wenn sie einen Gast<br />
unter ihrem Dach beherbergte. Doch als sie am folgenden Morgen in den<br />
kleinen Frühstückssalon trat, dann nicht nur, um ihrer Nichte Gesellschaft<br />
zu leisten. Sie beabsichtigte, Verity klarzumachen, dass es sehr<br />
töricht gewesen war, eine Zofe zu engagieren, ohne zuerst deren Referenzen<br />
zu überprüfen.<br />
Verity nahm die in mildem Ton vorgebrachte Kritik mit Gleichmut zur<br />
Kenntnis. „Hast du denn Megs Zeugnis nicht gelesen? Gestern Abend bat<br />
ich sie, es dir zukommen zu lassen. Ich war mir sicher, dass du Lady<br />
Longbourne gekannt hast.“<br />
„Ja, ich kannte sie, wenn auch nicht sehr gut. Und ja, Dodd hat mir<br />
das Zeugnis heute Morgen als Erstes vorgelegt, und es scheint in Ordnung<br />
zu sein“, gab sie zu. „Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass<br />
du dir nicht die Mühe gemacht hast, selbst einen Blick darauf zu werfen,<br />
bevor du dem Mädchen eine Stellung angeboten hast. Du bist einfach zu<br />
impulsiv, Liebes. Ich habe dich gestern wieder besseres Wissen allein zurückgelassen<br />
und Höllenqualen erlitten. Was hätte dir nicht alles passieren<br />
können.“<br />
Etwas ist passiert, dachte Verity, während sie in ein gebuttertes Brötchen<br />
biss. Im Geist durchlebte sie noch einmal den gestrigen Tag, nachdem<br />
sie den Gasthof am Wegrand betreten hatte. Dann redete ihre Tante<br />
weiter, und Verity zwang sich, ihr zuzuhören.<br />
„Vergangene Nacht erfuhr ich von meiner Freundin Louisa Hickox,<br />
dass sich dein Major Carter in London aufhält. Er wohnt in einem Haus<br />
am Berkeley Square, das seinem Freund Marcus Ravenhurst gehört.“<br />
„Er ist nicht mein Major Carter“, protestierte Verity entrüstet.<br />
„Aber Liebes, du weißt doch, wie ich das meine. Angeblich soll er drei<br />
jungen Ladys seine spezielle Aufmerksamkeit schenken. Wie es scheint,<br />
denkt er daran, eine Familie zu gründen. Keine schlechte Sache, wenn er<br />
in den Besitz <strong>des</strong> Titels gelangt, was mit jedem Tag wahrscheinlicher<br />
wird.“<br />
Ohne darauf zu reagieren, erkundigte Verity sich: „Weißt du zufällig,<br />
ob Onkel Charles in der Stadt ist?“<br />
Lady Billington wunderte sich nicht über die plötzliche Frage. Verity<br />
hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass Lord Charles ihr Liebling<br />
unter den männlichen Mitgliedern der Familie Harcourt war.<br />
„Ich denke schon, Liebes. Er verlässt London ja nur sehr selten. Sein<br />
einziges Interesse gilt seiner Karriere.“ Mit einem Achselzucken fuhr sie<br />
fort: „Vermutlich ist es gut, dass er nie geheiratet hat.“<br />
„Heute Morgen scheint dir nur Heiraten im Kopf herumzuspuken, Tante<br />
Clara. Es gibt schlimmere Schicksale, als ungebunden zu bleiben“, behauptete<br />
Verity und stand auf. „Ich werde ihm einen kleinen Besuch abstatten.<br />
Schließlich habe ich ihn seit zwölf Monaten nicht mehr gesehen.“<br />
8
„In Ordnung, Liebes“, erwiderte Lady Billington. „Halte dich aber bitte<br />
nicht zu lange auf. Vergiss nicht, dass wir heute Vormittag einen Termin<br />
bei der Schneiderin haben.“<br />
„Ich bin rechtzeitig zurück“, versprach Verity. „Übrigens ...“, sie blickte<br />
zu dem bequemen Sessel, auf dem der verwöhnte Schoßhund ihrer Tante<br />
vor sich hin döste, „... ich werde Horace mitnehmen. Ein Spaziergang wird<br />
ihm gut tun.“<br />
Lady Billington schaute ihren Liebling mit einiger Besorgnis an. Als sie<br />
aber später beobachtete, wie Verity mit ihrer Zofe das Haus verließ, und<br />
Horace vergnügt neben ihr herlief, schwand ihre Furcht, ihr kostbarer<br />
Pekinese könnte sein Missfallen über den erzwungenen Ausflug durch<br />
einen kleinen Biss in eine Wade bezeugen und seine Tage im schmutzigen<br />
Wasser der Themse beenden.<br />
Lord Charles’ Residenz lag nur einen kurzen Fußmarsch vom eleganten<br />
Stadthaus seiner Schwester in der Curzon Street entfernt. Horace<br />
zeigte sein bestes Benehmen und wartete geduldig, bis ein griesgrämiger<br />
Mann die Tür öffnete, die Besucherin in ihrem eleganten blauen Straßenkleid<br />
mit der dazu passenden Pelisse musterte und verkündete, dass sein<br />
Herr an diesem Morgen niemand empfangen würde.<br />
„Ach ja?“ In Veritys Augen erschien ein stahlharter Ausdruck, den ihre<br />
Tante und ihr Onkel sofort richtig gedeutet hätten. Der Butler hingegen,<br />
der sie nicht kannte, war sehr überrascht, als sie ihn einfach zur Seite<br />
schob und resolut in die Halle marschierte. „Ich bin nicht hier, um meinem<br />
Onkel einen Höflichkeitsbesuch abzustatten. Richten Sie ihm aus,<br />
dass ich ihn in einer dringenden Angelegenheit zu sprechen wünsche und<br />
nur wenige Minuten seiner kostbaren Zeit in Anspruch nehmen werde.“<br />
„Seine Lordschaft hat im Augenblick einen Besucher, Miss. Wenn Sie<br />
bitte im Salon warten wollen“, sagte der Butler und öffnete eine Tür links<br />
in der Halle. „Ich informiere ihn davon, dass Sie hier sind.“<br />
Zu ihrem Erstaunen musste Verity sich kaum eine Minute gedulden,<br />
als auch schon der Butler wiederkam und meldete, dass Seine Lordschaft<br />
sie jetzt empfangen würde. Sie ließ Horace in Megs Obhut zurück und<br />
folgte dem Bediensteten in die Bibliothek, in der ihr Onkel hinter seinem<br />
Schreibtisch saß.<br />
Er erhob sich sofort, eilte ihr entgegen und küsste sie auf die Wange.<br />
„Meine Liebe, je<strong>des</strong> Mal wenn ich dich sehe, bist du noch hübscher geworden“,<br />
sagte er. „Kann ich dir eine Erfrischung anbieten?“<br />
„Nein, danke, Onkel Charles. Ich weiß, dass du sehr beschäftigt bist<br />
und werde dich daher nicht lange aufhalten.“ Stirnrunzelnd schaute Verity<br />
sich um. „Ich dachte, du hättest einen Gast?“<br />
„Nein, meine Liebe, er ist schon gegangen. Und für meine Lieblingsnichte<br />
habe ich immer Zeit.“ Lord Charles führte sie zu einem Sessel neben<br />
dem Schreibtisch, bevor er seinen Platz wieder einnahm. „Clara hat<br />
es also geschafft, dich in die Stadt zu locken. Ich hätte nie gedacht, es zu<br />
erleben, dass du dich je während der Saison in London amüsierst.“<br />
„Sie hat mich überredet, doch ob ich mich amüsiere, bleibt abzuwarten“,<br />
erwiderte Verity. „Wir sind von Tante Claras Haus in Kent hier hergereist.<br />
Und <strong>des</strong>halb möchte ich mit dir reden, Onkel Charles.“<br />
Lord Charles war seit vielen Jahren in der Politik tätig. Er war während<br />
<strong>des</strong> Krieges auf der iberischen Halbinsel viele Male nach Portugal und<br />
Spanien gereist und kannte den Duke of Wellington gut.<br />
„Tante Claras Reisekutsche wurde beschädigt“, erklärte sie, „und da<br />
ich es ablehnte, mit ihr und den Tieren weiterzufahren, benutzte ich die<br />
Postkutsche.“ Nachdem sie ihm haarklein berichtet hatte, was im Nebenzimmer<br />
<strong>des</strong> Gasthauses geschehen war, reagierte er allerdings so gleichgültig,<br />
als hätte sie über die neueste Hutmode geplaudert.<br />
„Das ist recht interessant, meine Liebe, ich glaube aber nicht, dass wir<br />
<strong>des</strong>halb übermäßig besorgt sein müssen.“<br />
Verity traute ihren Ohren kaum. „Hast du eigentlich ein Wort von dem<br />
gehört, was ich gesagt habe, Onkel Charles?“ fragte sie verärgert.<br />
„Natürlich habe ich das. Beruhige dich, Kind“, beschwichtigte er sie.<br />
„Ich werde es an die entsprechende Stelle weiterleiten.“ Er machte eine<br />
abwehrende Handbewegung. „Wir hören ständig Bericht über angebliche<br />
<strong>Spion</strong>e, die sich dann als Unsinn herausstellen. Also zerbrich dir nicht<br />
mehr das hübsche Köpfchen und vergiss das Ganze.“<br />
„Ich verstehe.“ Verity erkannte, dass es keinen Sinn hätte, die Angelegenheit<br />
weiter zu diskutieren, und stand auf. „Es tut mir Leid, dass ich so<br />
viel von deiner kostbaren Zeit in Anspruch genommen habe, Onkel<br />
Charles.“<br />
Klugerweise zog er es vor, den sarkastischen Unterton in ihrer Stimme<br />
zu ignorieren. „Aber keineswegs, Liebes. Ich freue mich immer, dich zu<br />
sehen. Richte deiner Tante aus, dass ich sie bald besuche. Und wenn du<br />
während deines Aufenthaltes in London einen freien Abend hast, erlaubst<br />
du vielleicht deinem alten Onkel, dich ins Theater einzuladen.“<br />
Freundlich lächelnd geleitete er sie zur Vordertür, doch als er in die<br />
Bibliothek zurückkehrte, schwand sein Lächeln, auf seiner Stirn bildeten<br />
sich ein paar steile Falten. Er trat ans Fenster und blickte seiner Nichte<br />
nach, die die Straße entlangging.<br />
„Ich nehme an, dass Sie alles gehört haben.“<br />
Die Tür, die zu einem kleinen Nebengelass führte, wurde geöffnet, und<br />
ein hoch gewachsener Gentleman kam herein. „Ja, das habe ich“, bestätigte<br />
er und setzte sich in den Sessel, den Verity soeben frei gemacht hatte.<br />
„Eine sehr interessante und nützliche Information. Schade, dass Ihre<br />
Nichte den Boten nicht genau sehen konnte, denn mir ist niemand beim<br />
Verlassen <strong>des</strong> Gasthofes aufgefallen. Aber ...“, er zuckte mit den Achseln,<br />
„... ich habe einfach nicht erwartet, dass jemand bei diesem außerplanmäßigen<br />
Halt mit unserem Franzosen Kontakt aufnehmen würde.“<br />
„Es war reiner Zufall, dass Verity das Gespräch belauscht hat, und<br />
9
doch wünschte ich, es wäre nicht passiert.“ Lord Charles wandte sich vom<br />
Fenster ab und schaute den Gentleman an, der es sich in seinem Sessel<br />
bequem gemacht hatte. „Sie haben versäumt, mir mitzuteilen, dass Sie sie<br />
aufgelesen haben, mein Lieber.“<br />
Der junge Mann lächelte reumütig. „Ich hatte die strikte Anweisung,<br />
niemand mitzunehmen, der nicht auf der Passagierliste stand, doch ich<br />
konnte sie schließlich nicht dort zurücklassen. Mir war völlig entfallen,<br />
dass Sie beide verwandt sind.“ Er schüttelte ungläubig den Kopf. „Sie hat<br />
sich sehr verändert. Ich hätte sie fast nicht erkannt.“<br />
Lord Charles nahm wieder seinen Platz hinter dem Schreibtisch ein.<br />
„Mein Erinnerungsvermögen lässt ebenfalls nach. Ich hatte vergessen,<br />
dass Lucius Redmonds Haus in Yorkshire ganz in der Nähe <strong>des</strong> Ihren<br />
liegt.“<br />
„Weniger als drei Meilen entfernt.“<br />
„Wäre es möglich, dass sie Sie erkannt hat?“<br />
„Nein, ganz bestimmt nicht. Als wir uns das letzte Mal sahen, war sie<br />
fast noch ein Kind.“<br />
„Jetzt ist sie kein Kind mehr. Und manchmal kann sie so starrköpfig<br />
wie ein Maultier sein“, murmelte Lord Charles zum Amüsement seines<br />
Besuchers. „Niemand vermag zu sagen, was sie jetzt tun wird ...“<br />
Lord Charles hatte allen Grund, besorgt zu sein. Obwohl sich Verity<br />
weder auf dem Heimweg zur Curzon Street noch später am Vormittag, als<br />
sie ihre Tante zur Schneiderin begleitete, äußerlich etwas anmerken ließ,<br />
ärgerte sie sich über die Gleichgültigkeit, mit der ihr Onkel auf ihre Enthüllungen<br />
reagiert hatte. Sie war sich auch nicht sicher, ob er ihre Informationen<br />
weitergeben, geschweige denn sicherstellen würde, dass etwas<br />
unternommen würde, um den <strong>Spion</strong> und seinen Spießgesellen zu fangen.<br />
Er hatte das Ganze als Bagatelle bezeichnet. Wie konnte sie da Vertrauen<br />
zu ihm haben?<br />
Es lag an ihr, ihn davon zu überzeugen, dass sie keine törichte Frau<br />
war, die Hirngespinsten nachjagte. Doch wie sollte sie das anfangen?<br />
Sie dachte über dieses Problem nach, während sie darauf wartete, dass<br />
Lady Billington sich zwischen einer perlgrauen oder rotbraunen Seide für<br />
ihr neues Kleid entscheiden würde. Plötzlich merkte sie, dass sie von einer<br />
sehr hübschen jungen Lady, die am Fenster saß, beobachtet wurde.<br />
In ihren graugrünen Augen war eine Spur von Belustigung zu lesen. Verity<br />
wollte der unhöflichen Person mit den schlechten Manieren, die sie<br />
ständig anstarrte, gerade einen tadelnden Blick zuwerfen, als sich die<br />
junge Dame erhob und auf sie zukam.<br />
„Irre ich mich, oder sind Sie wirklich Miss Verity Harcourt, die Miss<br />
Tinsdales Internat in Bath besucht hat?“ fragte sie.<br />
„Ja, die bin ich.“ Verity stand auf und betrachtete das Gesicht ihres<br />
Gegenübers näher. „Elizabeth?“ fragte sie unsicher. „Elizabeth Beres-<br />
ford?“<br />
Als die junge Lady nickte, stieß Verity einen wenig damenhaften kleinen<br />
Schrei aus. „Ich hätte dich nie erkannt“, gab sie offen zu. „Du bist so<br />
dünn geworden.“<br />
Weit davon entfernt, beleidigt zu sein, lachte Elizabeth vergnügt. „Und<br />
du hast dich kein bisschen verändert und sagst immer noch, was du<br />
denkst. Das war etwas, was ich immer an dir bewundert habe.“<br />
Verity hielt Elizabeth auf Armeslänge von sich entfernt. Ihre plumpe,<br />
unscheinbare und schüchterne Schulfreundin hatte sich zu einer bezaubernden<br />
jungen Frau entwickelt.<br />
„Wie schön, dich nach all den Jahren wieder zu sehen. Leider haben<br />
wir, nachdem du die Schule verlassen hast, den Kontakt verloren. Ich<br />
habe dir aber geschrieben.“ Verity bemerkte, dass ihre Freundin bei dieser<br />
Information ein wenig die Stirn runzelte. Doch da sich ihnen gerade<br />
ihre Tante näherte, erkundigte sie sich nicht nach dem Grund dafür.<br />
Lady Billington merkte sofort, dass die beiden Mädchen überglücklich<br />
waren, sich nach so langer Zeit wieder zu sehen. Außerdem gewann sie<br />
den Eindruck, dass es sich bei der Freundin ihrer Nichte um eine vernünftige<br />
junge Lady mit guten Manieren handelte. Sie erhob daher keinen<br />
Einwand, als Miss Beresford vorschlug, mit Verity eine kleine Ausfahrt<br />
durch den Hyde Park zu unternehmen und sie anschließend sicher in der<br />
Curzon Street abzuliefern.<br />
Nachdem Verity neben Elizabeth in deren offener Kutsche Platz genommen<br />
hatte, tauschten die beiden Freundinnen zuerst Erinnerungen<br />
an ihre Schulzeit aus, bevor Verity das Thema wechselte und sich erkundigte,<br />
wie Elizabeths Leben seither verlaufen sei.<br />
„Ich dachte, du wärest inzwischen verheiratet“, meinte sie. „Warst du<br />
nicht fast von Geburt an dem Sohn eines Beronet versprochen? Du<br />
schienst doch recht glücklich zu sein ...“ Verity verstummte abrupt, als<br />
sie sah, dass das Gesicht ihrer Freundin einen verschlossenen Ausdruck<br />
annahm. „O Elizabeth, es tut mir Leid. Habe ich etwas Falsches gesagt?“<br />
„Aber nein“, versicherte Elizabeth mit einem Lächeln, das nicht ganz<br />
echt wirkte. „Richard und ich waren in gewisser Weise einander tatsächlich<br />
versprochen. Unsere Väter waren gute Freunde und träumten davon,<br />
ihre beiden Familien durch eine Ehe zu vereinen. Richard hätte wohl den<br />
<strong>Herzens</strong>wunsch seines Vaters erfüllt, ich fühlte mich dazu nicht in der<br />
Lage. Wir hätten nicht zusammengepasst.<br />
Vielleicht erinnerst du dich, dass mein Vater während meines letzten<br />
Schuljahres starb“, fuhr sie fort. „Als ich es ablehnte, Richard zu heiraten,<br />
verschlechterte sich das Verhältnis zu meiner Mutter, das zugegebenermaßen<br />
nie besonders gut gewesen war, derart, dass ich nicht mehr<br />
unter einem Dach mit ihr wohnen konnte. Ich fuhr nach Bristol zu meiner<br />
Großmutter mütterlicherseits. Und das war das Beste, was ich je getan<br />
habe“, setzte sie hinzu.<br />
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Verity blickte ihre Freundin teils erstaunt, teils bewundernd an. Das<br />
empfindsame und scheue Mädchen von einst hatte sich nicht nur äußerlich<br />
völlig verändert. „Lebst du immer noch bei deiner Großmutter?“<br />
„O ja. Bis Ende nächster Woche bleiben wir in London, dann fahren<br />
wir nach Brüssel. Meine Großmutter ist nicht mehr gesund und kann die<br />
Reise nicht allein unternehmen. Einer ihrer Patensöhne dient in der Armee,<br />
und da seine Eltern beide tot sind, hält sie es für ihre Pflicht, in seiner<br />
Nähe zu sein.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich war so töricht zu glauben,<br />
dass Napoleons Verbannung ins Exil dem Ganzen ein Ende machen würde.“<br />
„Leider ist das nicht der Fall. Wie viele Männer werden wohl noch ihr<br />
Leben lassen müssen, und wie viele könnten gerettet werden, wenn ...“<br />
Verity verstummte, schaute ihre Freundin einen Moment forschend an.<br />
Nach kurzem Zögern berichtete sie ihr dann von dem Zwischenfall im<br />
Rasthaus und dem unbefriedigenden Gespräch, das sie am Morgen mit<br />
ihrem Onkel geführt hatte.<br />
Elizabeth beugte sich vor und befahl dem Kutscher anzuhalten, da sie<br />
sich ein wenig die Füße vertreten wolle.<br />
„Und was gedenkst du nun zu tun?“ fragte sie, nachdem sie ein paar<br />
Schritte gegangen waren.<br />
Verity stieß einen erleichterten Seufzer aus. „Dem Himmel sei Dank!<br />
Ich dachte schon, dass mir niemand glauben würde.“<br />
Elizabeth lächelte. „Du warst früher schon eine äußerst starrköpfige<br />
Person, und ich bezweifle, dass du dich geändert hast. Aber du hast nie<br />
gelogen oder fantasiert. Natürlich glaube ich dir. Offenbar ist dein Onkel<br />
ein sehr vorsichtiger Mann und benötigt mehr Beweise für die Existenz<br />
eines Agentenrings, bevor er bereit ist, etwas zu unternehmen. Und diese<br />
Beweise musst du für ihn beschaffen.“<br />
„Ja, aber wie? Außer mich selbst nach Little Frampington zu begeben,<br />
weiß ich nicht, was ich tun könnte.“ Verity entdeckte in den Augen ihrer<br />
Freundin einen Funkeln und blieb abrupt stehen. „Ich kann das Haus<br />
nicht verlassen, ohne meine Tante misstrauisch zu machen. Sie ist keineswegs<br />
so töricht, wie sie manchmal wirkt.“<br />
„In dieser Beziehung könnte ich dir helfen“, verkündete Elizabeth zu<br />
Veritys Erstaunen. „Meine Großmutter gibt Freitagabend eine Dinnerparty,<br />
zu der du eingeladen wirst. Deine Tante wird sich nichts dabei denken.<br />
Schließlich hat sie selbst gesehen, wie sehr wir uns über unser Zusammentreffen<br />
gefreut haben. Ich schicke dir eine Kutsche, die dich abholt.<br />
Du kannst dich im Haus meiner Großmutter umziehen und dich dann<br />
auf den Weg machen.“<br />
„Mich umziehen?“ wiederholte Verity verblüfft.<br />
„Du kannst in Abendtoilette keinen Gasthof aufsuchen, ohne sofort<br />
aufzufallen. Daher musst du dich als Junge verkleiden. Ich werde passende<br />
Sachen für dich besorgen und ein Pferd mieten.“<br />
„Du bist ein Schatz, Elizabeth“, sagte Verity respektvoll. „Daran hätte<br />
ich nie gedacht. Als Junge verkleidet ... Ja, das ist die perfekte Lösung<br />
<strong>des</strong> Problems.“<br />
„Du vergisst, dass ich in dieser Beziehung eine gewisse Erfahrung habe.<br />
Wie hätte ich es sonst vor sechs Jahren schaffen sollen, aus dem<br />
Haus meiner Mutter wegzulaufen? Ich muss allerdings zugeben, dass ich<br />
Aggie bei mir hatte.“<br />
„Aggie?“ fragte Verity.<br />
„Sie war früher mein Kindermädchen und ist jetzt meine persönliche<br />
Zofe. Sie tut alles für mich. Ich werde veranlassen, dass sie dich Freitagabend<br />
an der Straßenecke erwartet und durch die Hintertür ins Haus<br />
bringt. Nachdem du dich umgezogen hast, begleitet sie dich in die Gasse,<br />
wo du ein gesatteltes Pferd finden wirst. Aggie wird auch bei deiner Rückkehr<br />
nach dir Ausschau halten.“<br />
„Gütiger Himmel, Elizabeth, du lässt mir nicht zu tun übrig.“<br />
„Nichts, außer dass du dein Leben aufs Spiel setzt, Verity.“ Elizabeth<br />
blickte besorgt drein. „Ich wünschte, ich könnte dich begleiten.“<br />
Verity drückte beruhigend ihren Arm. „Ich denke, es ist besser, wenn<br />
ich allein bin. Jetzt muss ich nur noch herausfinden, wo genau dieses<br />
Little Frampington liegt. Hoffentlich in der Nähe Londons, sodass man es<br />
zu Pferd erreichen kann. Andernfalls ist unser Plan hinfällig.“<br />
„Wir haben zu Hause Landkarten. Komm mit mir, dann können wir alles<br />
bis ins Detail besprechen“, schlug Elizabeth vor. „Dich nach so vielen<br />
Jahren wieder zu sehen, ist wunderbar. Ich hoffe nur, nicht bedauern zu<br />
müssen, dass wir uns getroffen haben. Diese Leute sind gefährlich. Pass<br />
gut auf dich auf, Verity.“<br />
4. Kapitel<br />
Elizabeths Landkarte zufolge schien der Ort, wo Verity auf den <strong>Spion</strong><br />
und seine Spießgesellen warten wollte, etwa eine Reitstunde von London<br />
entfernt zu liegen.<br />
Am Freitagabend verlief alles nach Plan. Zum Glück war es draußen<br />
nicht zu kühl. Auch das gemietete Pferd erwies sich als ein kräftiges und<br />
verlässliches Tier. Verity fühlte sich in ihrer Jungenkleidung nicht besonders<br />
wohl. Es kostete sie außerdem einige Zeit, sich an das Reiten im Herrensitz<br />
zu gewöhnen, nachdem sie jahrelang nur im Damensattel gesessen<br />
hatte. Trotzdem gelangte sie rechtzeitig nach Little Frampington.<br />
Sie brachte ihr Pferd in der Mitte einer schmalen Straße zum Stehen<br />
und schaute sich ängstlich um. Zum ersten Mal befielen sie Zweifel. Der<br />
Ort bestand nur aus einem Dutzend Häusern, die alle dringend der Renovierung<br />
bedurften. Es gab nicht einmal eine Kirche. Der Gasthof war das<br />
baufälligste Gebäude von allen. Auf dem Dach fehlten Ziegel, und es gab<br />
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nicht ein Fenster ohne zerbrochene Scheibe.<br />
Verity hatte sich nicht überlegt, wie sie nun vorgehen sollte. Sie scheute<br />
davor zurück, das Haus zu betreten. Elizabeth hatte sie nicht umsonst<br />
während der vergangenen Tage mehrfach beschworen, vorsichtig zu sein.<br />
Verity konnte also bestenfalls darauf hoffen, zu beobachten, wer zu dem<br />
Treffen erschien, und Onkel Charles eine genaue Beschreibung der Männer<br />
liefern.<br />
Sie saß ab und führte das Pferd in den Stall, der in einem etwas besseren<br />
Zustand war als die Taverne. Zu ihrem Erstaunen entdeckte sie ein<br />
perfekt zusammenpassen<strong>des</strong> Grauschimmelpaar, das noch vor einen<br />
sportlichen Curricle gespannt war. Eines der wunderbaren Pferde wieherte,<br />
und als sie mit der Hand über seinen Hals strich, ertastete sie unter<br />
der Mähne ein rautenförmiges Mal.<br />
„Was machst du da?“ Verity fuhr erschrocken herum und entdeckte<br />
einen grobschlächtigen Mann, der am Ende <strong>des</strong> Stalles auf einem Hocker<br />
saß. Er war damit beschäftigt, mit einem gefährlich aussehenden Messer<br />
an einem Stück Holz herumzuschnitzen, und blickte sie misstrauisch an.<br />
„Gar nichts“, versicherte sie mit etwas tieferer Stimme, weil sie sich im<br />
letzten Augenblick an ihre Rolle als Junge erinnerte.<br />
„Geh von den Pferden weg. Ich werde dafür bezahlt, auf sie aufzupassen.“<br />
Der Mann nahm seine Schnitzerei wieder auf. „Was hast du überhaupt<br />
hier zu suchen?“ fragte er. „Du bist doch nicht aus dieser Gegend.“<br />
„Nein, aber ich soll hier jemand treffen.“<br />
„Wen denn?“<br />
„Meinen Onkel.“<br />
„Ach ja, und wie heißt er?“<br />
„Septimus Watts.“ Verity hoffte, Lady Billingtons pedantischer Butler<br />
möge ihr verzeihen, dass sie sich seines Namens bediente.<br />
„Ich habe noch nie von ihm gehört.“<br />
„Mag sein, aber trotzdem hat er mich gebeten, ihn hier vor dem Gasthof<br />
in Little Frampington zu treffen.“<br />
„Er lachte schallend. „Dann machst du dich am besten schnell auf den<br />
Weg, Du Dummkopf. Little Frampington liegt eine Meile weiter die Straße<br />
hinunter.“<br />
Verity starrte ihn fassungslos an. „Aber ich habe doch das Schild an<br />
der Kreuzung gesehen.“<br />
„Nein, dies ist Frampington. Ich sollte es wissen. Schließlich lebe ich<br />
schon mein ganzes Leben lang hier.“<br />
Verity hatte keinen Grund, an seiner Aussage zu zweifeln. Warum hätte<br />
der Mann sie belügen sollen? Ohne sich zu verabschieden --- vermutlich<br />
legte er darauf ohnehin keinen Wert ---, führte sie ihr Pferd aus dem<br />
Stall. Sie hätte schwören mögen, dass auf Elizabeths Karte keine zwei<br />
Frampington verzeichnet gewesen waren. Anscheinend war dieser Ort zu<br />
unbedeutend, um erwähnt zu werden.<br />
Um keine weitere Zeit zu verlieren, lenkte sie sofort ihr Pferd aus dem<br />
Hof auf die schmale Straße. Sie hatte London für den Fall, sie könnte irgendwo<br />
einen falschen Weg wählen, früh verlassen. Da sie annahm, dass<br />
es inzwischen fast acht Uhr sein musste, bohrte sie ihrem Pferd die Hacken<br />
in die Flanken, jedoch ohne Erfolg. Der Wallach war zwar ruhig und<br />
verlässlich, hielt aber nichts von einem schnellen Tempo. Die Kirchturmuhr<br />
hatte gerade die volle Stunde geschlagen, als sie Little Frampington<br />
erreichte --- das im Gegensatz zu seinem Namen um einiges größer war<br />
als das Dorf, das sie gerade hinter sich gelassen hatte.<br />
Nachdem sie den Gasthof, der gegenüber der Kirche lag, ohne Schwierigkeiten<br />
gefunden hatte, saß sie ab, führte das Pferd in den Stall und<br />
seufzte erleichtert auf, als sie einen mächtigen Rotbraunen entdeckte, der<br />
zufrieden an einem Haufen Heu zupfte. Falls der <strong>Spion</strong> und seine Kumpane<br />
nicht zu Fuß gekommen waren, waren sie noch nicht eingetroffen.<br />
Der Gasthof mit den weiß getünchten Mauern und dem sauber gedeckten<br />
Dach wirkte gepflegt; genau wie die Innenräume, wie Verity beim Betreten<br />
der Schankstube feststellte. Im Kamin brannte ein helles Feuer,<br />
und der graue Steinboden war sauber geputzt.<br />
Sie ging zur Theke, hinter der eine junge Frau in einer fleckenlosen<br />
weißen Schürze stand, und betrachtete die anderen Gäste an den Tischen.<br />
Alle erweckten den Eindruck, Arbeiter zu sein, die sich nach einem<br />
harten Tage etwas Erholung gönnten. Man konnte sich schwer vorstellen,<br />
dass es sich bei einem von ihnen um den Komplizen <strong>des</strong> <strong>Spion</strong>s handelte.<br />
Andererseits stammte ein Gast, dem Pferd im Stall nach zu schließen,<br />
nicht aus dieser Gegend.<br />
„Was kann ich Ihnen bringen, junger Herr?“<br />
Verity, die ihr wahres Geschlecht beinahe verraten hätte, indem sie ein<br />
Glas Limonade bestellte, verlangte einen Krug Ale. Tapfer trank sie einen<br />
Schluck von dem, wie sie fand, widerwärtigen Gebräu und lehnte sich<br />
lächelnd gegen den Tresen.<br />
„Sie haben einen schönen Gasthof“, stellte sie fest.<br />
„Vielen Dank, Sir, meine Ma und mein Pa achten darauf, dass alles<br />
sauber und ordentlich ist.“<br />
Sie ist also die Tochter <strong>des</strong> Gastwirts, dachte Verity. „Ja, es ist hier<br />
schöner als in den meisten anderen Poststationen, die ich gesehen habe“,<br />
erwiderte sie. „Vermieten Sie auch Zimmer?“<br />
„Ja, Sir, aber sie werden selten benutzt. Da wir nicht an der Hauptstraße<br />
liegen, kommen hier kaum je Reisende vorbei.“ Sie ließ den Blick<br />
über die Gäste schweifen. „Ein Gentleman hat vorhin nach einem Zimmer<br />
gefragt. Ich sehe ihn jetzt nicht. Hat wohl sein Dinner beendet und ist<br />
nach oben gegangen.“<br />
Verity riskierte einen zweiten Schluck Ale. Das war interessant. War<br />
das nun ein harmloser Reisender oder der verräterische Bursche, der sich<br />
mit dem <strong>Spion</strong> verabredet hatte? „Meine Tante reist sehr viel über Land“,<br />
12
erzählte sie. „Sie mag keine lauten Gasthöfe und zieht ein ruhiges Haus<br />
wie dieses vor. Haben Sie auch einen Privatsalon? Sie wäre nie damit einverstanden,<br />
in einer öffentlichen Schankstube zu essen.“<br />
„Ja, Sir, oben. Ich würde Ihnen den Raum gern zeigen, aber ist für den<br />
Abend reserviert, und die Gentlemen werden bald eintreffen. Sie pflegen<br />
den Raum regelmäßig zu mieten.“<br />
Verity fand, das das Ale mit jedem Schluck besser schmeckte. Sie beobachtete<br />
die Wirtstochter, die die anderen Gäste bediente, und beschloss,<br />
Onkel Charles gleich am nächsten Morgen über das soeben Gehörte zu<br />
unterrichten. Es war wichtig, hier eine Wache zu postieren, obwohl möglicherweise<br />
einige Zeit bis zur nächsten Zusammenkunft der Schurken<br />
vergehen würde. Und das heutige Treffen?<br />
Verity hatte sich in den Fall geradezu verbissen. Ihr Onkel hatte sie<br />
nicht ernst genommen, doch nach der nächtlichen Eskapade würde sich<br />
das ändern, <strong>des</strong>sen war sie sicher. Wenn sie blieb, wo sie war, konnte sie<br />
zwar sehen, wer nach oben ging, aber sie war entschlossen, mehr herauszufinden.<br />
Diese Männer trafen sich aus einem bestimmten Grund hier,<br />
vermutlich um wichtige Informationen auszutauschen. Verity wollte genau<br />
wissen, worum es ging, und die einzige Möglichkeit, dies zu erreichen,<br />
bestand darin, sich im Privatsalon im oberen Stockwerk zu verstecken.<br />
Sie ging auf eine Tür zu, die halb offen stand. Nachdem sie sich durch<br />
einen kurzen Blick vergewissert hatte, dass niemand in ihre Richtung<br />
schaute, schlüpfte sie hinaus und stand in einem kleinen Vorraum mit<br />
einer Treppe, die nach oben führte.<br />
Verity schlich langsam die Stufen hinauf und gelangte zu einem<br />
schlecht beleuchteten Korridor mit mehreren Türen zu beiden Seiten. Als<br />
sie die ersten zwei Türen vorsichtig öffnete, entdeckte sie dahinter lediglich<br />
kleine und saubere Schlafzimmer. Erst die dritte Tür führte in den<br />
Raum, den sie gesucht hatte. Die Vorhänge waren zugezogen, und in den<br />
Leuchtern brannten Kerzen, die ein warmes Licht verbreiteten. Auf dem<br />
Tisch standen Flaschen und Gläser. Was fehlte, war ein Wandschirm,<br />
hinter dem sie sich verstecken konnte.<br />
Enttäuscht, aber keineswegs entmutigt, zog sich Verity wieder zurück.<br />
Dann bemerkte sie auf der anderen Seite <strong>des</strong> Korridors eine Tür, die einen<br />
Spalt breit offen stand. Von dort aus würde sie jeden sehen, der in den<br />
Salon ging, und konnte, sobald der <strong>Spion</strong> und seine Kumpane eingetroffen<br />
waren, ihr Ohr an die Tür legen und mit ein bisschen Glück die Unterhaltung<br />
belauschen. Auch wenn es sich bei dem leeren Zimmer vielleicht<br />
um das der Wirtsleute oder deren Tochter handelte, war nicht anzunehmen,<br />
dass sie heraufkommen würden, bevor der letzte Gast gegangen<br />
war.<br />
Verity schob sich langsam in den Raum. Die Vorhänge waren geschlossen,<br />
um das schnell schwindende Licht <strong>des</strong> Abends auszuschließen. Als<br />
sie an der Wand ein unbenutztes Bett erkannte, atmete sie erleichtert auf,<br />
doch gleich darauf bemerkte sie eine schnelle Bewegung.<br />
Ehe sie wusste, was ihr geschah, umfasste jemand mit eisernem Griff<br />
ihre Taille und presste ihr die Hand auf den Mund, um sie am Schreien<br />
zu hindern. Gütiger Himmel, der Gast! Verity hatte ihn vollkommen vergessen.<br />
Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, als der Mann mit dem Fuß die Tür<br />
zustieß. Die Wärme seines starken Körpers drang durch ihre Kleidung,<br />
während sie heftig strampelte, um sich aus der Umklammerung zu befreien.<br />
Ihre Bemühungen waren in<strong>des</strong> vergebens. Der Arm, der um ihre Taille<br />
lag, bewegte sich nicht. Und mit der Hand, die ihren Mund verschloss,<br />
drückte er ihren Kopf an seine muskulöse Brust. Als er schließlich den<br />
eisernen Griff löste und ihr den zerbeulten Hut vom Kopf nahm, fielen ihr<br />
die schwarzen Locken offen über die Schultern.<br />
„Dachte ich mir’s doch“, sagte eine vage vertraute Stimme.<br />
Verity war allerdings nicht in der richtigen Stimmung, sich über die Identität<br />
<strong>des</strong> Mannes, <strong>des</strong>sen Gefangene sie war, Gedanken zu machen.<br />
Sie hatte Angst vor dem, was er als Nächstes tun würde. Als sie spürte,<br />
dass sich die Finger vor ihrem Mund ein wenig lockerten, nutzte sie sofort<br />
diese Chance. Blitzschnell bohrte sie ihre Zähe in seinen Daumen. Er<br />
stieß einen unterdrückten Fluch aus, als sie einen Satz zur Tür machte.<br />
Doch gleich darauf hielt er sie wieder fest und hob sie von den Füßen.<br />
So mühelos, als wäre sie eine Feder, trug er sie zum Bett und setzte<br />
sich hin. Und bevor Verity ein Wort <strong>des</strong> Protestes äußern konnte, legte er<br />
sie sich über die Knie. Ihr empörtes Quietschen verwandelte sich in<br />
Schmerzensschreie, als er ihr mit der flachen Hand ein halbes Dutzend<br />
kräftige Schläge auf das Hinterteil versetzte, bevor er sie von sich schob<br />
und sie unsanft auf dem Boden landete.<br />
Niemand, nicht einmal ihr Vater, war ihr gegenüber jemals handgreiflich<br />
geworden. Ihre Furcht war plötzlich verschwunden. Sie strich sich<br />
das wirre Haar aus der Stirn und blickte zu dem barbarischen Scheusal<br />
auf, das es gewagt hatte, sie derart zu malträtieren. Durch die Tränen<br />
hindurch sah sie einen Dreispitz, der tief in die Stirn gezogen war, ein<br />
halb hinter einem Schal verborgenes Gesicht, eine kräftige Gestalt, die<br />
durch einen dunkelgrauen Umhang verhüllt wurde.<br />
„Sie sind das!“ Verity traute ihren Augen kaum.<br />
„Ja, Mädchen, und Sie können von Glück sagen, dass ich es bin und<br />
nicht der kleine Franzose oder einer seiner Freunde. Dann würden Sie<br />
nämlich nicht nur über ein schmerzen<strong>des</strong> Hinterteil weinen“, erwiderte<br />
der Kutscher mit brutaler Offenheit. „Und putzen Sie sich ja nicht die<br />
Nase an meinem Ärmel.“<br />
Als sie „Ich habe kein Taschentuch“ murmelte, reichte er ihr seines.<br />
Nachdem sie sich geschnäuzt und auch noch die Augen getrocknet hatte,<br />
wollte sie es ihm zurückgeben.<br />
13
Der Mann betrachtete angewidert das feuchte Knäuel. „Nein behalten<br />
Sie das Tuch. Es soll Sie daran erinnern, nie wieder etwas so Törichtes zu<br />
tun.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Sie glauben doch wohl<br />
nicht, dass diese Verkleidung irgendjemand täuschen kann. Für einen<br />
Jungen sind Sie viel zu hübsch.“<br />
Ohne das Kompliment zu beachten, warf sie ihm unter den feuchten<br />
Wimpern einen wütenden Blick zu. „Was hätte ich sonst tun sollen?<br />
Schließlich konnte ich nicht im Unterrock herkommen.“<br />
„Sie sollten gar nicht hier sein.“<br />
„Das wäre ich auch nicht, wenn ich geglaubt hätte, mein Onkel würde<br />
auf Grund meiner Informationen handeln.“ Sie stand auf und entfernte<br />
sich ein paar Schritte. „Und was tun Sie hier?“ Ihre Neugier hatte über<br />
den Ärger gesiegt. „Haben Sie lediglich den Kutscher gespielt, um ein Auge<br />
auf den Schweizer zu haben?“<br />
„Ja, nur dass er kein Schweizer ist, Mädchen, sondern Franzose und<br />
zudem einer von Napoleons besten Agenten.“<br />
„Arbeiten Sie für Lord Charles?“<br />
„Sagen wir lieber, ich arbeite momentan mit ihm zusammen. Und es<br />
hilft unserem Fall, wenn die Informationen, die wir erhalten, genau sind.<br />
Dieses Treffen findet übrigens um neun und nicht um acht statt, wie Sie<br />
behauptet haben. Das hat mir die Wirtin freundlicherweise mitgeteilt.“<br />
Verity runzelte die Stirn. Sie hätte schwören mögen, dass es acht Uhr<br />
geheißen hatte. „Ich habe auch etwas erfahren“, berichtete sie, um zu<br />
beweisen, dass ihre Anwesenheit keine Zeitverschwendung war. „Die Leute<br />
haben sich schon öfter hier verabredet. Es wäre vielleicht sinnvoll, eine<br />
Wache aufzustellen.“ Sie bückte sich und hob ihre Kappe auf, die er auf<br />
den Boden geworfen hatte. „Da Sie jetzt hier sind, kann ich ja wieder nach<br />
London zurückreiten.“<br />
„O nein, Mädchen.“ Er versperrte ihr den Weg zur Tür. „Sie bleiben bei<br />
mir. Ich werde Sie in die Stadt zurückbegleiten, sobald unsere Freunde<br />
gegangen sind.“ Er klopfte neben sich auf das Bett. „Setzen Sie sich, und<br />
machen Sie es sich bequem. Vielleicht müssen wir lange warten.“<br />
„Bequem sitzen?“ Der vernichtende Blick, den sie ihm zuwarf, hätte jeden<br />
anderen eingeschüchtert. „Sie haben doch dafür gesorgt, dass ich<br />
dazu geraume Zeit nicht in der Lage sein werde.“<br />
„Das hatten Sie verdient“, lautete seine lakonischen Antwort. „Sie sind<br />
ein halsstarriges und verwöhntes Mädchen, das stets seinen Willen<br />
durchsetzen will und das leider meistens auch schafft. Wenn Redmond<br />
Sie vor Jahren besser erzogen hätte, wären mir diese Schwierigkeiten erspart<br />
geblieben.“ Er musterte sie von Kopf bis Fuß. „Und ich bezweifle,<br />
dass es damit ein Ende hat.“<br />
Verity unterdrückte die ärgerliche Erwiderung, die ihr schon auf der<br />
Zunge lag, als ihr ein neuer Gedanke kam. „Sie kennen meinen Onkel<br />
Lucius, nicht wahr? Und wir haben uns schon früher getroffen. Wer sind<br />
Sie?“<br />
„Ja, ich kenne ihn, und Sie habe ich in Yorkshire gesehen. Wer ich<br />
bin? Es ist besser, wenn Sie das zur Zeit noch nicht wissen, Mädchen. Ich<br />
bin einfach ... der Kutscher.“<br />
Verity war damit keineswegs zufrieden. Bevor sie jedoch weiter in ihn<br />
dringen konnte, hörte sie vom Treppenabsatz her Geräusche, gefolgt vom<br />
Klang jovialer Stimmen. Der Kutscher legte warnend einen Finger vor den<br />
Mund, als er sich vom Bett erhob. Trotz seiner Größe bewegte er sich ungeheuer<br />
leichtfüßig. Er wartete einen Moment und lauschte, bevor er die<br />
Tür ein wenig öffnete und hinausspähte. Die Stimmen waren jetzt deutlich<br />
zu hören, doch in keiner schwang ein ausländischer Akzent mit.<br />
Nachdem sich die Tür <strong>des</strong> Privatsalons geschlossen hatte, blickte der Kutscher<br />
Verity mit einem seltsamen Funkeln in den Augen an.<br />
„Falls Sie mich den ganzen Weg umsonst hier herausgeschleppt haben,<br />
Mädchen, werde ich ...“<br />
„Was stimmt denn nicht?“ unterbrach sie ihn. „War der Franzose nicht<br />
dabei?“<br />
„Nein, das war er nicht. Ich gehe jetzt dort hinein. Und nur für den<br />
Fall, dass Sie daran denken, zu verschwinden, schließe ich Sie jetzt ein“,<br />
setzte er hinzu. Bevor sie protestieren konnte, war er schon draußen, und<br />
der Schlüssel drehte sich im Schloss.<br />
Verity kochte vor Zorn. Am liebsten hätte sie mit den Fäusten gegen<br />
die Tür gehämmert und aus Leibeskräften geschrien, doch dadurch hätte<br />
sie womöglich die Männer im Zimmer gegenüber gewarnt. Außerdem traute<br />
sie dem Kutscher zu, dass er zurückkehren und sie erneut so brutal<br />
behandeln würde wie vorhin.<br />
Sie wollte sich gerade wieder auf das Bett setzen, als ihr Blick auf die<br />
geblümten Vorhänge fiel. Sie zog die Gardinen zurück und sah, dass das<br />
Fenster groß genug war, um hinauszuklettern. Zum Glück ließ sich der<br />
einzelne Flügel, unter dem sich direkt das abfallende Dach befand, leicht<br />
öffnen. Sie stopfte die Haare unter die Kappe und kletterte auf den Sims.<br />
Nachdem sie vorsichtig über die Ziegel gelaufen war, ließ sie sich an der<br />
Dachkante hinunter und landete dank eines unter der Regentraufe stehenden<br />
Fasses mühelos auf dem Boden.<br />
Sie war erst ein paar Schritte in Richtung Stall gelaufen, als hinter ihr<br />
eine Tür geöffnet wurde. Beim Anblick er Person, die aus dem Haus kam,<br />
atmete Verity erleichtert auf.<br />
„Sie sind es, junger Herr. Ich dachte, Sie wären schon fort“, sagte die<br />
Wirtstochter und schloss sich ihr an. „Ich bin auf dem Weg zu einer alten<br />
Frau, der ich einen Korb mit Esswaren bringe.“<br />
„Und ich bin im Begriff wegzureiten“, erwiderte Verity. „Ich habe einen<br />
kleinen Spaziergang durch Ihr Dorf unternommen und bin sicher, dass<br />
meine Tante hier gern einmal übernachten wird.“<br />
„Ja, unser Haus ist hübsch ruhig, Sir. Es tut mir Leid, dass ich Ihnen<br />
14
den Privatsalon nicht zeigen konnte, aber der alte Colonel Hanbury ist ein<br />
merkwürdiger Kauz. Es würde ihm nicht gefallen, jemand in dem Raum<br />
vorzufinden, den er gemietet hat.“<br />
„Colonel Hanbury?“ wiederholte Verity.<br />
Das Mädchen lachte. „Es soll zwar ein Geheimnis bleiben, doch jedermann<br />
in der Umgebung weiß Bescheid“, erklärte sie. „Außer den Ehefrauen<br />
natürlich, die das Kartenspiel missbilligen. Der Colonel, der Vikar und<br />
der alte Doktor pflegen sich daher hier zweimal im Monat heimlich zu<br />
treffen, um ihrer Leidenschaft zu frönen.“<br />
Verity stöhnte innerlich auf. Sobald der Kutscher die wahre Identität<br />
der drei Personen herausfand, würde er unweigerlich glauben, dass sie<br />
ihn ins Blaue geschickt hatte. Und wie sollte sie das Gegenteil beweisen?<br />
Je schneller sie sich entfernte, <strong>des</strong>to besser.<br />
Nach ein paar hastigen Abschiedsworten an die Wirtstochter holte Verity<br />
das Pferd aus dem Stall. Rasch schwang sie sich in den Sattel und<br />
stieß einen leisen Schmerzenslaut aus. Der Ritt nach London war unbequem<br />
und nervenaufreibend. Je<strong>des</strong> Mal wenn sie Hufgetrappel hörte und<br />
über ihre Schulter zurückblickte, erwartete sie, den Kutscher zu sehen,<br />
der sie wie ein Racheengel mit wehendem Mantel verfolgte. Erst als sie die<br />
Stadt erreichte und sich auf den um diese nächtliche Stunde erstaunlich<br />
belebten Straßen unter die Reiter und Kutschen mischen konnte, vermochte<br />
sie sich ein wenig zu entspannen.<br />
Sie fühlte sich zutiefst elend und niedergeschlagen. Der Besuch in Little<br />
Frampington hatte sich als Misserfolg erwiesen. Was war das schief<br />
gelaufen? Verity begriff die Welt nicht mehr. Vielleicht hatte sie sich ja in<br />
Bezug auf den Zeitpunkt <strong>des</strong> Treffens geirrt, aber ganz bestimmt nicht,<br />
was den Ort betraf. Little Frampington, hatte der Franzose gesagt ... nein,<br />
das hatte er nicht. Sie versuchte, sich den genauen Wortlaut ins Gedächtnis<br />
zurückzurufen. Er hatte von diesem kleinen Ort, diesem „lietell,<br />
lietell“ Frampington gesprochen.<br />
Verity schalt sich insgeheim eine Närrin. Frampington war kleiner als<br />
der Nachbarort, und das war es, was der Franzose gemeint hatte. Das<br />
Treffen hatte in der baufälligen Taverne stattgefunden. Am liebsten hätte<br />
sie vor Zorn geschrien. Die ganze Mühe hatte ihr nichts eingebracht außer<br />
einem schmerzenden Hinterteil.<br />
5. Kapitel<br />
„Du musst aufhören, dich mit Vorwürfen zu plagen“, sagte Elizabeth.<br />
„Was, um alles in der Welt, hättest du anders machen können?“<br />
Sei dem erfolglosen Ausflug nach Little Frampington war fast eine Woche<br />
vergangen, ohne dass Lord Charles Verity einen Besuch abgestattet<br />
und sie ärgerlich beschuldigt hatte, die Zeit seines Mitarbeiters zu ver-<br />
geuden. Dass sie ihn weder gesehen noch etwas von ihm gehört hatte,<br />
fand Verity angesichts der Umstände ziemlich seltsam. Zweifellos hatte<br />
der Kutscher ihm sofort berichtet, dass sich in dem Gasthof lediglich drei<br />
gesetzestreue Bürger getroffen hatten, um heimlich ihrer Spielerleidenschaft<br />
zu frönen.<br />
Verity brachte mühsam ein Lächeln zustande. „Du hast Recht, Elizabeth“,<br />
erwiderte sie. „Ich war in den vergangenen Tagen keine angenehme<br />
Gesellschafterin. Und dabei fährst du morgen nach Brüssel.“ Sie tätschelte<br />
ihrer Freundin liebevoll den Arm. „Wann werden wir uns wohl wiedersehen?“<br />
„Nicht während der nächsten Monate, fürchte ich. Aber diesmal bin ich<br />
entschlossen, unsere Verbindung nicht abreißen zu lassen.“<br />
„Ich habe dir während meines letzten Schuljahres mehrere Briefe geschrieben,<br />
aber nie eine Antwort erhalten.“ Verity erinnerte sich an den<br />
merkwürdigen Gesichtsausdruck ihrer Freundin, als sie diese Tatsache<br />
zum ersten Mal erwähnt hatte.<br />
„Nach Verlassen <strong>des</strong> Internats blieb ich nicht sehr lange im Haus meiner<br />
Mutter. Da sie mir deine Briefe nicht nachschickte, habe ich törichterweise<br />
angenommen, dass du deine Schulfreundin vergessen hättest.<br />
Diesen Fehler werde ich nicht noch einmal begehen“, versicherte Elizabeth.<br />
„Der Verwalter meiner Großmutter hat alle Arrangements für uns<br />
getroffen. Ich weiß daher nicht, wo wir in Brüssel wohnen, werde dir aber<br />
sofort nach unserer Ankunft schreiben. Und wenn wir zurückkommen,<br />
musst du uns in Bristol besuchen. Das heißt, wenn du nicht inzwischen<br />
verlobt bist“, setzte sie mit einem verschmitzen Lächeln hinzu.<br />
Verity verzog entrüstet das Gesicht. „Das ist nicht zu befürchten, meine<br />
Liebe.“<br />
In ihrer Stimme schwang ein so verächtlicher Ton mit, dass Elizabeth<br />
sie forschend anblickte. „Täuscht mich mein Gedächtnis oder hattest du<br />
nicht während unserer Schulzeit erwähnt, dass es jemand gab, in den du<br />
verliebt warst?“<br />
Verity machte eine abwehrende Geste. „Kinderkram! Gott sei Dank bin<br />
ich jetzt gescheiter.“<br />
„Wie kommt es, dass der Mann, an <strong>des</strong>sen Namen ich mich leider nicht<br />
erinnere, dir eine solche Abneigung eingeflößt hat?“ fragte sie.<br />
„Brin ... Brinley Carter --- inzwischen Major Carter“, erwiderte Verity<br />
nach kurzem Schweigen. „Er hatte früher einen Platz in meinem Herzen,<br />
aber damals war ich noch sehr jung und ziemlich töricht, sodass ich mich<br />
in ihm getäuscht habe.“<br />
„Brinley? Was für ein ungewöhnlicher Name.“<br />
„Er wurde nach seinem Großvater mütterlicherseits getauft.“<br />
„Und was ist geschehen?“<br />
„Ich glaubte, verliebt zu sein, doch meine Gefühle wurden nicht erwidert.<br />
Brin war von der Tochter <strong>des</strong> örtlichen Squire völlig betört. Angela<br />
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Kingsley war --- und ist es noch --- ein ätherisches Geschöpf mit dem<br />
Gesicht eines Engels, einer Figur, für die viele Frauen ihre Seele verkaufen<br />
würden, und dem Herzen eines Geldverleihers. Als ich versuchte, Brin<br />
davon zu überzeugen, dass seine Angebetete nicht so war, wie sie zu sein<br />
schien, erklärte er mir, dass ich ein verwöhntes, gehässiges kleines Biest<br />
sei, dem man gute Manieren beibringen müsse.“ Verity stieß ein bitteres<br />
Lachen aus. „Um die Sache kurz zu machen ... Während Brin auf der iberischen<br />
Halbinsel für sein Land kämpfte, heiratete Angela, die versprochen<br />
hatte, getreu auf ihn zu warten, Sir Frederick Morland. Ob Brin ihre<br />
dumme Geschichte glaubte, ihre Familie hätte sie zu dieser Verbindung<br />
gezwungen, weiß ich nicht. Ich habe ihn in den vergangenen fünf Jahren<br />
weder gesprochen noch auch nur zu Gesicht bekommen.“<br />
Elizabeth schaute eine Weile schweigend auf den von Bäumen gesäumten<br />
Weg. Dann sagte sie mit jeder unheimlichen Hellsicht, die sie schon<br />
als junges Mädchen ausgezeichnet hatte: „Eines wundert mich, Verity. Du<br />
behauptest zwar, dass dir der Major vollkommen gleichgültig sei, hast<br />
aber deine Zuneigung nie einem anderen Mann geschenkt.“<br />
„Das ist wahr“, räumte ihre Freundin ein. „Aber glaube bitte nicht,<br />
dass ich die ganze Zeit an gebrochenem Herzen gelitten habe, denn das<br />
ist nicht der Fall.“<br />
„Du tust das Ganze sehr leicht ab, meine Liebe, doch ich habe den<br />
Verdacht, dass er dich tief verletzt hat.“<br />
Verity äußerte nichts dazu. Sie hatten inzwischen Elizabeths Kutsche<br />
erreicht, die im Schatten einer Kastanie gewartet hatte, während die beiden<br />
Freundinnen durch den Park gebummelt waren. Elizabeth wollte<br />
schon einsteigen, als Verity sie zurückhielt.<br />
„Ich werde mit Meg zu Fuß in die Curzon Street zurückkehren und<br />
mich daher hier von dir verabschieden.“ Nachdem sie Elizabeth umarmt<br />
hatte, fügte sie hinzu: „Gib gut auf dich Acht, liebste Freundin.“<br />
„Das werde ich.“ In Elizabeths graugrünen Augen spiegelte sich Besorgnis<br />
wider. „Lass dir durch die Enttäuschung in Little Frampington<br />
nicht deinen restlichen Aufenthalt in London verderben. Und --- was noch<br />
viel wichtiger ist --- lass dich durch die Wunden der Vergangenheit nicht<br />
davon abhalten, eine Beziehung zu einem Mann einzugehen, der deiner<br />
Zuneigung würdig ist.“<br />
Verity vermochte ein kleines trauriges Lächeln nicht zu unterdrücken.<br />
„Falls mir ein Mann begegnet, von dem ich glaube, dass er mich glücklich<br />
machen könnte und ich ihn, würde ich daran denken, ihn zu heiraten.<br />
Aber ich nehme nicht an, dass ich ihn unter den eleganten Söhnen aus<br />
guten Familien kennen lerne, die ich seit meiner Ankunft in London getroffen<br />
habe. Und ich werde nicht mit verletztem Stolz nach Yorkshire<br />
zurückkehren, nur weil ich weiterhin ledig bin.“<br />
Während sie der Kutsche nachblickte, hob Verity noch einmal die<br />
Hand zu einem letzten Abschiedsgruß. Sie gestand sich ein, dass Eliza-<br />
beth ihr einiges zum Nachdenken aufgegeben hatte. Natürlich wusste sie<br />
selbst, dass es ihr nicht leicht fiel, Freunde zu gewinnen, dass sie nur für<br />
ein paar Menschen Hochachtung empfand und nur wenigen ihre Zuneigung<br />
schenkte. Sie hatte seit Jahren kaum einen Gedanken an Carter<br />
verschwendet, musste aber zugeben, dass sie sich bemüht hatte, junge<br />
und unverheiratete Männer auf Distanz zu halten. Hatte sie dies getan,<br />
weil sie die meisten für Hohlköpfe hielt oder vielleicht doch, weil sie sich<br />
davor bewahren wollte, dass ihr erneut das Herz gebrochen würde?<br />
Sie dachte noch über diese Möglichkeit nach, während sie dem Tor zustrebte.<br />
Meg, die neben ihr herging, versuchte vergeblich, Verity auf eine<br />
Dame mit elegantem Hut aufmerksam zu machen. Auch eine Kutsche, die<br />
neben ihnen anhielt, fand keinerlei Beachtung, bis jemand laut ihren<br />
Namen rief und Verity aus ihren Grübeleien riss. Als sie den Kopf hob,<br />
entdeckte sie im Wagen die Tochter von Onkel Lucius’ Nachbarin.<br />
Doch es lag nicht an Hilary Fenner, dass Veritys Herz plötzlich einen<br />
Sprung machte --- es war der Anblick eines breitschultrigen Gentleman,<br />
der neben dem rothaarigen Mädchen im Curricle saß.<br />
„Ich fragte mich schon, ob wir uns in London wohl begegnen würden.“<br />
Hilary war ein nettes Ding, doch leider war sie mit einer schrillen Stimme<br />
gestraft, die einem nach kurzer Zeit auf die Nerven ging. „Schau nur, wer<br />
so liebenswürdig war, mich zu einer Spazierfahrt einzuladen? Du erinnerst<br />
dich doch noch an Brin, oder?“<br />
Verity schaute in ein Paar brauner Augen, in denen ein etwas beunruhigen<strong>des</strong><br />
Funkeln stand. Die Jahre hatten es mit Brinley Carter gut gemeint.<br />
Er sah nach wie vor hervorragend aus, vielleicht sogar besser als<br />
damals, denn die Zeit hatte seinem Gesicht zusätzlich Charakter verliehen:<br />
kleine Fältchen in den Augenwinkeln und seitlich der schön geschwungenen,<br />
sinnlichen Lippen.<br />
Als ihr Puls wie wild zu klopfen begann, ärgerte sie sich über sich<br />
selbst, dass sie so albern war, sich erneut von seinem attraktiven Äußeren<br />
beeindrucken zu lassen. Um ihm zu zeigen, dass er ihr inzwischen<br />
völlig gleichgültig war, sagte sie: „Bitte entschuldigen Sie, Sir, Ihr Gesicht<br />
kommt mir vage bekannt vor --- ich kann mich aber nicht erinnern, wo<br />
wir uns schon begegnet sind.“<br />
„O Verity!“ Miss Fenner stieß ein perlen<strong>des</strong> Lachen aus. „Das kannst<br />
du nicht vergessen haben. Du hattest Arthur Brinley doch so gern, und<br />
dies ist sein Enkel.“<br />
„Aber natürlich.“ Verity bemerkte befriedigt, dass er offensichtlich ärgerlich<br />
war. „Es tut mir Leid, Sir, aber seit unserem letzten Zusammentreffen<br />
sind immerhin einige Jahre vergangen.“<br />
„In der Tat, Miss Harcourt“, erwiderte er mit samtweicher Stimme. „Sie<br />
waren wenig mehr als ein Kind. Und haben sich kaum verändert, wie ich<br />
hinzufügen darf.“<br />
Sie schaute ihn scharf an, weil sie vermutete, dass seine Bemerkung<br />
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keineswegs als Kompliment gedacht war. Doch bevor sie eine bissige Antwort<br />
formulieren konnte, mischte sich Miss Fenner ein.<br />
„Wirst du morgen Abend Lady Morlands Gesellschaft besuchen? Brin<br />
und ich werden dort sein.“<br />
Verity überlegte, ob er Major seine geliebte Angela seit ihrer Heirat mit<br />
dem korpulenten Baronet wohl schon gesehen hatte. Als sie die Lider<br />
senkte, um ihre Schadenfreude zu verbergen, fiel ihr Blick auf die perfekt<br />
zusammenpassenden Grauschimmel, die das Gespann <strong>des</strong> Curricle bildeten.<br />
Ihre gute Laune verflüchtigte sich sofort. Verity war sicher, dass sie die<br />
Pferde schon gesehen hatte. Sie trat näher an eines der Tiere heran,<br />
strich mit der Hand über seinen Hals und ertastete unter der Mähne ein<br />
rautenförmiges Mal. Was, um alles in der Welt, hatte Brin Carter am vergangenen<br />
Freitag in der heruntergekommenen alten Taverne zu tun gehabt?<br />
„Ich kenne Lady Billingtons Pläne für den Abend nicht, Hilary“, erwiderte<br />
sie. „Doch wenn sie uns eine Einladung geschickt hat, werden wir<br />
uns dort wohl treffen.“ Sie wich einen Schritt auf den Rasen zurück und<br />
zwang sich dazu, dem forschenden Blick <strong>des</strong> Majors zu begegnen. „Ich<br />
will Sie nicht länger aufhalten. Sie möchten Ihre schönen Pferde sicher<br />
nicht zu lange stehen lassen, Sir.“<br />
„Würde ich Ihnen zustimmen, würde ich in einem schlechten Licht erscheinen,<br />
Miss Harcourt.“ Um seinen Mund spielte ein charmantes Lächeln.<br />
„Sie müssten ja glauben, dass mir das Wohlbefinden meiner Pferde<br />
wichtiger ist als ein Gespräch mit Ihnen.“<br />
„Es würde zeigen, dass Ihre Pferde Ihnen am Herzen liegen. So wunderbare<br />
Grauschimmel trifft man nur selten.“<br />
„In der Tat nicht, Miss Harcourt.“ In seinen Augen stand ein so warmer<br />
Ausdruck zu lesen, dass ihr plötzlich die Worte fehlten. Sie war außerstande,<br />
seinen heiteren Abschiedsgruß zu erwidern, bevor sich sein Wagen<br />
in Bewegung setzte.<br />
Verity beobachtete, wie sich der Curricle zwischen den anderen Kutschen<br />
auf dem belebten Fahrweg einreihte. Dann drehte sie sich auf dem<br />
Absatz um und marschierte resolut zum Parktor. Dabei war sie so tief in<br />
Gedanken versunken, dass sie Meg nicht beachtete, bis diese sie am Ärmel<br />
zog.<br />
„Was ist los, Meg?“<br />
„Sie gehen in die falsche Richtung, Miss.“<br />
„Nein, denn ich möchte meinen Onkel besuchen“, erwiderte Verity, deren<br />
Stimme verriet, dass sie dem Treffen ohne große Begeisterung entgegenblickte.<br />
Als sie kurze Zeit später im Haus von Sir Charles eintrafen, bat der<br />
Butler sie freundlich, in der Halle zu warten, damit er seinen Herrn von<br />
ihrer Ankunft informieren könne, und forderte sie wenig später auf, sich<br />
in die Bibliothek zu begeben.<br />
Während es sich Meg in einem der Sessel in der Halle bequem machte,<br />
suchte Verity ihren Onkel auf, der wie gewöhnlich hinter seinem Schreibtisch<br />
saß und einen Brief schrieb. Er gab durch kein Zeichen zu erkennen,<br />
dass ihr Besuch ihn überraschte, begrüßte sie aber nicht wie sonst<br />
mit einem Lächeln, als er ihr einen Platz anbot.<br />
Nachdem er seinen Brief beendet hatte, erhob er sich und kam auf sie<br />
zu.<br />
„Nun, junge Dame, ich frage mich schon, wie lange es dauern würde,<br />
bis du genügend Mut zusammengerafft hättest, hier aufzutauchen, um<br />
dich für dein äußerst törichtes Benehmen zu entschuldigen.“<br />
„Ich mich entschuldigen?“ wiederholte Verity erstaunt. Sie zog die fein<br />
geschwungenen dunklen Brauen zusammen und sah zu, wie er sich in<br />
einen Sessel gegenüber setzte. „Im Gegenteil, Onkel Charles, du solltest<br />
dich entschuldigen, weil du mich hast glauben lassen, du wür<strong>des</strong>t die von<br />
mir erhaltene Information nicht ernst nehmen.“<br />
Er blickte sie versonnen an. „Mein Kollege hat offenbar Recht. Es ist<br />
höchste Zeit, dass du in feste Hände kommst.“<br />
„Falls du dieses widerwärtige Individuum meinst, das du nach Little<br />
Frampington geschickt hast, wäre ich dir sehr verbunden, wenn du ihm<br />
bei eurem nächsten Treffen mitteilen wür<strong>des</strong>t, er möge seine albernen<br />
Absichten für sich behalten.“<br />
„Oje.“ Um den Mund Seiner Lordschaft zuckte es. „Wie es scheint, hattet<br />
ihr beide neulich Abend eine kleine Meinungsverschiedenheit.“<br />
„Ja, so könnte man es nennen.“ Verity zügelte nur mit Mühe ihr Temperament.<br />
„Er ist ein brutaler Tölpel.“<br />
Lord Charles holte eine zart bemalte emaillierte Schnupftabakdose aus<br />
der Tasche. „Seine Meinung über dich war nicht gerade übermäßig vorteilhaft.<br />
Es hat ihm nicht gefallen, dass du den Ort ohne ihn verlassen<br />
hast. Außerdem war er fast überzeugt, die ganze Sache mit dem angeblich<br />
arrangierten Treffen sei ein Produkt deiner Fantasie gewesen.“<br />
„Das ist nicht wahr, Onkel Charles“, rief Verity ärgerlich. „Ich wäre nie<br />
mit Lügen zu dir gekommen, und das weißt du.“<br />
„Ja, das weiß ich“, bestätigte er. „Daher kann ich nur annehmen, dass<br />
das Treffen abgesagt wurde, oder dass du Zeit und Ort missverstanden<br />
hast.“<br />
„Nein, ich habe lediglich falsch interpretiert, was ich gehört habe.“ Verity,<br />
die etwas beschämt wirkte, wiederholte genau, was sich zwischen<br />
dem <strong>Spion</strong> und dem Mann im dunklen Umhang zugetragen hatte.<br />
Lord Charles nickte zustimmend, als sie berichtete, sie sei nunmehr<br />
der festen Überzeugung, das Treffen habe um acht Uhr in der Taverne im<br />
kleineren Frampington stattgefunden.<br />
„Ja, Kind, da magst du Recht haben.“<br />
„Das ist noch nicht alles, Sir. Was mich bei der ganzen Angelegenheit<br />
17
am meisten frustriert, ist, dass ich zuerst bei der alten Taverne war, aber<br />
nicht hineingegangen bin. Statt<strong>des</strong>sen habe ich den Stall aufgesucht und<br />
dort ein Paar Grauschimmel entdeckt, die zu einem Curricle gehörten. Es<br />
kam mir seltsam vor, dass sich ein Gentleman dort aufhalten sollte ...<br />
Und vor kaum einer Stunde habe ich das gleiche Gespann im Park gesehen.“<br />
„Bist du sicher, dass es die gleichen Pferde waren?“<br />
„Ganz sicher. Eines der Tiere hat ein rautenförmiges schwarzes Mal<br />
unter der Mähne.“<br />
„Weißt du den Namen der Person, der sie gehören?“<br />
„Ja, Sir, einem gewissen Major Brinley Carter“, erwiderte Verity mit gesenktem<br />
Kopf. Es fiel ihr schwer, ihn zu verraten, doch sie hatte das Gefühl,<br />
dass es sein musste.<br />
Lord Charles, der gerade im Begriff war, eine Prise Schnupftabak zur<br />
Nase zu führen, zögerte kurz. „Wie interessant!“<br />
Von seinem Ton verwirrt, blickte sie ihn an. „Kennst du den Major?“<br />
„Wir sind uns schon begegnet“, antwortete er und steckte die Tabatiere<br />
wieder in die Tasche. „Wellington hegte die größte Hochachtung für ihn.<br />
Carter ist ein sehr mutiger Mann, der ganz allein eine französische Standarte<br />
erobert hat. Er wurde bei Bajadoz schwer verwundet und nach seiner<br />
Rückkehr von der iberischen Halbinsel für seine Tapferkeit mit dem<br />
Majorsrang belohnt.“<br />
„Ich habe von seinen kühnen Taten gehört.“ Sie nickte. „Für die Leute<br />
in Yorkshire ist er so eine Art Volksheld. Es ist mir auch nicht leicht gefallen,<br />
herzukommen und dir das zu erzählen. Ich mochte den Großvater<br />
<strong>des</strong> Majors, Arthur Brinley, sehr gern, und obwohl ich zugegebenermaßen<br />
für den Enkel wenig Sympathie hege, vermag ich nicht zu glauben, dass<br />
er sein Vaterland verraten würde.“<br />
„Das haben schon viele getan, Kind. Geld bildet eine große Verlockung.“<br />
„Ja, und genau das ist der Grund, warum ich mir nicht vorstellen<br />
kann, dass Brin ein Verräter ist. Sein Großvater war ein reicher Spinnereibesitzer,<br />
und sein Enkel hat sein Vermögen geerbt.“ Verity seufzte leise.<br />
„Ich frage mich ständig, was er wohl am vergangenen Freitagabend in<br />
Frampington zu tun hatte. Natürlich besteht immer noch die Möglichkeit,<br />
dass er seine Equipage einem Freund geliehen hat, aber ...“ Betrübt den<br />
Kopf schüttelnd, stand sie auf. „Ich mache mich besser wieder auf den<br />
Weg. Andernfalls wundert sich Tante Clara noch, was aus mir geworden<br />
ist.“<br />
„Vielen Dank, dass du gekommen bist, mein Kind.“ Lord Charles erhob<br />
sich ebenfalls. „Deine Informationen könnten sich als wertvoll erweisen.“<br />
„Hoffentlich. Mir wäre nichts lieber, als dir von Nutzen sein zu können.“<br />
Als sie seinen strengen Blick gewahrte, musste sie unwillkürlich<br />
lächeln. „Keine Sorge, ich verspreche, nicht mehr nachts allein aufs Land<br />
zu reiten“, versicherte sie. „Wenn es aber etwas gibt, bei dem ich dir helfen<br />
kann, hoffe ich, dass du nicht zögerst, dich an mich zu wenden.“<br />
An diesem Abend dinierte Lord Charles allein zu Hause und suchte<br />
anschließend seinen Club auf. Er setzte sich an einen Tisch und spielte<br />
mit einigen Bekannten Karten, wobei er immer wieder zur Tür hinüberblickte,<br />
um das Kommen und Gehen der anderen Mitglieder zu beobachten.<br />
Doch die Uhr in der Ecke schlug zwölf Mal, bevor der Gentleman eintraf,<br />
den er erwartet hatte.<br />
Makellos gekleidet --- in einem schwarzen Rock und sandfarbenen<br />
Pantalons, die seine langen, muskulösen Beine eng umschlossen --- kam<br />
der Gentleman herein und nahm am einzigen noch freien Tisch Platz.<br />
Lord Charles beendete die Kartenpartie, entschuldigte sich und ging zu<br />
ihm hinüber.<br />
Er bestellte eine Flasche Wein und Gläser, bevor er sich dem jüngeren<br />
Mann gegenüber in einen Sessel setzte. „Ich hoffte, Sie heute hier zu sehen“,<br />
sagte er. „Haben Sie wieder in der Gesellschaft geglänzt, mein Lieber?<br />
Wo war es denn heute?“<br />
„Bei Lady Gillinghams Soiree.“ Er verdrehte die Augen zum Himmel.<br />
„Mir ist es gerade noch gelungen, Miss Gillinghams stümperhaftes Zupfen<br />
an der Harfe zu ertragen, doch als ein schielender Bursche begann, ein<br />
selbstverfasstes, albernes Gedicht zu rezitieren, bin ich geflohen.“<br />
Lord Charles lachte. „Unter anderen Umständen hätten Sie sich gut<br />
mit meiner Nichte Verity verstanden. Sie pflegt solche Veranstaltungen<br />
wie die Pest zu meiden. Übrigens hat sie mich heute Nachmittag besucht.“<br />
„Ach ja?“ Der Gentleman ergriff die Flasche Burgunder, die der Kellner<br />
gebracht hatte und füllte zwei Gläser. „Und was hat das Mädchen jetzt<br />
vor?“<br />
„Wie es scheint, haben Sie meine kleine Verity fest auf Ihrer schwarzen<br />
Liste. Und bereits früher gewann ich den Eindruck, dass sie ihrerseits<br />
Ihnen auch nicht sonderlich gewogen ist.“ Lord Charles blickte dem jüngeren<br />
Mann in die spöttisch funkelnden Augen. „Was ist vergangene Woche<br />
in dem Gasthof von Little Frampington zwischen Ihnen beiden vorgefallen?“<br />
„Offenbar hat sie Ihnen nichts darüber erzählt.“<br />
„Nein, aber sie hat etwas anderes erwähnt.“ Seine Lordschaft berichtete<br />
ohne weitere Umschweife, was er von seiner Nichte erfahren hatte.<br />
Sein Gefährte hörte aufmerksam zu. „Sie hat die Equipage also heute<br />
im Park wieder gesehen. Wusste sie auch, wer kutschierte?“<br />
„Das ist die interessanteste Neuigkeit.“ Lord Charles lächelte ein wenig<br />
bekümmert. „Der Gentleman, der die Zügel hielt, war niemand anders als<br />
Major Brin Carter.“<br />
Der jüngere Mann stieß einen tonlosen Pfiff aus. „Das ist in der Tat interessant.<br />
Und es könnte der Hinweis sein, den wir erhofft haben.“<br />
18
„Möglich.“ Lord Charles sah seinem Gegenüber fest in die Augen. „Was<br />
ich wissen muss, ist Folgen<strong>des</strong>: Gehören Curricle und Gespann wirklich<br />
dem Major und, falls dem so ist, hat er bei<strong>des</strong> in der fraglichen Nacht vielleicht<br />
einem Freund geliehen?“<br />
„Es stimmt, bei<strong>des</strong> gehört ihm“, erwiderte der jüngere Mann ohne Zögern<br />
und entnahm seiner Tasche ein zusammengefaltetes Blatt Papier,<br />
das er auf den Tisch warf.<br />
Lord Charles griff danach. Nachdem er es überflogen hatte, hob er die<br />
Brauen. „Nun, wie es scheint, hat meine Nichte da etwas entdeckt, was es<br />
wert ist, näher untersucht zu werden. Schade, dass sie kein Junge ist“,<br />
setzte er kopfschüttelnd hinzu. „Sie ist sehr aufmerksam. Ich könnte sie<br />
gut gebrauchen.“<br />
„Was mich betrifft --- ich bin froh, dass sie kein Junge ist. Wäre es<br />
nicht angebracht, ihr eine Aufgabe zu geben, um sie zu beschäftigen ---<br />
und um sie davor zu bewahren, in ernsthafte Schwierigkeiten zu geraten?“<br />
„Woran denken Sie?“<br />
„Es ist wohl angeraten, diesen ... verräterischen Major zu beobachten.<br />
Und wer wäre dazu besser geeignet als Ihre reizende Nichte?“<br />
Lord Charles schaute ihn forschend an. „Welche Absichten verfolgen<br />
Sie, mein Lieber?“<br />
„Absolut ehrenhafte, wie ich Ihnen versichern darf. Das würde bedeuten,<br />
dass sie sich häufig in Gesellschaft <strong>des</strong> Majors aufhalten müsste.“<br />
„So steht die Sache also.“ Lord Charles hob das Glas zu einem stillen<br />
Toast. „Ich wünsche Ihnen bei der Jagd auf meine Nichte viel Glück,<br />
muss Sie aber auch warnen, dass sie für den Major keine große Sympathie<br />
hegt.“<br />
„Diesen Eindruck habe ich ebenfalls gewonnen. Ein kindischer Groll,<br />
aber ...“ er zuckte die Schultern, „... darüber wird sie hinwegkommen.<br />
Dafür werde ich sorgen.“<br />
„Daran zweifle ich nicht. Es ist überdies meine feste Überzeugung,<br />
dass Sie für meine Nichte einen idealen Ehemann abgeben würden.“ Lord<br />
Charles Lächeln schwand und machte einem ernsten Ausdruck Platz.<br />
„Aber in der Zwischenzeit sollten Sie vorsichtig sein. Verity ist keine Närrin.<br />
Falls Ihnen unabsichtlich eine Andeutung entschlüpfen sollte und sie<br />
Wind davon bekäme, wem der Curricle und die Pferde gehören, ist nicht<br />
vorauszusehen, was sie möglicherweise tun könnte. Ich wäre höchst ungehalten,<br />
wenn sie zu Schaden käme. Die kleine Verity liegt mir sehr am<br />
Herzen.“<br />
„Keine Sorge, Sir, ich werde gut auf sie aufpassen. Es dürfte Sie kaum<br />
überraschen zu erfahren, dass ich das verrückte Geschöpf mehr als nur<br />
ein bisschen gern habe.“<br />
6. Kapitel<br />
Seit sie in London weilten, hatten Verity und ihre Tante lediglich zwei<br />
Abende zu Hause verbracht, und zwar auf eigenen Wunsch und nicht aus<br />
Mangel an Einladungen. Lady Billington war froh, dass ihre Nichte bereitwillig<br />
viele Veranstaltungen besuchte, konnte sich aber <strong>des</strong> bedrückenden<br />
Gefühles nicht erwehren, dass Verity ihre erste Saison nicht<br />
sonderlich genoss und in Gedanken meistens ganz woanders war.<br />
Umso überraschter war sie daher, als sich Verity sofort einverstanden<br />
erklärte, am Abend eine Gesellschaft bei Lady Morland zu besuchen. Lady<br />
Billington schob das auf den Umstand, dass die Gastgeberin aus Yorkshire<br />
stammte, und Verity dort viele Bekannte treffen würde. Meg, die sich<br />
besonders viel Zeit nehmen durfte, um die schwarzen Locken so zu frisieren,<br />
dass sie ihrer jungen Herrin in seidigen Kaskaden auf die Schultern<br />
fielen, glaubte hingegen, Miss Harcourt sei nur <strong>des</strong>halb so aufgeregt, weil<br />
sie den gut aussehenden Gentleman wieder sehen würde, der am Tag<br />
zuvor im Park seinen Curricle angehalten und mit ihr gesprochen hatte.<br />
Doch sowohl Lady Billington als auch die Zofe irrten sich. Verity wollte<br />
zu der Veranstaltung gehen, weil sie im Laufe <strong>des</strong> Tages einen Brief erhalten<br />
hatte.<br />
Sie war schon immer bei den Dienstboten ihrer Tante überaus beliebt<br />
gewesen. Nicht nur weil sie leicht zufrieden zu stellen war, sondern auch,<br />
weil sie die Zeit der Leute nie über Gebühr beanspruchte. In der Curzon<br />
Street war sie in der allgemeinen Wertschätzung noch weiter gestiegen,<br />
nachdem sie es auf sich genommen hatte, den verwöhnten und ziemlich<br />
eigensinnigen Pekinesen Lady Billingtons auszuführen. Der allmorgendliche<br />
Spaziergang im Green Park, wo Kühe weideten und Kindermädchen<br />
ihre Schützlinge toben ließen, hatte zur Folge, dass der Hund müde und<br />
für den Rest <strong>des</strong> Tages leichter zu ertragen war.<br />
An diesem Morgen hatte Lord Charles seiner Schwester einen überraschenden<br />
Besuch abgestattet. Als Verity aus dem Green Park zurückkehrte,<br />
war ihr Onkel schon wieder aufgebrochen, hatte aber einen Brief für<br />
sie hinterlassen.<br />
Meine liebe Verity,<br />
da ich von Deiner Tante erfahren habe, dass Du heute Abend<br />
an einer Gesellschaft im Hause Sir Frederick Morlands teilnimmst,<br />
richte ich meine Bitte an Dich. Wür<strong>des</strong>t Du Dich wohl<br />
um zehn Uhr im Garten mit mir treffen, damit ich ein paar<br />
Worte unter vier Augen mit Dir wechseln kann?<br />
Dein C. H.<br />
Verity konnte sich nur einen Grund für diese Bitte vorstellen, nämlich<br />
dass ihr Onkel wichtige Neuigkeiten über seine Nachforschungen zu berichten<br />
hatte. Sie war überglücklich, dass er ihr genügend vertraute, um<br />
19
sie über seine Fortschritte zu informieren. Möglicherweise bedeutete dies,<br />
dass er ihre weitere Hilfe in Anspruch zu nehmen gedachte.<br />
Am Abend stieg sie zum Entzücken der Tante gut gelaunt in die Kutsche.<br />
„Wie schön, dass du dich auf das Fest freust, Liebes“, sagte Lady<br />
Billington. „Du musst noch Lady Morland gut kenne. Stimmt es, dass sie<br />
vor ihrer Heirat mir Sir Frederick ganz in deiner Nähe gewohnt hat?“<br />
„Ja, viel zu nahe.“<br />
Dass Verity die hübsche Lady Angela anscheinend nicht mochte, fand<br />
die Tante nicht Besorgnis erregend. Ihre Nichte konnte manchmal halsstarrig<br />
und sehr direkt sein, doch im ton hatte ihr Benehmen noch niemals<br />
Anlass zum Tadel gegeben.<br />
Folglich begrüßte Verity kurze Zeit später ihre Gastgeber äußerst liebenswürdig,<br />
ohne auch nur durch ein Wimpernzucken zu verraten, dass<br />
sie für die Dame <strong>des</strong> Hauses keine Sympathie hegte. Lady Morland ihrerseits<br />
schaute Verity viel zu lange und viel zu eindringlich an, was nach<br />
Lady Billingtons Ansicht einen deutlichen Mangel an guter Erziehung<br />
bewies.<br />
Die erste Stunde verbrachte Verity weitgehend mit Tanzen. Welchen<br />
Ball sie auch immer besuchten, es hatte ihr nie an Partnern gefehlt, und<br />
Lady Billington beobachtete voller Stolz, wie graziös sich ihre Nichte über<br />
die Tanzfläche bewegte, ohne jemals einen falschen Schritt zu tun.<br />
Verity pflegte jedoch ihre Gunst gleichmäßig zu verteilen und an einem<br />
Abend niemals zweimal mit dem gleichen Gentleman zu tanzen. Lady Billington<br />
wunderte sich daher nicht, dass sie einen jungen Herrn abwies,<br />
der sie bereits wenige Minuten nach ihrer Ankunft aufgefordert hatte und<br />
nun sein Glück erneut versuchte.<br />
„Wo ist eigentlich Onkel Charles?“ erkundigte sich Verity. „Ich habe<br />
ihn den ganzen Abend noch nicht zu Gesicht bekommen.“<br />
Lady Billington bemühte sich erst gar nicht, ihre Überraschung zu verbergen.<br />
„Gütiger Himmel, mir war nicht klar, dass er hier sein würde. Als<br />
ich ihn heute Vormittag sah, hat er nichts davon erwähnt. Vielleicht hält<br />
er sich in dem Spielsalon auf der anderen Seite der Halle auf.“<br />
Verity blickte auf die kunstvolle Uhr, die auf dem Kaminsims stand. Es<br />
waren noch fünf Minuten bis zu dem verabredeten Treffen. Da ihr Onkel<br />
stets äußerst pünktlich zu sein pflegte und vermutlich bereits im Garten<br />
auf sie wartete, beschloss sie, sich sofort dorthin zu begeben.<br />
Sie teilte ihrer Tante mit, dass sie nach dem vielen Tanzen unbedingt<br />
eine Erfrischung brauche, und ging hinüber zu dem langen Tisch, an dem<br />
ein Diener Gläser, gefüllt mit einem ziemlich schwachen Punsch, ausschenkte.<br />
Nachdem sie sich bei einem jungen Gentleman, der sich im Hause<br />
auskannte, entsprechend informiert hatte, wusste Verity, auf welchem<br />
Weg sie in den Garten gelangte. Sie versteckte sich hinter einer günstig<br />
platzierten Palme, schaute sich im Raum um, um sicherzustellen, dass<br />
niemand sie beobachtete, und schlüpfte zwischen den Samtportieren hindurch<br />
in den Wintergarten.<br />
Nach der im Ballsaal herrschenden Wärme war es dort so kühl, dass<br />
sich auf ihren nackten Armen zwischen den langen Abendhandschuhen<br />
und den bestickten Puffärmeln ihres königsblauen Seidenklei<strong>des</strong> eine<br />
leichte Gänsehaus bildete. Sie vergewisserte sich, dass sich nicht, wie das<br />
häufig der Fall war, ein verliebtes Pärchen hierher zurückgezogen hatte,<br />
um ein bisschen allein zu sein. Als Verity niemand entdeckte, öffnete sie<br />
die Tür, die in den Garten führte, und trat in die noch kühlere Nachtluft<br />
hinaus.<br />
Sie raffte ein wenig die Röcke, lief aber aus Furcht, zu stolpern und ihr<br />
Kleid zu zerreißen, nur wenige Schritte den Kiespfad entlang. Der Mond,<br />
von einem leichten Wolkenschleier verhüllt, spendete nur wenig Licht.<br />
Trotzdem erkannte sie zu ihrer Linken die Umrisse einiger großer Sträucher<br />
und eine Figur, die wie ein marmorner Engel aussah, der eine Urne<br />
hoch hielt.<br />
Verity rief leise den Namen ihres Onkels, ohne in<strong>des</strong> eine Antwort zu<br />
erhalten. Eine unheimliche Stille herrschte. Da sie annahm, dass Lord<br />
Charles aus irgendeinem Grund am Kommen gehindert worden war, wollte<br />
sie schon ins Haus zurückkehren, als sie rechter Hand eine plötzliche<br />
Bewegung bemerkte und einen kleinen glühenden Punkt sah.<br />
„Wer ist da?“ fragte sie erschrocken.<br />
„Kein Grund, sich zu fürchten, Mädchen.“ Die Stimme mit dem starken<br />
Akzent war unverwechselbar.<br />
Verity war sich der Identität <strong>des</strong> Mannes sicher, noch ehe er sich aus<br />
dem Schatten löste, und sie den nur allzu vertrauten Dreispitz und dem<br />
Umhang gewahrte. Mit einem leisen, verärgerten Aufschrei fuhr sie herum.<br />
Doch bevor sie mehr als ein, zwei Schritte in Richtung auf den Wintergarten<br />
getan hatte, war der Kutscher schon hinter ihr.<br />
Er zog sie an seine breite Brust, ergriff ihre Handgelenke, presste ihre<br />
Arme gegen ihre schmale Taille und hielt sie fest. „Hören Sie auf zu<br />
strampeln, Mädchen. Sonst werden Sie Ihr hübsches Kleid zerreißen“,<br />
warnte er sie belustigt.<br />
Verity, die aus unerklärlichen Gründen in Gegenwart dieses Mannes<br />
nie imstande war, ihre Emotionen unter Kontrolle zu halten, packte der<br />
Zorn. „Dann lassen Sie mich los, Sie Barbar.“<br />
„Sachte, sachte, Sie wollen doch sicher vermeiden, dass die Leute im<br />
Haus Sie hören und nach draußen kommen, um nachzuschauen, was<br />
hier los ist. Dann müsste ich nämlich schnell über die Mauer klettern,<br />
und Sie würden nicht erfahren, was ich Ihnen sagen will.“<br />
„Und was wäre das?“ Ihre vergeblichen Bemühungen, sich aus dem<br />
Griff zu befreien, riefen ihr allzu lebhaft die Demütigung ins Gedächtnis<br />
zurück, die ihr durch seine Hände bei ihrem letzten Zusammentreffen<br />
zuteil geworden war. Die Wirkung, die seine Nähe auf ihren Pulsschlag<br />
20
ausübte, war äußerst verwirrend. Auf Grund seiner Größe und Stärke war<br />
sie ihm gegenüber völlig hilflos, sodass er mit ihr tun konnte, was ihm<br />
beliebte. Andererseits glaubte sie ihrer weiblichen Intuition trauen zu<br />
können, dass er ihr niemals ernsthaft ein Leid zufügen würde.<br />
„Warum ist mein Onkel nicht gekommen?“ fragte Verity, während sie<br />
verzweifelt versuchte, seinen warmen Atem, der schwach nach Tabak roch<br />
und ihre Wange streifte, zu ignorieren.<br />
„Er hat unerwarteten Besuch erhalten, Mädchen und daher mich mit<br />
seiner Vertretung beauftragt.<br />
„Dann richten Sie mir freundlicherweise schnell seine Botschaft aus,<br />
damit ich ins Haus zurückkehren kann“, verlangte sie und fügte ein wenig<br />
versöhnlicher hinzu: „Es ist nämlich kalt hier draußen.“<br />
„Halte ich Sie denn nicht warm genug?“ flüsterte er und begann zart<br />
an ihrem Ohrläppchen zu knabbern.<br />
„Hören Sie sofort damit auf“, fauchte Verity, obwohl sie von Kopf bis<br />
Fuß ein beseligen<strong>des</strong> Gefühl durchrann. „Von Anfang an haben Sie sich<br />
mir gegenüber unglaubliche Dreistigkeiten erlaubt. Sie sind kein Gentleman,<br />
Sir.“<br />
„O doch, wenn ich es sein will, schon“, versicherte er.<br />
„Nun, davon habe ich bislang sehr wenig gemerkt. Im Gegenteil, Sie<br />
sind ein grober und brutaler Kerl.“<br />
„Anscheinend muss ich immer noch dafür büßen, dass ich Ihnen das<br />
Hinterviertel versohlt habe.“ Er machte ein Pause, als ob er erwartete,<br />
dass sie ihm zustimmen würde, doch Verity presste die Lippen fest zusammen.<br />
„Etwas Schlimmeres haben Sie von mir nicht zu befürchten,<br />
Mädchen“, fuhr er fort. „Und Sie hatten es verdient. Es war verdammt<br />
töricht von Ihnen, an dem Abend ganz allein dorthin zu gehen. Wir haben<br />
es mit gefährlichen Leuten zu tun.“<br />
„Das weiß ich“, bestätigte sie, keineswegs besänftigt und weit davon<br />
entfernt, ihm zu vergeben. „Schließlich bin ich keine Närrin.“<br />
„Nein, nur viel zu verwöhnt. Und trotzdem bete ich Sie an.“ Er legte<br />
seine Wange gegen ihre seidenweichen schwarzen Locken. „Ich kann nicht<br />
aufhören, an Sie zu denken“, gab er zu ihrem maßlosen Erstaunen zu.<br />
„Mir ist noch nie ein junges Ding begegnet, das mich so fasziniert hat wie<br />
Sie. Aber wenigstens bin ich jetzt in der Lage, Sie häufiger zu sehen.“<br />
Verity durchlebte einen solchen Aufruhr der Gefühle, dass sie sekundenlang<br />
keinen klaren Gedanken fassen konnte. Obwohl sie nach wie vor<br />
Ärger und Groll verspürte, war sie doch Frau genug, um sich darüber zu<br />
freuen, dass sie offensichtlich eine starke Anziehungskraft auf ihn ausübte.<br />
Da sie außerdem neugierig war, beschloss sie, trotz ihrer erst ziemlich<br />
kurzen und stürmischen Bekanntschaft, ihn geradeheraus zu fragen,<br />
weshalb er meine, dass sie sich jetzt öfter sehen würden.<br />
„Falls Sie Seiner Lordschaft helfen und sich an unseren Nachforschungen<br />
beteiligen wollen, wird es Ihnen kaum gelingen, mir aus dem Weg zu<br />
gehen“, erklärte er ruhig.<br />
„Bedeutet das, mein Onkel wünscht tatsächlich meine Hilfe?“ Verity<br />
war so aufgeregt wie ein Kind, dem man ein ganz besonderes Geschenk<br />
versprochen hatte. „Aber wie? Was soll ich tun?“<br />
„Die Informationen, die Sie ihm über einen gewissen Major, den Sie<br />
kennen, haben zukommen lassen, hat sein Interesse geweckt. Natürlich<br />
ist der Major möglicherweise unschuldig, aber wir müssen <strong>des</strong>sen sicher<br />
sein. Und da können Sie helfen.“<br />
Das behagte Verity überhaupt nicht. Nach dem letzten Besuch bei ihrem<br />
Onkel hatten Schuldgefühle sie geplagt. Waren noch mehr Verdachtsmomente<br />
gegen den Major aufgetaucht?<br />
„Und wie kann ich helfen?“ erkundigte sie sich vorsichtig.<br />
„Ist das nicht offensichtlich, Mädchen? Sie kennen ihn doch, oder?“<br />
„Ja, ich kannte ihn.“<br />
„Dann erneuern Sie die Bekanntschaft. Wenn Sie erfahren, dass er eine<br />
bestimmte Abendveranstaltung besucht, gehen Sie ebenfalls hin. Halten<br />
Sie sich so viel wie möglich in seiner Gesellschaft auf. Finden Sie heraus,<br />
wer seine Freunde sind, und was er tagsüber mit ihnen unternimmt.<br />
Seien Sie nett und freundlich zu ihm, dann wird ihm vielleicht das eine<br />
oder andere Wort entschlüpfen.“<br />
„Wie bitte?“ rief Verity, die kaum glauben konnte, dass er das ernst<br />
meinte. „Wenn ich das tue, wird Brin denken ... Er wird annehmen, dass<br />
ich es darauf anlege, ihn ... ihn einzufangen.“<br />
„Das sollen Sie ja auch, Mädchen.“ Der Kutscher machte sich nicht die<br />
Mühe, seine Belustigung zu verbergen.<br />
„Aber nicht für eine Ehe“, entgegnete Verity hitzig. Nach kurzem Überlegen<br />
setzte sie hinzu: „Wenn ich das tue, dann nur aus einem Grund ---<br />
um Beweise für Brins Unschuld, nicht für seine Schuld zu liefern.“<br />
„Sie haben also eine Schwäche für den tapferen Major.“<br />
„O nein, keineswegs“, protestierte Verity heftig. „Aber ich hatte seinen<br />
Großvater sehr gern. Und Arthur Brinley zuliebe werde ich beweisen, dass<br />
sein Enkel kein Verräter ist.“<br />
Das Schweigen <strong>des</strong> Kutschers schien eine kleine Ewigkeit zu dauern.<br />
Verity spürte, wie sich mit ihm eine sonderbare Wandlung vollzog. Als er<br />
schließlich antwortete, schwang in seiner Stimme eine unerbittliche Härte<br />
mit, die keinen Widerspruch duldete: „Gut, dann erlaube ich Ihnen, zu<br />
helfen. Eines muss ich aber klarstellen. Falls Sie irgendetwas entdecken -<br />
-- mag es Ihnen auch noch so bedeutungsvoll erscheinen ---, dürfen Sie<br />
nicht allein handeln, sondern müssen sofort Ihren Onkel benachrichtigen.<br />
Gelegentlich werde ich selbst Kontakt mit Ihnen aufnehmen, allerdings<br />
nicht immer in Verkleidung. Sie müssen mir daher versprechen, sich von<br />
mir fern zu halten, solange ich Ihnen nicht etwas anderes sage. Es ist<br />
lebenswichtig, dass meine Identität geheim bleibt, wenn wir eine Chance<br />
haben wollen, diesen skrupellosen Schurken zu fangen, der seit Jahren<br />
21
die Franzosen mit Informationen versorgt.“<br />
Verity nickte zustimmend zu allem, was er äußerte, erkundigte sich<br />
aber dann, ob er eine Ahnung hätte, wer der Verräter sein konnte.<br />
„Dank Ihrer Beobachtungen haben wir möglicherweise einen Hinweis.<br />
Mehr kann ich im Augenblick nicht verraten.“ Ehe sie ihn fragen konnte,<br />
ob er tatsächlich den Major verdächtigte, legte er ihr die Hände auf die<br />
Schultern und drehte sie herum, sodass sie ihm ins Gesicht sehen musste.<br />
Den Schal hatte er durch eine Maske aus Leder ersetzt, deren schmale<br />
Schlitze spöttisch funkelnde Augen frei gaben. Auch der Mund blieb unverhüllt.<br />
Die verwegene Aufmachung verlieh ihm einen finsteren Anstrich,<br />
während er bisher, das Gesicht hinter dem Schal verborgen, lediglich geheimnisvoll<br />
gewirkt hatte. Seltsamerweise empfand Verity keine Angst.<br />
Seltsam war auch, dass ihr gar nicht in den Sinn kam, sich zu wehren,<br />
als er sie enger an sich zog, oder schamhaft den Kopf abzuwenden, bevor<br />
er seinen Mund auf den ihren presste.<br />
Sie öffnete instinktiv die Lippen. Spontan hob sie die Arme und legte<br />
sie ihm um den Hals. Er reagierte sofort. Aufstöhnend riss er sie so fest<br />
an sich, dass ihr und sein muskulöser Körper zu einem zu verschmelzen<br />
schienen. Immer noch dachte Verity keinen Augenblick an Widerstand. Es<br />
war fast so, als ob sie mit Leib und Seele ihm gehörte, als ob sie von Geburt<br />
an diesem Mann bestimmt sei, und nichts, was sie sagte oder tat, sie<br />
von dem ihr vom Schicksal ausersehenen Weg abbringen konnte. Dass<br />
das möglicherweise der Wahrheit entsprach, erschreckte sie nicht im<br />
Min<strong>des</strong>ten. Wie hätte etwas so Natürliches und Wunderbares falsch sein<br />
können?<br />
Nachdem er sich widerstrebend von ihren Lippen gelöst hatte,<br />
schmiegte er sein Gesicht an ihre weichen Locken. „Mädchen, so geht das<br />
nicht“, murmelte er schwer atmend. „Ich muss einen klaren Kopf behalten,<br />
doch das ist verdammt schwer, wenn ich von dem bloßen Gedanken<br />
an Sie wie berauscht bin. Sobald dies alles vorbei ist, können Sie sicher<br />
sein, dass ich Sie niemals wieder gehen lasse. Sie gehören mir, Miss, haben<br />
mir immer gehört. Das weiß ich jetzt. Und ich werde nicht erlauben,<br />
dass irgendjemand Sie mir wegnimmt.“<br />
Erst da beschlich Verity eine leise Furcht. Obwohl er einen leichten<br />
Ton angeschlagen hatte, war die wilde Entschlossenheit in seiner Stimme<br />
nicht zu verkennen. Sie wusste, dass er seine Worte ernst meinte --- er<br />
war genau so unfähig, ihr zu widerstehen, wie sie ihm. Als er sie ein<br />
Stück von sich weg schob, verrieten ihre Augen Unsicherheit und Angst.<br />
„Schauen Sie mich nicht so an, Miss“, bat er und strich mit dem Finger<br />
sanft über ihre Wange. „Alles wird sich zum Guten wenden.“ Er hauchte<br />
einen federleichten Kuss auf ihre Stirn. „Gehen Sie jetzt, solange ich noch<br />
die Kraft besitze, Sie wegzuschicken.“<br />
Sie brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass er ihr nach-<br />
blickte, bis sie im Haus verschwunden war. Zum Glück waren inzwischen<br />
viele weitere Gäste eingetroffen, sodass Verity, ohne große Aufmerksamkeit<br />
zu erregen, den Raum erreichte, in dem sie ihre Tante zurückgelassen<br />
hatte.<br />
„Gütiger Himmel, Kind, da bist du ja endlich. Ich wollte mich gerade<br />
auf die Suche nach dir machen. Wo, um alles in der Welt, hast du dich<br />
die ganze Zeit aufgehalten?“<br />
„Ich war draußen, um ein bisschen frische Luft zu schöpfen.“ Verity<br />
sah keinen Grund, warum sie schwindeln sollte. In ihrem gegenwärtigen<br />
Gemütszustand --- von unerfüllten Sehnsüchten und gleichzeitig von dem<br />
Wunsch beseelt, dass ihr gesunder Menschenverstand endlich wieder die<br />
Oberhand gewinnen möge ---, wäre sie im Lügen nicht sehr erfolgreich<br />
gewesen, selbst, wenn sie es versucht hätte. „Es ist sehr warm hier“, erklärte<br />
sie.<br />
Lady Billingtons Aufmerksamkeit war nicht entgangen, dass das Gesicht<br />
ihrer Nichte eine liebliche Röte zierte. Veritys veilchenblaue Augen<br />
strahlten, und ihre Lippen wirkten ein bisschen geschwollen. Wenn sie es<br />
nicht besser gewusst hätte, wäre sie zu dem Schluss gelangt, dass das<br />
Mädchen geküsst worden war. Doch leider hatte ihr Schützling keine<br />
Spur von Romantik an sich.<br />
„In Zukunft vermeide bitte, allein hinauszugehen. Man weiß nie, wer<br />
sich draußen herumtreibt.“<br />
Oder wie der Betreffende sich benimmt, dachte Verity, die mehr als nur<br />
ein Wenig Verwirrung empfand --- ganz zu schweigen von Scham über ihr<br />
zügelloses Verhalten im Garten. Als sie sich plötzlich bewusst wurde, dass<br />
ein Paar blauer Augen auf sie gerichtet war, erkundigte sie sich bei ihrer<br />
Tante, wer der große und gut aussehende blonde Gentleman sei, der<br />
ständig in ihre Richtung schaue.<br />
Lady Billington streifte mit einem schnellen Blick die andere Seite <strong>des</strong><br />
Raumes. „Mr. Lawrence Castleford. Sein Onkel, Lord Castleford, ist mit<br />
deinem Onkel Charles befreundet. Wenn mein Gedächtnis mich nicht<br />
täuscht, hat der alte Herr ebenfalls etwas mit dem Kriegsministerium zu<br />
tun. Er hat einen Sohn, aber es ist allgemein bekannt, dass er seinen Neffen<br />
ihm vorzieht. Anscheinend ist er ein höchst sonderbarer Vater.“ Da<br />
just in diesem Moment die Gastgeberin zu dem außerordentlich attraktiven<br />
Mr. Castleford trat, fragte Lady Billington stirnrunzelnd: „Wärest du<br />
vielleicht jetzt so freundlich, meine Neugier zu befriedigen? Warum hegst<br />
du eine solche Abneigung gegen Lady Morland?“<br />
„Abneigung ist zu viel gesagt. Mir sind einfach Menschen ihrer Art<br />
nicht sympathisch.“<br />
„Das verstehe ich nicht ganz, Liebes. Sie ist zwar lediglich die Tochter<br />
eines Landedelmannes, ich kann mir aber nicht vorstellen, dass du an<br />
ihrer Herkunft etwas auszusetzen hast.“<br />
Verity lächelte boshaft. „In Anbetracht der Tatsache, dass es sich bei<br />
22
dem Mann, den ich am meisten von allen Menschen bewundert habe, um<br />
einen Bauerntölpel und Sohn einer Hure handelte, darf ich dir versichern,<br />
mir ist Lady Morlands Familie herzlich gleichgültig.“<br />
Lady Billington erschauerte. „Ich wünsche, du wür<strong>des</strong>t dich in deiner<br />
Ausdrucksweise mäßigen, Liebes.“<br />
„Ich habe gehört, wie man Arthur Brinley mit weit schlimmeren Ausdrücken<br />
belegt hat.“ Verity schüttelte den Kopf. „Dabei sollte man einen<br />
Mann doch bewundern, der aus der Gosse stammt und als einer der<br />
reichsten Männer Yorkshires gestorben ist. Ein Mann, der jede Stunde<br />
seines Lebens damit verbracht hat, sich zu vervollkommnen. Ich hege<br />
allerdings wenig Sympathie für diejenigen, die nur heiraten, um eine gesellschaftliche<br />
Stellung zu erlangen.“<br />
„Ich verstehe.“ Lady Billington spähte noch einmal zu Lady Morland<br />
hinüber, bevor ihr Blick auf der ziemlich korpulenten Gestalt ihres Gastgebers<br />
verweilte. „Du denkst also, dass sie ihn nur wegen seines Vermögens<br />
geehelicht hat.“<br />
„Nein, das glaube ich nicht“, erwiderte Verity. „Wenn es nur um Geld<br />
gegangen wäre, hätte sie Arthur Brinleys Enkel geheiratet. Als ich in Yorkshire<br />
lebte, wurden sie und Brin bereits als Paar betrachtet. Angela<br />
war kaum älter als sechzehn und Brin achtzehn oder neunzehn. In der<br />
Nachbarschaft waren alle überzeugt, dass die beiden irgendwann heiraten<br />
würden. Damals wurde darüber geredet --- und es würde mich nicht<br />
wundern, wenn Angela dieses Gerücht selbst in die Welt gesetzt hätte ---,<br />
dass ihre Eltern erst in die Hochzeit einwilligen würden, wenn sie ihre<br />
Volljährigkeit erreicht hätte. Brin zog in den Krieg auf der Iberischen<br />
Halbinsel, und innerhalb von drei Monaten heiratete Angela ihren beleibten<br />
Baronet, und das ein Jahr bevor sie volljährig war.“<br />
„Du meinst also, dass es ihr um einen Titel ging?“<br />
„Jawohl. Doch wie sich die Dinge entwickelt haben, wäre sie klüger<br />
gewesen, den Spross eines Webers zu heiraten. Dann könnte sie jetzt damit<br />
rechnen, eine Viscountess zu werden.“ Verity brach so plötzlich in<br />
Gelächter aus, dass sich einige Köpfe ihr zuwandten. „Wenn man vom<br />
Teufel spricht ...“<br />
Als Lady Billington dem amüsierten Blick der Nichte folgte, bemerkte<br />
sie an der Tür eine große kräftige Gestalt. „Gütiger Himmel, Liebes, ist<br />
dieser beeindruckende Gentleman etwa Arthur Brinleys Enkelsohn?“<br />
„Das ist er, in der Tat.“ Verity war erneut außerstande, ein boshaftes<br />
Kichern zu unterdrücken. „Schau dir Brin Carter an --- ein in jeder Hinsicht<br />
attraktiver Mann mit einer guten Figur --- und dann dieses Fass,<br />
das Angela geheiratet hat. Wenn du danach immer noch glaubst, dass es<br />
ihr nicht um den Titel gegangen sei, bist du nicht ganz bei Verstand.“<br />
„Nun ja“, murmelte Lady Billington. Im Gegensatz zu ihrer Nichte, die<br />
sich niemals scheute, offen und direkt alles auszusprechen, fand sie es<br />
meistens klüger, ihre Meinung für sich zu behalten. In diesem Fall hatte<br />
Verity jedoch vermutlich Recht.<br />
Während der Major in aufrechter Haltung den Raum durchquerte, beobachtete<br />
sie ihn aufmerksam. Die Natur hatte es, Gesicht und Figur<br />
betreffend, gut mit ihm gemeint. Seine Züge waren gut geschnitten, und<br />
obwohl sie wenig Ähnlichkeit mit der Carterschen Linie entdecken konnte,<br />
ging etwas von ihm aus, das auf eine makellose Herkunft hinwies.<br />
Lady Billington vermochte sich daher nicht zu erklären, worauf die Antipathie<br />
beruhte, mit der ihre Nichte den Major betrachtete. Denn dass<br />
diese Abneigung bestand, <strong>des</strong>sen war sie sicher. Da sie an seinem Auftreten<br />
nichts erkennen konnte, was einen derartigen Widerwillen begründet<br />
hätte, nahm sie sich vor, die Ursache dieses seltsamen Sachverhaltes zu<br />
erkunden. Auch ließ in seinem Benehmen, als er der Gastgeberin gegenübertrat,<br />
nichts darauf schließen, dass er und Lady Morland einander früher<br />
einmal nahe gestanden hatten.<br />
Er ergriff ihre ausgestreckte Hand für einen kurzen Augenblick. Falls<br />
die Lady geglaubt hatte, er würde den galanten Ritter spielen und ihre<br />
Fingerspitzen küssen, wurde sie allerdings enttäuscht. Er beugte sich nur<br />
höflich darüber, bevor er ihre Hand wieder losließ.<br />
„Ich freue mich, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind, Brin. Es ist<br />
wunderbar, Sie nach all den Jahren wieder zu sehen.“<br />
„Ich wäre um nichts in der Welt ferngeblieben. Endlich bietet sich mir<br />
die Gelegenheit, Ihnen für die Freundlichkeit zu danken, die Sie meinem<br />
Großvater erwiesen haben, indem Sie ihn während meiner Abwesenheit so<br />
oft besuchten.“ Da er ihr leichtes Stirnrunzeln als Widerstreben missdeutete,<br />
über ihre Güte zu reden, wechselte er rasch das Thema. „Sie sehen<br />
sehr gut aus, Lady Morland. Die Zeit ist freundlich mit Ihnen umgegangen.“<br />
Sie verzog schmollend den Mund, was an einem Mädchen von sechzehn<br />
hübsch ausgesehen hätte, an einer Frau Mitte der zwanzig jedoch<br />
eher lächerlich wirkte. „So reserviert, Sir? Soll ich Sie jetzt mit Major<br />
Carter anreden?“<br />
„Wenn Sie das wünschen, Madam. Ich finde jedoch, unsere frühere<br />
Freundschaft würde ein bisschen weniger Formalität erlauben.“<br />
„Wir waren mehr als nur Freunde, Brin“, erinnerte sie ihn, hob den<br />
Kopf und schaute ihn flehend an. „Haben Sie mir immer noch nicht vergeben?“<br />
Der Ausdruck in seinen Augen war schwer zu deuten. „Ich trage Ihnen<br />
nichts nach, meine Liebe“, sagte er. „Während der vergangenen Jahre<br />
habe ich gelegentlich über den glücklichen Umstand nachgedacht, dass<br />
junge Damen schneller erwachsen werden als junge Männer. Am Ende<br />
war ich dankbar, dass Sie zu viel Verstand hatten, um unsere Freundschaft<br />
für ein tieferes Gefühl zu halten. Allein dafür werde ich immer in<br />
Ihrer Schuld stehen.“<br />
Das war nicht die Antwort, die sie erhofft hatte. Zuerst hatte sie ver-<br />
23
mutet, er wolle mit seinen wenig schmeichelhaften Bemerkungen von seinem<br />
verletzten und wunden Herzen ablenken, doch dann entdeckte sie zu<br />
ihrem Ärger, dass er sie nicht einmal ansah.<br />
Statt<strong>des</strong>sen blickte er voller Bewunderung ganz woanders hin. Lady<br />
Morland drehte den Kopf, um herauszufinden, wer sein Interesse erregte.<br />
„Erinnern Sie sich noch an die kleine Verity Harcourt, Brin?“ fragte sie.<br />
„Was war sie für ein Wildfang, der ständig in Schwierigkeiten geriet. Sie<br />
haben bei mehr als einer Gelegenheit geäußert, sie sei ein verwöhntes<br />
kleines Ding, das Ihnen wie ein streunender Welpe ständig nachlaufen<br />
würde.“<br />
„Habe ich das wirklich getan?“ Er hob die Brauen. „Dann hoffe ich<br />
sehr, dass ich so gescheit war, ihr das nicht ins Gesicht zu sagen. Obwohl<br />
...“ Er verstummte und verzog die Lippen zu einem versonnenen Lächeln.<br />
„Nun, das könnte die Erklärung sein“, setzte er rätselhaft hinzu.<br />
Verity, der die ihr geltenden Blicke keineswegs entgangen waren, hätte<br />
gern gewusst, was da über sie geredet wurde. Sie dachte, dass der Major<br />
sie nach ihrem gestrigen Treffen im Park vielleicht zum Tanz auffordern<br />
würde. Falls er diese Absicht gehabt hatte, wurde diese durch Mr. Castleford<br />
vereitelt, der sie bat, beim nächsten Reigen seine Partnerin zu sein.<br />
Es gab keinen Grund abzulehnen. Nach Aussage ihrer Tante war Mr.<br />
Castleford ein Liebling der Frauen, und wenn sie ihn abgewiesen hätte,<br />
hätte das unweigerlich Gerede zur Folge gehabt. Und das war etwas, was<br />
sie um jeden Preis vermeiden musste. In ihrem Fall war es wichtig, sich<br />
so normal wie möglich zu benehmen.<br />
Daher fuhr sie fort, lächelnd einzuwilligen, wenn ein Gentleman sie<br />
zum Tanz aufforderte, legte aber immer wieder Pausen ein, die sie bei<br />
ihrer Tante verbrachte, um dem Major die Gelegenheit zu geben, sich ihr<br />
zu nähern --- nur dass er keinen derartigen Versuch machte. Zu ihrer<br />
Enttäuschung gesellte sich Ärger, als der Abend sich dem Ende zuneigte.<br />
Die ersten Gäste gingen bereits. Lady Billington, die den Abend sehr<br />
genossen hatte, schlug vor, sich ebenfalls von ihren Gastgebern zu verabschieden.<br />
Verity erhob sich pflichtschuldigst, machte sich auf den Weg<br />
durch den Raum und wünschte ihren zahllosen Bekannten eine gute<br />
Nacht, wobei sie sorgsam darauf achtete, nicht das Misstrauen der Tante<br />
zu erregen, weil sie einen solchen Rundgang unternahm.<br />
Während sie an dem Major vorbeikam, der sich mit Lady Gillingham<br />
und ihrer hübschen Tochter unterhielt, stieß sie scheinbar zufällig gegen<br />
seinen Ellenbogen. Als Folge davon landete der halbe Inhalt <strong>des</strong> Champagnerglases,<br />
das er in der Hand hielt, auf dem Vorderteil von Miss Gillinghams<br />
hübschem, blassgelbem Kleid. Das Mädchen schrie erschrocken<br />
auf.<br />
Verity vermochte durch ihre Beteuerungen, wie Leid ihr das täte, ihrer<br />
Tante keinen Augenblick zu täuschen. Lady Billington vermutete, dass<br />
der Major, der leicht die Brauen hochzog, ebenfalls nicht an einen Zufall<br />
glaubte. Nur Lady Gillingham schien mit Veritys gut formulierten Worten<br />
der Entschuldigung zufrieden zu sein. Sie fasste ihre Tochter am Arm und<br />
führte sie weg, um den Schaden zu beheben.<br />
„Welch bedauerliches Missgeschick“, bemerkte Lady Billington heroisch.<br />
„In der Tat, sehr bedauerlich“, bestätigte der Major lakonisch, <strong>des</strong>sen<br />
blaue Augen spöttisch funkelten. „Miss Harcourt, wären Sie wohl so liebenswürdig,<br />
mich Ihrer Begleiterin vorzustellen?“<br />
Lady Billington reichte ihm die Hand. „Ich habe Ihren Großvater flüchtig<br />
gekannt“, erklärte sie. „Darf ich Ihnen mein aufrichtiges Beileid zu<br />
seinem bedauerlichen Ableben aussprechen? Ich weiß, dass er allseits<br />
respektiert wurde. Verity hat ihn sehr geschätzt.“<br />
Um die Lippen <strong>des</strong> Majors zuckte es. „Ja, ich erinnere mich daran,<br />
dass Ihre Nichte in früheren Jahren eine ständige Besucherin in unserem<br />
Heim war. Mein Großvater stand in dem Ruf, auf strikte Disziplin zu halten,<br />
ist aber im Alter milder geworden. Überraschenderweise ärgerte ihn<br />
das wilde Benehmen Ihrer Nichte nicht, sondern amüsierte ihn sogar.“<br />
Als Lady Billington aus dem Augenwinkel bemerkte, dass Verity trotzig<br />
die Schultern straffte, verlieh sie schnell der Hoffnung auf ein baldiges<br />
Wiedersehen Ausdruck und verabschiedete sich. Ihre Nichte, die sich zuvor<br />
schon schlecht benommen hatte, sollte keine Chance erhalten, auf die<br />
unglücklichen Erinnerungen <strong>des</strong> Majors bissig zu reagieren.<br />
„Manchmal wundere ich mich tatsächlich über dich, Kind“, schalt sie,<br />
als sie in ihrer Kutsche saßen. „Du hast den Major absichtlich gestoßen.“<br />
Verity versuchte erst gar nicht, das zu leugnen. Obwohl sie sich über<br />
Brins Bemerkungen immer noch ärgerte, hatte der Vorfall doch auch seine<br />
amüsante Seite gehabt. „Es war nicht meine Absicht, dass er den Inhalt<br />
seines Glases über Clarissa Gillinghams Kleid schütten sollte. Das<br />
Mädchen ist ein dummes Ding, sich über eine Lappalie derart aufzuregen<br />
und zu kreischen.“<br />
„Ich habe keinen Augenblick vermutet, dass das deine Absicht war,<br />
mein Kind. Mir ist allerdings völlig schleierhaft, warum du einen solchen<br />
Umweg gemacht hast, um mit jemandem zu reden, den du nicht leiden<br />
kannst.“<br />
Verity starrte aus dem Fenster. „Wir Harcourts sind es nicht gewöhnt,<br />
ignoriert zu werden“, erwiderte sie nach einiger Zeit. „Der Kerl unternahm<br />
nie auch nur den leisesten Versuch, sich mir zu nähern, während er die<br />
Zeit fand, sich mit fast jeder anderen jungen Frau im Raum zu unterhalten.“<br />
In ihrer Stimme schwang unverhohlener Groll mit<br />
Lady Billington konnte sich daher <strong>des</strong> Gefühles nicht erwehren, dass<br />
ihrer hübschen Nichte der gut aussehende Major keineswegs so gleichgültig<br />
war, wie sie behauptete. Sie hätte zu gern gewusst, wie er jetzt über<br />
das Mädchen dachte, das er vor Jahren offenbar manchmal als lästig<br />
empfunden hatte. Es ließ sich nicht leugnen, dass er tatsächlich keinerlei<br />
24
Anstalten gemacht hatte, mit Verity zu plaudern.<br />
Lady Billington hatte allerdings auch beobachtet, dass der Major Verity<br />
nur selten aus den Augen gelassen hatte. Obwohl in seinem Blick mehr<br />
als nur Bewunderung gestanden hatte, war es zu diesem frühen Zeitpunkt<br />
vermutlich töricht, den Ausdruck darin näher zu interpretieren.<br />
Major Brinley Carter war ein intelligenter Mann --- und wenn sie sich<br />
nicht irrte, genau der Richtige, um ihre mitunter eigensinnige Nichte zu<br />
bändigen.<br />
Mit einem zufriedenen Lächeln lehnte Lady Billington sich in die Polster<br />
zurück. Wie es schien, lagen nicht nur interessante, sondern auch<br />
vielversprechende Wochen vor ihnen.<br />
7. Kapitel<br />
Brinley Carter lenkte seinen Curricle auf der Hauptstraße in Richtung<br />
Oxford. Nachdem er einige Wochen lang die verbrauchte Stadtluft geatmet<br />
hatte, empfand er die Fahrt über das Land als ein wahres Vergnügen. Er<br />
verabscheute das Leben in der Stadt und war der endlosen Reihe von gesellschaftlichen<br />
Veranstaltungen, auf denen die Gastgeberinnen miteinander<br />
wetteiferten, inzwischen herzlich überdrüssig.<br />
Natürlich war er überall eingeladen. Ein Ball oder eine Soiree galten<br />
erst dann als Erfolg, wenn Major Carter anwesend war. In der Bibliothek<br />
<strong>des</strong> Hauses Berkeley Square wurde der Stapel mit Einladungskarten immer<br />
höher, und der Türklopfer kam kaum zur Ruhe. Brinley wusste allerdings<br />
genau, dass niemand von den Leuten, die ihn jetzt mit Schmeicheleien<br />
überschütteten, bei denen sich ihm der Magen umdrehte, ihm auch<br />
nur einen zweiten Blick gegönnt hätte, wäre er nicht der künftige Viscount<br />
Dartwood gewesen.<br />
Zum Glück hatte er den gesunden Menschenverstand seines Großvaters<br />
geerbt. Andernfalls wäre ihm vielleicht die Aufmerksamkeit, die ihm<br />
überall zuteil wurde, zu Kopf gestiegen.<br />
Er war ein bisschen zynisch geworden, zweifellos als Folge Zum Glück<br />
hatte er den gesunden Menschenverstand seines Großvaters geerbt. Andernfalls<br />
wäre ihm vielleicht die Aufmerksamkeit, die ihm überall zuteil<br />
wurde, zu Kopf gestiegen.<br />
Er war ein bisschen zynisch geworden, zweifellos als Folge seiner Jahre<br />
in der Armee, wo man es lernte, von einem Tag auf den anderen zu leben<br />
und niemals weit voraus zu planen. Man hatte nie gewusst, ob man von<br />
einem Einsatz zurückkehrte, aber schnell gelernt, wem man trauen konnte<br />
und wem nicht. Er hatte gute und schlechte Offiziere sowie gute und<br />
schlechte Soldaten getroffen. In London war das nicht anders.<br />
Einige Menschen waren aufrichtig, andere nicht. Es hatte eine Zeit gegeben,<br />
da hatte er alle wohlerzogenen Damen als intrigante Schlangen<br />
und alle sogenannten Gentlemen als hirnlose Stutzer eingeschätzt. Vor<br />
fünf Jahren hätte er es nie für möglich gehalten, dass er eines Tages einen<br />
Mann, der aus einer der vornehmsten Familien Englands stammte,<br />
seinen engsten Freund nennen würde.<br />
Er traf am frühen Nachmittag auf dem Landgut seines Freun<strong>des</strong> ein.<br />
Das Herrenhaus war von einem weitläufigen Park umgeben. Die Zufahrt<br />
führte in einem großen Bogen einen Hügel hinauf, von dem man einen<br />
herrlichen Blick auf die Landschaft von Oxfordshire hatte.<br />
Ravenhurst bot fürwahr einen großartigen Anblick. Der Park, der im<br />
Laufe <strong>des</strong> vergangenen Jahrhunderts angelegt worden war, bot mit seinen<br />
Wiesen, Baumgruppen, Forellenbächen und Seen eine wahre Augenweide.<br />
An der Rückseite <strong>des</strong> Hauses erstreckte sich ein formaler Garten, der<br />
durch Hecken abgeteilt und von unkrautfreien Kieswegen durchzogen<br />
wurde. Zu beiden Seiten <strong>des</strong> Gebäu<strong>des</strong> wuchsen Rhododendronbüsche,<br />
die in voller Blüte standen und eine solche Farbenpracht zeigten, dass der<br />
Anblick einem fast den Atem nahm.<br />
Je<strong>des</strong> Mal wenn Brinley nach Ravenhurst kam, erinnerte er sich an<br />
seinen ersten Aufenthalt in dem imposanten Haus. Wenige Wochen nachdem<br />
er auf der Peninsula wieder zu seinem Regiment gestoßen war, hatte<br />
Wellington die von den Franzosen besetzte Stadt Bajadoz eingenommen.<br />
Brinley war in diesem Kampf schwer verwundet worden. Nach einem kurzen<br />
Blick auf die Wunde <strong>des</strong> Captains hatte der Militärarzt nicht einmal<br />
versucht, die tief eingedrungene Bleikugel zu entfernen.<br />
Da man Brinley zu den Toten und Sterbenden gelegt hatte, wäre sein<br />
Name sicherlich der langen Liste der Gefallenen hinzugefügt worden. Allerdings<br />
hatte sein kommandierender Offizier es auf sich genommen, den<br />
tapferen jungen Captain nach England zu befördern, damit er schlimmstenfalls<br />
wenigstens in heimatlicher Erde und nicht in einem namenlosen<br />
Grab in Spanien bestattet werden konnte.<br />
Colonel Pitbury hatte insgeheim nicht damit gerechnet, dass Brinley<br />
den strapaziösen Transport über Land bis zum Hafen überstehen würde.<br />
Der Zivilarzt an Bord <strong>des</strong> Schiffes, der während der Reise die Kugel aus<br />
Brinleys Seite und eine weitere aus seiner Schulter operiert hatte, war<br />
ebenfalls nicht der Meinung gewesen, dass sein Patient überleben würde.<br />
Als sie im Hafen von Southhampton anlegten, wurde Brinleys Körper von<br />
Fieber geschüttelt, doch er klammerte sich verzweifelt an sein Leben.<br />
Colonel Pitbury hatte sich in einer schwierigen Lage befunden. Er hatte<br />
nicht den Wunsch, den tapferen Offizier fremden Leuten zu überlassen.<br />
Andererseits hatte er gefürchtet, dass Brinley die lange Kutschenfahrt ins<br />
heimatliche Yorkshire nicht verkraften würde. Dann war ihm eingefallen,<br />
dass ein Brief von einem Mr. Ravenhurst, adressiert an den Captain, in<br />
seine Hände gelangt war.<br />
Natürlich konnte er nicht ahnen, dass Captain Carter und Marcus Ravenhurst<br />
keineswegs enge Freunde, sondern nur flüchtige Bekannte wa-<br />
25
en. Sie waren lediglich früher im Jahr für ein paar Tage zufällig in dem<br />
gleichen Gasthof abgestiegen.<br />
Colonel Pitbury war sehr erleichtert, dass bei seiner Ankunft auf dem<br />
Landgut in Oxfordshire die Hausherrin sofort Anweisungen gab, den Captain<br />
ins Haus zu bringen. Während der Colonel beobachtete, wie vier kräftige<br />
Diener den schlaffen Körper Brinleys, <strong>des</strong>sen Wunden immer noch<br />
eiterten, die breite Freitreppe hinauftrugen, glaubte er, ihn das letzte Mal<br />
gesehen zu haben. Doch er hatte Sarah Ravenhursts Entschlossenheit<br />
und aufopferungsvolle Pflege unterschätzt.<br />
Bei der Erinnerung wurden Brinleys Augen feucht. Trotz seines Fiebers<br />
war er sich der Seereise sowie der Ankunft in diesem schönen Haus bewusst<br />
gewesen. Nachdem er aus seinen Fieberfantasien erwacht war, hatte<br />
er als Erstes das makellose Antlitz eines Engels gesehen, der sich über<br />
ihn beugte.<br />
Und Sarah Ravenhurst war ein Engel, eine liebevolle Ehefrau und Mutter<br />
und die treueste Ersatzschwester, die sich ein Mann nur wünschen<br />
konnte. Vor drei Jahren hatte sie nicht nur seinen Körper, sondern auch<br />
seine Seele geheilt.<br />
Damals war er ein sehr verbitterter junger Mann gewesen. In der Liebe<br />
betrogen und jahrelang von den Söhnen sogenannter Gentlemen als<br />
Spross eines Webers verspottet, war er empfindlich und <strong>des</strong>illusioniert<br />
geworden. Während der Wochen seiner Genesung auf Ravenhurst hatte<br />
sich das geändert. Bei der Rückkehr zu seinem Regiment in Spanien war<br />
er sich seines eigenen Wertes bewusst gewesen.<br />
Die Vorstellung, in den Adelsstand erhoben zu werden, hätte ihn früher<br />
erschreckt, doch das war nicht mehr der Fall. Er hatte sich als hervorragender<br />
Soldat und geborener Führer seiner Männer erwiesen und<br />
würde mit etwas Zeit ein annehmbarer Landbesitzer sowie ein respektiertes<br />
Mitglied der Gesellschaft werden. Dieses Selbstvertrauen, diesen<br />
Glauben an sich selbst verdankte er Marcus und Sarah Ravenhurst.<br />
Er lenkte seinen Curricle in den Stallhof, tauschte ein paar spielerische<br />
Fausthiebe mit Sutton, dem Stallmeister, und ging um das Gebäude herum<br />
zum Vordereingang. Dort empfing ihn Stebbins, der stets korrekte<br />
Butler seiner Freunde, und teilte ihm mit, dass die Dame <strong>des</strong> Hauses in<br />
ihrem kleinen Salon weile und der Hausherr in der Bibliothek arbeite.<br />
„In dem Fall werde ich zuerst Mrs. Ravenhurst aufsuchen“, sagte Brinley<br />
und reichte ihm Hut und Mantel. „Sie können derweil Ihren Herrn von<br />
meiner Ankunft informieren.“<br />
als er die Tür zum Salon öffnete, fand er Sarah Ravenhurst stickend<br />
am Fenster sitzend vor. Sie drehte sich um, und als sie den Besucher<br />
erkannte, stieß sie einen kleinen Schrei <strong>des</strong> Entzückens aus. Nachdem sie<br />
die Handarbeit zur Seite geworfen hatte, lief sie auf ihn zu und umarmte<br />
ihn.<br />
„Oh, Brin, wie schön, dich zu sehen.“ In ihren strahlenden, aquama-<br />
rinblauen Augen spiegelte sich die Zuneigung, die sie für ihn empfand,<br />
deutlich wider. „Ist das nur eine kurze Visite, oder wirst du eine Weile<br />
bleiben?“<br />
„Hätten Sie wohl die Güte, meine Frau loszulassen, Sir“, erklang eine<br />
tiefe, maskuline Stimme von der Tür her. „Kaum fünf Minuten hier, und<br />
schon schäkern Sie mit Sarah.“<br />
„Das ist wahr“, bestätigte sein unverbesserliches Eheweib, ohne sich<br />
aus den Armen <strong>des</strong> Majors zu lösen. „An deiner Stelle würde ich ihn fordern.“<br />
„Gütiger Himmel, Sarah, hast du den Wunsch, Witwe zu werden? Er<br />
war einer der besten Schützen in der britischen Armee.“ Marcus gab seine<br />
gespielt empörte Stellung auf und schüttelte seinem Freund die Hand.<br />
„War das Leben in der Stadt nicht nach deinem Geschmack?“<br />
Angesichts Brinleys kummervoller Miene brach das Ehepaar in Gelächter<br />
aus.<br />
„Spottet nur, ihr beiden. Es genügt, um einen gesunden Menschen<br />
geistig zu zerrütten.“<br />
„Diese endlose Folge von Festlichkeiten kann mit der Zeit tatsächlich<br />
langweilig werden“, gab Sarah zu. Sie nahm Brinley bei der Hand und<br />
führte ihn zu einem Sofa. „Doch man kann nichts dagegen unternehmen.<br />
Man ist gezwungen, Einladungen anzunehmen, wenn man die Gastgeber<br />
nicht vor den Kopf stoßen will.“<br />
„Eine ganze Anzahl von Leuten würde ich mit dem größten Vergnügen<br />
vor den Kopf stoßen“, erwiderte Brinley. „Während der vergangenen Monate<br />
habe ich dir im Stillen viele Male gedankt, dass du mir eine Empfehlung<br />
für Jacksons Box-Club geschrieben hast, Marcus. Was für eine Erleichterung,<br />
sich den ehestiftenden Müttern wenigstens manchmal für<br />
kurze Zeit entziehen zu können.“<br />
„Das war vorauszusehen. Du giltst im Augenblick als eine äußerst erstrebenswerte<br />
Partie.“ Marcus reichte seinem Freund ein Glas Madeira,<br />
bevor er sich in den Sessel ihm gegenüber setzte. „Ich muss dich lehren,<br />
wie man vernichtende Blicke austeilt. Das wird dich vor unerwünschten<br />
Annäherungsversuchen schützen. Bei mir hat das immer gewirkt.“<br />
„Es ist wirklich nicht nötig, dass er eine deiner schlechten Angewohnheiten<br />
annimmt“, warf Sarah missbilligend ein. „Bestimmt wird er auch<br />
sehr gut allein mit der Situation fertig.“ Sie wandte sich Brinley wieder<br />
mit jenem mutwilligen Augenzwinkern zu, das er so an ihr liebte. „Ich<br />
vermag nicht zu glauben, dass keine dieser wohlerzogenen jungen Damen<br />
dein Interesse geweckt hat.“<br />
„Die eine oder andere schon. Und das ist auch der Grund meines Hierseins.“<br />
Nachdem der Major einen Schluck von dem exzellenten Wein getrunken<br />
hatte, lehnte er sich in die Polster zurück. „Es war schon mehr<br />
als großzügig von euch, mir die Benutzung eures Stadthauses zu gestatten“,<br />
sagte er. „Ich weiß, dass ich dich eigentlich nicht so kurz nach Juli-<br />
26
as Geburt darum bitten sollte, Sarah, aber wür<strong>des</strong>t du mir wohl erlauben,<br />
in nicht allzu ferner Zukunft eine Gesellschaft hierher einzuladen --- nicht<br />
mehr als acht Personen?“<br />
„Selbstverständlich“, erwiderte sie ohne Zögern. „Kümmere dich nicht<br />
um Marcus. Er macht immer so viel Aufhebens um mich. Nach der Geburt<br />
<strong>des</strong> kleinen Hugo habe ich keine nennenswerten Beschwerden verspürt,<br />
und bei Julia ist das nicht anders. Mir geht es gut, und ich hätte<br />
dir gern am Berkeley Square ein paar Wochen Gesellschaft geleistet. Doch<br />
wie du weißt, habe ich dummerweise einen sehr diktatorischen Mann<br />
geheiratet, der auf mich aufpasst, als ob ich so zerbrechlich wie ein<br />
Schmetterling wäre.“<br />
„Ich würde mich an seiner Stelle genau so benehmen“, sagte Brinley<br />
lächelnd. „Nur wenige Männer sind so glücklich wie Ravenhurst. Ein<br />
Mann sollte sein Möglichstes tun, um zu gewährleisten, dass er in Bezug<br />
auf seine Ehefrau die richtige Wahl trifft. Und aus diesem Grund möchte<br />
ich drei gewisse junge Damen hierher einladen.“<br />
„Oh!“ Sarah spitzte die Ohren.<br />
„Ich habe drei ausgesucht, von denen ich meine, dass sie als eine zukünftige<br />
Viscountess in Frage kämen.“ Er betrachtete angelegentlich das<br />
Muster <strong>des</strong> farbenprächtigen Teppichs. „Leider habe ich die Gefühle einer<br />
Lady schon einmal falsch eingeschätzt, erinnert ihr euch? Und diesen<br />
Fehler will ich nicht noch einmal begehen.“<br />
Sarahs Lächeln schwand, in ihren Augen trat ein trauriger Ausdruck.<br />
Sie kannte die Geschichte von seiner Jugendliebe, und wie tief verletzt er<br />
gewesen war, als er von ihrer Heirat mit Sir Frederick Morland erfahren<br />
hatte. „Denkst du immer noch an Angela, Brin?“ fragte sie. „Nimmt sie<br />
noch einen Platz in deinem Herzen ein?“<br />
„Gütiger Himmel, nein“, rief er. „Natürlich werde ich nie vergessen, wie<br />
freundlich sie zu meinem Großvater war und ihn auch nach ihrer Hochzeit<br />
regelmäßig besucht hat. In jedem seiner Briefe erwähnte er, dass das<br />
Mädchen wieder bei ihm gewesen wäre. Sie hat viel Zeit mit einem sterbenden<br />
Mann verbracht, und dafür werde ich stets in ihrer Schuld stehen,<br />
aber ...“ Er machte eine Pause, um einen weiteren Schluck Wein zu<br />
trinken. „Es war schon seltsam. Vergangene Nacht habe ich eine Gesellschaft<br />
in Angelas Haus besucht und sie seit damals zum ersten Mal wieder<br />
gesehen. Ich dachte, ich würde etwas empfinden, doch das Einzige,<br />
was ich verspürte, war grenzenlose Erleichterung, dass ich seinerzeit<br />
nicht so dumm war, sie zu heiraten.“<br />
„Du bist nicht der erste Mann, der sein Herz und nicht seinen<br />
Verstand hat sprechen lassen“, warf Marcus ein. „Und du wirst bestimmt<br />
auch nicht der letzte sein.“<br />
„Und den gleichen Fehler beabsichtige ich nicht ein zweites Mal zu machen.<br />
Es ist eine Sache, ob man jemanden für ein oder zwei Stunden auf<br />
einem Ball sieht, oder ob man längere Zeit mit einer Person zusammen<br />
ist, sodass man bestimmte Charaktermängel erkennen kann, die nicht so<br />
offensichtlich sind.“<br />
Sarah schaute ihn einen Augenblick schweigend an. „Du hast also drei<br />
junge Damen ins Auge gefasst. Gibst du wirklich keiner den Vorzug?“<br />
fragte sie.<br />
„Nein, sie sind alle sehr charmant.“ Brinley riss sich vom Anblick <strong>des</strong><br />
Teppichs los. „Oje. Sagte ich drei? Genau genommen gibt es noch eine<br />
vierte, die leider leichte Probleme aufwirft. Sie benimmt sich leider nicht<br />
immer so, wie sie eigentlich sollte.“<br />
Sarah wechselte einen vielsagenden Blick mit ihrem Mann. „Natürlich<br />
kannst du einladen, wen immer du magst, Brin. Darf ich annehmen, dass<br />
du ein oder zwei Nächte bei uns verbringst?“ Als er nickte, stand sie auf.<br />
„Dann werde ich Anweisung geben, dein Zimmer herzurichten.“<br />
Marcus wartete, bis sich die Tür hinter seiner Frau geschlossen hatte,<br />
bevor er seinem Freund direkt in die Augen sah. „Wenn du dir einbil<strong>des</strong>t,<br />
dass Sarah dir diesen Unsinn geglaubt hat, haben die Wochen in London<br />
dein Gehirn erweicht, mein Junge.“<br />
„Natürlich nicht. Ich wusste aber auch, dass sie nicht weiter in mich<br />
dringen würde.“<br />
„Allerdings, das würde sie nicht.“ Marcus schmunzelte. „Was mich betrifft,<br />
bin ich da anders. Ich möchte jetzt ohne großes Herumreden wissen,<br />
was hinter deiner Bitte steckt.“<br />
Verity saß im sonnigen vorderen Salon an ihrem Sekretär und bemühte<br />
sich, einen Brief an ihren Onkel Lucius zu verfassen. Normalerweise<br />
hätte sie keine Schwierigkeiten gehabt, ihrem Vormund von ihrem Leben<br />
in London zu berichten. Heute jedoch konnte sie sich einfach nicht konzentrieren,<br />
weil sie ständig über den Aufenthaltsort eines gewissen Majors<br />
nachdachte.<br />
Brinley befand sich seit zwei Wochen nicht mehr in London. Jemand<br />
hatte ihn am Tag nach dem Ball bei den Morlands mit seinem Curricle auf<br />
der Hauptstraße nach Oxford gesehen. Das allein wäre kein Grund zur<br />
Sorge gewesen. Seine besten Freunde, die Ravenhursts, wohnten in Oxfordshire.<br />
Es war also ganz natürlich, dass er ihnen einen Besuch abstattete.<br />
Schwerer nachzuvollziehen war in<strong>des</strong>, dass er zwei Tage später die<br />
Great North Road, vermutlich in Richtung Yorkshire, entlanggefahren<br />
war.<br />
Noch verwirrender war die Reaktion von Lord Charles auf die plötzliche<br />
Abwesenheit <strong>des</strong> Majors. Verity zweifelte nicht daran, dass Brinley den<br />
Entschluss, London zu verlassen, aus einer Laune heraus gefasst hatte.<br />
Er hatte nämlich ursprünglich beabsichtigt, an einigen Gesellschaften<br />
teilzunehmen, und den Gastgeberinnen, die sich über sein Fernbleiben<br />
wundern würden, ein paar Zeilen der Entschuldigung zukommen lassen.<br />
27
Verity hatte ihren Onkel aufgesucht, um ihm etwas mitzuteilen, was sie<br />
aus verlässlicher Quelle wusste. Der Major war drei Tage nach seiner Abreise<br />
aus London gesehen worden, wie er bei einem Gasthof in der –Nähe<br />
von Newark aus einer gemieteten Postkutsche gestiegen war. Seltsamerweise<br />
hatte sich Lord Charles wenig beeindruckt gezeigt.<br />
„Ich glaube nicht, dass wir uns <strong>des</strong>halb unnötig aufregen sollten“, hatte<br />
er mit einem Achselzucken gesagt. „Wahrscheinlich ist der Major nach<br />
Hause gefahren.“<br />
„Daran habe ich auch gedacht, aber warum ausgerechnet jetzt? Er hält<br />
sich doch schon seit etlichen Wochen wieder in England auf. Wäre es da<br />
nicht sinnvoller gewesen, seinen Besuch in Yorkshire vor Beginn der Saison<br />
zu planen?“ hatte Verity misstrauisch eingewandt. „Sein Verhalten ist<br />
irgendwie unbegreiflich.“<br />
„Vielleicht hast du Recht, Liebes, aber wir wollen keine voreiligen<br />
Schlüsse ziehen. Sobald er wieder da ist, kannst du ja versuchen, herauszufinden,<br />
weshalb er die Stadt so überstürzt verlassen hat. Doch wie ich<br />
bereits erwähnte, besteht für uns kein Grund zu unnötiger Sorge. Ich<br />
kenne den genauen Aufenthaltsort unseres französischen Freun<strong>des</strong>“, hatte<br />
Lord Charles sie beschwichtigt. „Es wurden Leute abgestellt, die seine<br />
Wohnung vierundzwanzig Stunden lang beobachten. Er hat sich bisher<br />
nicht aus London entfernt. Wir dürfen daher ziemlich sicher sein, dass er<br />
bis jetzt keine Informationen erhalten hat.“<br />
Damit hatte Verity sich zufrieden geben müssen, obwohl die Haltung<br />
ihres Onkels sie beunruhigte. Man hätte fast annehmen können, dass er<br />
sich für Major Carter überhaupt nicht interessierte. Aber wenn das wirklich<br />
der Fall war, warum hatte er sie dann gebeten, ein Auge auf ihn zu<br />
haben?<br />
Das Geräusch <strong>des</strong> Türklopfers, das aus der Halle hereindrang, riss sie<br />
aus ihren Grübeleien. Wenig später kam der Butler mit missbilligender<br />
Miene in den Salon und meldete, dass ein Gentleman sie zu sehen wünsche.<br />
Verity seufzte leise. Seit ihrer Ankunft in der Stadt wurde sie von unzähligen<br />
jungen Männern geplagt, die im Haus ihrer Tante vorsprachen.<br />
Sie hätte sich durch die vielen Aufmerksamkeit, die ihr zuteil wurde, geschmeichelt<br />
fühlen sollen, und in gewisser Weise tat sie das auch, war<br />
aber nicht in Gefahr, ihr Herz an einen von ihnen zu verlieren. Da es ihr<br />
fern lag, absichtlich die Gefühle irgendeines jungen Mannes zu verletzen,<br />
weigerte sie sich auch nie, einen Besucher zu empfangen.<br />
„Sein Name, Watts?“<br />
„Sein Name ist Carter, Miss Harcourt“, antwortete eine männliche<br />
Stimme von der Tür her, und Brinley kam herein.<br />
„Major, welch angenehme Überraschung.“ Verity verbarg ihr Erstaunen<br />
hinter einem Willkommenslächeln, während sie sich von ihrem Platz hinter<br />
dem Sekretär erhob und langsam auf ihn zuging. „Ich dachte, Sie wä-<br />
ren nicht in der Stadt.“<br />
„Kontrollieren Sie mich, Miss Harcourt?“ fragte er spöttisch.<br />
„Keineswegs, Major.“ Ihr Lachen klang selbst für ihre Ohren ziemlich<br />
affektiert. „Doch über Ihre Abwesenheit wurde geredet, zumal sich einige<br />
junge Damen darüber überaus betrübt zeigten.“<br />
„Ihrem blühenden Aussehen nach zu urteilen, haben Sie nicht dazu<br />
gehört, Miss Harcourt.“<br />
Verity biss sich auf die Zunge. Um ein Haar hätte sie ihm versichert,<br />
dass sie nicht noch einmal so töricht wie einst sein und sich zu ihm hingezogen<br />
fühlen würde. Er hatte ihr damals sehr wehgetan, sie gedachte<br />
nicht, ihm dazu eine zweite Gelegenheit zu bieten.<br />
„Wie könnte ich eine von ihnen sein, Sir“, erwiderte sie mit einem Lächeln,<br />
das ihre Augen nicht erreichte. „Sie und ich kennen uns schon seit<br />
Jahren --- wir sind eher wie Bruder und Schwester.“<br />
Falls sie geglaubt hatte, ihn in seinem männlichen Stolz zu verletzen,<br />
hatte sie sich offenkundig geirrt. „Genau das habe ich dem exzellenten<br />
Bediensteten Ihrer Tante erklärt. Er hat nämlich korrekterweise darauf<br />
hingewiesen, dass es sehr unschicklich für Sie sei, einen männlichen Besucher<br />
innerhalb Ihrer vier Wände allein zu empfangen. Darf ich daher<br />
vorschlagen, an diesem schönen Tag mit mir in meinem Curricle eine<br />
Rundfahrt durch den Park zu unternehmen?“<br />
Obwohl ihr der bloße Gedanke zuwider war, auch nur kurze Zeit in<br />
seiner Gesellschaft zu verbringen, wollte sich Verity die Chance, mit ihren<br />
Nachforschungen zu beginnen, keinesfalls entgehen lassen, und so akzeptierte<br />
sie die Einladung.<br />
Nachdem sie rasch eine modische Schute aufgesetzt hatte, begleitete<br />
sie ihn nach draußen in den Aprilsonnenschein. Vor dem Haus wartete<br />
sein Curricle, ein junger Reitknecht hielt die Zügel der beiden unverwechselbaren<br />
Grauschimmel fest.<br />
„Was für wunderbare Pferde“, meinte Verity, nachdem er den Burschen<br />
zum Berkeley Square zurückgeschickt hatte und der Wagen anrollte.<br />
„Das sind sie in der Tat, Miss Harcourt.“<br />
„Ich kann mich nicht erinnern, dass Sie je ein Gespann gelenkt hätten,<br />
bevor Sie sich der Armee angeschlossen haben.“ Da er nicht antwortete,<br />
setzte sie hinzu: „Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, sind Sie überallhin<br />
geritten.“<br />
„Ich pflege immer noch regelmäßig zu reiten.“ Verity bemerkte seinen<br />
forschenden Blick. „Doch in der Stadt wird von einem erwartet, dass man<br />
sich von seiner besten Seite zeigt.“<br />
„Dann haben Sie die Tiere also nur gekauft, um in der Gesellschaft eine<br />
gute Figur zu machen, Sir?“<br />
„Nein, nicht nur <strong>des</strong>halb.“<br />
Die Grauschimmel gehörten ihm also tatsächlich. Das war zumin<strong>des</strong>t<br />
ein Anfang, aber es gab noch so vieles, was sie wissen wollte. „Besitzen<br />
28
Sie die Pferde schon lange? Wie schafft man es, derart schöne Tiere zu<br />
erwerben?“<br />
„So neugierig, Miss Harcourt? Man könnte fast meinen, dass Sie meine<br />
Einladung nur angenommen haben, um mich auszuhorchen.“<br />
Brinley war viel scharfsinniger, als sie ihn in Erinnerung hatte. Verity<br />
beschloss, vorsichtiger zu sein und schenkte ihm ein bezaubern<strong>des</strong> Lächeln.<br />
„Nichts dergleichen, Major. Es ist nur so, dass ich selbst gern<br />
durch die Stadt kutschiere. Nicht nur die Gentlemen zeigen sich gern von<br />
ihrer besten Seite.“<br />
„Das ist wahr, aber erwarten Sie nicht von mir, dass ich Sie zu solchem<br />
Umsinn ermutige.“ Seine Stimme klang unnachgiebig, doch dann<br />
fuhr er in milderem Ton fort: „Ihr Onkel Lucius würde mir das nie verzeihen.<br />
Da wir gerade von Ihrem Onkel reden --- er hat mich gebeten, Ihnen<br />
seine besten Grüße zu übermitteln.“ Als er das zufriedene Aufblitzen in<br />
ihren Augen sah, fügte er hinzu: „Ja, Miss Harcourt, ich bin in Yorkshire<br />
gewesen.“ Um seine Lippen zuckte es. „Wollen Sie denn nicht wissen, warum<br />
ich dort war?“<br />
Nachdem sie insgeheim langsam bis zehn gezählt hatte, schüttelte Verity<br />
den Kopf. „Nein, das will ich nicht. Ich bitte Sie auch nicht um Hilfe<br />
beim Kauf von Pferden, weil ich mich gerade erinnert habe, dass der Tattersall<br />
dafür der richtige Ort ist.“<br />
„Nicht für eine Lady.“<br />
„Wie, um alles in der Welt, schafft es dann eine Frau, ein passen<strong>des</strong><br />
Gespann zu kaufen?“ Verity ärgerte sich über eine weitere dumme Anstandsregel,<br />
die jungen, unverheirateten Frauen auferlegt wurde.<br />
„Offenbar haben Sie immer noch nicht gelernt, Ihr aufbrausen<strong>des</strong><br />
Temperament zu zügeln, Miss Harcourt. Ich erinnere mich, meinen Großvater<br />
vor Jahren sagen zu hören, Sie würden eine festere Hand benötigen,<br />
als Lucius Redmond besitzt.“<br />
Sie musterte verstohlen sein attraktives Profil. Aus irgendwelchen<br />
Gründen, die nur er kannte, versuchte er, sie zu reizen. Sie beschloss,<br />
dass er aus diesem Wortgefecht nicht als Sieger hervorgehen würde.<br />
„Aber, aber, Major Carter, Sie wissen, dass das nicht wahr ist. Bei unserem<br />
letzten Zusammentreffen erzählten Sie mir, Ihr Großvater habe mir<br />
gegenüber Nachsicht geübt und mir meine kleinen Verrücktheiten nicht<br />
verübelt.“<br />
„Touché, Miss Harcourt“, sagte er anerkennend mit einem so gewinnenden<br />
Lächeln, dass sich Veritys schlechte Laune verflüchtigte. „An Ihrer<br />
Stelle würde ich mir bei jemandem, der etwas von Pferden versteht,<br />
einen Rat einholen, bevor ich daran dächte, mir selbst welche zu kaufen.“<br />
„Haben Sie es so gehalten, Major?“<br />
„In gewisser Weise, ja. Mein bester Freund Marcus Ravenhurst wusste,<br />
dass ich auf der Suche nach einem Gespann war und hat mich auf dieses<br />
schöne Paar aufmerksam gemacht.“<br />
Das war interessant. Verity hätte gern erfahren, wann genau der Major<br />
die Grauschimmel erworben hatte. Doch da ihre Fragen bereits sein Misstrauen<br />
erregt hatten, hielt sie sich zurück. Nachdem er das Gespann gekonnt<br />
durch das Tor zum Park gelenkt hatte, erkundigte sie sich lediglich<br />
im Konversationston, ob er beabsichtige, für den Rest der Saison in London<br />
zu bleiben.<br />
„Ich habe keine festen Pläne, Miss Harcourt. Das hängt natürlich von<br />
den Umständen ab.“<br />
„Damit meinen Sie Ihren neuen Titel als Viscount.“<br />
„Ja, aber es gibt auch noch einiges andere zu bedenken“, entgegnete<br />
er, den Blick fest auf den Fahrweg vor ihnen gerichtet. „Oh, ich glaube,<br />
das ist Lady Gillingham mit ihrer reizenden Tochter“, fügte er hinzu.<br />
Der Major brachte den Curricle neben der offenen Barouche der Gillinghams<br />
zum Stillstand. Nach der erfolgten Begrüßung lauschte Verity<br />
der kurzen Unterhaltung zwischen Lady Gillingham und Brinley.<br />
Kein Zweifel, dass sein Benehmen auf seine erstklassige Herkunft hinwies.<br />
Unwillkürlich fragte sie sich, ob er eigentlich schon immer so charmant<br />
gewesen war. Sie schaute Clarissa an, die ungewöhnlich bedrückt<br />
zu sein schien, und lediglich mit „Ja“ oder „Nein“ antwortete, wenn sie<br />
direkt angesprochen wurde.<br />
„Ich hoffe, Sie morgen Abend auf unserem Ball zu sehen“, sagte Lady<br />
Gillingham zu Verity.<br />
„Den würde ich für nichts auf der Welt versäumen, Madam“, versicherte<br />
sie. „Man hat mir erzählt, dass Ihr Blumenschmuck sensationell ist<br />
und dass Sie nicht der unglücklichen Mode huldigen, Ihren Ballsaal in<br />
ein seidenes Zelt zu verwandeln.“<br />
„Ich kann Ihnen versprechen, dass das nicht der Fall sein wird. Und<br />
falls Sie nicht durch dringende Geschäfte verhindert sind, würde ich mich<br />
über Ihre Gesellschaft ebenfalls freuen, Major Carter.“ Nach diesen Worten<br />
erteilte sie dem Kutscher die Anweisung, weiterzufahren.<br />
„Lady Gillingham ist wirklich eine sehr angenehme Person“, bemerkte<br />
Brinley, während sie ebenfalls die Spazierfahrt fortsetzten. „Immer liebenswürdig<br />
und niemals affektiert. Jammerschade, dass es im ton nicht<br />
mehr Damen wie sie gibt.“<br />
Verity pflichtete ihm bei. „Und Clarissa ähnelt ihr, obwohl sie heute<br />
nicht ganz sie selbst war“, sagte sie. „Das Mädchen hat kaum ein Wort<br />
geäußert.“ Ihre Augen funkelten vergnügt. „Nimmt sie Ihnen vielleicht<br />
immer noch übel, dass Sie ihr bei den Morlands Champagner über das<br />
Kleid geschüttet haben?“<br />
Als er vor fünf Jahren Yorkshire verlassen und sich der Armee angeschlossen<br />
hatte, war er zugegebenermaßen nicht sonderlich an Verity<br />
interessiert gewesen. Er hatte sie für ein zwar hübsches, aber sehr verwöhntes<br />
Kind gehalten. Doch an diesen Blick erinnerte er sich genau und<br />
wusste auch, was er bedeutete.<br />
29
„Darf ich Sie davon informieren, dass Sie ein skrupelloses Geschöpf<br />
sind, Miss Harcourt.“<br />
Weit davon entfernt, beleidigt zu sein, brach sie in Gelächter aus. „Mag<br />
sein, dass ich mich zuweilen etwas unkonventionell benehme, aber skrupellos?<br />
Nie.“<br />
Von diesem Moment an fühlte sie sich in Brinleys Gesellschaft so wohl<br />
wie vor Jahren, als er sie wie ein nachsichtiger älterer Bruder behandelt<br />
hatte. Und als sie in der Curzon Street aus seinem Curricle stieg, war sie<br />
sich nicht ganz sicher, ob sie ihm nun einen Tanz bei Lady Gillingham<br />
versprochen hatte, weil sich ihr dabei die ideale Gelegenheit bieten würde,<br />
ihn weiterhin auszufragen, oder einfach <strong>des</strong>halb, weil sie gern mit ihm<br />
zusammen war.<br />
8. Kapitel<br />
Wer meint, Verity würde sich in Bezug auf ihre äußere Erscheinung<br />
wenig Mühe geben, täuscht sich, dachte Lady Billington. Obwohl sich ihre<br />
Nichte im Vergleich mit anderen jungen Damen wenig Zeit für ihre Toilette<br />
nahm, war sie stets gut frisiert. Allerdings neigte sie dazu, für ihre<br />
Kleidung kräftige Farben zu wählen --- Rot, Dunkelgrün und ein tiefes<br />
Blau, für das sie eine besondere Vorliebe hegte. Lady Billington war daher<br />
sehr erleichtert, als Verity es ihr überließ, die Stoffe für ihre neue Garderobe<br />
auszusuchen.<br />
Natürlich galten Pastelltöne als einzig passend für junge, unverheiratete<br />
Frauen. Lady Billington betrachtete es als Erfolg, ihre Nichte in Zartgelb,<br />
Blassblau und Rosa zu sehen. Als ihren größten Triumph erachtete<br />
sie jedoch, dass es ihr gelungen war, Verity wenigstens zu einer reinweißen<br />
Abendrobe zu überreden --- eine Farbe, die ihre Nichte bislang kategorisch<br />
abgelehnt hatte.<br />
Lady Billington war sehr zufrieden, als sie am Donnerstagabend beim<br />
Ball der Gillinghams eintrafen. Verity trug einen Überwurf aus weißer<br />
Gaze über einem Unterkleid aus weißem Satin, ihre rabenschwarzen Locken<br />
waren mit weißen Blüten geschmückt --- kurzum, sie bot ein zauberhaftes<br />
Bild. Allerdings schien sie sich wie üblich der ihr geltenden,<br />
bewundernden Blicke nicht bewusst zu sein.<br />
„Du hattest Recht, Tante Clara“, bemerkte sie, als sie und ihre Tante<br />
auf zwei Stühlen an der Wand Platz nahmen.<br />
„Das weiß ich, Liebes. Es steht dir ausgezeichnet.“<br />
„Von dem Kleid habe ich nicht gesprochen“, erwiderte Verity mit einer<br />
ungeduldigen Handbewegung. „Ich meine Lady Gillinghams Blumenschmuck.<br />
Du sagtest, es wäre der schönste, den du je gesehen hast, und<br />
er ist wirklich herrlich.“<br />
„Ja, und ich glaube, das Arrangement ist ihr eigenes Werk.“<br />
„Dann ist sie außergewöhnlich talentiert. Ich wünschte, ich könnte<br />
auch nur eine halb so hübsche Wirkung erzielen.“<br />
Bevor ihre Tante antworten konnte, näherte sich ihnen ein junger<br />
Gentleman, der eine leuchtend gelb-grün gestreifte Weste trug, und Verity<br />
um den nächsten Tanz bat.<br />
Lady Billington, die die Szene beobachtete, lächelte versonnen. Ihre<br />
Nichte war im Grunde ihres <strong>Herzens</strong> liebenswürdig und großmütig. Auch<br />
wenn das Temperament manchmal mit ihr durchging, weil sie Dummköpfe<br />
nicht mochte, konnte sich ihre Tante nicht erinnern, dass das Mädchen<br />
jemals absichtlich die Gefühle anderer Leute verletzt hätte. Verity plauderte<br />
mit einem Stalljungen ebenso freundlich wie mit einem Herzog und<br />
schaute nie auf jemanden herab, der vom Schicksal weniger begünstigt<br />
war als sie selbst. Allerdings war Lady Billington auch nicht blind, was die<br />
Fehler ihrer Nichte betraf. Das Mädchen konnte mitunter geradezu verbohrt<br />
eigensinnig sein, und es würde eines Mannes mit starkem Willen<br />
bedürfen, um sie im Zaum zu halten.<br />
Plötzlich wurde Lady Billingtons Aufmerksamkeit auf die hohen Flügeltüren<br />
gelenkt, durch die in diesem Moment zwei neue Gäste hereinkamen.<br />
Ihr zufriedenes Lächeln galt in<strong>des</strong> nicht dem unerwarteten Erscheinen<br />
ihres Bruders, sondern dem hoch gewachsenen Gentleman an seiner<br />
Seite. Falls sie sich nicht sehr täuschte, gab es da jemanden, der der Aufgabe,<br />
ihrer eigenwilligen Nichte feste Zügel anzulegen, mehr als gewachsen<br />
war.<br />
Verity merkte nichts von der Ankunft <strong>des</strong> Onkels und Major Carters,<br />
da sie sich am Ende <strong>des</strong> Saals gerade auf eine besonders komplizierte<br />
Schrittfolge konzentrierte. Sie durfte auch nach Ende <strong>des</strong> Tanzes nicht zu<br />
ihrem Platz zurückkehren, weil sie sofort von einem zweiten und dann<br />
von einem dritten jungen Kavalier aufgefordert wurde. Ihr war klar, dass<br />
sie etwas unternehmen musste, wenn sie nicht den ganzen Abend auf<br />
dem Parkett verbringen wollte. Gleich nach Beendigung <strong>des</strong> nächsten<br />
Ländlers mied sie den Blick eines vierten Gentleman, der den Eindruck<br />
erweckte, als wolle er auf sie zueilen, und ging geradewegs auf einen Lakai<br />
zu, der ein Tablett mit Champagnergläsern trug.<br />
Sie war offenbar nicht die Einzige, die dringend eine Erfrischung<br />
brauchte. Verity hatte dem Diener gerade ein Glas abgenommen, als eine<br />
zierliche Gestalt neben ihr erschien und ihrem Beispiel folgte.<br />
„Es ist wirklich warm hier und sehr voll“, bemerkte Verity. „Meine Tante<br />
würde sagen, dass das ein Zeichen für den Erfolg eines Balles ist. Ihre<br />
Mama dürfte mit dem Verlauf <strong>des</strong> Abends sehr zufrieden sein“, fuhr sie<br />
fort, als sie keine Antwort erhielt. „Die Blumendekorationen sind einfach<br />
hinreißend.“<br />
„Mama ist in vielen Dingen so talentiert.“ Ein kleiner Seufzer entfloh<br />
Clarissas Lippen. „Ich wünschte, ich wäre mehr wie sie.“<br />
Obwohl die beiden Mädchen einander erst während der Saison vorge-<br />
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stellt worden waren, hatten sie ein paar freundliche Sätze getauscht,<br />
wann immer sie sich auf der gleichen Gesellschaft begegneten. „Aber Sie<br />
sind doch wie sie, Miss Gillingham“, versicherte Verity. „Viele Leute haben<br />
schon diese Beobachtung gemacht.“<br />
„Im Aussehen, ja. Aber Mama ist so gewandt, so elegant und sicher im<br />
Auftreten, während ich ...“<br />
„Sie wirken genauso, Miss Gillingham.“<br />
„Bitte nennen Sie mich Clarissa“, sagte sie mit einem scheuen Lächeln.<br />
„Ich versuche, mich so zu benehmen, wie Mama es wünschen würde,<br />
schaffe das aber oft nicht. Auf dem Land fühle ich mich viel wohler. Am<br />
liebsten helfe ich Papa zuhause auf dem Gut.“<br />
Verity wunderte sich sehr über dieses Geständnis. Es fiel ihr schwer,<br />
sich vorzustellen, wie dieses zerbrechlich wirkende Geschöpf in derben<br />
Stiefeln durch Schlamm und Schmutz stampfte.<br />
„Mama hat sich darauf gefreut, mich dem ton zu präsentieren“, fuhr<br />
Clarissa mit einem neuerlichen kleinen Seufzer fort. „Sie hat sich meinetwegen<br />
solche Mühe gegeben, und ich hoffe inständig, sie nicht zu enttäuschen,<br />
weil ich vielleicht keinen passenden Ehemann finde, aber ...“<br />
„Sie werden Ihre Mutter ganz bestimmt nicht enttäuschen“, beteuerte<br />
Verity. „Ich habe selbst beobachtet, wie viele junge Gentlemen Ihnen den<br />
Hof machen.“<br />
„Das weiß ich“, bestätigte Clarissa ohne jede Begeisterung. „Nur dass<br />
es mir bei den meisten schwer fällt, mich mit ihnen zu unterhalten. Sie<br />
denken offenbar nur an die neueste Mode von Jacken oder Stiefeln ---<br />
alles alberne und unwichtige Dinge. Nicht einmal Major Carter, den ich<br />
von allen noch am liebsten mag, scheint etwas von Landwirtschaft zu<br />
verstehen.“<br />
„Nein, vermutlich nicht. Major Carter hat eine Karriere als Soldat und<br />
nicht als Landbesitzer gewählt.“ Mit einem Großmut, der ihre Tante verwundert<br />
hätte, setzte sie hinzu: „Ich denke aber, dass er, wenn er sich<br />
wirklich damit beschäftigt, ein Anwesen erfolgreich führen könnte.“ Verity<br />
trank einen Schluck Champagner und schaute sich interessiert um. „Es<br />
geschehen noch Zeichen und Wunder. Onkel Charles ist hier. Würden Sie<br />
mich wohl entschuldigen, Clarissa? Ich muss zu meiner Tante zurückkehren,<br />
sonst fängt sie an, sich zu wundern, was aus mir geworden ist.“<br />
Lady Billington war über Veritys längere Abwesenheit keineswegs beunruhigt.<br />
Schließlich hatte sie ihre Nichte die ganze Zeit über im Auge<br />
behalten. Während sie mit der neben ihr sitzenden Dame plauderte, hatte<br />
sie gleichzeitig einige andere Personen beobachtet, und war mit dem Ergebnis<br />
sehr zufrieden.<br />
„Hast du dich von deinen zahllosen Verehrern endlich losreißen können?“<br />
erkundigte sie sich lächelnd, als ihre Nichte wieder neben ihr Platz<br />
nahm.<br />
„Es ist zwar schmeichelhaft, so oft aufgefordert zu werden, aber man<br />
kann auch zu viel <strong>des</strong> Guten bekommen --- zumal mich meine weißen<br />
Schuhe an den Zehen drücken.“<br />
„Das würde man nie vermuten, Liebes. Du wirktest auf der Tanzfläche<br />
wie immer sehr graziös.“<br />
Für dieses Kompliment erntete Lady Billington ein dankbares Lächeln,<br />
doch dann wechselte Verity das Thema. „Weißt du, wer hier ist?“<br />
„Ja, Liebes, ich sah Major Carter kommen.“<br />
„Ist er auch unter den Gästen?“ Verity schaute sich neugierig um und<br />
entdeckte ihn auf der anderen Seite <strong>des</strong> Saals inmitten einer Gruppe von<br />
Gentlemen. „Ach ja. Ihn habe ich aber nicht gemeint, sondern Onkel<br />
Charles.“<br />
„Ich weiß. Er traf zusammen mit dem Major ein. Mir war nicht klar,<br />
dass die beiden sich kennen.“<br />
„Wahrscheinlich handelt es sich nur um eine flüchtige Bekanntschaft“,<br />
erwiderte Verity vorsichtig. Sie hielt es für besser, wenn ihre Tante nicht<br />
wusste, dass sie mit Lord Charles über den Major gesprochen hatte. Das<br />
hätte zu den wil<strong>des</strong>ten Vermutungen führen könne, sodass sie erneut das<br />
Thema wechselte. „Wer ist der ältere Gentleman, der sich mit meinem<br />
Onkel unterhält? Ich denke nicht, dass ich ihn schon einmal gesehen<br />
haben.“<br />
„Das ist Lord Castleford. Vergangene Woche hast du bei den Morlands<br />
mit seinem Neffen getanzt, erinnerst du dich?“<br />
„O ja, der gut aussehende blonde Dandy. Er war mir nicht besonders<br />
sympathisch ... zu sehr von sich eingenommen. Außerdem war da etwas<br />
an ihm ...“ Verity schaute noch einmal zu der ziemlich korpulenten Gestalt<br />
Lord Castleford hinüber. „Sind seine Frau oder sein Sohn heute Abend<br />
auch hier?“<br />
„Das ist höchst unwahrscheinlich. Die beiden haben nicht viel für die<br />
Stadt übrig.“<br />
„Ich habe festgestellt, dass noch jemand ähnlich denkt“, erzählte Verity.<br />
„Es scheint, dass Clarissa Gillingham sich bei Kühen und Schafen<br />
mehr zu Hause fühlt.“<br />
„Tatsächlich?“ Lady Billington hob die Brauen. „Das ist interessant. Ich<br />
frage mich, ob sie das aus dem Rennen wirft.“<br />
Verity wusste, was damit gemeint war. Seit Wochen schon kursierten<br />
Gerüchte über die drei jungen Ladys, die vor den Augen <strong>des</strong> Majors Gnade<br />
gefunden hatten. Bis zum heutigen Tag hatte sie geglaubt, dass Clarissa<br />
die aussichtsreichste Heiratskandidatin wäre. Miss Gillingham war<br />
nicht nur hübsch, sondern auch sanftmütig, doch ihr Geständnis von<br />
vorhin hatte Verity reichlich Stoff zum Nachdenken gegeben.<br />
Clarissa wünschte sich ein einfaches Leben auf dem Land. Ob das jedoch<br />
einem Man gefallen würde, der an Gefahren gewöhnt war, bei denen<br />
man sein Leben riskierte? Das war schwer vorstellbar.<br />
Verity wandte ihre Aufmerksamkeit der zweiten Bewerberin zu, die sich<br />
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gerade auf der Tanzfläche befand. Hilary Fenner war ein lebhaftes und<br />
freundliches Mädchen aus einer guten Familie. Leider redete sie zu viel<br />
und noch dazu mit einer sehr hohen Stimme. In jeder anderen Beziehung<br />
würde sie allerdings gut zu ihm passen, überlegte Verity, die einen heimlichen<br />
Blick auf die dritte Aspirantin warf.<br />
Lady Caroline Mortimer war die einzige Tochter <strong>des</strong> Earl und der Countess<br />
of Westbury. Veritys Meinung nach war sie das bei weitem hübscheste,<br />
aber auch arroganteste der drei Mädchen. Falls Brinley sich tatsächlich<br />
ernsthaft um die Tochter <strong>des</strong> Earl bewarb, hatte er sein Ziel hoch<br />
gesteckt. Warum auch nicht? Schließlich war der Titel einer Viscountess<br />
of Dartwood nicht zu verachten.<br />
„Darf ich hoffen, dass Sie daran gedacht haben, mir einen Tanz zu reservieren,<br />
Miss Harcourt?“<br />
Verity wünschte sich nicht zum ersten Mal, dass der Major nicht die<br />
unangenehme Eigenschaft hätte, immer dann da zu sein, wenn sie „zufällig“<br />
an ihn dachte.<br />
„Aber selbstverständlich, Sir.“ Sie stand auf und bedachte ihn mit einem<br />
etwas gekünstelten Lächeln. „Ich glaube, das Orchester spielt gerade<br />
einen Walzer. Zum Glück habe ich vergangene Woche von der Drachenlady<br />
persönlich die Erlaubnis für diesen speziellen Tanz erhalten.“<br />
„Um Himmels willen, Kind, dämpfe deine Stimme“, flehte Lady Billington<br />
eindringlich, nachdem sie Mrs. Drummond Burell, der formidabelsten<br />
der Patronessen, die ganz in der Nähe saß, einen verstohlenen Blick zugeworfen<br />
hatte. „Möchtest du von Almack’s verbannt oder vom ton geächtet<br />
werden?“<br />
In Veritys veilchenblauen Augen erschien ein unmissverständlich boshaftes<br />
Funkeln. „Das scheint mir eine sehr verlockende Vorstellung zu<br />
sein.“<br />
„Erlauben Sie mir, Sie von der ziemlich anstrengenden Gesellschaft Ihrer<br />
Nichte für kurze Zeit zu befreien, Madam“, warf der Major ein und<br />
führte Verity auf die Tanzfläche, bevor sie ihre normalerweise gleichmütige<br />
Anstandsdame durch weitere anstößige Bemerkungen aus der Fassung<br />
bringen konnte.<br />
Veritys Belustigung verflüchtigte sich in dem Moment, als der Major<br />
mit der Hand ihre Taille berührte. Im Laufe der vergangenen Woche hatten<br />
einige junge Gentlemen sie zu diesem Tanz geholt, den viele ältere<br />
Mitglieder der Gesellschaft für äußerst unschicklich hielten, doch bei keinem<br />
hatte ihr Puls so heftig geklopft. Hatte sie möglicherweise tief in ihrem<br />
Inneren eine Schwäche für ihn entwickelt? Der Gedanke, dass das<br />
der Fall sein könnte, verstörte sie so, dass es ihr schwer fiel, sich auf die<br />
Schritte zu konzentrieren, während er sie über das Parkett wirbelte.<br />
„Sie sind sehr ruhig.“ Als sie den Kopf hob, entdeckte er in ihren Augen<br />
einen Ausdruck, den er nur als Beunruhigung deuten konnte. „Was ist<br />
los?“ Sein leichter Ton war gewichen, in seiner Stimme schwang echte<br />
Besorgnis mit. „Was hat Sie so durcheinander gebracht?“<br />
„Nichts“, versicherte Verity so wenig überzeugend, dass sie nicht einmal<br />
einen geistig Minderbemittelten getäuscht hätte. „Ich bin im Walzertanzen<br />
noch nicht geübt und habe Angst, Ihnen auf die Zehen zu treten.“<br />
„Keine Sorge, Kind, ich bin überzeugt, dass sie das überstehen würden.“<br />
Dessen war sich Verity ebenfalls sicher. Da sie genau wusste, dass sie<br />
ihn nicht eine Sekunde getäuscht hatte, wechselte sie das Thema. „Wie<br />
ich hörte, sind Sie zusammen mit Lord Charles Harcourt eingetroffen.<br />
Sind Sie mit meinem Onkel gut bekannt?“<br />
„Ich bin nicht mit ihm gekommen --- wir sind einander lediglich auf<br />
der Treppe begegnet“, antwortete er nach einer kurzen Pause. „Aber natürlich<br />
kennen wir uns. Schließlich sind wir beide Mitglieder von White’s.“<br />
Wenn das der Fall war, warum hatte ihr Onkel dann nicht selbst die<br />
Aufgabe übernommen, bei einem Glas Portwein oder einem Kartenspiel in<br />
der entspannten Atmosphäre ihres Clubs mehr über den Major herauszufinden?<br />
Verity schob diesen verwirrenden Gedanken beiseite und sagte: „Es<br />
überrascht mich einigermaßen, ihn heute Abend hier zu sehen. Gewöhnlich<br />
beehrt er solche Veranstaltungen nicht mit seiner Anwesenheit.“<br />
„Genauso wenig wie Lord Castleford“, erwiderte Brinley nach einem<br />
Blick in Richtung auf die beiden Gentlemen, die in einer Ecke <strong>des</strong> Raumes<br />
standen und sich unterhielten. „Castleford ist ein Nachbar meines<br />
Freun<strong>des</strong> Ravenhurst.“<br />
Verity überlegte. Hatte ihre Tante nicht erwähnt, dass Castleford etwas<br />
mit dem Kriegsministerium zu tun hatte? Das war interessant.<br />
„Schade, dass Ihr Freund nicht in der Stadt ist. Ich hätte gern mit ihm<br />
gesprochen.“ Als sie seine erstaunte Miene bemerkte, fügte sie hinzu: „Über<br />
Pferde natürlich. Da Sie von ihm auf die Grauschimmel hingewiesen<br />
wurden ...“<br />
Er betrachtete sie spöttisch. „Es besteht nicht die leiseste Chance,<br />
dass er jemals ein Gespann für Sie finden würde, Miss Harcourt.“<br />
„Und warum nicht?“<br />
„Erstens weil er nichts davon hält, dass Ladys die Zügel führen. Er<br />
würde seiner eigenen Frau nie erlauben, ihre Kutsche selbst zu lenken.<br />
Und zweitens weil ich ein Veto einlegen würde. Sie sind viel zu hübsch,<br />
um Ihren Hals zu riskieren, nur weil Sie einer, wie ich glaube, vorübergehenden<br />
Laune nachgeben wollen.“<br />
Verity war versucht, ihn anzufauchen, dass es ihm nicht zustehe, ihr<br />
vorzuschreiben, wie sie sich verhalten durfte --- dann gewann ihr Sinn für<br />
Humor die Oberhand, und sie brach in Gelächter aus.<br />
„Wie kann ich Sie ernst nehmen, wenn Sie einerseits glauben, mir<br />
mein Benehmen diktieren zu können, mir aber im nächsten Augenblick<br />
ein nettes Kompliment machen?“<br />
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„Da habe ich mich selbst matt gesetzt, nicht wahr, Miss Harcourt? Bitte<br />
beweisen Sie mir, dass Sie mir nichts nachtragen, indem Sie beim Tanz<br />
vor dem Supper meine Partnerin sind und mir erlauben, Sie danach zu<br />
Tisch zu begleiten.“<br />
Es kam ihr keinen Augenblick in den Sinn, ihn abzuweisen, obwohl sie<br />
dadurch die goldene Regel brach, an einem Abend nur einmal mit dem<br />
gleichen Gentleman zu tanzen. Sie fand, dass ihre langjährige Bekanntschaft<br />
ein Abweichen von diesem Grundsatz rechtfertigte.<br />
Je länger sie sich in seiner Gesellschaft aufhielt, <strong>des</strong>to wahrscheinlicher<br />
war es, dass sie etwas Wichtiges herausfinden würde --- vorausgesetzt<br />
es gab etwas Wichtiges herauszufinden.<br />
Während der folgenden Wochen verstrich kaum ein Tag, an dem Verity<br />
nicht zusammen mit Major Carter gesehen wurde, entweder abends in<br />
seinen Armen auf der Tanzfläche oder am Tag an seiner Seite in seinem<br />
Curricle. Natürlich konnte nicht ausbleiben, dass der ton der plötzlichen<br />
Vorliebe <strong>des</strong> Majors für Miss Harcourt eine eigene Deutung verlieh.<br />
Es schien ganz so, als würde der elegante Major eine vierte junge Dame<br />
als mögliche Kandidatin für die zukünftige Viscountess Dartwood in Betracht<br />
ziehen. Und sie passten gut zusammen, das hübsche, schlanke<br />
Mädchen mit den rabenschwarzen Haaren und der breitschultrige<br />
Gentleman mit den rotbraunen Locken.<br />
Man hätte schon blind und taub sein müssen, um nicht zu wissen,<br />
was die Leute dachten. Er versäumte nie, sie zum Tanz aufzufordern,<br />
wenn sie am Abend den gleichen Ball besuchten. Andererseits konnte<br />
Verity ehrlicherweise nicht behaupten, dass er sie direkt bevorzugte.<br />
Denn sobald eine der drei anderen Ladys zugegen war, denen er seit seiner<br />
Ankunft in London den Hof gemacht hatte, tanzte er ebenfalls mit der<br />
betreffenden jungen Dame.<br />
Zuerst hatte sich Verity über die Aufmerksamkeit amüsiert, die sie auf<br />
sich lenkten, wenn sie zusammen waren. Doch als die Tage verstrichen,<br />
wurde sie immer unzufriedener, bis sie schließlich von Schuldgefühlen<br />
geplagt wurde. Sie versuchte, sich einzureden, dass sie von den nobelsten<br />
Absichten beseelt, seine Gesellschaft suchte --- zum Wohle ihres Heimatlan<strong>des</strong><br />
und vielleicht zu Brinleys Bestem, doch dadurch beruhigte sich ihr<br />
Gewissen nicht. Je öfter sie ihn sah, <strong>des</strong>to mehr fühlte sie sich zu ihm<br />
hingezogen, und sie war sicher, dass es ihm ebenso ging. War es aber fair,<br />
ihn zu ermutigen und somit zu riskieren, dass seine Gefühle zu ihr tiefer<br />
wurden? Nein, es war herzlos und ungerecht. Außerdem war das ihrer<br />
nicht würdig.<br />
Als Verity eine Woche nach dem Ball bei den Gillinghams in das<br />
Frühstückzimmer kam, saß Lady Billington bereits am Tisch.<br />
„Du ahnst nicht, was ich heute erhalten habe“, rief sie strahlend. „Einen<br />
Brief von Sarah Ravenhurst. Sie lädt uns für ein paar Tage auf ihren<br />
Landsitz ein. Hier, ließ selbst.“<br />
Nachdem sie die paar Zeilen überflogen hatte, runzelte Verity die Stirn.<br />
„Ich wusste gar nicht, dass du mit den Ravenhursts so gut bekannt bist,<br />
Tante Clara.“<br />
„Das bin ich gar nicht, Liebes. Natürlich kenne ich Marcus Ravenhurst.<br />
Er ist ein sehr ernster und zurückhaltender Mann. Seine charmante,<br />
junge Frau habe ich im vergangenen Jahr getroffen, als sie für ein paar<br />
Wochen in London waren. Aber sehr gut kenne ich sie alle beide nicht.“<br />
„Und warum wurden wir dann nach Ravenhurst eingeladen?“<br />
Ihrer Tante war der Grund völlig klar. Lady Ravenhurst hatte die Einladung<br />
auf Bitte ihres guten Freun<strong>des</strong> Brinley Carter ausgesprochen. Verity<br />
hatte nicht den leisesten Versuch unternommen, den Major auf Distanz<br />
zu halten, wann immer er ihre Nähe gesucht hatte. Insgeheim war<br />
Lady Billington entzückt über die Art, wie sich die Dinge zwischen den<br />
beiden entwickelt hatte.<br />
Der Major, ein wahrer Gentleman, hatte seine Aufmerksamkeiten nicht<br />
übertrieben. Doch für jeden Menschen, der auch nur einen Funken Intelligenz<br />
besaß, war es offensichtlich, dass die beiden gern zusammen waren<br />
und gut zueinander passten. Es war auch unverkennbar, dass Verity ihre<br />
kindischen Abneigungen gegen ihn abgelegt hatte. Nicht ganz so klar war<br />
in<strong>des</strong>, ob sie tiefere Gefühle für ihn hegte.<br />
„Dem Brief nach zu schließen, hat Sarah Ravenhurst mehrere Personen<br />
eingeladen“, meinte Lady Billington. „Es würde mich nicht wundern,<br />
wenn du auf Brinleys Wunsch hin auf die Gästeliste gesetzt worden bist.<br />
Allem Anschein nach habt ihr beide euch ja angefreundet. Und was mich<br />
betrifft“, fuhr sie fort, „so betrachte ich die Einladung als große Ehre. Außerdem<br />
kann ich nicht leugnen, dass ich das Haus sehr gern sehen würde.<br />
Es soll recht ungewöhnlich sein. Aber wir müssen uns nicht sofort<br />
entscheiden, ob wir die Einladung annehmen. Denken wir ein oder zwei<br />
Tage darüber nach.“<br />
Verity ließ sich nicht einen Moment täuschen. Ihre Tante hatte bereits<br />
ihre Entscheidung getroffen, aber sie selbst auch. Ein Besuch auf Ravenhurst<br />
kam überhaupt nicht in Frage. Es wäre zu grausam gewesen. Brinley<br />
in dem Glauben zu bestärken, dass ihre Gefühle im Spiel waren. Sie<br />
hatte sich ihm gegenüber sehr unfair verhalten, auch wenn das mit den<br />
besten Absichten geschehen war. Wie sollte sie die Dinge in Ordnung<br />
bringen? Und, was noch wichtiger war, wie konnte sie Sarah Ravenhursts<br />
Einladung ablehnen, ohne das Misstrauen ihrer Tante zu erregen?<br />
Lady Billington riss sie aus ihren düsteren Betrachtungen, indem sie<br />
über die Soiree plauderte, die sie am Abend besuchen wollten. Verity hörte<br />
zwar zu, ging jedoch sofort nach dem Frühstück nach oben in ihr Zimmer,<br />
wo sie Straßenkleidung anzog. Frische Luft und Zeit für sich selbst<br />
waren jetzt das, was sie nötig brauchte.<br />
Meg aus dem Weg zu gehen, war nicht schwer. Sie betrat nie das Zim-<br />
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mer ihrer Herrin, wenn sie nicht gerufen wurde. Bei Horace war das jedoch<br />
anders. Als der Hund sie schwanzwedelnd am Fuße der Treppe erwartete,<br />
hatte sie nicht das Herz, ihn zurückzulassen.<br />
Verity schaffte es, unbemerkt aus dem Haus zu schlüpfen. Doch während<br />
sie die Straße entlangbummelte, konnte sie sich <strong>des</strong> Gefühles nicht<br />
erwehren, dass sie verfolgt wurde. Sie schaute sich mehrfach um, entdeckte<br />
aber niemanden, der ihr verdächtig vorkam. Dabei bemerkte sie<br />
die erstaunten Blicke einiger Passanten, die allesamt ihr galten. Daran<br />
war allerdings nichts Ungewöhnliches, da es für eine vornehme junge<br />
Lady äußerst unschicklich war, sich ohne Begleitung auf den Straßen<br />
Londons zu zeigen.<br />
Erst im Green Park schien sie weniger aufzufallen. Beim Anblick der<br />
weidenden Kühe und der Bauernmädchen, die Gläser mit warmer Milch<br />
ausschenkten, empfand man etwas von der ruhigen und friedlichen Atmosphäre<br />
auf dem Land.<br />
Nachdem sie weit genug gelaufen war, um Horaces Bewegungsdrang<br />
zu genügen, setzte sie sich in der Nähe blühender Sträucher auf das üppige<br />
Gras und begann, über ihre gegenwärtige heikle Lage nachzusinnen.<br />
Sie musste sich ehrlich eingestehen, dass sie bislang keine Gedanken an<br />
die möglichen Konsequenzen ihrer Handlungsweise verschwendet hatte.<br />
Verity war nach wie vor sicher, dass Brinley kein Verräter war. Wenn<br />
sie nun etwas herausgefunden hätte, das gegen ihn sprach, zum Beispiel,<br />
dass er an jenem Abend in dem Gasthof in Frampington gewesen wäre?<br />
Hätte sie diese Information an ihren Onkel weitergegeben --- in dem Wissen,<br />
dass man ihn in Haft genommen und möglicherweise als Verräter<br />
gehängt hätte? Unwillkürlich erschauerte sie. Es war unerträglich, auch<br />
nur daran zu denken.<br />
„Und was tun Sie hier draußen ganz allein, Mädchen?“<br />
Verity wusste nicht, wer mehr erschrak, Horace oder sie. Der Hund<br />
richtete sich empört auf und verlieh seinem Missfallen über die Störung<br />
seines friedlichen Schläfchens in gewohnter Weise Ausdruck, während sie<br />
fast in die Höhe sprang und die Leine losließ. Bevor sie ihn daran hindern<br />
konnte, verschwand der verärgerte Horace im Gebüsch, um nach dem<br />
Störenfried zu forschen.<br />
„Kutscher?“ Verity fuhr herum und spähte ins Dickicht.<br />
„Ja, Miss. Und drehen Sie sich wieder um. Erinnern Sie sich an das,<br />
was ich Ihnen gesagt habe.“<br />
Verity gehorchte ohne Zögern seinem brüsken Befehl. „Sind Sie nicht<br />
verkleidet? Natürlich nicht. Was für eine dumme Frage!“ Sie lachte.<br />
„Wenn Sie am hellen Tag in London mit Maske und Umhang herumlaufen<br />
würden, würde man Sie schnell in die Bow Street schaffen.“ Als sie keine<br />
Antwort erhielt und auch das Kläffen <strong>des</strong> verwöhnten Pekinesen verstummte,<br />
fragte sie bestürzt: „Wo ist Horace?“<br />
„Er ist hier, Miss.“ Nach kurzem Schweigen fügte er hinzu: „Ich hoffe,<br />
dass ist nicht Ihr Hund. Ich ziehe größere Tiere vor.“<br />
„Natürlich gehört er nicht mir. Was machen Sie mit ihm? Er ist plötzlich<br />
so still.“ Ein schrecklicher Verdacht stieg in ihr auf. „Gütiger Himmel,<br />
Sie haben ihn doch nicht etwa erwürgt? Meine Tante würde mir das nie<br />
verzeihen.“<br />
„Keine Sorge, er liegt auf dem Rücken, alle vier Pfoten von sich gestreckt<br />
und lässt sich begeistert den Bauch kraulen.“<br />
„Seien Sie vorsichtig“, warnte sie. „Horace neigt dazu, Fremde zu beißen.“<br />
„Tiere beißen mich in der Regel nicht, Miss. Ich bin bisher nur einmal<br />
im Leben angegriffen worden --- von einer bösartigen kleinen Katze. Ich<br />
denke aber nicht, dass sie es noch einmal versuchen wird.“<br />
Verity presste fest die Lippen zusammen, bis der Kutscher sich erneut<br />
erkundigte, was sie allein im Park verloren hätte.<br />
„Ich musste eine Weile für mich sein“, erwiderte sie kühl. „Woher<br />
wussten Sie eigentlich, dass ich hier bin? Sind Sie mir gefolgt?“<br />
„Ja, ich folge Ihnen oft, ohne dass Sie es merken.“<br />
„Es ist nicht nötig, dass Sie mich noch länger im Auge behalten“, sagte<br />
Verity, die inzwischen zu einem Schluss gelangt war. „Ich habe mich entschieden,<br />
meinem Onkel nicht mehr zu helfen.“<br />
„Und warum nicht?“<br />
„Weil ich nicht glaube, dass ich für diese Art von Aufgabe die Richtige<br />
bin.“<br />
„Aber, aber, Mädchen. Da ist doch mehr dran als das.“ Sein Ton war<br />
weich und blieb auch so, als er hinzusetzte: „Ist etwas geschehen, was Sie<br />
durcheinander gebracht hat?“<br />
„Eigentlich nicht. Es ist nur ...“ Verity stieß einen langen Seufzer aus.<br />
„Ich habe von Anfang an nicht geglaubt, dass Brinley in der Sache verwickelt<br />
ist, und ich glaube es auch jetzt nicht. Alles, was ich in der vergangenen<br />
Woche herausgefunden habe, ist, dass sein Freund Marcus Ravenhurst<br />
etwas mit dem Erwerb der Grauschimmel zu tun hatte. Ob die Pferde<br />
allerdings ihm selbst gehört haben, oder ob er Brinley nur darauf aufmerksam<br />
gemacht hat, weiß ich nicht. Brin ist so listig wie ein Fuchs“,<br />
erklärte sie plötzlich gereizt. „Er weicht allen Fragen aus, die er nicht beantworten<br />
will. Offen gestanden, denke ich nicht, dass ich von ihm noch<br />
etwas erfahren werde.“<br />
„Ist das der einzige Grund, warum Sie nicht weitermachen wollen?“<br />
„Nicht nur. Ich fühle mich auch schuldig.“ Sie seufzte erneut. „Nachdem<br />
ich in letzter Zeit so oft seine Gesellschaft akzeptiert habe, fürchte<br />
ich, bei ihm einen falschen Eindruck erweckt zu haben. Wissen Sie, dass<br />
ich für ein paar Tage nach Ravenhurst eingeladen wurde?“<br />
„Ja, und?“<br />
Verity hob den Blick gen Himmel. Männer waren mitunter schrecklich<br />
begriffsstutzig. „Da ich die Ravenhursts nie zuvor getroffen habe, liegt der<br />
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Verdacht nahe, dass Brinley hinter dieser Einladung steckt. Ich fürchte,<br />
er ist im Begriff, sich in mich zu verlieben.“<br />
„Warum nicht, Miss? Sie sind ein überaus bezaubern<strong>des</strong> Mädchen.“<br />
Verity errötete vor Freude über dieses Kompliment. „Begreifen Sie denn<br />
nicht, weshalb ich die Einladung nicht annehmen kann? Es wäre sehr<br />
unfair. Er würde denken, dass seine Gefühle erwidert werden.“<br />
„Darüber würde ich mir an Ihrer Stelle nicht das hübsche Köpfchen<br />
zerbrechen. Sie sind nicht die Einzige, meines Wissens haben auch die<br />
Tochter <strong>des</strong> Earl und diese Freundin von Ihnen, das Fenner-Mädchen<br />
eine Einladung erhalten.“<br />
„Woher, um alles in der Welt, wissen Sie das?“ fragte Verity erstaunt.<br />
„Ich mache es mir zur Pflicht, über alles informiert zu sein, Miss. Außerdem<br />
ist allseits bekannt, dass der Major den drei jungen Damen den<br />
Hof macht. Sie haben die Einladungen schon vor Ihnen bekommen.“ Er<br />
machte eine bedeutungsvolle Pause, bevor er weitersprach. „In Ihrem Fall<br />
war das eine nachträgliche Überlegung, denke ich.“<br />
„Eine nachträgliche Überlegung“, wiederholte sie indigniert. Alles wurde<br />
plötzlich kristallklar. Brinley, dieser elende Wicht, hatte sie und die<br />
anderen nach Ravenhurst eingeladen, um zu prüfen, welche von ihnen<br />
am besten zur Viscountess taugen würde. Verity konnte sich <strong>des</strong> Gefühles<br />
nicht erwehren, dass sie im ganzen Leben noch nie so beleidigt worden<br />
war.<br />
„Das ist doch nur vernünftig, wenn man sich nicht entscheiden kann,<br />
wen man bevorzugt“, bemerkte der Kutscher. „Ich persönlich zweifle nicht<br />
daran, dass Sie die Beste sind, aber jeder nach seinem Geschmack.“<br />
Das Kompliment stieß jedoch auf taube Ohren. Verity bedachte im Augenblick<br />
insgeheim den Major mit wenig schmeichelhaften Beinamen. Sie<br />
schalt sich eine Närrin, weil sie seinetwegen Gewissensbisse verspürt hatte.<br />
Er war ein skrupelloses Scheusal, das mit den Gefühlen von Frauen<br />
nur spielte. Nicht mit ihren, natürlich. Sie war viel zu vernünftig, um auf<br />
ein attraktives Gesicht und geschliffene Manieren hereinzufallen. Ihr Blut<br />
erreichte langsam den Siedepunkt. Er verdiente es, eine Lektion erteilt zu<br />
bekommen.<br />
„Sie sind so ruhig, Mädchen.“<br />
„Ich denke nach.“<br />
„Worüber?“<br />
„Wie ich mich an dieser Kröte von Major rächen kann.“<br />
Ein seltsames Geräusch, wie ein unterdrücktes Glucksen, drang aus<br />
dem Gebüsch. „Ja, zeigen Sie es ihm, Miss. Natürlich bedeutet das, dass<br />
Sie nach Ravenhurst reisen müssen.“<br />
„Vielleicht sollte ich das tatsächlich tun.“<br />
„Wenn ich Sie wäre, würde ich nicht zögern. Vielleicht erfahren Sie ja<br />
bei dieser Gelegenheit, wann Ravenhurst ihm die beiden Grauschimmel<br />
besorgt hat. Und ich finde dort immer einen Weg, um mich mit Ihnen in<br />
Verbindung zu setzen.“ In den Büschen raschelten Blätter. „Ich muss jetzt<br />
gehen, Miss. Wenn ich zu lange hier herumlungere, denken die Leute, ich<br />
hätte nichts Gutes im Sinn.“<br />
Im nächsten Moment tauchte Horace wieder auf, unter <strong>des</strong>sen Halsband<br />
eine wilde Blume steckte. Verity nahm die zarte Blüte in die Hand<br />
und lächelte.<br />
War sie möglicherweise in Gefahr, ihr Herz an den geheimnisvollen<br />
Mann zu verlieren? Sicherlich nicht. Und doch ...<br />
9. Kapitel<br />
„Alles, was ich über diesen Ort gehört habe, ist wahr“, verkündete Lady<br />
Billington begeistert. „Hast du je etwas so Schönes gesehen?“<br />
Verity, die durch das Fenster der Mietkutsche schaute, musste ihr<br />
Recht geben. Seit es sich herumgesprochen hatte, dass sie ebenfalls nach<br />
Ravenhurst eingeladen worden war, hatte man ihr viel über die Schönheit<br />
<strong>des</strong> Landsitzes berichtet. Sie war daher auf den unvergleichlichen Augenblick<br />
vorbereitet, der sich ihnen bot, als die Kutsche in die Einfahrt einbog,<br />
die zum Vordereingang <strong>des</strong> Herrenhauses führte. Die eigentliche Überraschung<br />
war jedoch die Herrin <strong>des</strong> traumhaften Anwesens.<br />
Verity war nicht ganz sicher, wie sie sich die Gattin eines der reichsten<br />
Männer <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> vorgestellt hatte: Vielleicht als eine etwas arrogante<br />
Lady, die sich ihres eigenen Wertes bewusst war, mit untadeligen Manieren,<br />
eher förmlich als freundlich. Doch Sarah Ravenhurst entsprach in<br />
keiner Beziehung diesen Vorstellungen. Verity fühlte sich sofort zu der<br />
hübschen jungen Frau hingezogen, die ihnen lächelnd in der Halle entgegeneilte.<br />
„Sie Armen“, rief sie. „Es ist zwar nicht sehr weit von London hierher,<br />
aber es ist während der letzten Tage recht warm geworden. Besonders<br />
heute Nachmittag, herrschte eine drückende Hitze.“<br />
„Ich kann nicht leugnen, dass ich sehr froh bin, endlich die stickige<br />
Kutsche verlassen zu können“, erwiderte Lady Billington. „Meine Nichte<br />
und ich haben den Wagen nur gemietet. Es genügt, dass Sie Unterbringungsmöglichkeiten<br />
für die Zofen schaffen mussten. Da sollten Sie sich<br />
nicht auch noch um Kutscher und Reitknechte, geschweige denn die<br />
Pferde kümmern müssen.“<br />
„Das war sehr rücksichtsvoll von Ihnen. Lady Gillingham war gleichermaßen<br />
zuvorkommend“, sagte Sarah Ravenhurst, bevor sie hinzusetzte:<br />
„Wir verfügen zwar über eine normalerweise ausreichende Remise,<br />
doch die Reisekutsche der Countess ist sehr groß und nimmt daher viel<br />
Raum ein.“<br />
„Ist sie tatsächlich in dem altertümlichen Landauer angereist?“ erkundigte<br />
sich Lady Billington ungläubig. „Die Dowager Countess hat die Kut-<br />
35
sche speziell für sich anfertigen lassen. Ein Bett würde darin Platz haben.“<br />
„Meine Tante ist eine Quelle der Weisheit, Mrs. Ravenhurst. In der Gesellschaft<br />
geschieht kaum etwas, das ihrer Aufmerksamkeit entgeht“, bemerkte<br />
Verity, die für einen Moment meinte, in den Augen ihrer Gastgeberin<br />
einen forschenden Ausdruck zu entdecken, der in<strong>des</strong> sofort wieder<br />
verschwand.<br />
„Ich bin nur wenige Jahre älter als Sie, Miss Harcourt. Da können wir<br />
doch wohl auf die Förmlichkeit verzichten. Ich hoffe, Sie nennen mich<br />
Sarah und erlauben mir, Sie mit Verity anzureden.“<br />
Ohne eine Antwort abzuwarten, führte sie ihre Gäste eine breite Freitreppe<br />
hinauf. Unterwegs erklärte sie, dass für den Abend ein zwangloses<br />
Dinner geplant sei --- ganz unter Frauen, da Brinley noch nicht eingetroffen<br />
und ihr Ehemann leider in Geschäften abberufen worden sei. Verity<br />
verzog die Lippen zu einem etwas boshaften Lächeln, was unbemerkt<br />
blieb, da Sarah gerade Lady Billington ihr Zimmer zeigte. Als sie den<br />
Raum wieder verließ, hatte Verity sich wieder in der Gewalt.<br />
Sarah öffnete die nächste Tür auf dem Korridor. „Ich habe Sie hier untergebracht,<br />
weil ich dachte, Sie wären gern in der Nähe Ihrer Tante.“<br />
Verity trat in ein helles Schlafzimmer, das sehr geschmackvoll in verschiedenen<br />
Blautönen eingerichtet war. „Wie hübsch“, rief sie. „Blau ist<br />
meine Lieblingsfarbe.“<br />
„Ja, sehr hübsch“, bestätigte Sarah, deren Blick unverwandt auf den<br />
zarten Zügen ihres jungen Gastes ruhte. „Da ich annehme, dass Sie wie<br />
die anderen nach der Reise müde sind, lasse ich Sie jetzt allein.“<br />
„O nein, so empfindlich bin ich nicht. Falls Sie allerdings beschäftigt<br />
sind, möchte ich Sie nicht aufhalten.“<br />
„Im Gegenteil, ich würde gern eine Weile bleiben. Das gibt uns Gelegenheit,<br />
einander besser kennen zu lernen.“ Sie machte es sich in der<br />
Fensternische bequem und beobachtete Verity, die die Bänder ihrer Schute<br />
löste. Über ihre anderen Gäste wusste sie bereits ein bisschen Bescheid,<br />
doch in Bezug auf Verity hatte sich der Major nicht sehr mitteilsam<br />
gezeigt. „Wenn ich es recht verstanden habe, kennen Sie Brin schon<br />
lange?“ begann sie vorsichtig.<br />
„Ja, als wir uns zum ersten Mal trafen, war ich ungefähr zehn Jahre<br />
alt. Meine Mutter kehrte kurz nach dem Tod meines Vaters in ihr heimatliches<br />
Yorkshire zurück. Leider überlebte sie ihn nur um zwei Jahre, so<br />
dass ich bei meinem Onkel Lucius aufgewachsen bin.“ Verity lächelte<br />
zärtlich, als sie sich neben Sarah auf die gepolsterte Fensterbank setzte.<br />
„Er ist ein überaus liebenswerter Mann. Wir sind bestens miteinander<br />
ausgekommen.“<br />
„Dann sind Sie zu beneiden, meine Liebe. Mein Vormund war ein äußerst<br />
unangenehmer Mensch.“ Ein verschmitztes Lächeln umspielte Sarahs<br />
Lippen. „Allerdings wurde aus ihm ein wunderbarer Ehemann. Ich<br />
hätte keinen besseren finden können.“<br />
„Ravenhurst wahr Ihr Vormund?“ Verity klatschte entzückt in die<br />
Hände. „Bitte erzählen Sie mir alles.“<br />
Sarah hatte beabsichtigt, so viel wie möglich über diese temperamentvolle<br />
junge Frau zu erfahren, statt<strong>des</strong>sen erzählte sie ihr nun ihre eigene<br />
Lebensgeschichte --- wie sie vor drei Jahren aus Bath weggelaufen war,<br />
wie Ravenhurst sie verfolgt und schließlich in einem Gasthof an der Straße<br />
aufgespürt hatte, in dem später ein Mord verübt worden war.<br />
Verity lauschte interessiert, ihre schönen Augen blitzten. „Wie aufregend!<br />
Und natürlich auch sehr romantisch. Sie haben sich tatsächlich in<br />
Ihren Vormund verliebt und ihn geheiratet. Es ist sehr schade, dass er<br />
nicht hier ist. Ich hätte ihn gern kennen gelernt.“<br />
„Er wird für die Gesellschaft am Freitag früh genug zurückkehren“,<br />
versicherte Sarah. „Es war ein unglücklicher Umstand, dass er ausgerechnet<br />
zu diesem Zeitpunkt weggerufen wurde.“<br />
„Ja, ausgerechnet jetzt“, pflichtete Verity ihr treuherzig bei.<br />
Sarah brach in Gelächter aus. „Wie ich merke, ist es pure Zeitverschwendung,<br />
Ihnen etwas vormachen zu wollen. Ja, der Schuft hat mich<br />
absichtlich allein gelassen“, gab sie zu. „Marcus kann manchmal sehr<br />
ungeduldig sein, besonders bestimmten Mitgliedern <strong>des</strong> weiblichen Geschlechts<br />
gegenüber. Alles in allem ist es vermutlich gut, dass er beschlossen<br />
hat, sich rar zu machen.“<br />
„Dann ist es mehr als großzügig von ihm, dass er sein Haus einer<br />
Schar Frauen geöffnet hat, von denen er die meisten vermutlich nicht<br />
kennt“, erwiderte Verity ehrlich. „Was dagegen Major Carter betrifft, so<br />
lassen seine Manieren sehr zu wünschen übrig. Nicht nur, dass er Ihre<br />
offensichtlich enge Freundschaft dazu benutzt, um Sie zu überreden, bestimmte<br />
Personen einzuladen --- er besitzt nicht einmal genügend Höflichkeit,<br />
um Sie beim Eintreffen Ihrer Gäste zu unterstützen.“<br />
Dass sie aus der angenehmen Stimme keinen Groll, sondern lediglich<br />
Gleichgültigkeit herauszuhören glaubte, störte Sarah mehr als alles andere,<br />
und so beeilte sie sich, ihren Freund zu verteidigen. „Brin hat mich<br />
gewarnt, dass er nicht vor dem Abend hier sein kann. Und ich wurde von<br />
ihm auch nicht genötigt, mein Haus zu öffnen, ganz im Gegenteil.“ Sie<br />
wandte sich um und betrachtete durch das Fenster die weiten Grünflächen.<br />
„Ich liebe Ravenhurst und bin zufrieden damit, den Großteil eines<br />
Jahres hier zu verbringen. Marcus und ich gelten als altmodisches Ehepaar,<br />
weil wir uns selbst genug zu sein scheinen. Doch seit unserer Hochzeit<br />
vor drei Jahren habe ich ihm zwei Kinder geboren und war nur zweimal<br />
für kurze Zeit in London. Ich bin ernsthaft in Gefahr, ein Sonderling<br />
zu werden.“ Sarah blickte Verity an. „Als Brin mich bat, die Gastgeberin<br />
für einige elegante junge Damen zu spielen, habe ich mit Freuden eingewilligt.<br />
Jetzt fürchte ich nur, es könnte Ihnen nach den Aufregungen der<br />
Saison bei den schlichten Vergnügungen auf dem Land bald langweilig<br />
36
werden.“<br />
Verity hatte nicht den geringsten Grund, an der Aufrichtigkeit ihrer<br />
Gastgeberin zu zweifeln, und merkte zu ihrer Überraschung, dass ihr Ärger<br />
sich schnell verflüchtigte. „Ich kann Ihnen versprechen, dass das<br />
nicht der Fall sein wird. Genau wie Sie liebe ich das Landleben. Glauben<br />
Sie mir, Ihre Einladung, der Stadt und den endlosen Festen zu entfliehen,<br />
war ein Gottesgeschenk.“<br />
Diese Erklärung schien Sarah zu befriedigen. Sie plauderte nun ganz<br />
offen über die Themen, die ihr am Herzen lagen. Als die Hausherrin einige<br />
Zeit später das Zimmer verließ, war Verity überzeugt, dass die bezaubernde<br />
Mrs. Ravenhurst dem Major sehr zugetan war.<br />
Sarah wusste bestimmt genau, warum Brinley sie gebeten hatte, gewisse<br />
junge Damen einzuladen. Ob sie allerdings seine Motive billigte, war<br />
eine andere Sache. Es war außerdem offensichtlich, dass sie ihren Ehemann<br />
sehr liebte. Bestimmt wünschte sie, dass der Mann, den sie fast als<br />
einen Bruder betrachtete, das gleiche Glück erleben sollte.<br />
Der armen Sarah steht eine bittere Enttäuschung bevor, dachte Verity.<br />
Für Brin spielten seine Gefühle keine Rolle, sonst hätte er nicht eine von<br />
vier möglichen Kandidatinnen als zukünftige Viscountess in Betracht gezogen.<br />
Verity betätigte die Glockenschnur, um Meg zu rufen. Bis zu ihrer Ankunft<br />
hier hatte sie davon geträumt, sich an dem Mann zu rächen, der<br />
anzunehmen gewagt hatte, dass sie sich um seine Anerkennung bemühen<br />
würde. Das Zusammentreffen mit Sarah Ravenhurst hatte eine beruhigende<br />
Wirkung auf sie ausgeübt, sodass es sie seltsamerweise nicht mehr<br />
nach Vergeltung gelüstete.<br />
Trotzdem verdiente er eine Lektion, und sie zweifelte daran, ob sie,<br />
wenn sich die Gelegenheit dazu bieten würde, der Versuchung widerstehen<br />
könnte. Im Augenblick hatte sie jedoch nicht die Absicht, Brin in Verlegenheit<br />
zu bringen, wie sie das ursprünglich geplant hatte.<br />
Verity gedachte sich lediglich zurückzulehnen und das Schauspiel zu<br />
beobachten, wie die drei anderen jungen Ladys geprüft wurden, während<br />
sie selbst inzwischen ihre Bekanntschaft mit der charmanten Mrs. Ravenhurst<br />
vertiefte.<br />
Beim Dinner am Abend hatte Verity genügend Gelegenheit, ihre Gastgeberin<br />
eingehender zu studieren. Wenn Sarah befürchtete, sie könnte ein<br />
Sonderling werden, war davon kein Anzeichen zu erkennen. Sie war<br />
charmant und liebenswürdig und --- was Verity besonders gut gefiel ---<br />
behandelte jeden gleich. Selbst der Countess of Westbury, die gesellschaftlich<br />
den höchsten Rang bekleidete, erwies sich keine besondere<br />
Reverenz.<br />
Verity hatte auch die Chance, sich die drei Bewerberinnen näher anzuschauen.<br />
Clarissa, die bemerkenswert heiter wirkte, wahrscheinlich weil sie sich<br />
wieder auf dem Land befand, blieb für sie weiterhin die Favoritin. Sie war<br />
gutherzig und bescheiden und würde jedem Mann eine fügsame Ehefrau<br />
sein.<br />
Andererseits ließ sich nicht leugnen, dass auch Hilary Fenner ein nettes<br />
Mädchen war. Es war ihr ständiges Plappern, das gegen sie sprach ---<br />
ein Vorwurf, den man der Tochter der Countess nicht machen konnte.<br />
Abgesehen von einem gelegentlichen „Ja“ oder „Nein“, wenn sie direkt<br />
angesprochen wurde, äußerte sie kaum ein Wort. Doch als Sarah fragte,<br />
ob die jungen Damen am nächsten Morgen vielleicht Lust hätten, einen<br />
Ort ihres Interesses zu besuchen, hob Lady Caroline den Kopf und verkündete:<br />
„Wir fahren nach Oxford.“<br />
Veritys amüsierter Blick begegnete über den Tisch hinweg dem ihrer<br />
ebenfalls belustigten Gastgeberin.<br />
Es blieb der unerschütterlich gleichmütigen Lady Billington überlassen,<br />
das darauf folgende Schweigen zu unterbrechen. „Ich finde, das ist<br />
ein großartiger Einfall. Ich bin noch nie dort gewesen und würde das gern<br />
nachholen.“<br />
Mit Ausnahme von Verity und der Countess, die sich wegen <strong>des</strong> warmen<br />
Wetters weigerte, das Haus zu verlassen, stimmten alle anderen zu.<br />
Sarah versprach, ihnen ihre offene Kutsche zur Verfügung zu stellen.<br />
„Wir passen doch nicht alle in einen Wagen“, wandte Hilary ein, nachdem<br />
ihre Mutter der Gastgeberin für ihr freundliches Angebot gedankt<br />
hatte.<br />
„Wir können doch zusätzlich unsere Kutsche nehmen“, schlug Mrs.<br />
Fenner vor.<br />
Ihrer Tochter gefiel das ganz und gar nicht. „In der frischen Luft ist es<br />
angenehmer.“<br />
„Ich werde Sie nicht begleiten, sondern bei Lady Westbury bleiben“,<br />
teilte ihnen Sarah mit.<br />
„Und ich werde auf den Ausflug ebenfalls verzichten“, verkündete Verity,<br />
was ihr einen besorgten Blick ihrer Tante einbrachte.<br />
„Warum? Fühlst du dich nicht wohl, Liebes?“<br />
„Aber ja, Tante Clara --- gesund und munter wie eh und je. Es ist nur<br />
so, dass ich lieber diese herrliche Parkanlage erkunden möchte.“<br />
„Damit bleiben immer noch sechs von uns.“ Hilarys Ton zeigte deutlich,<br />
wie sehr ihr die Vorstellung missfiel, eine von denen zu sein, die in<br />
einer geschlossenen Kutsche sitzen mussten.<br />
„Ich bin sicher, dass Brinley Sie mit dem größten Vergnügen begleiten<br />
wird“, warf Sarah ein. „Da er wahrscheinlich seinen Curricle nehmen will,<br />
kann eine der jungen Damen mit ihm fahren.“<br />
„Das werde ich sein.“<br />
Lady Carolines gebieterische Äußerung bewirkte, dass in Veritys Augen<br />
erneut ein mutwilliges Funkeln aufblitzte, das sich verstärkte, als sie den<br />
37
feindseligen Blick bemerkte, mit dem Hilary die hochmütige Tochter <strong>des</strong><br />
Earl bedachte. Wie es schien, würden ihr die nächsten Tage insgeheim<br />
einiges Vergnügen bescheren. Hilary würde mit Lady Caroline vermutlich<br />
noch vor Ende <strong>des</strong> Aufenthaltes aneinander geraten, und es würde interessant<br />
sein, zu beobachten, ob die bescheidene Clarissa es schaffen<br />
würde, sich den ihr gebührenden Anteil an Aufmerksamkeit von Seiten<br />
<strong>des</strong> Majors zu sichern. Am meisten interessierte Verity jedoch, wie ihre<br />
Gastgeberin auf die Ereignisse der nächsten Tage reagieren würde. Falls<br />
sie sich nicht sehr täuschte, verfügte Sarah Ravenhurst über den gleichen<br />
Sinn für Humor wie sie selbst.<br />
Nach dem Dinner begaben sich die Damen in den Großen Salon, wo<br />
neben dem Pianoforte auch noch eine goldbemalte Harfe stand. Sarahs<br />
Vorschlag, ob nicht eine der jungen Damen Lust hätte, sie mit einer Darbietung<br />
zu unterhalten, wurde sofort von Lady Caroline aufgegriffen. „Ich<br />
werde spielen“, verkündete sie in ihrer schon bekannten energischen Art.<br />
Da sich die Tochter <strong>des</strong> Earl als sehr begabte Pianistin erwies, stimmte<br />
Verity nach Ende ihres Vortrages in den allgemeinen Beifall mit ein. Hilary,<br />
die sich nicht ausstechen lassen wollte, nahm ihren Platz auf dem<br />
Hocker ein und spielte ebenfalls recht gut. Als dann Clarissa aufgefordert<br />
wurde, ihr Können an der Harfe zu zeigen, beschloss Verity, nach draußen<br />
zu gehen.<br />
Zum Glück stand ihr Stuhl in der Nähe einer geöffneten Fenstertür.<br />
Verity wartete, bis alle Blicke auf Clarissas schlanken Fingern ruhten, mit<br />
denen sie die Saiten zupfte, um hinauszuschlüpfen --- unbemerkt, wie sie<br />
hoffte ---, und eilte den Weg entlang. Hinter einer Ecke stieß sie gegen<br />
eine große Gestalt. Ein Paar kräftiger Hände hielten sie an den Oberarmen<br />
fest. Als sie den Kopf hob, schaute sie in die vergnügt blitzenden<br />
braunen Augen Major Carters.<br />
„Lassen Sie mich vorbei“, befahl sie, nachdem sie vergeblich versucht<br />
hatte, sich aus seinem Griff zu befreien. „Außerdem ist Ihre Anwesenheit<br />
im Haus erwünscht.“<br />
Er hob spöttisch eine Braue. „Und Ihre nicht?“<br />
„Nein, nicht im Augenblick.“<br />
Da gerade leise Musik erklang, lächelte er. „Offenbar sind Sie eine junge<br />
Lady, die den schönen Künsten nicht zugetan ist.“<br />
„Nicht diesem schrecklichen Geklimper“, gab Verity zu, die plötzlich<br />
feststellte, dass sie sein Lächeln erwiderte. „Benehmen Sie sich wie ein<br />
Gentleman, Brin, und lassen Sie mich vorbei, bevor meine Tante sich auf<br />
die Suche nach mir macht.“<br />
„Jetzt bin ich also wieder Brin“, stellte er fest. „Seit unserem Zusammentreffen<br />
in London musste ich mich mit einem formellen ‘Major Carter’<br />
und während der letzten Tage mit einem kühlen ‘Sir’ zufrieden geben. Ich<br />
kann daher nur annehmen, dass das, was ich getan habe --- nur der<br />
Himmel weiß, worum es sich gehandelt hat --- vergeben und vergessen<br />
ist.“ Als er bemerkte, dass ihre Heiterkeit einem wachsamen Gesichtsausdruck<br />
wich, wechselte er das Thema. „Sie haben vermutlich bereits zu<br />
Abend gegessen. Sarah pflegt in Ravenhurst einen ländlichen Tagesablauf<br />
einzuhalten. Hatten Sie eine angenehme Reise? Wann sind Sie angekommen?“<br />
„Vor einigen Stunden, und wir waren pünktlich. Was man von Ihnen<br />
nicht gerade behaupten kann.“<br />
„Enttäuscht, dass ich nicht hier war, um Sie zu begrüßen, Mädchen?“<br />
Sie bedachte ihn mit einem scharfen Blick. In seiner Stimme schwang<br />
ein vage vertrauter Ton mit. „Ich habe noch nie gehört, dass Sie Yorkshire-Dialekt<br />
benutzt haben.“<br />
„Von Zeit zu Zeit schon“, gab er zu. Als er Verity losließ, machte sie<br />
sich das sofort zunutze und trat einen Schritt zurück. „Die Männer in<br />
meinem Regiment fanden es amüsant. Als Junge wurde ich allerdings<br />
je<strong>des</strong> Mal gescholten, wenn ich dabei erwischt wurde. Ich war als Sohn<br />
eines Gentleman geboren und sollte auch wie ein Gentleman reden.“<br />
Verity erinnerte sich, dass Arthur Brinley seinen Enkel bei zahllosen<br />
Gelegenheiten als „erstklassige Ware“ bezeichnet hatte.<br />
„Offenbar hat Ihr Großvater Sie nicht genug verprügelt, sonst wären<br />
Sie nicht wieder in Ihre frühere Verhaltensweise zurückgefallen.“<br />
Zu ihrer Überraschung reagierte er nicht auf ihren sanften Spott. Nach<br />
ein paar Sekunden wandte sie den Blick von seinem kunstvoll geschlungenen<br />
Halstuch und sah in sein Gesicht --- bereute diese Entscheidung<br />
jedoch sofort. In seinen braunen Augen stand ein seltsamer Ausdruck,<br />
eine Mischung aus Bewunderung und etwas anderem, etwas, <strong>des</strong>sen Intensität<br />
sie zutiefst verstörte.<br />
„Sie sollten ins Haus gehen und sich zeigen, Major Carter.“ Das Sprechen<br />
fiel ihr schwer, weil ihre Kehle plötzlich wie ausgedörrt war. „Die<br />
Damen erwarten Sie voller Vorfreude.“<br />
„Darf ich Sie hineinbegleiten? Ich bin sicher, dass die junge Lady inzwischen<br />
ihren musikalischen Vortrag beendet hat.“<br />
„Vielen Dank, nein. Ich möchte gern noch ein bisschen im Garten herumwandern.“<br />
Verity verschwieg wohlweislich, dass sie Zeit benötigte, sich<br />
zu sammeln. Sie hatte das Gefühl, sich wie ein liebeskrankes Schulmädchen<br />
zu benehmen, obwohl nicht der leiseste Grund dazu bestand. Sie<br />
war über ihre Vernarrtheit von damals hinweg --- oder etwa nicht?<br />
Ohne ein weiteres Wort zu äußern, drehte sie sich um und entfernte<br />
sich. Sie wusste, dass er ihr nachblickte, und widerstand nur mühsam<br />
dem kindischen Wunsch, loszurennen. Erst als sie sich hinter einer Wegbiegung<br />
außerhalb seiner Sichtweite befand, entspannte sie sich, nachdem<br />
sie sich durch einen Blick über ihre Schulter hinweg vergewissert<br />
hatte, dass er ihr nicht folgte.<br />
Am Ende <strong>des</strong> Pfa<strong>des</strong>, der sich an dem ganzen Haus entlangzog, erreichte<br />
Verity den Stallhof. Ein stämmiger älterer Reitknecht führte gera-<br />
38
de Brinleys Pferde in die Boxen. Sie überquerte den saubersten Hof, den<br />
sie je gesehen hatte, und ging in den Stall. Zu beiden Seiten <strong>des</strong> Ganges<br />
befanden sich geräumige Abteile mit edlen Pferden, einige zupften zufrieden<br />
an dem duftenden Heu, andere streckten die Köpfe über die halbhohen<br />
Türen und beobachteten interessiert die Neuankömmlinge.<br />
„Guten Abend, Miss. Es ist ein schöner Abend.“<br />
„Ja, in der Tat.“ Verity lächelte und trat zu dem freundlichen Stallburschen,<br />
der damit beschäftigt war, einen der Grauschimmel abzureiben.<br />
„Wunderbare Tiere, nicht wahr?“<br />
„Das sind sie, Miss. Und kaum von dem Paar dort zu unterscheiden,<br />
die meinem Herrn gehören.“ Er deutete auf zwei Boxen am En<strong>des</strong> <strong>des</strong><br />
Ganges, in denen zwei weitere Schimmel standen. „Mein Herr versteht<br />
etwas von Pferden, Miss. Das sollte er wohl auch“, fügte er stolz hinzu.<br />
„Schließlich war er mein Schüler.“<br />
Verity wollte mit den Untersuchungen ihres Onkels nichts mehr zu tun<br />
haben, das hatte sie sich fest vorgenommen. Als sie ihn vor zwei Tagen<br />
von ihrer Entscheidung informiert hatte, war sie sich wie eine Verräterin<br />
vorgekommen. Sie hätte alles gegeben, um ihrem Heimatland einen<br />
Dienst zu erweisen, wusste aber, dass es ihr nicht lag, Menschen auszuspionieren,<br />
die sie mochte. Zu ihrer eigenen Verwunderung hörte sie sich<br />
selbst sagen: „Ach ja, ich erinnere mich. Major Carter sprach davon, dass<br />
Mr. Ravenhurst ein exzellenter Pferdekenner sei. Wenn ich das richtig<br />
verstanden habe, hat er ihm auch dieses Paar verschafft.“<br />
„Ja, Miss.“<br />
„Es überrascht mich, dass der Major ihn dazu gebracht hat, sich von<br />
diesen herrlichen Tieren zu trennen.“<br />
„Die Grauschimmel haben meinem Herrn nicht gehört, Miss Harcourt.“<br />
Verity dankte insgeheim dem Himmel, dass es ihr erspart blieb, entscheiden<br />
zu müssen, ob sie jetzt auch noch Informationen über Marcus<br />
Ravenhurst weitergeben sollte. Jetzt wusste sie wenigstens, dass der Ehemann<br />
ihrer liebenswürdigen Gastgeberin in keine verräterischen Machenschaften<br />
verwickelt war.<br />
Plötzlich kam ihr ein Gedanke. „Woher kennen Sie meinen Namen?“<br />
fragte sie.<br />
„Major Brinley hat ihn mir genannt.“ Der Mann schmunzelte. „‘Sutton,<br />
hat er gesagt, wenn Sie eine junge Dame mit tiefblauen Augen und Haaren<br />
in der Farbe von Rabenflügeln sehen, das ist Miss Harcourt. Sie können<br />
für sie ein lebhaftes Pferd satteln, wenn sie ausreiten will. Sie ist eine<br />
gute Reiterin’, hat er gesagt.“<br />
Verity fühlte sich keineswegs geschmeichelt. Sie hatte nicht die leiseste<br />
Ahnung, woher Brin wissen konnte, dass sie eine gute Reiterin war. Er<br />
hatte sie seit langem nicht mehr zu Pferde gesehen, und seinerzeit war sie<br />
gezwungen gewesen, sich mit einem zahmen Pony zu begnügen.<br />
„Wie rücksichtsvoll von ihm, Sie über meine Fähigkeiten zu informie-<br />
ren“, stieß sie zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor, bevor<br />
sie erneut Brins Grauschimmel betrachtete. „So herrliche Pferde sieht<br />
man nicht alle Tage. Wissen Sie zufällig, wie es Ihrem Herrn gelungen ist,<br />
dem Major diese Schönheiten zu verschaffen?“<br />
Falls er die Frage als ungewöhnlich neugierig empfand, zeigte er das<br />
nicht. „Sie stammen vom Gut der Castlefords. Es grenzt im Norden an das<br />
meines Herrn.“<br />
Diese Information gedachte Verity an Lord Charles weiterzugeben. Er<br />
würde sie bestimmt interessant finden.<br />
„Ich gehe wohl besser ins Haus, sonst denkt Ihre Herrin noch, dass ich<br />
mich verirrt habe. Es hat mich gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen,<br />
Sutton“, sagte sie und lächelte ihn strahlend an. Später äußerte er, Miss<br />
Harcourt habe ein Lächeln, bei dem das Herz <strong>des</strong> härtesten Mannes<br />
schmelzen würde.<br />
Verity war sich der Wirkung nicht bewusst, die sie auf den Stallknecht<br />
ausgeübt hatte. Sie ging zum Vordereingang, wo sie von Stebbins eingelassen<br />
wurde, der ihre einen Brief aushändigte.<br />
„Er wurde unter der Tür durchgeschoben“, erklärte er, als er sah, wie<br />
verblüfft sie auf ihren in einer unbekannten Handschrift geschriebenen<br />
Namen blickte. „Major Carter hat den Brief entdeckt, als ich ihn vor kurzem<br />
einließ.“<br />
Nachdem sich Verity bei dem Butler bedankt hatte, verlor sie keine<br />
Zeit, ihre Neugier zu befriedigen. Sie lief hinauf in ihr Zimmer, erbrach<br />
das Siegel und las:<br />
Liebes Mädchen,<br />
ich halte mich, wie versprochen, in Ihrer Nähe auf. Wenn Sie<br />
sich aus irgendeinem Grund mit mir in Verbindung setzen wollen,<br />
gehen Sie nach Houghton in den Gasthof „The Three<br />
Swans“. Dort fragen Sie nach Thomas Stone. Er wird mir Ihre<br />
Botschaft übermitteln.<br />
Ihr Kutscher<br />
Verity lächelte. War er wirklich „ihr“ Kutscher? Wichtiger noch, wollte<br />
sie das überhaupt?<br />
Seit dem Abend <strong>des</strong> Morland-Balles schlich er sich immer wieder in ihre<br />
Gedanken ein. Niemand konnte ihr einen Hang zur Romantik vorwerfen,<br />
doch die bloße Erinnerung an seine Küsse genügte, um tief in ihr<br />
brennen<strong>des</strong> Verlangen zu wecken.<br />
Sie schüttelte über ihre eigene Torheit den Kopf. Was wusste sie denn<br />
von dem Mann? Während sie noch einmal die in einer kühnen Handschrift<br />
abgefassten Zeilen überflog, rief sie sich das Bild <strong>des</strong> geheimnisvollen<br />
Mannes ins Gedächtnis.<br />
Er war intelligent und gebildet, auch wenn er in breitem Yorkshire-<br />
39
Dialekt sprach. Verity vermutete ohnehin, dass er das ihretwegen tat,<br />
denn es hatte zahllose Gelegenheiten gegeben, bei denen sein Dialekt keineswegs<br />
rein gewesen war. Abgesehen von dieser kleinen Täuschung,<br />
zweifelte sie nicht an seiner Loyalität und Verlässlichkeit. Andernfalls<br />
hätte Lord Charles ihn niemals für eine so wichtige Aufgabe ausgewählt.<br />
Seltsamerweise vertraute sie ihm ebenfalls, und zwar vom ersten Mal an,<br />
als er sie im Stall geküsst hatte. Sie hatte instinktiv gewusst, dass er ihr<br />
niemals ein Leid zufügen würde.<br />
Aber war das für sie Grund genug, um zu überlegen, ob sie den Rest<br />
ihres Lebens an seiner Seite verbringen wollte? Natürlich nicht! Es war<br />
über alle Maßen töricht, an eine Ehe zu denken, bevor sie ihn nicht besser<br />
kennen gelernt hatte. Nur eine leichtsinnige Frau würde ihrem Herzen<br />
erlauben, über ihren Verstand zu triumphieren.<br />
Verity ergriff das Buch mit Gedichten, das sie aus London mitgebracht<br />
hatte, und legte den Brief hinter die wilde Blume, die sie sorgfältig gepresst<br />
hatte.<br />
„Anscheinend bin ich ernsthaft in Gefahr, eine leichtsinnige Frau zu<br />
werden“, murmelte sie.<br />
10. Kapitel<br />
Als Perkins am nächsten Morgen Brinleys Schlafzimmer betrat, stellte<br />
er fest, dass dieser, bereits mit Breeches und Hemd bekleidet an seinem<br />
Frisiertisch saß.<br />
Er war erst seit wenigen Wochen <strong>des</strong>sen Kammerdiener und wusste inzwischen,<br />
dass er keinen rücksichtsvolleren Herrn hätte finden können.<br />
Der Major war noch kein einziges Mal zornig geworden, wirkte aber<br />
manchmal ein wenig geistesabwesend, als ob etwas ihn belastete. An diesem<br />
Morgen schien er in<strong>des</strong> bester Stimmung zu sein. Er pfiff eine fröhliche<br />
Melodie vor sich hin, verstummte jedoch sogleich, um seinen Kammerdiener<br />
heiter zu begrüßen.<br />
„Ja, es ist ein schöner Tag“, bestätigte Perkins und reichte dem Major<br />
ein gestärktes Halstuch, bevor er die anderen, die er mitgebracht hatte,<br />
sorgsam in einer Kommode verstaute.<br />
„Ist schon jemand auf, Perkins?“ erkundigte sich Brinley, während er<br />
sich die Krawatte kunstvoll um den Hals schlang.<br />
„Ich klaube, die Mistress ist im Frühstückssalon, Sir.“<br />
Brinley musste lächeln, weil sich der Mann unabsichtlich versprochen<br />
hatte. Perkins hatte jahrelang im Haushalt der Ravenhursts gearbeitet,<br />
bevor er sein Kammerdiener geworden war. Sarah war für diesen Wechsel<br />
verantwortlich, nachdem sie erfahren hatte, dass Brin sein Offizierspatent<br />
verkauft hatte und für einige Zeit in der Stadt leben würde.<br />
„Du kannst dich nicht weiterhin allein ankleiden, Brin“, hatte sie ihm<br />
kategorisch erklärt. „Das geht einfach nicht. Du solltest Perkins fragen,<br />
ob er dein persönlicher Diener werden will. Er ist sehr gewissenhaft in<br />
Ausübung seiner Pflichten und würde einen ausgezeichneten Kammerdiener<br />
für dich abgeben.“<br />
„Sollten Sie vergessen haben, dass ich nicht verheiratet bin, Perkins?<br />
Sie haben keine Herrin --- noch nicht.“<br />
Der junge Mann errötete bis unter die Haarwurzeln. „Ich bitte um Entschuldigung,<br />
Sir.“<br />
„Keine Sorge, es macht mir nichts aus. Obwohl es Ihren früheren<br />
Herrn bestimmt nicht erfreuen würde, hören zu müssen, dass Sie seine<br />
Frau meine „Mistress“ nennen“, sagte Brin augenzwinkernd.<br />
„Sir, das habe ich nicht gemeint. Ich würde mir nie träumen lassen ...“<br />
Perkins hielt mit seinen etwas konfusen Erklärungen inne, weil er merkte,<br />
dass er geneckt worden war. Er verzog das Gesicht zu einem jungenhaften<br />
Grinsen. „Wohl kaum, Sir.“<br />
„Wie schön, dass Sie einen Scherz verstehen, Perkins“, meinte Brin zufrieden.<br />
„Wissen Sie zufällig, ob Mrs. Ravenhurst allein ist?“<br />
„Eine der jungen Ladys hat ihr Zimmer bereits verlassen. Ich bin ihr<br />
vor ein paar Minuten auf der Treppe begegnet.“<br />
„Welche?“<br />
„Es tut mir Leid, aber ich bin mit den Namen noch nicht vertraut.“<br />
„Beschreiben Sie sie.“<br />
„Sie war sehr hübsch.“<br />
„Das hilft mir wenig. Sie sind alle hübsch.“<br />
Perkins vergaß sich selbst so weit, um zu bemerken: „Nicht so wie diese<br />
--- mit schwarzen Haaren und den entzückenden blauen Augen ...“<br />
„Das genügt.“ Brin war mit den Falten seiner Krawatte zufrieden und<br />
stand auf. Er ließ sich in die untadelig geschnittene Jacke helfen und<br />
verlor keine weitere Zeit, um sich Sarah und Verity im Frühstückssalon<br />
zuzugesellen. Von der ersteren wurde ihm ein charmantes Lächeln zuteil,<br />
die letztere nickte lediglich, als er nach ein paar heiteren Begrüßungsworten<br />
neben der Gastgeberin Platz nahm.<br />
„Unser Gast scheint heute Morgen nicht gerade bester Stimmung zu<br />
sein, Sarah“, stellte er herausfordernd fest, während er sich den Teller mit<br />
einigen Scheiben Schinken belud. „Ich kann mich nicht erinnern, dass sie<br />
als Kind je launisch gewesen wäre. Eigensinnig ja, aber nicht zu Anfällen<br />
von Verdrießlichkeit neigend. Ich kann nur annehmen, dass sich die<br />
Menschen ändern, wenn sie älter werden“, setzte er mit einem Achselzucken<br />
hinzu.<br />
„Jammerschade, dass das bei Ihnen offenbar nicht der Fall war.“ Veritys<br />
Antwort bewirkte, dass Brin und die Dame <strong>des</strong> Hauses in Gelächter<br />
ausbrachen.<br />
„Wie ich sehe, haltet ihr beide nicht viel von Förmlichkeit, und das ist<br />
gut so“, sagte Sarah. „Zu deiner Information, Brin, Verity leidet nicht un-<br />
40
ter einem Anfall von Verdrießlichkeit, wie du es ausgedrückt hast. Wir<br />
haben uns sehr freundschaftlich unterhalten, bevor du hereingekommen<br />
bist.“<br />
Er hob eine Braue. „Über mich?“<br />
„Was um alles in der Welt veranlasst Sie zu der Annahme, wir würden<br />
den Tag damit beginnen, über ein so belangloses Thema zu reden?“ warf<br />
Verity ein, bevor Sarah etwas erwidern konnte.<br />
Sie vermutete, dass Brin sie absichtlich provozieren wollte. Warum<br />
musste er zum Frühstück erscheinen und so verdammt attraktiv aussehen?<br />
Sein bloßer Anblick genügte, um das Herz jeder jungen Frau zum<br />
Flattern zu bringen. Doch Verity war entschlossen, ihm nicht zu zeigen,<br />
welche Wirkung er auf sie ausübte. Und wenn das bedeutete, sich<br />
schlecht benehmen zu müssen, dann ließ sich das leider nicht ändern.<br />
„Bevor Sie hereinkamen, hat Sarah mir angeboten, mich in ihrem<br />
wunderschönen Haus herumzuführen, nachdem die anderen Gäste nach<br />
Oxford aufgebrochen sind.“<br />
Da Verity gerade nach ihrer Kaffeetasse griff, sah sie nicht, wie sehr<br />
sich sein Gesichtsausdruck plötzlich veränderte. Sarah dagegen bemerkte,<br />
dass sein Lächeln schwand und einem Stirnrunzeln Platz machte.<br />
„Verity hat sich gestern Abend entschlossen, an dem Ausflug nicht teilzunehmen,<br />
weil sie sich lieber auf Ravenhurst umschauen möchte.“ Sie<br />
wandte sich an die junge Frau, für die sie sich mehr und mehr interessierte.<br />
„Sie können natürlich auch ausreiten, wann immer Ihnen der Sinn<br />
danach steht. Schicken Sie einfach jemand in den Stall, dann wird Sutton<br />
dafür sorgen, dass ein passen<strong>des</strong> Pferd für Sie gesattelt wird. Ich wäre<br />
Ihnen sogar ausgesprochen dankbar, wenn Sie während Ihres Aufenthaltes<br />
hier meine Stute reiten. Ich bewege sie bei weitem nicht so oft, wie ich<br />
eigentlich sollte.“<br />
„Nichts wäre mir lieber, Sarah, nur habe ich leider versäumt, mein<br />
Reitkostüm mitzubringen.“<br />
„Das ist kein Problem. Wir haben fast die gleiche Größe. Es wird mir<br />
ein Vergnügen sein, Ihnen eines meiner Kostüme zu leihen.“<br />
„Du solltest sie nicht ermutigen, Sarah“, sagte Brin, ohne Verity die<br />
Möglichkeit zu geben, sich für das großzügige Angebot zu bedanken.<br />
„Miss Harcourt neigte schon immer dazu, ihre eigenen Wege zu gehen. Es<br />
wird damit enden, dass sie sich verirrt und du jeden auch nur halbwegs<br />
gesunden Mann beauftragen musst, sie zu suchen.“<br />
Verity senkte den Blick und betrachtete die Reste auf ihrem Teller. Zugegeben,<br />
sie war als Kind gelegentlich allein auf Entdeckungstour gegangen,<br />
aber sie hatte sich niemals so weit entfernt, dass ihre Mutter oder ihr<br />
Vormund Grund zur Sorge gehabt hätten, weil sie zu lange weggeblieben<br />
war.<br />
Seit sie vor fünf Jahren das Internat verlassen hatte, hatte sie nur<br />
einmal --- bei ihrem unvergesslichen aber fruchtlosen Ritt nach Fram-<br />
pington --- gegen den Wunsch ihres Onkels gehandelt, dass sie bei ihren<br />
Ausritten immer einen Reitknecht mitnehmen müsse. Daher empfand sie<br />
Brins Bemerkungen als äußerst unfair, was er ihrer Meinung nach auch<br />
genau wusste.<br />
Inzwischen war Verity davon überzeugt, dass er sie absichtlich reizen<br />
wollte. Der einzige Grund, der ihr dafür einfiel, war, dass sie ihn durch ihr<br />
Verhalten am vergangenen Abend verärgert hatte.<br />
Als sie in den Salon zu den anderen Ladys zurückgekehrt war, war<br />
Brin bereits dort gewesen. Es hatte Verity fast krank gemacht, mit ansehen<br />
zu müssen, welches Theater die drei Bewerberinnen um den Titel<br />
Viscountess Dartwood seinetwegen veranstalteten. Sie hingen förmlich an<br />
seinen Lippen und kicherten einfältig über jede seiner Bemerkungen. Verity<br />
hatte sich ihnen fern gehalten und sich zu Mrs. Fenner und Lady Gillingham<br />
auf dem Sofa gesellt. Als Brin sich ihr ein paar Minuten später<br />
genähert hatte, war sie aufgestanden und hatte sich neben Sarah gesetzt.<br />
Verity riskierte einen Blick quer über den Tisch. Das spöttische Funkeln<br />
in seinen Augen bestätigte ihren Verdacht, und nur die Rücksicht<br />
auf ihre Gastgeberin hinderte sie daran, auf seine Provokation mit ein<br />
paar passenden Worten zu reagieren. Da sie wusste, dass ihre Toleranzgrenze<br />
oft nicht sehr hoch war, entschuldigte sie sich und ging, bevor die<br />
Versuchung, ihm den Rest aus ihrer Kaffeetasse ins Gesicht zu schütten,<br />
zu überwältigend wurde.<br />
Sarah gab sich keiner Illusion hin. Ihr Freund benahm sich mit voller<br />
Absicht so aggressiv. Sie hatte nie zuvor erlebt, dass Brin versucht hatte,<br />
irgendjemanden aus der Fassung zu bringen. Warum verhielt er sich ausgerechnet<br />
Verity gegenüber in dieser für ihn uncharakteristischen Art?<br />
Das Ganze war höchst verwirrend.<br />
Kurz nachdem Verity gegangen war, kamen die anderen Mädchen herein.<br />
Sie hatten kaum am Tisch Platz genommen, als Brin sich wieder in<br />
sein normales Selbst verwandelte. Er lauschte geduldig Hilarys Geplapper,<br />
brachte es fertig, dass die schüchterne Clarissa sich entspannte, und<br />
schaffte es sogar, die wortkarge Lady Caroline in ein Gespräch zu verwickeln<br />
--- und das alles, ohne dabei eine der jungen Damen zu bevorzugen.<br />
Möglicherweise mochte er Clarissa. Andererseits gelang es Lady Gillinghams<br />
reizender Tochter nicht, jenen gewissen Ausdruck in seinen Augen<br />
zu zaubern, den Sarah bemerkt hatte, als Brin sich unbeobachtet geglaubt<br />
und seinen Blick auf Verity hatte verweilen lassen.<br />
Ich bin gespannt, wie sich die Dinge zwischen den beiden in den<br />
nächsten Tagen entwickeln, dachte Sarah, während sie die Treppe hinaufging,<br />
um dem Kinderzimmer den ersten Besuch <strong>des</strong> Tages abzustatten.<br />
Falls Brin ernste Absichten hatte, und daran zweifelte sie nicht, verfolgte<br />
er seine Interessen auf sehr merkwürdige Weise. Sarah schüttelte<br />
verwirrt den Kopf.<br />
Die Gefühle Veritys waren schwieriger zu deuten. Es ließ sich nicht<br />
41
leugnen, dass sie Brin am vergangenen Abend auf Distanz gehalten hatte.<br />
Nach außen hin sah es so aus, als ob sie ihn nicht leiden konnte. Sarah<br />
spürte jedoch, dass dies nicht der Wahrheit entsprach. Es war, als ob<br />
Verity einen Schutzwall um sich aufgerichtet hatte. Was würde dabei herauskommen,<br />
wenn es Brin gelang, diese Barriere, mit welchen Mitteln<br />
auch immer, zu durchbrechen?<br />
Sarah lächelte. Es würde tatsächlich interessant werden, die Entwicklung<br />
während der kommenden Tage zu beobachten --- natürlich ohne<br />
sich einzumischen --- und zu sehen, ob Brin beim Erstürmen der Zitadelle<br />
Erfolg hatte.<br />
Später am Morgen begleitete Verity ihre Tante zu der draußen wartenden<br />
offenen Kutsche, mit der die Damen nach Oxford fahren wollten.<br />
Mrs. Fenner hatte den Ausflug auf Grund von Kopfschmerzen abgesagt.<br />
Das bedeutete, dass in der Kutsche für alle Ladys genügend Raum<br />
war. Lady Caroline saß bereits in Brins Curricle, und niemand unternahm<br />
den Versuch, auch nur vorzuschlagen, dass sie mit den anderen<br />
zusammen fahren sollte.<br />
„Willst du wirklich nicht mitkommen, Liebes?“ fragte Lady Billington,<br />
während sie neben Hilary Platz nahmen. „Der Ausflug würde dir sicher<br />
gefallen.“<br />
„Das glaube ich auch“, erwiderte Verity. „Trotzdem möchte ich mich<br />
lieber hier umschauen.“<br />
„Es wird Ihnen nicht gelingen, mir ständig auszuweichen“, flüsterte<br />
Brin ihr ins Ohr.<br />
Verity bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick. „Gehen Sie weg“,<br />
sagte sie leise, um lauter hinzuzusetzen: „Die Damen warten auf Sie, Major.“<br />
Sarah, die ein paar Schritte von den beiden entfernt stand, hörte den<br />
kleinen Wortwechsel nicht, deutete aber den irritierten Ausdruck in Veritys<br />
Gesicht richtig. Offensichtlich bediente sich Brin wieder seiner<br />
Hauptwaffe, der Provokation.<br />
„An deiner Stelle würde ich die Ladys zum Lunch in den Gasthof ‘The<br />
Bell’ führen“, riet sie ihm. „Die Mahlzeiten dort sind ausgezeichnet.“<br />
„Ach ja, und beeilen Sie sich nicht allzu sehr mit dem Essen“, warf Verity<br />
ein. „Denken Sie daran, dass wir Damen unsere Nahrung nicht gern<br />
hinunterschlingen.“<br />
„Ich werde dafür sorgen, dass alle bei bester Gesundheit zurückkommen.<br />
Und ...“, fügte er leise hinzu, „... ich werde außerdem dafür sorgen,<br />
dass ich Sie später am Tag wiedersehe.“<br />
„Nicht wenn ich es verhindern kann“, konterte sie ungerührt.<br />
Er sah aus, als ob er noch etwas sagen wollte, überlegte es sich aber<br />
dann anders, wechselte noch ein paar Abschiedsworte mit Sarah und<br />
kletterte in den Curricle.<br />
Nachdem Brin den Grauschimmeln freien Lauf gegeben hatte und sie<br />
die Einfahrt entlang lenkte, stieß Verity einen lauten Seufzer der Erleichterung<br />
aus. Als sie sich umdrehte, entdeckte sie, dass ihre Gastgeberin<br />
sie mit einem rätselhaften Ausdruck in den Augen betrachtete.<br />
„Können Sie wirklich die Zeit erübrigen, mich in Ihrem schönen Haus<br />
herumzuführen, Sarah? Ich bin durchaus imstande, mir die Zeit allein zu<br />
vertreiben, bis die Ausflügler zurückkommen. außerdem müssen Sie auch<br />
an Mrs. Fenner und die Countess denken.“<br />
„Natürlich habe ich Zeit. Ich freue mich über Ihre Gesellschaft“, versicherte<br />
Sarah, schob freundschaftlich ihre Hand unter Veritys Arm und<br />
führte sie in die Große Halle. „Um das meiste kümmern sich die Dienstboten.<br />
Und was meine beiden anderen Gäste betrifft ... Lady Westbury beschäftigt<br />
sich mit ihrer Handarbeit, und Mrs. Fenner hat mir zu verstehen<br />
gegeben, dass ein paar Stunden im Bett mit geschlossenen Vorhängen vor<br />
den Fenstern gewöhnlich genügen, um sie von ihren Schmerzen zu befreien.<br />
Zumin<strong>des</strong>t für den Rest <strong>des</strong> Vormittags habe ich also nichts vor und<br />
bin sehr gern bereit, Ihnen Gesellschaft zu leisten.“<br />
Verity empfand daher keine Gewissensbisse, dass sie die nächsten<br />
Stunden damit verbrachten, sich in aller Ruhe einen Großteil der Räume<br />
im Haus anzuschauen, deren Einrichtung Eleganz mit Bequemlichkeit<br />
verband. Bei einem kurzen Besuch im Kinderzimmer lernte sie den lebhaften,<br />
zweijährigen Hugo Ravenhurst kennen sowie das jüngste Mitglied<br />
der Familie, das friedlich im Bettchen schlief. Der Rundgang endete in der<br />
Bibliothek, dem Arbeitszimmer <strong>des</strong> Hausherrn, das seine Persönlichkeit<br />
widerspiegelte: solide, vertrauenswürdig und maskulin.<br />
Als sie eintraten, stieg Verity ein Geruch in die Nase, eine Mischung<br />
aus Leder, Brandy und Tabak.<br />
„Brin hat sich heute Morgen hier aufgehalten“, erklärte Sarah, ging<br />
zum Fenster und öffnete es weit, um frische Luft hereinzulassen. „Leider<br />
hat er auf der iberischen Halbinsel die Gewohnheit angenommen, zu rauchen,<br />
und Marcus hat ihm erlaubt, seinem Laster hier drinnen zu frönen.“<br />
Verity hörte nur mit halbem Ohr zu. Ihre Aufmerksamkeit galt einem<br />
Gemälde über dem Kamin, das den Hausherrn und die Hausherrin zeigte.<br />
Sie musste unwillkürlich lächeln, weil sie es im Geist mit dem Porträt von<br />
Marcus Ravenhurst verglich, das in der Galerie hing und vermutlich vor<br />
einigen Jahren gemalt worden war. Auf dem Bild hier wirkten seine Züge<br />
weit weniger hart, und obwohl er nicht lächelte, machte er den Eindruck<br />
eines Mannes, der mit seinem Leben zufrieden war.<br />
„Ich denke, dass Sie Ihren Mann sehr gut getan haben. Er wirkt viel<br />
weicher.“<br />
Die Liebe, die Sarah zu ihm empfand, spiegelte sich in ihren Augen<br />
wieder. „Ja, während der letzten Jahre hat er sich sehr verändert“, gab sie<br />
zu. „Er ist wesentlich toleranter als früher. Aber das ist nicht allein mein<br />
Verdienst. Seine Freundschaft mit Brin bedeutet ihm sehr viel. Sie sind<br />
42
fast wie Brüder.“<br />
„Das ist seltsam, wenn man bedenkt, dass sie sich erst seit wenigen<br />
Jahren kennen. Obwohl ...“ Verity zögerte. „Ich nehme an, dass sie zu<br />
denen gehören, die sich instinktiv zueinander hingezogen fühlten. Und<br />
dann war da die Zeit seiner Genesung nach den Verwundungen, die er bei<br />
Bajadoz davongetragen hat.“<br />
„Sie wissen davon? Aber natürlich, Brin muss Ihnen das erzählt haben.“<br />
„Nein, er nicht, Sie waren es.“ Verity begann zu lachen, als sie das ungläubige<br />
Staunen ihrer Gastgeberin bemerkte. „Ja, Sarah, in gewisser<br />
Weise haben Sie mir das erzählt. Sie haben diverse Male an seinen Großvater<br />
geschrieben und ihm von den Fortschritten seines Enkels berichtet.<br />
Wie Sie sich wahrscheinlich erinnern, war Arthur Brinley selbst zu krank,<br />
um nach Oxfordshire zu reisen. Was Sie vermutlich nicht wissen, war,<br />
dass sein Augenlicht immer mehr nachgelassen hat. Ich habe ihn fast<br />
täglich besucht und ihm Ihre Briefe vorgelesen. Und seine Antworten an<br />
Sie hat er mir diktiert.“<br />
„Gütiger Himmel!“ Sarah war mehr als nur ein bisschen verwirrt. „Und<br />
die ganze Zeit über hat Brin geglaubt ...“ Sie verstummte, weil der Butler<br />
meldete, dass der Lunch fertig wäre und Lady Westbury und Mrs. Fenner<br />
sich auf dem Weg zum Speisezimmer befänden.<br />
Sarah und Verity verloren keine Zeit, sich den Damen zuzugesellen.<br />
Mrs. Fenner erklärte, dass sie sich von ihren Kopfschmerzen erholt habe.<br />
Die Countess erwies sich in der Kunst, eine leichte Konversation zu führen,<br />
weit geschickter als ihre Tochter, sodass die Mahlzeit sehr angenehm<br />
verlief.<br />
Anschließend suchten die Ladys den Kleinen Salon auf, wo sich das<br />
Gespräch weitgehend um die Führung eines großen Haushaltes drehte.<br />
Verity, die für das Thema, von dem sie nichts verstand, wenig Begeisterung<br />
aufbringen konnte, betrachtete durch das Fenster sehnsüchtig den<br />
herrlichen Park. Sobald sie sich entschuldigen konnte, ohne unhöflich zu<br />
erscheinen, eilte sie auf ihr Zimmer, zog bequeme Stiefeletten an, setzte<br />
einen Hut auf, ergriff einen Sonnenschirm und verließ das Haus.<br />
Die Landschaft, die in helles Sonnenlicht getaucht war, bot einen herrlichen<br />
Anblick. Verity merkte aber sehr bald, dass die Temperatur sich für<br />
ein schnelles Tempo nicht eignete. Sie spazierte daher langsam zu dem<br />
Wäldchen, das den Park begrenzte.<br />
Die Schatten der Bäume wirkten einladend, doch ein kurzer Blick über<br />
ihre Schulter zurück zum Herrenhaus, das von hier aus sehr klein wirkte,<br />
zeigte ihr, dass sie eine beträchtliche Entfernung zurückgelegt hatte. Verity<br />
wusste nicht, wie spät es war, und hielt es für das Beste, umzukehren.<br />
Als sie den See erreichte, fühlte sie sich ein bisschen müde. Sie beschloss,<br />
sich ans Ufer zu setzen, um ihren Beinen etwas Ruhe zu gönnen.<br />
Es war ungeheuer friedlich hier, und Verity begriff, warum Sarah Raven-<br />
hurst so gern auf dem Land lebte. Andererseits hätte Sarah vermutlich<br />
überall ihr Glück gefunden, vorausgesetzt ihr Mann war an ihrer Seite.<br />
Verity überlegte, ob sie selbst wohl imstande wäre, einen Mann so zu<br />
lieben wie Sarah ihren Marcus. Bis vor wenigen Wochen hätte sie das mit<br />
einem entschiedenen Nein beantwortet. Jetzt war sie <strong>des</strong>sen nicht mehr<br />
so sicher.<br />
Etwas war seit ihrer ereignisreichen Reise in der Postkutsche mit ihr<br />
geschehen. Sie selbst hatte sich verändert. Verity fühlte sich seltsam unzufrieden<br />
mit ihrem Schicksal, so als ob ihr etwas Lebenswichtiges fehlte.<br />
War es das, was Sarah empfand, wenn ihr Ehemann nicht bei ihr weilte?<br />
Bedeutete dieser nagende Schmerz in ihrem Inneren wirklich, dass sie<br />
sich verliebt hatte?<br />
Eines jedoch wusste sie mit Sicherheit: Wenn der Kutscher bei ihr war,<br />
erlebte sie ein unglaubliches Hochgefühl. Nur leider passierte das viel zu<br />
selten. Wie lange würde es dauern, bis sie ihn treffen konnte, wann immer<br />
sie sich das wünschte? Sicherlich erst, nachdem er seine gegenwärtige<br />
Mission erledigt hatte. Und sie erwartete nicht, dass er ihretwegen diese<br />
bedeutsame Aufgabe vernachlässigte.<br />
Geistesabwesend drehte sie den Griff ihres Sonnenschirmes, dass die<br />
daran befestigten Quasten tanzten. Nie zuvor war ihr ein Mann wie der<br />
Kutscher begegnet. Er hatte sie manchmal rasend gemacht, sie aber nie<br />
gelangweilt. Und das war mehr, als sich von den anderen jungen Männern<br />
ihrer Bekanntschaft sagen ließ. Das entsprach allerdings nicht ganz<br />
der Wahrheit. Auch in Brins Gesellschaft pflegte sie sich nicht zu langweilen<br />
--- er besaß die gleiche Fähigkeit, sie manchmal unerträglich zu ärgern.<br />
Das war schon sehr merkwürdig.<br />
„Hier sind Sie also. Und dabei habe ich erst heute Morgen Sarah gewarnt,<br />
dass Sie sich möglicherweise verirren würden.“<br />
Verity drehte den Kopf und entdeckte Brin, der mit großen Schritten<br />
den Abhang herunterkam.<br />
„Wenn Sie als Frau zur Welt gekommen wären und vor ein paar hundert<br />
Jahren gelebt hätten, wären Sie auf dem Scheiterhaufen verbrannt<br />
worden. Wie stellen Sie es nur an, dass Sie immer dann sozusagen aus<br />
dem Nichts auftauchen, wenn ich gerade ...“ Verity verstummte erschrocken.<br />
Nach dem zufriedenen Funkeln in seinen Augen zu urteilen, ahnte<br />
er offenbar, was sie um ein Haar zugegeben hätte. „Ich weiß gar nicht, wie<br />
Sie auf den Gedanken gekommen sind, ich könnte mich verirrt haben.<br />
Schließlich ist das Herrenhaus von ihr aus deutlich zu sehen.“<br />
Er streckte sich neben ihr im Gras aus und legte die Hände unter den<br />
Kopf. Seine entspannte Haltung verriet, dass Verity ihn wohl kaum mit<br />
einem dezenten Hinweis darauf, wie unerwünscht seine Gesellschaft sei,<br />
loswerden würde. Also erkundigte sie sich höflich, wenn auch ein bisschen<br />
gelangweilt, ob ihm der Ausflug nach Oxford gefallen habe.<br />
Seine Antwort war nicht sonderlich aufschlussreich. „Es war sehr inte-<br />
43
essant.“<br />
Verity musterte ihn skeptisch. „Das wundert mich. Sie sind nicht lange<br />
weg gewesen.“<br />
„Offenbar ist Ihnen bei Ihrem Spaziergang jegliches Zeitgefühl abhanden<br />
gekommen. Der Nachmittag ist schon ziemlich weit fortgeschritten.“<br />
„In diesem Falle sollte ich wohl zurückkehren und mich zum Dinner<br />
umkleiden.“<br />
Brin legte ihr die Hand auf den Arm, um sie am Aufstehen zu hindern.<br />
„Das Dinner findet heute etwas später statt. Sie brauchen sich nicht zu<br />
beeilen.“<br />
Verity verfolgte dieses Thema nicht weiter. Sie genoss es viel zu sehr,<br />
ruhig dazusitzen und die Schönheit <strong>des</strong> Ortes in sich aufzunehmen.<br />
„Wenn die Gerüchte stimmen, sind Sie in absehbarer Zeit ebenfalls der<br />
Besitzer eines ähnlichen Gutes“, brach sie nach einiger Zeit das einträchtige<br />
Schweigen. „Wie lautet der letzte Bericht über den Gesundheitszustand<br />
Ihres Onkels?“<br />
„Darüber weiß ich nicht mehr als Sie, Verity“, gab er zu ihrer Überraschung<br />
zu. „Ich hatte nie Kontakt zu irgendeinem Mitglied aus der Familie<br />
meines Vaters, nicht einmal brieflich.“ Seine Lippen verzogen sich zu einem<br />
bitteren Lächeln, während er mit einer Stimme, die keine Gemütsbewegung<br />
verriet, hinzusetzte: „Ich bin der Nachkomme eines Webers und<br />
wurde nicht zur Kenntnis genommen. Mein Vater hat unter seinem Stand<br />
und entgegen den Wünschen seiner Familie geheiratet.“<br />
„Gütiger Himmel, Brin!“ Verity war schockiert und versuchte nicht,<br />
diese Tatsache zu verbergen. „Wenn man Sie so reden hört, könnte man<br />
annehmen, Sie wären in einem Stall geboren. Ihr Großvater war ein reicher<br />
Mann. Er wohnte in einem schönen Haus und war sehr geachtet.“<br />
„Von denen, die ihn kannten, ja,“ pflichtete er ihr bei. „Und er hat alles<br />
Menschenmögliche getan, um mir eine gute Erziehung angedeihen zu<br />
lassen, schickte mich nach Harrow in die Schule, versuchte, einen<br />
Gentleman aus mir zu machen, und verschaffte mir das Offizierspatent.<br />
Doch in den Augen der Familie meines Vaters blieb ich jemand, der ihr<br />
edles Blut in Verruf brachte.“<br />
„Das klingt, als ob es Ihnen nichts ausmacht“, sagte Verity. „Haben Sie<br />
auf diese Verachtung immer mit Gleichgültigkeit reagiert?“<br />
„In jungen Jahren hat es mich gequält“, gestand Brin. „Es gab eine<br />
Zeit, da war ich sehr verbittert. Aber jetzt nicht mehr.“<br />
Verity wurde klar, dass sie sich nie zuvor so ernsthaft unterhalten hatten.<br />
Bevor er zur Armee gegangen war, war sie zu jung und naiv gewesen,<br />
um über so ernste Themen zu diskutieren.<br />
Sie war fast fünfzehn gewesen, als er Yorkshire verlassen hatte. Nach<br />
mehr als zwei Jahren im Internat hatte sie sich für eine junge Dame<br />
gehalten, doch in seinen Augen war sie noch immer ein Kind gewesen.<br />
Kein Wunder, dass er es abgelehnt hatte, zuzuhören, als sie versucht hat-<br />
te, ihn vor Angela zu warnen. Er hatte ihre Worte als kindische Bosheit<br />
interpretiert, oder hatte mehr dahinter gesteckt? Hatte er seinen Groll auf<br />
die Familie seines Vaters auf alle Mitglieder einer bestimmten Gesellschaftsschicht<br />
ausgedehnt?<br />
Verity blickte erneut auf das schimmernde Wasser <strong>des</strong> Sees hinaus.<br />
Wenn das der Fall war, hatte er seine Abneigung vergessen, als er damals<br />
in jenen anderen See gesprungen war, um sie zu retten.<br />
„Sie sind sehr still, Verity“, stellte er fest. „Woran denken Sie?“<br />
„An meine Kindheit. An die Zeit, als Sie mir das Leben gerettet haben.“<br />
„Habe ich das?“ fragte er erstaunt. „Daran kann ich mich nicht erinnern.“<br />
„Wir waren bei den Fenners eingeladen“, erklärte sie. „Wenn mich mein<br />
Gedächtnis nicht täuscht, war es der Geburtstag ihres ältesten Sohnes.<br />
Eine Gruppe von uns ging hinunter zum See.“ Verity lächelte wehmütig.<br />
„Vielleicht wissen Sie noch, dass ich damals ziemlich waghalsig war. Als<br />
einer der Jungen behauptete, kein weibliches Wesen könne über den See<br />
und wieder zurück rudern, nahm ich die Herausforderung an. Ich setzte<br />
mich in den alten Kahn, und man schob ihn ins Wasser. Niemand ahnte,<br />
dass das Boot leck war. Nachdem ich die Mitte <strong>des</strong> Sees erreicht hatte,<br />
begann das morsche Ding zu sinken. Sie haben meine Hilferufe gehört<br />
und mich gerettet.“ Verity verschwieg lieber, dass er sie auf den Armen<br />
ins Haus getragen und das schreckliche Erlebnis für sie dadurch sogar<br />
etwas Gutes gehabt hatte.<br />
Verity drehte den Kopf und blickte ihn an. Er lag immer noch entspannt<br />
im Gras, doch der intensive Ausdruck, den sie am Tag zuvor in<br />
seinen Augen bemerkt hatte, war wieder da. „Jetzt da Sie es erwähnen,<br />
fällt es mir wieder ein. Sie schulden mir Dank, Verity Harcourt ... Und<br />
eines Tages werde ich diese Schuld vielleicht bei Ihnen einfordern.“<br />
Trotz seines leichten Tones spürte sie, dass er nicht scherzte. Sie wollte<br />
ihm gerade versichern, dass sie, wenn es in ihrer Macht stünde, nicht<br />
zögern würde, ihm jeden Wunsch zu erfüllen, als ein kläglicher Schrei an<br />
ihr Ohr drang. Sie wandte sich um und entdeckte Hilary Fenner, die zu<br />
Boden fiel.<br />
Beide waren sofort auf den Füßen und beobachteten erschrocken, wie<br />
eine zierliche Gestalt den Abhang hinunterrollte und dort, wo sie standen,<br />
liegen blieb.<br />
Hilarys Unterröcke waren verrutscht, sodass ihre Strümpfe und spitzenbesetzten<br />
Pantalettes zu sehen waren. Verity stieg eine heiße Röte ins<br />
Gesicht. Brin, der neben dem bewusstlosen Mädchen kniete, schien der<br />
Anblick von weiblicher Unterwäsche nicht zu stören.<br />
„Ich laufe zum Haus und hole Hilfe“, bot Verity an und wollte sich<br />
schon auf den Weg machen, als sie Brins spöttischen Gesichtsausdruck<br />
bemerkte, ihre Aufmerksamkeit Hilary zuwandte und genauer betrachtete.<br />
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Eine schmale Hand wurde von Brin gehalten, die andere ruhte über ihrem<br />
Kopf. Die Pose wirkte irgendwie unwirklich, zu elegant, um echt zu<br />
sein. Das Mädchen glich der tragischen Heldin in einem Theaterstück.<br />
Verity bemerkte ein leichtes Flattern der Augenlieder. Das kleine Biet<br />
täuschte eine Ohnmacht vor.<br />
„Ich glaube nicht, dass es nötig ist, die anderen zu alarmieren“, meinte<br />
Brin, der ihr verschwörerisch zuzwinkerte. „Wahrscheinlich liegt es an der<br />
Hitze. Sie wird bald wieder zu sich kommen.“<br />
Offensichtlich wollte er Hilary die Möglichkeit geben, das Gesicht zu<br />
wahren, doch Verity war nicht so großmütig. Sie verabscheute jede Anwendung<br />
von Tricks. Und diese kleine Vorstellung war einfach zu viel.<br />
Hilary verdiente es, eine Lektion zu erhalten.<br />
„Ich denke, Sie haben Recht“, erwiderte sie. „Sollen wir sie nicht einfach<br />
hier liegen lassen?“<br />
„Aber nein, das können wir doch nicht.“ Sein tiefer Seufzer klang<br />
höchst überzeugend. „Ich nehme an, dass ich sie tragen muss.“<br />
Verity, die nur mühsam ihren gleichmütigen Ton beibehielt, riet ihm<br />
ab. „An Ihrer Stelle würde ich das nicht tun. Es ist ein warmer Tag, und<br />
Hilary ist nicht gerade ein Leichtgewicht. Sie würden zusammenbrechen,<br />
bevor Sie hundert Yards zurückgelegt haben.“<br />
Brin wandte sich ab, seine Schultern bebten vor unterdrücktem Gelächter.<br />
„Was schlagen Sie vor?“ fragte er.<br />
„Geben Sie mir Ihren Hut.“<br />
„Wozu?“<br />
„Ich fülle ihn am See mit Wasser, das Sie dann über ihr ausschütten<br />
können. Das bringt sie bestimmt wieder zu sich.“ Verity wunderte sich<br />
nicht im Min<strong>des</strong>ten, als Antwort darauf ein klägliches Stöhnen zu hören.<br />
„Ich glaube, sie kommt wieder zu sich“, sagte sie.<br />
„Was ist geschehen?“ Hilarys Lider flatterten dramatisch, bevor sie die<br />
blauen Augen öffnete und zu Brin aufschaute. „Ich fühle mich so seltsam,<br />
Major Carter.“<br />
„Du fühlst gleich meine Stiefelspitze, wenn du nicht sofort mit diesem<br />
Unsinn aufhörst“, drohte Verity, die mit ihrer Geduld am Ende war. „Ich<br />
habe noch nie ein derart übles Schauspiel erlebt.“<br />
Hilary richtete sich mit bemerkenswerter Schnelligkeit auf, sah hoch<br />
und entdeckte ein amüsiertes Funkeln in seinen braunen Augen.<br />
„Ich habe mich wirklich nicht wohl gefühlt, Major Carter.“ Sie ließ sich<br />
von ihm auf die Füße helfen und bedachte Verity mit einem giftigen Blick.<br />
„Ganz gleich, was andere Leute auch denken mögen.“<br />
„In dem Fall rate ich Ihnen, sich ins Haus zu begeben und eine Weile<br />
hinzulegen. Das dürfte genügen, damit es Ihnen wieder gut geht.“<br />
Sein liebenswürdiger Ton brachte ihm ein Lächeln ein. Als sie einen<br />
weiteren Blick in Veritys Richtung riskierte und erkannte, dass sich deren<br />
Gesichtsausdruck nicht verändert hatte, warf sie hochmütig den Kopf<br />
zurück und entfernte sich.<br />
„Ich glaube nicht, dass sie diesen Trick noch einmal probiert.“ Brin<br />
schaute ihr nach, wie sie den Pfad entlangging, der zu dem Gehölz führte.<br />
„Es gibt Zeiten, da schäme ich mich für meine eigenen Geschlechtsgenossinnen.<br />
Manche Frauen schrecken vor nichts zurück, um Aufmerksamkeit<br />
zu erregen.“ Als sie sich ebenfalls auf den Weg zum Haus machten,<br />
streifte sie ihn mit einem Blick, aus dem Bewunderung sprach. „Gott<br />
sei Dank ist Ihnen sofort aufgefallen, dass Hilary Theater spielte. Ich war<br />
schon drauf und dran, Hilfe zu holen.“<br />
„Während meiner Zeit bei der Armee habe ich viele bewusstlose Männer<br />
gesehen, Verity. Ich kann mich aber nicht erinnern, dass mir einer<br />
davon leicht die Hand gedrückt hätte.“<br />
„Hat sie das getan?“ Ihr Sinn für Komik gewann die Oberhand. „Was<br />
für ein Dummkopf!“<br />
„Wie auch immer. Sie wird Ihnen allerdings nicht so schnell verzeihen,<br />
dass Sie befürchtet haben, ich wäre nicht imstande, sie zu tragen.“<br />
„Zugegeben, das war ein bisschen gemein, zumal bei ihr von Übergewicht<br />
keine Rede sein kann. Aber nach dem albernen Schauspiel hat sie<br />
es nicht anders verdient. Ich mag nun mal keine Tricks.“<br />
„Nein“, erwiderte er mit einem Ausdruck in den Augen, bei dem ihr die<br />
Knie weich wurden. „Ihnen würde nie in den Sinn kommen, diese Art von<br />
weiblichen Listen anzuwenden.“<br />
Verity war sich <strong>des</strong>sen nicht so sicher. Wenn er sie weiterhin so anschaute,<br />
bestand große Gefahr, dass sie selbst auch in Ohnmacht fiel.<br />
11. Kapitel<br />
Nachdem Verity sich umgekleidet hatte, beschloss sie, ihre Tante aufzusuchen.<br />
Als sie zusammen mit Brin zum Haus zurückgekehrt war, hatte<br />
man ihr mitgeteilt, Lady Billington habe sich auf ihr Zimmer zurückgezogen,<br />
um sich vor dem Dinner noch etwas auszuruhen. Verity war nicht<br />
übermäßig besorgt gewesen. Ihre Tante erfreute sich bester Gesundheit<br />
und hatte sich noch nie über die zahllosen kleinen Leiden beklagt, die<br />
anscheinend so viele ihrer Geschlechtsgenossinnen plagten. Andererseits<br />
war sie keine kräftige Person, und wenn Brin mit den Damen zu Fuß eine<br />
ausgedehnte Tour durch Oxford unternommen hatte, würde Lady Billington,<br />
die nie eine große Spaziergängerin gewesen war, sich nach der ungewohnten<br />
Anstrengung ziemlich erschöpft fühlen.<br />
Als Verity ins Zimmer trat, saß ihre Tante, die bereits ein elegantes Abendkleid<br />
trug, vor dem Spiegel <strong>des</strong> Frisiertisches und ließ sich von Dodd<br />
das Haar richten.<br />
„Da bist du ja, Liebes“, rief sie. „Ich hoffte, mit dir reden zu können,<br />
bevor wir uns unten mit den anderen treffen.“<br />
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„So?“ Verity nahm auf der Bettkante Platz. „Gibt es etwas Wichtiges,<br />
worüber wir sprechen müssen?“<br />
„Aber nein, ich dachte nur, dass es nett wäre, ein bisschen mit dir zu<br />
plaudern.“ Da Lady Billington mit ihrer Frisur zufrieden war, schickte sie<br />
ihre Zofe weg. „Was hast du heute gemacht?“ fragte sie, nachdem Dodd<br />
die Tür hinter sich geschlossen hatte. „Hoffentlich hast du dich nicht gelangweilt.“<br />
„Nicht im Min<strong>des</strong>ten, Tante. Ich habe hier auf Ravenhurst eine sehr<br />
angenehme Zeit verbracht. Wie war dein Tag?“<br />
Lady Billingtons Lippen verzogen sich zu einem geheimnisvollen Lächeln.<br />
„Sehr interessant und auch sehr aufschlussreich.“<br />
„So?“<br />
„Ja, Liebes. Je besser ich Major Carter kennen lerne, <strong>des</strong>to sympathischer<br />
finde ich ihn.“<br />
„Nun, er besitzt die Gabe, Menschen für sich zu gewinnen.“ Verity inspizierte<br />
angelegentlich ihre Fingernägel. „Und wie hat dir die Gesellschaft<br />
der anderen Damen gefallen? Hat Lady Caroline in ihrer gebieterischen<br />
Art mit einem ‘Wir gehen dorthin’ Anweisungen erteilt?“<br />
Ihre Tante schüttelte indigniert den Kopf. „Dass ihre Mutter nicht zumin<strong>des</strong>t<br />
versucht, sie zu dämpfen, begreife ich nicht. Eines steht jedenfalls<br />
fest --- Major Carter ist kein Mann, der solchen Unsinn toleriert. Sie<br />
wollte mit ihm in seinem Curricle zurückfahren, doch er machte ihr unmissverständlich<br />
klar, dass er das schon Clarissa Fenner versprochen<br />
habe. Als er Lady Caroline aufforderte, in die Barouche zu steigen, gehorchte<br />
sie ohne Widerrede.“ Bei der Erinnerung daran kicherte Lady Billington<br />
und stand auf. „Offenbar ist das die richtige Art, mit der Tochter<br />
<strong>des</strong> Earl umzugehen.“<br />
Brin hatte also von Lady Caroline genug gehabt und für die Rückfahrt<br />
Clarissa Fenner als Begleiterin gewählt. Das ist also die Erklärung für<br />
Hilarys durchsichtige Szene von vorhin, überlegte Verity, während sie mit<br />
ihrer Tante die Treppe hinunterging. Als Einzige, die nicht mit dem Major<br />
in seinem Wagen gefahren war, hatte sie sich ausgeschlossen gefühlt und<br />
versucht, sich auf andere Weise seine Aufmerksamkeit zu sichern. Ob<br />
eine vorgetäuschte Ohnmacht allerdings die richtige Taktik war, blieb<br />
in<strong>des</strong> fraglich, zumal sich Brin keinen Augenblick lang hatte in die Irre<br />
führen lassen. Auch wenn er früher für weibliche Listen empfänglich gewesen<br />
war, so hatte sich das inzwischen offenbar grundlegend geändert.<br />
„Es klingt, als wären weitere Gäste eingetroffen“, meinte Lady Billington,<br />
als sie die Halle erreichten.<br />
Verity hatte völlig vergessen, dass Sarah erwähnt hatte, sie habe einige<br />
männliche Nachbarn zum Dinner eingeladen, damit Brin sich in der ansonsten<br />
rein weiblichen Tischrunde nicht zu einsam fühlte. Dabei bezweifelte<br />
Verity, dass sich Sarah seinetwegen Sorgen machen musste. Er war<br />
durchaus imstande, sich in jeder Gesellschaft zurechtzufinden, ob sie<br />
nun weiblich, männlich oder gemischt war. Das ist mehr, als ich von mir<br />
selbst sagen kann, dachte Verity, die sich an die unbehaglichen Momente<br />
im Garten erinnerte, als ihr unter seinem Blick die Knie weich geworden<br />
waren. Es war vermutlich besser, wenn auch noch andere Gentlemen<br />
anwesend waren --- nicht nur seinet-, sondern auch ihretwegen.<br />
In ihrer Verwirrung war es wohl unvermeidlich, dass sie beim Betreten<br />
<strong>des</strong> Salons als Erstes Brin bemerkte, der am Fenster stand und sich mit<br />
einem jovialen Herrn unterhielt, <strong>des</strong>sen rote Gesichtsfarbe eine Vorliebe<br />
für Portwein verriet. Dann näherte sich ihr auch schon ihre Gastgeberin<br />
in Begleitung eines mittelgroßen jungen Gentleman, den sie als den Honourable<br />
Mr. Claud Castleford vorstellte.<br />
Der Name Castleford genügte, dass Verity die Ohren spitzte und dem<br />
jungen Mann ihre ganze Aufmerksamkeit schenkte. Abgesehen von blauen<br />
Augen, deren Ausdruck Intelligenz und Humor verriet, war an Lord<br />
Castlefords Sohn äußerlich nichts Bemerkenswertes. Obwohl er nicht<br />
besonders gut aussah und seine Gestalt wenig beeindruckend wirkte,<br />
fand Verity ihn schon nach wenigen Minuten sehr sympathisch. Er benahm<br />
sich offen und freundlich, ohne aufdringlich zu sein, sodass sich<br />
Verity freute, ihn beim Dinner als Tischnachbarn zu haben.<br />
„In London habe ich Mr. Lawrence Castleford kennen gelernt --- Ihr<br />
Cousin, wenn ich recht informiert bin“, sagte sie, während sie sich von<br />
den geschmorten Pilzen in würziger Sauce bediente.<br />
„O ja, Lawrence liebt es, in der Gesellschaft zu glänzen. Ein attraktiver<br />
Bursche, nicht wahr?“<br />
„Ja, er sieht gut aus“, bestätigte sie in einem Ton, der deutlich verriet,<br />
dass sie nicht sonderlich beeindruckt gewesen war.<br />
„Wie erfrischend, eine junge Dame zu treffen, die von dem Adonis in<br />
unserer Familie nicht bezaubert ist. Es ist wie ein Dorn im Fleische meines<br />
Vaters, dass ich meinem geistreichen Cousin so gar nicht gleiche. Ich<br />
bevorzuge ein ruhige Leben und bin damit zufrieden, mich hier um die<br />
Verwaltung <strong>des</strong> Gutes zu kümmern.“<br />
Verity erinnerte sich an die Behauptung ihrer Tante, dass Lord Castleford<br />
die Gesellschaft seines Neffen der seines Sohnes vorziehen würde. In<br />
Clauds angenehmer Stimme schwang weder Ärger noch Bitterkeit mit,<br />
und dennoch war sie überzeugt, dass der junge Mann unter der Ungerechtigkeit<br />
seines Vaters litt.<br />
„Das ist doch kein Verbrechen, Mr. Castleford. Ein Gut verwaltet sich<br />
schließlich nicht selbst. Und was Sie mit Ihrer Zeit anfangen, ist wesentlich<br />
sinnvoller, als in der Gesellschaft zu glänzen.“<br />
„So denke ich auch, Miss Harcourt.“ Er lächelte plötzlich. „Dabei ist es<br />
ja nicht so, dass ich nicht versucht hätte, den eleganten Gentleman zu<br />
spielen. Ich habe vor nicht allzu langer Zeit einen Curricle und ein Paar<br />
schöner Grauschimmel erstanden. Das war ziemlich dumm von mir. Wo<br />
soll ich mich in mit einer so kostspieligen Aufmachung sehen lassen? Nur<br />
46
zu Pferd kann man sein Land inspizieren.“<br />
Verity, die gerade die Gabel zum Munde führen wollte, hielt inne. Sie<br />
hatte nicht beabsichtigt, weiter nach der Herkunft von Brins Tieren zu<br />
forschen, doch nachdem sich ihr jetzt die Gelegenheit bot ...<br />
„Seltsam, dass Sie das erwähnen, Mr. Castleford“, bemerkte sie beiläufig.<br />
„Vor nicht allzu langer Zeit habe ich überlegt, ob ich mir eine Equipage<br />
kaufen sollte. Es war Major Carter, der mir das ausgeredet hat. Er<br />
wandte ein, dass ich dafür wenig Verwendung haben würde, wenn ich<br />
nicht mehr in der Stadt bin.“<br />
„Was für ein Zufall! Major Carter hat meinen Curricle und die Pferde<br />
erworben.“<br />
„Tatsächlich?“ Verity war ganz großäugige Unschuld. „Hätte ich gewusst,<br />
dass Sie sich mit der Absicht tragen, sich von den herrlichen Tieren<br />
zu trennen, hätte ich Major Carters Rat in den Wind geschlagen und<br />
Ihnen selbst ein Angebot gemacht. Sie verstehen viel von Pferden, Mr.<br />
Castleford“, setzte sie hinzu.<br />
„Um die Wahrheit zu sagen, habe ich diesen Entschluss ganz spontan<br />
gefasst. Ravenhurst erwähnte, dass sein Freund an einem Curricle samt<br />
Gespann interessiert wäre. Als mein Vater Anfang April nach London zurückkehrte,<br />
habe ich ihn gebeten, den Wagen und die Grauschimmel zu<br />
nehmen, damit Major Carter sie begutachten konnte.“<br />
„Das ist ärgerlich. Meine Tante und ich sind etwa zu dieser Zeit in der<br />
Stadt eingetroffen. Ich muss meine Chance nur um ein paar Tage verpasst<br />
haben.“<br />
Mr. Castleford teilte ihr den genauen Verkaufstermin mit --- es war der<br />
Montag nach dem abendlichen Treffen in Frampington. Verity war zutiefst<br />
erleichtert. Brin war also tatsächlich nicht in der Taverne gewesen.<br />
Unwillkürlich schaute sie zu ihm hinüber. Er saß am Kopfende der Tafel<br />
und fungierte in Abwesenheit <strong>des</strong> Hausherrn als Gastgeber. Ob es nun<br />
Zufall war oder nicht, als er im gleichen Moment in ihre Richtung blickte,<br />
umspielte eines jener Lächeln ihre Lippen, das den Stallknecht der Ravenhursts<br />
so beeindruckt hatte.<br />
Lady Gillingham, die zur Rechten <strong>des</strong> Majors saß, bemerkte das charmante<br />
Lächeln mit dem er Verity bedachte, und sah versonnen auf ihren<br />
Teller. Wie Lady Billington hatte sie während ihres Ausflugs reichlich Gelegenheit<br />
gehabt, den Major zu beobachten. Zum Zeitpunkt ihrer Rückkehr<br />
nach Ravenhurst war sie sich ziemlich sicher gewesen, dass keine<br />
der drei jungen Damen, die während der vergangenen Stunden mit ihm<br />
zusammen gewesen waren, einen Platz in seinem Herzen erobert hatte,<br />
auch nicht ihre Tochter Clarissa. Das war bedauerlich, denn sie mochte<br />
den Major und hätte gegen ihn als Schwiegersohn nichts einzuwenden<br />
gehabt. Andererseits war Clarissa gerade erst achtzehn geworden, sie hatte<br />
also noch viel Zeit, einen passenden Ehemann zu finden.<br />
Als sie wieder auf Ravenhurst waren, hatte sie, ihre Tochter und einige<br />
andere Damen sich mit Sarah im kleinen Salon eingefunden. Lady Gillingham<br />
hatte am Fenster gestanden, die schöne Aussicht bewundert und<br />
dabei zufällig gesehen, wie der Major Miss Harcourt zum Haus zurück<br />
begleitet hatte. Offenbar hatte er sich sofort nach der Rückkehr auf die<br />
Suche nach ihr gemacht. Irgendwie hatte Lady Gillingham den Eindruck<br />
gewonnen, dass die Entscheidung, mit wem er den Rest seines Lebens<br />
verbringen wollte, schon vor ihrem Aufenthalt in Ravenhurst gefallen war.<br />
Verity Harcourt würde für den Major eine gute Ehefrau abgeben. Sie<br />
war ein reizen<strong>des</strong> Mädchen, das nicht nur Sinn für Humor besaß, sondern<br />
auch intelligent genug war, um ihn nicht schon nach wenigen Wochen<br />
zu langweilen. Die Frage war nur: Liebte Verity den Major?<br />
Clarissas Mutter war nicht die Einzige, die sich diese Frage stellte. Lady<br />
Billington, die die gleichen Schlüsse wie Lady Gillingham gezogen hatte,<br />
hielt ständig Ausschau nach gewissen Anzeichen. Sie ließ ihre Nichte<br />
nicht aus den Augen, während sie mit dem Reverend Mr. Martin, ihrem<br />
Tischnachbarn, plauderte. Als sich die Herren nach dem Dinner den Damen<br />
im Salon wieder zugesellten, freute sie sich, dass sich Verity ohne<br />
Zögern einverstanden erklärte, bei einer Partie Whist die Partnerin <strong>des</strong><br />
Majors zu sein.<br />
Die beiden bildeten ein gutes Paar und gewannen überzeugend gegen<br />
die Countess und den ortsansässigen Squire. Dann machten sie Sarah<br />
und Mr. Martin Platz, ohne zu merken, dass sie das Ziel einiger neugieriger<br />
Blicke waren, und gingen zu dem Sofa hinüber, auf dem Clarissa und<br />
Mr. Castleford saßen und sich unterhielten.<br />
„O Verity, Mr. Castleford hat mich eingeladen, seinen Viehbestand zu<br />
besichtigen. Er hat gerade einige Wessex Saddlebacks gekauft. Ich würde<br />
die Tiere zu gern sehen, nur leider wird Mama mir nicht erlauben, allein<br />
hinüberzureiten.“ Clarissa blickte Verity, die sie inzwischen als Freundin<br />
betrachtete, flehend an. „Wenn Sie mitkommen würden, wäre Mama sicher<br />
einverstanden.“<br />
„Warum machen wir nicht eine kleine Landpartie daraus?“ erklang eine<br />
Stimme über Veritys Schulter, bevor sie auch nur den Mund öffnen<br />
konnte.<br />
Nicht etwa, dass sie die Bitte abgelehnt hätte. Schließlich erhielt sie<br />
dadurch Gelegenheit, Sarahs Pferd Bewegung zu verschaffen. Kein Zweifel,<br />
dass sie den Ritt genießen würde. Ob es ihr allerdings Spaß machen<br />
würde, auf einem Gehöft herumzulaufen, war eine andere Sache.<br />
„Wir könnten auf dem Weg die Kirche in Houghton besichtigen“, fügte<br />
Brin hinzu. „Mr. Martin hat mir versichert, dass die Schnitzereien der<br />
Kirchstühle sehenswert sind.“<br />
„Ein exzellenter Vorschlag!“ Mr. Castleford bedachte Clarissa mit einem<br />
warmen Lächeln. „Ich könnte zur Kirche hinüberreiten und Sie dort treffen.“<br />
„Die beiden scheinen sich gut zu verstehen“, raunte Brin Verity zu.<br />
47
Als sie ihn mit einem schnellen Blick streifte, vermochte sie keine Spur<br />
von Eifersucht zu entdecken. „Sie haben gemeinsame Interessen. Mr.<br />
Castleford liebt das Leben auf dem Gut seines Vaters, und Clarissa fühlt<br />
sich auf dem Lande wohler als in der Stadt. Ach ja, was ist eigentlich ein<br />
Wessex Saddleback?“ fragte sie.<br />
Um Brins Mund zuckte es. „Ich glaube, es handelt sich um eine berühmte<br />
Schweinerasse, meine Liebe.“<br />
„Der Himmel bewahre uns“, rief Verity entsetzt. „Schweine und Kirchstühle<br />
... Was steht uns doch morgen für ein aufregender Tag bevor.“<br />
Obwohl Verity sich auf den ihre bevorstehenden Ausflug nicht gerade<br />
freute, wollte sie Clarissa das Vergnügen nicht verderben und stand<br />
rechtzeitig auf. Lady Caroline und Hilary hatten die Einladung, sich der<br />
kleinen Gesellschaft anzuschließen, abgelehnt. Lady Caroline hatte mit<br />
Reiten nicht viel im Sinn, und Hilary wollte den Vormittag mit ihrer Mutter<br />
verbringen. Verity vermutete eher, dass sie sich für ihr Benehmen vom<br />
gestrigen Tag schämte. Sie waren daher nur noch zu dritt, als sie unmittelbar<br />
nach dem Frühstück zum Stallhof gingen, wo ihre Pferde bereits<br />
warteten.<br />
„Mir wurde gesagt, dass ich die Stute der Mistress für Sie satteln soll,<br />
Miss“, erklärte Sutton. „Suchen Sie sich keine Hecken als Hindernis aus“,<br />
warnte er, als er Verity beim Aufsteigen half. „Das Pferd hat nichts gegen<br />
einen Zaun oder ein Tor einzuwenden, mag aber keine Hecken. Kurz<br />
nachdem Mrs. Ravenhurst die Stute bekam und versuchte, über eine Hecke<br />
zu springen, wurde sie abgeworfen.“<br />
„Keine Sorge, Sutton.“ Brin lenkte sein Pferd, einen prächtigen Rotfuchs,<br />
der Ravenhurst gehörte, neben die graue Stute. „Ich passe auf,<br />
dass Miss Harcourt die Warnung beherzigt.“<br />
„Miss Harcourt braucht niemanden, der auf sie aufpasst“, erwiderte<br />
Verity hitzig. „Sie ist nicht so dumm, um einen vernünftigen Rat in den<br />
Wind zu schlagen.“<br />
„Ich glaube, Major Carter macht es Spaß, Sie zu provozieren“, sagte<br />
Clarissa, als sie in Richtung Houghton aufbrachen.<br />
„Das hat er schon immer getan.“<br />
„Und war damit sehr erfolgreich, wie Sie selbst festgestellt haben, Miss<br />
Gillingham.“ Brin lachte fröhlich. „Verity besitzt ein leicht entflammbares<br />
Temperament, sodass man dem Wunsch kaum widerstehen kann, sie<br />
gelegentlich durch eine Bemerkung aufzustacheln.“<br />
Verity bemerkte, dass Clarissa sie plötzlich angstvoll anblickte, und<br />
beeilte sich, sie zu beruhigen. „Keine Sorge, ich habe nicht die Absicht,<br />
mich mit Major Carter in einem Duell zu messen ... jedenfalls nicht, solange<br />
wir nicht allein sind.“<br />
„Auf die Begegnung freue ich mich.“ Seine Antwort klang wie eine Herausforderung.<br />
Verity hielt es für besser, das Thema zu wechseln --- nicht nur um ihretwegen,<br />
sondern vor allem Miss Gillingham zuliebe.<br />
Sie erreichten Houghton, ohne sich in weitere Wortgefechte zu verstricken.<br />
Es war ein kleiner Ort mit einer einzigen Hauptstraße. Die Kirche<br />
stand an einem Platz in der Mitte <strong>des</strong> Dorfes und, wie Verity bemerkte, als<br />
sie absaß und Brin die Zügel reichte, dem „The Three Swans“ gegenüber.<br />
Diesen Gasthof sollte sie aufsuchen, falls sie es für nötig hielt, mit dem<br />
„Kutscher“ Verbindung aufzunehmen.<br />
In diesem Moment traf Mr. Castleford ein, der einen kräftigen Falben<br />
ritt. Nach der Begrüßung betraten sie die kleine Kirche und betrachteten<br />
die Holzschnitzereien, von denen einige Jagdszenen darstellten. Verity<br />
fand sie zu ihrem eigenen Erstaunen sogar recht interessant, doch es<br />
dauerte nicht lange, bis ihr wieder das Haus auf der anderen Seite der<br />
Straße in den Sinn kam. Ob sich der mysteriöse Thomas Stone wohl gerade<br />
dort aufhielt? Wichtiger noch, ob er vielleicht der Kutscher war?<br />
Verity vermochte dem Wunsch, das herauszufinden, nicht zu widerstehen.<br />
Außerdem hatte sie einen sehr plausiblen Grund, ihn aufzusuchen.<br />
Sie wollte ihn davon informieren, dass Brin an dem bewussten Freitag<br />
nicht in Frampington gewesen war.<br />
Nach einem kurzen Blick auf die anderen, die immer noch voller Interesse<br />
das Schnitzwerk betrachteten, zog sich Verity langsam zum Portal<br />
zurück. Sie vergewisserte sich noch einmal, dass niemand in ihre Richtung<br />
schaute, schlüpfte hinaus und eilte über die Straße in den Gasthof.<br />
Es dauerte ein paar Sekunden, bevor sich ihre Augen an das Halbdunkel<br />
gewöhnten. Bei dem Wirt, der hinter der Theke stand, erkundigte sie<br />
sich, ob er einen Gentleman namens Thomas Stone unter seinem Dach<br />
beherberge.<br />
„Mr. Stone“, rief er einem Mann zu, der an einem Ecktisch saß, und<br />
den Verity bisher nicht bemerkt hatte. „Hier ist eine junge Lady, die nach<br />
Ihnen fragt.“<br />
Mr. Stone legte das Journal weg, in dem er gelesen hatte, und erhob<br />
sich. Es war nicht der Kutscher, sondern ein Mann in mittleren Jahren,<br />
außerdem ein ganzes Stück kleiner als der, den sie zu sehen gehofft hatte.<br />
Verity verbarg ihre Enttäuschung und streckte ihm lächelnd die Hand<br />
entgegen.<br />
„Wie geht es Ihnen, Sir? Mein Name ist Harcourt.“<br />
„Das dachte ich mir bereits“, erwiderte er und schob ihr einen Stuhl<br />
zurecht. „Wir haben einen gemeinsamen Freund, Miss Harcourt. Sie sind<br />
vermutlich hier, weil Sie etwas haben, das ich an ihn weitergeben soll.“<br />
Verity nickte. „Ja, wenn es auch nicht viel ist.“ Sie wartete, bis er ebenfalls<br />
Platz genommen hatte, bevor sie wiederholte, was sie am Abend zuvor<br />
von Mr. Castleford erfahren hatte. „Ich denke, Sie können die Untersuchungen<br />
in Bezug auf Major Carter einstellen.“<br />
Er betrachtete sie nachdenklich, ohne ein Wort zu äußern.<br />
48
Ein unangenehmer Verdacht stieg in ihr auf. „Warum sind Sie hier,<br />
Mr. Stone?“<br />
„Ich bin nicht befugt, Ihnen darüber Auskunft zu geben“, erwiderte er<br />
ziemlich brüsk.<br />
„Nein, wahrscheinlich nicht. Ich frage mich allerdings, wen Sie im Auge<br />
behalten sollen ... Und ich würde eine hohe Summe wetten, dass es ganz<br />
bestimmt nicht Major Carter war.“ Verity stand auf. „Sobald ich wieder in<br />
der Stadt bin, werde ich ein paar Worte mit meinem Onkel reden müssen.<br />
Und Sie richten bitte unserem gemeinsamen Freund aus, dass ich ihm<br />
bei unserem nächsten Treffen ebenfalls einiges zu sagen habe.“<br />
„Diese Botschaft werde ich ihm bestimmt übermitteln“, erklärte er mit<br />
dem Anflug eines Lächelns.<br />
Verity verließ den Gasthof, ohne den Mann noch eines weiteren Blickes<br />
zu würdigen. Auf der Straße musste sie warten, bis ein vollbeladener Karren<br />
vorbeigefahren war, bevor sie auf die andere Seite gelangte.<br />
Diese Geschichte wurde immer geheimnisvoller. Tief im Herzen hatte<br />
sie von Anfang an gewusst, dass Brin kein <strong>Spion</strong> war. Als sie ihrem Onkel<br />
vor ein paar Wochen mitgeteilt hatte, Brin habe plötzlich die Stadt verlassen,<br />
hatte sie irgendwie gespürt, dass ihm diese Tatsache bekannt war.<br />
Und wenn er Brin für schuldlos gehalten hatte, war anzunehmen, dass<br />
die Leute, die für ihn arbeiteten, diese Meinung teilten.<br />
Aus welchem Grund hatte der Kutscher sie trotzdem ermutigt, mit ihren<br />
diskreten Nachforschungen fortzufahren? Außerdem hätte sie schwören<br />
können, dass Mr. Stone über die Informationen, die er von ihr erhalten<br />
hatte, bereits verfügte. Auch er wusste, dass Brin unschuldig war.<br />
Warum also hielt sich Mr. Stone in dieser Gegend auf? Wen sollte er<br />
beobachten? Den Castleford-Haushalt? Sicherlich wurde Claud Castleford<br />
nicht als Verräter verdächtigt. Dann schon eher Lord Castleford, der für<br />
die Regierung arbeitete und zweifellos in eine Menge geheimer Details<br />
eingeweiht war. Lord Castleford war es auch, der Curricle und Gespann<br />
nach London gebracht hatte. Bei<strong>des</strong> war also noch in seinem Besitz gewesen,<br />
als das Treffen in Frampington stattgefunden hatte. Es hätte daher<br />
mehr Sinn ergeben, wenn Mr. Stone in London geblieben wäre, um den<br />
Verdächtigen zu beobachten.<br />
Aus dem Augenwinkel heraus bemerkte sie, dass sich auf dem Friedhof<br />
etwas bewegte. Ihr Herz klopfte unwillkürlich schneller, bis sie erkannte,<br />
dass es sich bei der hoch gewachsenen Gestalt, die sich aus dem Schatten<br />
der herunterhängenden Zweige einer riesigen Tanne löste, um Brin<br />
handelte.<br />
„Wo waren Sie, Miss Harcourt?“ fragte er in dem autoritären Ton, den<br />
er ihr gegenüber manchmal benutzte. Außerdem war die Frage überflüssig,<br />
denn er hatte von seinem Platz aus die andere Seite der Straße gesehen.<br />
Es konnte ihm daher nicht entgangen sein, dass sie aus dem Gasthaus<br />
gekommen war.<br />
„Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten, Brin Carter. Sie<br />
sind nicht mein Bewacher. Ich kann kommen und gehen, wie es mir beliebt.“<br />
Er trat zu ihr und schaute sie mit einem Ausdruck in den Augen an,<br />
den man nur als äußerste Missbilligung deuten konnte. „Es ist höchste<br />
Zeit, dass Ihnen die Flügel gestutzt werden, junge Dame“, sagte er.<br />
Veritys Irritation schwand, ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln.<br />
Jemand, der ihr sehr am Herzen lag, hatte vor gar nicht langer Zeit<br />
etwas Ähnliches geäußert. Benahmen sich vielleicht alle breitschultrigen<br />
Männer aus Yorkshire so diktatorisch?<br />
„O Brin, bitte hören Sie auf, so böse dreinzublicken“, schmeichelte Verity.<br />
„Sie wollen doch sicher Clarissa nicht erneut ängstigen. Wo ist sie<br />
eigentlich?“<br />
„Sie spaziert mit Claud über den Friedhof und studiert Grabsteine.“<br />
Sein Humor hatte die Oberhand gewonnen, er lächelte. „Es wundert mich<br />
immer wieder, wofür sich manche Menschen begeistern können. Oh, da<br />
sind die beiden ja. Als Nächstes kommen wohl die Schweine dran.“<br />
Clarissa, die neben Mr. Castleford herging, wirkte sehr glücklich. Verity<br />
vermutete, dass die beiden mehr verband als nur gemeinsame Interessen.<br />
Falls sie sich nicht sehr täuschte, fühlte sich die kleine Miss Gillingham<br />
in Mr. Castlefords Gesellschaft sehr wohl. Verity hatte sie noch nie<br />
so strahlend gesehen. Als sie nach der Besichtigung <strong>des</strong> Gehöfts zu ihren<br />
Pferden zurückkehrten, war Verity überzeugt, dass Clarissa Gillingham<br />
auf dem besten Weg war, ihr Herz zu verlieren.<br />
„Es ist schade, dass Sie zum Lunch auf Ravenhurst erwartet werden.<br />
Ich hätte Ihnen gern noch das Haus gezeigt“, sagte Mr. Castleford. „Vielleicht<br />
ein andermal, aber leider nicht morgen. Ich fahre auf den Viehmarkt,<br />
um mir ein Paar Arbeitspferde anzuschauen, und werde erst ziemlich<br />
spät zurück sein. Wirklich schade“, fügte er hinzu. „Es ist ein faszinieren<strong>des</strong><br />
altes Haus ... mit Geheimgängen, einem echten Gespenst ... Ich<br />
bin sicher, dass es den Damen gefallen würde.“<br />
„Das glaube ich auch“, pflichtete Verity ihm bei, nachdem sie einen<br />
Blick auf das graue Tudor-Gebäude geworfen hatte. „Doch da wir am<br />
Samstag nach London zurückkehren, müssen wir auf dieses Vergnügen<br />
diesmal bedauerlicherweise verzichten. Ich hoffe aber sehr, dass Sie uns<br />
am Freitagabend bei Sarahs Ball mit Ihrer Anwesenheit beehren.“<br />
„Den würde ich um keinen Preis der Welt verpassen, Miss Harcourt.<br />
Miss Gillingham hat versprochen, mir einen Tanz zu reservieren, und ich<br />
hoffe, Sie erweisen mir ebenfalls die Ehre.“<br />
„Aber natürlich, Mr. Castleford“, versicherte sie, während sie sich erneut<br />
in den Sattel von Sarahs hübscher Stute helfen ließ, die sie gar zu<br />
gern selbst besessen hätte. „Ich freue mich schon darauf, fügte sie hinzu.“<br />
„Hoffentlich haben Sie sich nicht allzu sehr gelangweilt“, bemerkte Clarissa,<br />
die neben ihr herritt.<br />
49
„Keineswegs“, beteuerte Verity eilig, wenn auch nicht ganz der Wahrheit<br />
entsprechend. „Offen gestanden kann ich keine große Begeisterung<br />
für Schweine aufbringen, und im Gegensatz zu Ihnen und Mr. Castleford<br />
finde ich die Tiere auch nicht schön. Ich muss aber sagen, dass das Anwesen<br />
in einem bemerkenswert guten Zustand ist. Das gereicht dem jungen<br />
Mann zu Ehre. Sein Vater hat seinem Sohn die Verwaltung der Ländereien<br />
überlassen, stimmt das, Brin?“<br />
Als er lediglich nickte, sah sie ihn nachdenklich an. Während sie sich<br />
auf dem Hof umgeschaut hatten, war er ungewöhnlich ruhig gewesen.<br />
Verity hatte ihn einige Male dabei ertappt, wie er das Haus der Castlefords<br />
anstarrte, als erwartete er, dort jemanden oder etwas zu sehen. Das<br />
war ihr sehr merkwürdig vorgekommen.<br />
„Wie gut kennen Sie die Familie?“ fragte sie. „Sind Sie Lady Castleford<br />
schon begegnet?“<br />
„Ja, sie ist eine charmante Dame. Zur Zeit ist sie nicht daheim und besucht<br />
einen kranken Verwandten, wie ich gehört habe. Sie und Miss Gillingham<br />
würden sie bestimmt mögen.“<br />
„Ich glaube, dass Mr. Castlefords Vater vor dem Wochenende zurückkehrt“,<br />
informierte ihn Clarissa. „Vielleicht kommt er noch rechtzeitig zum<br />
Ball am Freitag.“<br />
„Tatsächlich? Diesen Gentleman würde ich gern kennen lernen“, meinte<br />
Verity, die den seltsam forschenden Ausdruck in Brins Augen nicht<br />
bemerkte.<br />
12. Kapitel<br />
Sie trafen rechtzeitig zum Lunch auf Ravenhurst ein. Während ihrer<br />
Abwesenheit hatte Sarah die anderen Gäste zu dem Besuch eines nahe<br />
gelegenen Städtchens überredet. Es gebe dort eine geradezu begnadete<br />
Putzmacherin, bei der sie einige reizende Hüte gekauft hätte, die denen<br />
aus der Bond Street in nichts nachstünden, versicherte sie. Die Einladung<br />
umfasste natürlich auch Verity, Clarissa und Brin.<br />
Er lehnte jedoch höflich ab, weil er einige dringende Briefe zu schreiben<br />
hätte. Clarissa freute sich auf einen weiteren Ausflug, und Verity beschloss,<br />
ebenfalls mitzufahren, zumal auch Sarah ihnen Gesellschaft leisten<br />
wollte.<br />
Es war ein schöner, heller Nachmittag und glücklicherweise nicht zu<br />
heiß für eine Spazierfahrt durch den malerischen Wald, den man auf dem<br />
Weg zu dem Städtchen durchqueren musste. Was den Laden der Putzmacherin<br />
betraf, hatte Sarah nicht übertrieben. Doch bei so vielen Kundinnen,<br />
die herumliefen und Hüte aufprobierten, wurde Verity der Trubel<br />
bald zu viel. Sie entschied sich daher, draußen auf die Damen zu warten.<br />
Sie war gerade ins Freie getreten, als sie sah, dass auf der anderen<br />
Straßenseite eine Mietkutsche anhielt. Normalerweise hätte sie sich dafür<br />
nicht interessiert, doch da sie sonst nichts zu tun hatte, beobachtete sie,<br />
was dort drüben vor sich ging. Der Wagenschlag wurde geöffnet, und ein<br />
großer, ganz in Schwarz gekleideter Mann stieg aus. Er trug einen kleinen<br />
hölzernen Kasten sowie einen stark ramponierten Mantelsack bei sich.<br />
Verity traute ihren eigenen Augen kaum. Es war der französische <strong>Spion</strong>!<br />
Nachdem die Kutsche weitergefahren war, hatte Verity einen ungehinderten<br />
Blick auf den Fremden, der ein Stück weiter vorn einen Gasthof<br />
betrat. Sie presste ihre bebenden Finger gegen die Schläfen. Was sollte sie<br />
tun? Was konnte sie tun?<br />
„Verity, Liebes, was ist los, um Himmels willen?“ Die besorgte Stimme<br />
ihrer Tante unterbrach ihre wilden Gedankengänge. „Du siehst aus, als<br />
ob du einen Geist gesehen hättest.“<br />
„Keinen Geist, aber etwas ähnlich Erschrecken<strong>des</strong>“, murmelte Verity.<br />
„Fühlst du dich nicht wohl?“<br />
„Es geht mir gut, Tante Clara.“ Sie riss sich mit einiger Mühe zusammen.<br />
„Da kommt Sarah mit den anderen. Es wird wohl Zeit, dass wir<br />
nach Ravenhurst zurückkehren.“ Dem Himmel sei Dank, fügte sie im Stillen<br />
hinzu, während sie rasch in Sarahs offene Kutsche stieg.<br />
Das Einzige, was sie tun konnte, war, Mr. Stone unverzüglich zu informieren.<br />
Das würde nicht leicht sein. Wie sollte sie, ohne Verdacht zu<br />
erregen, plötzlich verkünden, dass sie zu dieser Tageszeit ausreiten wollte?<br />
Außerdem bezweifelte sie, dass man ihr das ohne Begleitung erlauben<br />
würde.<br />
Zum ersten Mal war sie froh über Hilary Fenners pausenloses Geplapper.<br />
Dadurch war es den anderen Insassen der Barouche unmöglich,<br />
auch nur ein Wort einzuwerfen. Veritys Geistesabwesenheit blieb daher<br />
sogar von ihrer scharfsinnigen Tante unbemerkt. Als sie auf Ravenhurst<br />
eintrafen, hatte Verity genügend Zeit gehabt, sich eine Lösung für ihr<br />
Problem zu überlegen. Sie würde Meg mit einem Brief für Mr. Stone nach<br />
Houghton schicken.<br />
Als die Damen das Haus betraten, blieb Verity ein wenig zurück und<br />
kam erst in die Halle, als alle anderen bereits die Treppe hinaufstiegen.<br />
Bei ihrer gestrigen Besichtigungstour durch das Haus hatte sie bemerkt,<br />
dass sich in der Bibliothek Federn und Papier befanden. Doch bevor sie<br />
den gemütlichen Raum mit den vielen Bücherregalen erreichte, wurde die<br />
Tür geöffnet, und Brin kam heraus.<br />
Verity blieb abrupt stehen. Sie erwog, ob sie sich nicht besser Brin anvertrauen<br />
solle. Wenn es ihm plötzlich einfallen würde, nach dem Dinner<br />
auszureiten, würde das niemand besonders merkwürdig finden. Schließlich<br />
legten Männer manchmal ein unerklärliches Benehmen an den Tag.<br />
Sie trat einen Schritt auf ihn zu, überlegte es sich aber dann anders.<br />
Verity bezweifelte keinen Augenblick, dass er ihren Wunsch erfüllen<br />
50
würde, allerdings nicht ohne zuerst eine Erklärung zu verlangen. Und wie<br />
sollte sie ihm alles erklären, ohne zu erwähnen, dass sie zunächst ihn für<br />
einen Verräter gehalten hatte?<br />
„Verity, was, um alles in der Welt, ist los?“ Nicht nur seine Stimme,<br />
auch seine Miene verrieten aufrichtige Besorgnis, als er ihre schlanken<br />
Finger mit beiden Händen umschloss. „Was ist geschehen, um Ihren Seelenfrieden<br />
zu stören?“<br />
„Nichts. Ich muss einen Brief schreiben. Wenn Sie aber in der Bibliothek<br />
beschäftigt sind, komme ich später wieder.“<br />
„Und mit wem wollen Sie sich so dringend in Verbindung setzen?“ erkundigte<br />
er sich scherzhaft. „Mir kommt langsam der Verdacht, dass Sie<br />
sich im Geheimen mit jemand treffen. Wartet irgendwo in der Nähe ein<br />
Liebhaber?“<br />
Sie verwünschte insgeheim die verräterische Röte, die ihr in die Wangen<br />
stieg. „Seien Sie nicht albern, Brin“, sagte sie und entzog ihm die<br />
Hände. „Wen sollte ich denn in dieser Gegend kennen?“<br />
„Genau das möchte ich ja herausfinden.“ Die Arme vor der Brust verschränkt,<br />
stand er da und schaute sie an, als wäre sie ein eigensinniges<br />
Kind. „Am Abend meiner Ankunft entdeckte ich einen Brief für Sie, der<br />
unter der Tür durchgeschoben worden war. Und als ich vor kurzer Zeit<br />
ins Haus zurückkehrte, gab es einen zweiten. Stebbins“, rief er durch die<br />
Halle. „Wo haben Sie den Brief für Miss Harcourt hingelegt?“<br />
Der Butler näherte sich ihnen mit einem Silbertablett. Als Verity die<br />
kühne Handschrift entdeckte, verflüchtigte sich ihre Ärger über Brins<br />
überheblichen Ton. Sie ignorierte das missbilligende Schnauben <strong>des</strong> Butlers<br />
wie auch die Tatsache, dass der Major fragend die Brauen hochzog,<br />
ergriff den Brief und hob das Kinn, um den beiden Männern ihre Gleichgültigkeit<br />
zu zeigen, bevor sie sich auf dem Absatz umdrehte.<br />
Da ihr klar war, dass jede ihrer Bewegungen beobachtet wurde, zwang<br />
sie sich dazu, langsam die Treppe hinaufzugehen. Doch sobald sie sich<br />
außer Sichtweite befand, lief sie schnell in ihr Schlafzimmer. Dort nahm<br />
sie Megs Anwesenheit lediglich mit einem leichten Lächeln zur Kenntnis,<br />
trat vor das Fenster und erbrach das Siegel. Zu ihrer Enttäuschung enthielt<br />
der Brief nur eine Zeile:<br />
Treffen Sie mich um Mitternacht im Rosengarten.<br />
Das ist leichter gesagt als getan, dachte sie, während sie stirnrunzelnd<br />
aus dem Fenster schaute. Von ihrem Platz aus konnte sie den Eingang<br />
<strong>des</strong> Rosariums erkenne, das auf der Rückseite <strong>des</strong> Hauses an die kunstvolle<br />
Gartenanlage grenzte. Sie war ziemlich sicher, dass der Rosengarten<br />
von den anderen Fenstern nicht einzusehen war, doch wie sollte sie unbemerkt<br />
das Haus verlassen?<br />
Natürlich stand außer Frage, dass sie es versuchen würde. Dass der<br />
Kutscher nach Ravenhurst kam, ersparte ihr die Mühe, sich mit Mr. Stone<br />
in Verbindung setzen zu müssen. Doch auch wenn das nicht der Fall<br />
gewesen wäre, hätte sie Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um zur<br />
angegebenen Zeit im Rosengarten zu sein.<br />
Erst jetzt bemerkte Verity, dass die Zofe sie angesprochen hatte. „Es<br />
tut mir Leid, Meg, ich habe nicht zugehört. Was haben sie gesagt?“<br />
„Ich wollte wissen, welches Kleid Sie heute tragen möchten, Miss.“<br />
„Das ist mir gleichgültig. Wir essen nur in kleinem Kreis. Wählen Sie<br />
eines aus.“<br />
Es kostete Verity einige Mühe, sich beim Dinner auf die allgemeine Unterhaltung<br />
zu konzentrieren. Bei mehr als einer Gelegenheit fiel ihr auf ---<br />
sofern es ihr gelang, sich aus ihrem tranceähnlichen Zustand zu lösen ---,<br />
dass nicht nur ihre Tante, sondern auch der Major sie beobachteten.<br />
Nach dem Dinner gesellte sich Brin nicht zu den Damen im Salon,<br />
sondern kehrte in die Bibliothek zurück, um weitere Briefe zu schreiben.<br />
Zuerst war Verity erleichtert, weil sie es jetzt nur mit ihrer scharfsinnigen<br />
Tante zu tun hatte. Doch als sich der Abend hinzog und sich das Gespräch<br />
pausenlos um Themen wie Mode und Haushaltsführung drehte,<br />
wäre sie dankbar für seine Gegenwart gewesen.<br />
Zum Glück hatten sich die Damen schnell an den ländlichen Tagesablauf<br />
gewöhnt. Als die Uhr auf dem Kaminsims elf Mal schlug, waren sie<br />
bereit, zu Bett zu gehen. Verity, die sich den ganzen Abend lang bemüht<br />
hatte, ihre Langeweile zu verbergen, erregte daher nicht das Misstrauen<br />
ihrer Tante, als sie ebenfalls erklärte, dass sie sich für die Nacht zurückziehen<br />
wollte. Sie stiegen gemeinsam die Treppe hinauf, wo sich Verity mit<br />
einem schläfrigen „Guten Nacht“ vor deren Schlafzimmertür von ihrer<br />
Tante verabschiedete. Doch kaum hatte sie ihr eigenes Zimmer betreten,<br />
war sie wieder hellwach.<br />
Wie so häufig, ließ sie sich auch heute nicht von Meg beim Auskleiden<br />
helfen. Sie hatte ihrer Zofe vorher aufgetragen, sie möge ihr Nachtzeug<br />
bereitlegen und somit klargemacht, dass sie ihre Dienste nicht mehr bedurfte.<br />
Im Gegensatz dazu pflegte Lady Billington immer nach Dodd zu<br />
läuten. Verity hörte daher, dass wenig später jemand das Zimmer ihrer<br />
Tante betrat.<br />
Sarah hatte alle ihre Gäste, mit Ausnahme von Brin, der im Westflügel<br />
wohnte, in diesem Teil <strong>des</strong> Hauses untergebracht. Daher war während der<br />
nächsten halben Stunde auf dem Korridor ein reges Kommen und Gehen<br />
zu hören, doch zehn Minuten vor Mitternacht herrschte im Haus Grabesstille.<br />
Nachdem sie sich einen Schal um die Schulter gelegt hatte, nahm Verity<br />
eine Kerze und schlich zur Tür. Als sie den Knauf drehte, ertönte nur<br />
ein schwaches Klicken. Sie spähte vorsichtig nach links und nach rechts,<br />
fand den Flur jedoch verlassen vor. Sogar die Kerzen in den Wandleuchten<br />
waren gelöscht worden --- ein Zeichen, dass die Dienstboten ihre<br />
51
Quartiere aufgesucht hatten.<br />
Verity ging auf Zehenspitzen bis zur Treppe. Falls ihr jemand begegnete<br />
--- Gast oder Dienstbote ---, beabsichtigte sie zu behaupten, sie könne<br />
nicht schlafen und wolle sich in der Bibliothek ein Buch holen.<br />
Zum Glück war sie nicht genötigt, eine Erklärung für ihre mitternächtliche<br />
Wanderschaft abzugeben. Die Halle war leer, obwohl die flackernde<br />
Öllampe, die auf einem der Tische stand, darauf hindeutete, dass sich<br />
noch nicht alle zurückgezogen hatten. Verity blies ihre Kerze aus und<br />
steckte sie in den Halter neben der Lampe, bevor sie sich durch die Halle<br />
zur Eingangstür schlich. Sie schob die schweren eisernen Riegel zurück,<br />
die so gut geölt waren, dass sie keinerlei Geräusche verursachten.<br />
Als sie erst draußen war, konnte sie alle Vorsicht außer Acht lassen.<br />
Sie lief den Weg entlang, der zu den Stallungen führte, hinter denen sie<br />
unbemerkt in die Gartenanlage gelangen konnte. In dieser Gegend kannte<br />
sie sich nicht sonderlich gut aus, doch der helle Mond am sternenklaren<br />
Himmel beleuchtete das Gelände, sodass sie keine Schwierigkeit hatte,<br />
das schmiedeeiserne Tor zum Rosarium zu finden.<br />
Hier blieb sie einen Moment stehen, um wieder zu Atem zu kommen.<br />
In einiger Entfernung sah sie eine hölzerne Bank und ging darauf zu. Solange<br />
sie auf den Kutscher wartete, wollte sie es sich wenigstens so bequem<br />
wie möglich machen. Bis zu seinem Eintreffen konnte es freilich<br />
eine Weile dauern, aber sie zweifelte nicht daran, dass er kommen würde.<br />
Ihr Vertrauen in ihn wurde bald darauf belohnt. Verity hatte sich<br />
kaum hingesetzt und sich fester in ihren Schal gehüllt --- die Nachtluft<br />
war nach der Wärme <strong>des</strong> Tages überraschend kühl ---, da vernahm sie<br />
das Geräusch von Schritten auf dem Kies. Sie drehte den Kopf und sah<br />
die wohl bekannten Umrisse von Umhang und Dreispitz sowie das rote<br />
Glühen der Zigarre, die er in der Hand hielt und dann auf den Boden<br />
schnippte.<br />
„Hallo Mädchen“, sagte er mit jenem starken Akzent, den sie so gern<br />
hörte. „Ich wusste, dass Sie hier sein würden.“<br />
Verity stand auf. „Es wäre mir nicht im Traum eingefallen, nicht zu<br />
kommen.“<br />
Diesmal umarmte er sie nicht sanft. Als er sie fest an sich drückte,<br />
spürte sie jeden Muskel seines kräftigen Körpers. Er küsste sie so verlangend<br />
wie ein Verhungernder nach langen Tagen <strong>des</strong> Fastens. Verity<br />
klammerte sich an ihn, halb erschrocken, halb erregt von der Heftigkeit<br />
seiner Leidenschaft.<br />
Seine schweren Atemzüge bewiesen, welche Anstrengung es ihn kostete,<br />
die Beherrschung nicht zu verlieren. Dann umfasste er mit bebenden<br />
Händen ihre Oberarme und schob sie ein Stück von sich fort. „Nein, Mädchen,<br />
so geht das nicht“, warnte er. „Führe mich nicht noch mehr in Versuchung.<br />
Das nächste Mal wäre ich nicht imstande, mich zurückzuhalten.<br />
Dann wür<strong>des</strong>t du auf dem Boden liegen, die Kleider abgestreift, und<br />
ich würde jeden Zentimeter deines Körpers küssen.“<br />
Natürlich war es höchst unschicklich von ihm, etwas Derartiges zu<br />
äußern, und trotzdem fand Verity diese Vorstellung äußerst aufregend.<br />
Sie verriet ihre nicht gerade sittsamen Gedanken durch ein mutwilliges<br />
Funkeln in ihren Augen, das er richtig deutete.<br />
„Du ahnst nicht, wie aufreizend es wirkt, wenn du mich so anschaust.<br />
Gut zu wissen, dass du noch unschuldig bis. Und das wirst du auch bis<br />
zu unserer Hochzeit bleiben.“ Er spürte, dass sie zusammenzuckte, und<br />
sah, dass das herausfordernde Leuchten in ihrem Blick erlosch. „Was ist<br />
los Mädchen?“ fragte er. „Hast du etwa Zweifel?“<br />
„Nicht wenn ich mit dir zusammen bin“, gab sie offen zu. Andererseits<br />
sollte er aber auch wissen, welche Zweifel sie befielen, wenn er nicht da<br />
war. „Ich weiß noch so wenig von dir --- nicht einmal deinen Namen.“ Sie<br />
wunderte sich insgeheim, wie leicht ihr das vertrauliche Du über die Lippen<br />
ging.<br />
„Keine Sorge, das alles erfährst du bald genug. Du brauchst auch keine<br />
Angst zu haben, dass ich dich bitte, mit mir in einem Stall zu leben.<br />
Du wirst die Herrin eines schönen Hauses sein. Ich bin sehr reich.“<br />
Diese Versicherung trug in<strong>des</strong> nicht dazu bei, die quälenden Zweifel zu<br />
vertreiben. „Das überrascht mich nicht. Du bist ein intelligenter und gebildeter<br />
Mann.“ Verity seufzte. „Leider weiß ich inzwischen, dass du mich<br />
belogen hast.“<br />
Er zog sie erneut in die Arme und schmiegte ihren Kopf an seine Brust.<br />
„Ich darf dir jetzt noch nichts sagen, Mädchen. Aber wenn dies alles vorbei<br />
ist ...“<br />
„Ich erwarte gar nicht, dass du dich mir anvertraust“, unterbrach sie<br />
ihn. „Aber es gab keinen Grund, mich zu belügen. Du hast mich unter<br />
einem Vorwand nach Ravenhurst gelockt“, fuhr sie fort. „Weder du noch<br />
mein Onkel habt Major Carter jemals als <strong>Spion</strong> verdächtigt.<br />
Er schwieg einen Moment lang, bevor er erwiderte: „Wie hätte ich dich<br />
sonst überzeugen können, herzukommen? Ich wollte in deiner Nähe sein.“<br />
Dieses Eingeständnis war natürlich höchst erfreulich, allerdings konnte<br />
sich Verity <strong>des</strong> Gefühles nicht erwehren, dass er ihr etwas Wichtiges<br />
verschwieg, etwas, das sie selbst hätte herausfinden müssen ... Leider<br />
hatte sie nicht die geringste Ahnung, worum es sich handelte.<br />
Ohne weitere Zeit zu verlieren, berichtete sie ihm, dass der französische<br />
<strong>Spion</strong> in der Gegend aufgetaucht sei. Sonderbarerweise erfolgte auf<br />
diese Mitteilung keinerlei Reaktion. Vergeblich versuchte sie, sich ein wenig<br />
aus der Umarmung zu lösen. Er hielt ihren Kopf jedoch weiterhin fest<br />
an sich geschmiegt, als würde er befürchten, dass sich ihre Augen mittlerweile<br />
zu gut an die Dunkelheit gewöhnt hätten und sie imstande wäre,<br />
seine Verkleidung zu durchschauen.<br />
„Ich nehme an, dass du das bereits wusstest“, sagte sie und gab es<br />
auf, sich gegen den Druck seiner kräftigen Arme zu wehren.<br />
52
„Nun, das gerade nicht, aber ich bin auch nicht überrascht. Er wird<br />
bestimmt von einem Mitarbeiter deines Onkels verfolgt. Es ist daher nicht<br />
nötig, dass wir uns seinetwegen Sorgen machen.“<br />
„Du verdächtigst Castleford, oder? Deshalb hält sich Mr. Stone hier in<br />
der Nähe auf.“<br />
„Du solltest nicht so viele Fragen stellen, Mädchen. Ich kann dir nur<br />
verraten, dass bislang noch keine Informationen weitergegeben wurden,<br />
sonst wäre der Franzose nicht mehr hier, sondern längst auf dem Weg zu<br />
irgendeinem Hafen.“<br />
Das klang vernünftig. Es wäre auch vernünftig gewesen, den Kutscher<br />
nicht wieder zu sehen --- zumin<strong>des</strong>t bis die Sache vorbei war.<br />
„Ich kann mich nicht mehr mit dir treffen, solange ich hier bin“, erklärte<br />
Verity.<br />
„So? und warum nicht?“<br />
Obwohl er die Frage ziemlich gleichgültig stellte, schwang ein Anflug<br />
von Schärfe in seiner Stimme mit. Sie klang ein bisschen ärgerlich, ja fast<br />
drohend. Während ihrer kurzen Bekanntschaft hatte er mit Verity gelacht<br />
und gescherzt, nichts<strong>des</strong>totrotz war er vermutlich ein gefährlicher Mann,<br />
dem man sich besser nicht in den Weg stellte. Aber er war auch scharfsichtig,<br />
sodass es dumm gewesen wäre, ihn zu belügen.<br />
„Weil dieser schreckliche Brin Carter wegen deiner Briefe bereits misstrauisch<br />
geworden ist. Er ist sehr schlau --- außer wenn es um Frauen<br />
geht“, fuhr sie fort. „Nein, das stimmt nicht mehr. Ich denke, dass er auch<br />
in diesem Punkt inzwischen klüger geworden ist.“<br />
Ein kurzes Schweigen entstand. „Ach ja? Hat er sich früher einmal<br />
zum Narren gemacht?“<br />
„So weit würde ich nicht gehen“, erwiderte sie ehrlich. „Er wollte lediglich<br />
nicht auf eine Warnung hören, dass eine bestimmte Lady nicht ganz<br />
so engelsgleich war, wie er glaubte. Ich habe ihn gewarnt ... und werde<br />
nie vergessen, wie aufgebracht er reagierte.“<br />
„Kannst du ihn <strong>des</strong>halb nicht leiden, Mädchen?“<br />
„Manchmal kann ich ihn sogar gut leiden.“ Dieses spontane Geständnis<br />
überraschte sie selbst. „Ich habe ihn nie für einen Verräter gehalten,<br />
aber es gibt Zeiten, da benimmt er sich wirklich merkwürdig.“<br />
Der Kutscher küsste sie zart auf die seidigen schwarzen Locken.<br />
„Vielleicht ist er verliebt.“<br />
„Er ganz bestimmt nicht. Dass die kleine Clarissa Gillingham eine Vorliebe<br />
für Claud Castlefords Gesellschaft entwickelt hat, kümmert Brin<br />
Carter offenbar überhaupt nicht.“<br />
„Vielleicht ist sie nicht diejenige, in die er sich verliebt hat.“<br />
Darüber musste Verity erst nachdenken. Möglicherweise hatte der<br />
Kutscher ja Recht. Nichts deutete darauf hin, dass Brin Lady Caroline<br />
oder Hilary Fenner bevorzugt hätte. Ihrer Ansicht nach war Clarissa seine<br />
Favoritin. Vielleicht hatte ihn aber die Erfahrung mit Angela Kingsley<br />
auch so zynisch gemacht, dass er nicht länger die Liebe suchte, sondern<br />
mit gegenseitigem Respekt in der Ehe zufrieden war.<br />
Sie wollte ihre Gedanken gerade laut aussprechen, als der Kutscher ihr<br />
warnend einen Finger auf die Lippen legte. Verity lauschte angestrengt,<br />
nahm aber keine ungewöhnlichen Laute wahr. „Hast du etwas gehört?“<br />
flüsterte sie.<br />
„Aye, Mädchen. Am besten kehrst du ins Haus zurück. Ich werde zuerst<br />
gehen. Das Geräusch kam von dort drüben, wo ich mein Pferd gelassen<br />
habe.“ Er deutete auf das Gelände hinter dem Stallgebäude. „Falls<br />
dort jemand lauert, ist es besser, wenn er mir folgt. Warte ein paar Minuten,<br />
bevor du gehst. Ich sehe dich bald wieder, Mädchen.“ Er hauchte ihr<br />
einen flüchtigen Kuss auf die Lippen, bevor er im Gebüsch verschwand.<br />
Ein paar Sekunden lang hörte Verity noch das Rascheln der Blätter,<br />
als er sich durch die Sträucher zwängte, dann herrschte Stille. Sie hüllte<br />
sich fester in ihren Schal. Nach der Wärme in den starken Armen <strong>des</strong><br />
Kutschers war ihr auf einmal kalt.<br />
Wird es immer so sein wie jetzt? Fragte sie sich. Die kurzen Treffen mit<br />
ihm bedeuteten ihr so viel, und doch hatte dieses eine unerklärliche Leere<br />
in ihr hinterlassen. Hinzu kam die Überzeugung, dass es absolut verrückt<br />
war, ein Mann zu lieben, der ihr ein Rätsel war.<br />
Sie versuchte verzweifelt, ihre plötzliche depressive Stimmung loszuwerden.<br />
Der Kutscher war bestimmt nicht so dumm gewesen, sein Pferd<br />
in der Nähe <strong>des</strong> Hauses zu lassen, wo es womöglich entdeckt werden<br />
konnte. Inzwischen war genug Zeit vergangen, und er befand sich gewiss<br />
in sicherer Entfernung. Verity beschloss daher, sich auf den Rückweg zu<br />
machen. Sie war sehr erleichtert, dass sie kein verdächtiges Geräusch<br />
hörte und, was wichtiger war, niemandem begegnete. Dann jedoch nahm<br />
das Unheil seinen Lauf: Die Tür ließ sich nicht öffnen.<br />
Verity betrachtete das mit kunstvollem Schnitzwerk versehene Eichenportal,<br />
das ihr den Eintritt verwehrte. Dummerweise hatte sie nicht daran<br />
gedacht, dass der zurückgeschobene Riegel die Aufmerksamkeit eines<br />
Dieners erregen könnte, der ihn sofort wieder schließen würde. Warum<br />
hatte sie nicht vorsichtshalber im unteren Stockwerk ein Fenster offen<br />
gelassen? Dann kam ihr plötzlich der Gedanke, dass vielleicht tatsächlich<br />
irgendwo ein Fenster offen war.<br />
Sie trat ein paar Schritte zurück und ließ ihren Blick an der langen<br />
Vorderfront <strong>des</strong> Hauses entlangwandern. Allein im Erdgeschoss gab es<br />
Dutzende von Fenstern, und es blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als<br />
unauffällig an jedem zu rütteln. Bevor sie damit anfangen konnte, entdeckte<br />
sie hinter einem der Fenster der Bibliothek einen Lichtschimmer.<br />
War es Brin, der immer noch dort arbeitete, oder Sarah, die sich nicht mit<br />
den anderen zurückgezogen hatte?<br />
Als sich Verity diesem Fenster näherte und einen Spalt in den Vorhängen<br />
entdeckte, presste sie das Gesicht gegen die Scheibe und spähte hin-<br />
53
ein. Doch mehr als ein paar brennende Kerzen konnte sie nicht erkennen.<br />
Sie trommelte leicht mit den Fingernägeln auf das Glas und wartete, aber<br />
nichts geschah. Sie versuchte es noch einmal, diesmal lauter. Vor lauter<br />
Schreck hätte sie fast aufgeschrien, als die Portieren zurückgerissen wurden<br />
und eine hoch gewachsene Gestalt erschien.<br />
Leider war es nicht Sarah, sondern Brin, der das Fenster öffnete. „Was,<br />
um alles in der Welt, tun Sie da draußen?“<br />
„Im Augenblick nicht viel“, erwiderte sie sarkastisch. „Aber wenn Sie<br />
zur Seite treten, kann ich zumin<strong>des</strong>t durch das Fenster hineinklettern.<br />
Und dämpfen Sie um Himmels willen Ihre Stimme, oder wollen Sie das<br />
ganze Haus aufwecken?“<br />
Verity glaubte, ein leichtes Zucken um seine Mundwinkel zu bemerken,<br />
bevor er sie an den Oberarmen packte und ziemlich grob ins Zimmer<br />
zerrte.<br />
„Haben Sie den Verstand verloren?“<br />
Da das mehr nach einer Feststellung als nach einer Frage geklungen<br />
hatte, antwortete sie nicht. Sie sah zu, wie er das Fenster wieder schloss<br />
und die Vorhänge zuzog. „Was, zum Teufel, hat Sie dazu bewogen, um<br />
diese nächtliche Stunde draußen herumzuwandern?“ Er blickte sie vorwurfsvoll<br />
an, wie ein älterer Bruder seine unartige Schwester. „Ich weiß,<br />
dass es etwas mit diesem Brief zu tun hat. Heraus mit der Sprache, Mädchen,<br />
sonst bin ich gezwungen, Lady Billington von Ihrer Eskapade zu<br />
informieren.“<br />
Das klang nicht nach einer leeren Drohung. „O Brin, das würden Sie<br />
doch nicht tun“, sagte sie beinahe flehend. „Ich kann nicht glauben, dass<br />
Sie so tief sinken würde. „Nun gut, es hatte etwas mit dem Brief zu tun“,<br />
räumte sie widerstrebend ein. „Momentan dürfen Sie mich aber nicht weiter<br />
ausfragen.“<br />
Er schien sekundenlang mit sich zu kämpfen, dann erwiderte er: „In<br />
Ordnung, aber nur, wenn Sie nachts nicht mehr allein ausgehen, haben<br />
Sie das verstanden?“<br />
Verity unterdrückte eine ärgerliche Erwiderung, die ihr auf der Zunge<br />
lag. Er hatte kein Recht, ihr Befehlte zu erteilen. Andererseits war sie<br />
kaum in der entsprechenden Lage, mit ihm zu streiten. „Na gut, ich werde<br />
es nicht mehr tun“, versprach sie, so schwer ihr das auch fiel.<br />
„Wie Sie sehen, hat Stebbins offenbar geahnt, dass ich noch spät arbeite,<br />
und Feuer gemacht. Ich schlage vor, dass Sie sich eine Weile hinsetzen<br />
und sich aufwärmen.“<br />
Er nahm ihren Arm und führte sie zu einem der bequemen Sessel vor<br />
dem Kamin. Verity kam es gar nicht in den Sinn, zu protestieren, obwohl<br />
sie wusste, dass es sich nicht schickte, nachts mit einem Gentleman, mit<br />
dem sie nicht verwandt war, allein zu sein. Sie fand, ihre lange Bekanntschaft<br />
war Grund genug, sich über diese Regel hinwegzusetzen. Außerdem<br />
war sie sich sicher, dass sie von Brin nichts zu befürchten hatte.<br />
Verity beobachtete, wie er aus einer Karaffe Wein in zwei Gläser goss.<br />
Sie vertraute ihm uneingeschränkt. Bei Brin fühlte sie sich genauso sicher<br />
wie bei dem Kutscher. Sonderbar ...<br />
Er bemerkte ihre Verwirrung. „Warum furchen Sie die Stirn?“ fragte er.<br />
„Wie bitte?“ Jäh kehrte sie aus ihren Grübeleien in die Wirklichkeit zurück.<br />
„Ach, es ist nichts.“ Sie nahm das Glas, das er ihr reichte, kuschelte<br />
sich gemütlich in ihren Sessel und lächelte, als er sich ihr gegenübersetzte.<br />
„Offen gestanden habe ich gerade darüber nachgedacht, wie unpassend<br />
es wäre, wenn wir beide hier allein ertappt würden“, sagte sie dann.<br />
„Nicht unpassender, als hätte man Sie bei Ihrem nächtlichen Spaziergang<br />
erwischt“, gab er zurück, lächelte aber dann, als er ihre schuldbewusste<br />
Miene gewahrte. „Keine Angst, ich werde keine weiteren Fragen<br />
stellen.“<br />
Sichtlich entspannt schaute sie sich im Raum um, bis ihr Blick auf die<br />
Papiere fiel, die auf dem Schreibtisch verstreut waren. „Sie sind ja sehr<br />
beschäftigt gewesen“, meinte sie. „Hoffentlich beabsichtigen Sie nicht, die<br />
ganze Nacht aufzubleiben. Andernfalls sind Sie morgen nicht gut genug in<br />
Form, um die Damen zu unterhalten.“<br />
„Leider müssen sich die Damen morgen allein beschäftigen. Ich beabsichtige,<br />
früh wegzureiten und weiß nicht, wann ich zurückkomme.“ Als<br />
sie ihn fragend anschaute, fügte er hinzu: „Es gibt da ein oder zwei Dinge,<br />
um die ich mich unbedingt kümmern muss. Ihnen ist vermutlich entgangen,<br />
dass ich heute Nachmittag einen unerwarteten Besucher hatte.“ Er<br />
verzog die Lippen zu einem seltsamen Lächeln. „Ein Mr. Jessop, von der<br />
Kanzlei Jessop, Jessop und Wilkes, den Anwälten meines verstorbenen<br />
Onkels.“<br />
„Verstorbener Onkel? Ich verstehe.“ Sie hob das Glas. „Meinen Glückwunsch,<br />
Lord Dartwood.“<br />
„Es wäre mir lieber, wenn Sie mich weiterhin Brin nennen. Ich habe<br />
noch niemanden informiert und wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie Ihr<br />
Wissen noch für sich behalten würden.“<br />
Seine Bitte überraschte sie. „Ihnen ist doch wohl klar, dass Ihr neuer<br />
Status sehr bald allgemein bekannt wird.“<br />
„Ich weiß, aber für eine Weile ...“<br />
Er starrte in sein Glas und wirkte so verloren, dass sie ihn am liebsten<br />
in die Arme genommen und ihm versichert hätte, dass er --- was immer<br />
die Welt auch über den Enkelsohn eines Spinnereibesitzers, der plötzlich<br />
in den Adelsstand erhoben wurde, denken mochte --- dem Namen, der er<br />
trug, alle Ehre machen würde.<br />
„Sie haben sich den Titel nie gewünscht, nicht wahr, Brin?“ erkundigte<br />
sie sich mitfühlend.<br />
„Nein, das habe ich nicht“, gab er zu. „Und noch vor wenigen Monaten<br />
hätte ich nie gedacht, dass er mir einmal gehören würde. Mein Onkel hatte<br />
fünf Kinder, drei davon waren Jungen. Der Jüngste starb schon als<br />
54
Kind. Von dem zweiten hieß es, er wäre wie mein Vater gewesen --- rücksichtslos<br />
und ohne je<strong>des</strong> Verantwortungsgefühl. Seltsamerweise kamen<br />
beide auf die gleiche Art ums Leben, bei Kutschenunfällen. Nur der älteste<br />
Sohn, Cedric, war übrig geblieben, hat geheiratet und eine Tochter bekommen.<br />
Da er sich stets bester Gesundheit erfreut hatte, nahm man<br />
allseits an, dass weitere Kinder folgen würden. Niemand hat es für möglich<br />
gehalten, dass ein so robuster und noch junger Mann einer einfachen<br />
Erkältung erliegen könnte.“<br />
Verity konnte sich nicht erinnern, dass er je seinen Vater erwähnt hätte.<br />
Das war nicht überraschend angesichts der Tatsache, dass dieser gestorben<br />
war, als Brin zwei Jahre alt gewesen war. Sie hatte allerdings aus<br />
dem Klatsch der Dienstboten und gelegentlichen Bemerkungen ihres Onkels<br />
Julius genug über ihn erfahren, um sicher zu sein, dass sie ihn nicht<br />
gemocht hätte.<br />
Henry Carter hatte Albert Brinleys Tochter nach einer Blitzromanze<br />
geheiratet. Doch bereits wenige Wochen nach der Hochzeit hatte er seine<br />
junge Frau in seinem Haus auf dem Land zurückgelassen und war nach<br />
London gefahren, um sein ausschweifen<strong>des</strong> Leben wieder aufzunehmen.<br />
Brins Mutter war bei der Geburt ihres Sohnes gestorben. Daraufhin hatte<br />
ihn sein Vater in die Obhut seines Großvaters mütterlicherseits gegeben.<br />
Ob er sich je die Mühe gemacht hatte, seinen Sohn zu besuchen, wusste<br />
Verity nicht. Fest stand allerdings, dass Arthur Brinley sehr viel von seinem<br />
Enkel gehalten hatte. Es war ihm hoch anzurechnen, dass aus Brin<br />
etwas geworden war.<br />
„Werden Sie am Samstag mit uns zusammen nach London zurückkehren?“<br />
Ihre Frage war harmlos gemeint, hauptsächlich um das Schweigen<br />
zu unterbrechen. Daher begriff sie nicht, weshalb er die Stirn runzelte.<br />
„Es tut mir Leid. Ich wollte nicht neugierig sein“, setzte sie hinzu.<br />
„So habe ich das auch nicht aufgefasst“, versicherte er mit einem Lächeln.<br />
„Ich beabsichtige nicht, sofort nach London zu fahren, werde aber<br />
nicht mehr lange in Ravenhurst bleiben.“ Er verfiel wieder in Schweigen.<br />
Verity war klar, dass ihm vieles durch den Kopf gehen musste. Da sie<br />
annahm, dass er gern allein sein würde, trank sie schnell ihr Glas aus<br />
und erhob sich. „Es wird Zeit, Ihnen Guten Nacht zu sagen, Brin. Ich<br />
möchte wirklich nicht, dass man uns hier überrascht --- insbesondere<br />
jetzt. Man könnte mich sonst verdächtigen, Sie als Ehemann einfangen zu<br />
wollen.“<br />
Das war als Scherz gemeint, hatte aber nicht das leiseste Lächeln seinerseits<br />
zur Folge, als er aufstand und sie in die Halle begleitete. Ohne<br />
ein Wort zu äußern, zündete er ihre Kerze wieder an und ging mit ihr bis<br />
zum Fuß der Treppe.<br />
„Glauben Sie mir, Miss Harcourt“, sagte er mit einer Stimme, die wie<br />
eine Liebkosung klang. „Ich kann mir ein schlimmeres Schicksal vorstellen,<br />
als mit Ihnen verheiratet zu sein.“ Und dann verwirrte er sie noch<br />
mehr, indem er ihre Hand hob und mit den Lippen ihre schlanken Finger<br />
streifte.<br />
13. Kapitel<br />
Am nächsten Morgen erwachte Verity mit geröteten Augen und kein<br />
bisschen ausgeruht. Die schlimmste Nacht, die sie je erlebt hatte, lag hinter<br />
ihr. Sie war von Träumen gequält worden, in denen Brin --- mit Dreispitz<br />
und Umhang bekleidet --- sie in einem Moment heftig in die Arme<br />
riss und leidenschaftlich küsste und sich im nächsten in einem grauen<br />
Nebelschleier auflöste, während sie vergeblich versuchte, ihn zu finden.<br />
Sie war mehrfach mit kaltem Schweiß auf der Stirn in ihrem zerwühlten<br />
Bett aufgewacht.<br />
Verity warf die Decke zurück, läutete nach ihrer Zofe und ging wenig<br />
später die Treppe hinunter zum Frühstückssalon, wo sie zu ihrem Erstaunen<br />
die anderen Damen bereits vorfand.<br />
„Brin hat schon gefrühstückt und das Haus verlassen“, teilte Hilary ihr<br />
mürrisch mit.<br />
„Ja, er sagte, er würde früh ausreiten“, erwiderte Verity, ohne nachzudenken.<br />
Einige überraschte Blicke trafen sie, als sie sich an den Tisch<br />
setzte, doch es war Hilary, die ihrer Neugier Ausdruck verlieh.<br />
„Wann hat er dich denn von seiner Absicht informiert?“<br />
Verity griff nach der Kaffeekanne. „Vergangene Nacht konnte ich nicht<br />
schlafen und ging in die Bibliothek, um mir ein Buch zu holen. Ich hatte<br />
völlig vergessen, dass Brin dort noch arbeiten wollte, und er hat es mir<br />
erzählt. Bevor du aber weiterfragst, Hilary ...“, fuhr sie mit einer leichten<br />
Schärfe im Ton fort, „... er hat mich nicht darüber informiert, wohin er<br />
reiten würde, und ich war nicht so unhöflich, mich danach zu erkundigen.“<br />
Normalerweise pflegte Verity am Morgen nicht so reizbar zu sein. Lady<br />
Billington schaute sie prüfend an und bemerkte ihre glanzlosen Augen<br />
sowie die zusammengepressten Lippen. Irgendetwas oder irgendjemand<br />
hatte ihrer Nichte gründlich die gute Laune verdorben.<br />
Lady Billington wusste, dass es gelegentlich nur einer Kleinigkeit bedurfte,<br />
um Veritys mitunter aufbrausen<strong>des</strong> Temperament aufflammen zu<br />
lassen. Sie beschloss daher, das Thema zu wechseln, bevor Hilary in ihrer<br />
Einfalt noch etwas Unbedachtes äußerte und dafür womöglich eine<br />
schroffe Zurechtweisung erntete.<br />
„Einige von uns haben vor, das wundervolle Geschäft der Putzmacherin,<br />
bei der wir gestern waren, noch einmal zu besuchen“, verkündete sie.<br />
„Ich habe mich entschieden, das bezaubernde Modell mit den purpurfarbenen<br />
Federn zu kaufen.“<br />
Sie ahnte nicht, dass ein solcher Ausflug das Letzte war, was ihre<br />
55
Nichte sich wünschte. Verity verspürte weder die geringste Lust, auch nur<br />
eine Minute in dem engen kleinen Laden zu verbringen, zusammen mit<br />
Frauen, die nur Rüschen und Pelzbesätze im Sinn hatten, noch wollte sie<br />
riskieren, auf der Straße dem französischen <strong>Spion</strong> plötzlich von Angesicht<br />
zu Angesicht gegenüberzustehen. Daher lehnte sie ziemlich kurz angebunden<br />
ab.<br />
„Würden Sie lieber mit Hilary ausreiten? Es verspricht wieder ein warmer<br />
Tag zu werden, und da macht es sicher mehr Spaß, die Gegend im<br />
Sattel zu erkunden.“<br />
Clarissas freundliche Einladung entlockte Verity immerhin ein Lächeln.<br />
Doch selbst die Aussicht auf einen schnellen Galopp durch den<br />
Park vermochte nicht, sie in Versuchung zu führen.<br />
„Das ist sehr nett von Ihnen, aber ich würde lieber heute Vormittag im<br />
Haus bleiben“, erwiderte sie. „Aus irgendeinem Grund habe ich nicht gut<br />
geschlafen. Ein bisschen Zeit für mich selbst wird mir gut tun.“<br />
„Das hilft mir persönlich auch immer“, warf Sarah rasch ein, als sie<br />
sah, dass Lady Billington im Begriff war, ihre Nichte wegen dieser für sie<br />
untypischen Lethargie einem Verhör zu unterziehen.<br />
Sie war der Meinung, dass es Zeiten gab, in denen man die Menschen<br />
sich selbst überlassen sollte. Verity schien nicht zu den jungen Frauen zu<br />
gehören, die zu Depressionen neigten, aber irgendetwas hatte sie offensichtlich<br />
schwermütig gemacht. Vielleicht war tatsächlich nur der<br />
Schlafmangel daran schuld, doch Sarah fragte sich unwillkürlich, ob Veritys<br />
ungewöhnliches Benehmen nicht etwas mit Brin zu tun hatte. Sie<br />
hatte kurz mit ihm gesprochen, ehe er weggeritten war. Er war ebenfalls<br />
seltsam in sich gekehrt gewesen, als ob er sich in seine eigene Welt zurückgezogen<br />
hätte.<br />
Sarah erinnerte ihre Gäste daran, dass sie aufbrechen müssten, wenn<br />
sie zum Lunch zurück sein wollten.<br />
Da sie geplant hatte, die kranke Frau eines Pächters zu besuchen,<br />
verweilte sie ebenfalls nicht lange beim Frühstück. Als sie einige Zeit später<br />
die Halle durchquerte, begegnete sie Verity, die mit einem Buch in der<br />
Hand aus der Bibliothek kam.<br />
„Sind die anderen weggefahren?“ fragte sie lächelnd. „Ich nehme es Ihnen<br />
nicht übel, dass Sie die Putzmacherin nicht noch einmal aufsuchen<br />
wollen. Gestern war es sehr stickig dort, und ich fürchte, dass es heute<br />
noch wärmer wird.“<br />
Verity seufzte bekümmert. „Leider bin ich so oft eine Enttäuschung für<br />
meine Tante. Ich bringe einfach kein großes Interesse für solche Nebensächlichkeiten<br />
wie Hüte auf und finde es langweilig, solche Dinge einzukaufen.“<br />
„Sie erinnern mich manchmal an mich selbst, Verity“, rief Sarah lachend.<br />
„Wir unterhalten uns weiter, wenn ich zurück bin, falls Sie Lust<br />
dazu haben. Ich werde nicht lange ausbleiben.“<br />
Verity ging in den sonnigen rückwärtigen Salon und setzte sich ans<br />
Fenster, von dem aus man einen herrlichen Blick auf die gepflegten Gartenanlagen<br />
hatte. Sie wunderte sich über die Wandlung, die innerhalb der<br />
letzten zwölf Stunden mit ihr vorgegangen war. Als sie in der vorigen<br />
Nacht durch den Park gelaufen war, hatte sie die Aussicht auf ein paar<br />
kostbare Augenblicke in Gesellschaft <strong>des</strong> Kutschers mit erwartungsvoller<br />
Freude erfüllt, und sie hatte sogar etwas wie Glück empfunden. Und nun<br />
waren ihre Lebensgeister auf dem Tiefpunkt angelangt.<br />
Der ziemlich abrupte Abschied <strong>des</strong> Kutschers war allerdings nicht der<br />
einzige Grund für ihre Zweifel und Sorgen, die ihr das Herz so schwer<br />
machten. Viel schwerwiegender waren die verwirrenden Träume, die sie<br />
anschließend heimgesucht hatten.<br />
Warum, um alles in der Welt, war ihr Brin in der Verkleidung <strong>des</strong> Kutschers<br />
erschienen und hatte sie geküsst? Sie mochte ihn sehr gern, auch<br />
wenn sie sich manchmal über ihn ärgerte, genau wie über den Kutscher.<br />
Als Brin sich ihr in der Bibliothek anvertraut und so verloren gewirkt hatte,<br />
weil er in den Besitz <strong>des</strong> Titels gelangt war, hatte sie den ebenso unerklärlichen<br />
wie brennenden Wunsch empfunden, ihn vor den Widrigkeiten<br />
<strong>des</strong> Lebens zu beschützen.<br />
Brin kehrte kurz vor Mittag nach Ravenhurst zurück. Als er erfuhr,<br />
dass sich sowohl Sarah als auch Verity im Haus aufhielten, zog er sich<br />
um und begab sich zu dem kleinen Salon, in dem er, wie ihm der Butler<br />
versichert hatte, die Damen finden würde. Es gelang ihm, seine Enttäuschung<br />
zu verbergen, als er entdeckte, dass lediglich Sarah anwesend<br />
war.<br />
Nachdem sie eine Weile über Belanglosigkeiten geplaudert hatten, fragte<br />
Sarah unvermittelt: „Ist dir eigentlich klar, dass Verity viel Zeit bei deinem<br />
Großvater verbracht hat, als du in der Armee gedient hast?“<br />
„Hat sie dir das erzählt?“<br />
„Nicht direkt, nein. Sie erwähnte lediglich, dass sie für ihn die Korrespondenz<br />
erledigt hat, während du dich hier von deinen Verwundungen<br />
erholt hast.“<br />
Er wirkte nicht im Min<strong>des</strong>ten überrascht; seine Lippen umspielte ein<br />
zärtliches Lächeln. „Ich weiß, dass sie ihn sehr gern hatte, ja bewunderte.<br />
Aber erst als ich kürzlich in Yorkshire war und einen Abend mit meinem<br />
Geschäftspartner Jonas Penn verbrachte, erfuhr ich, dass es Verity und<br />
nicht Angela war, die dem alten Mann so viel Zeit gewidmet hat.“<br />
Ein blauer Schemen vor dem Fenster erregte ihre Aufmerksamkeit. Bei<br />
genauerem Hinsehen erkannte sie Verity, die durch den Garten schlenderte.<br />
Sarah sprang auf. „Gütiger Himmel, Marcus ist wieder da“, rief sie besorgt.<br />
Sie hoffte inständig, dass ihr mitunter wenig diplomatischer Gatte<br />
die Fremde, die auf seinem Grund und Boden herumspazierte, nicht<br />
56
durch barsche Bemerkungen erschreckte.<br />
Sarah glaubte, sogar aus dieser Entfernung sein berüchtigtes Stirnrunzeln<br />
zu sehen, stöhnte im Stillen auf und hielt den Atem an, als Verity<br />
und Marcus sich einander näherten. Sie beobachtete, wie er die Hand<br />
ausstreckte und Veritys Finger in die seinen nahm. Zu ihrem Erstaunen<br />
warf er den Kopf zurück und brach in schallen<strong>des</strong> Gelächter aus. Sarah<br />
schalt sich insgeheim, dass sie auch nur eine Sekunde an ihrem Mann<br />
gezweifelt hatte. Eigentlich hätte sie sich denken können, dass sie nichts<br />
zu befürchten hatte. Verity musste mit ihrer Offenherzigkeit unweigerlich<br />
seinen Sinn für Humor ansprechen.<br />
„Die kleine Hexe hat ihn für sich gewonnen.“ Hinter ihrer gespielten<br />
Empörung verbarg sie gekonnt grenzenlose Erleichterung. „Schau dir den<br />
Schuft an, wie er mit ihr flirtet. Geh zu ihm und rette ihn aus ihren Fängen,<br />
bevor sie ihn völlig bezaubert.“<br />
„O ja und du bist ja auch schrecklich beunruhigt“, neckte Brin sie liebevoll.<br />
„Aber natürlich gehe ich trotzdem. Zufällig habe ich selbst gerade<br />
den Wunsch, mit Verity zu sprechen.“<br />
Sarah blieb am Fenster stehen, nicht, weil sie ihren Mann im Auge behalten<br />
wollte, sondern aus purer Neugier. Nachdem sich Marcus lächelnd<br />
von Verity verabschiedet hatte, betrat er wenig später den Salon und umarmte<br />
seine Frau zärtlich.<br />
„Eigentlich hast du keinen Kuss verdient“, erklärte sie, als sie wieder<br />
zu Atem gekommen war. „Ich habe dich nämlich draußen mit Miss Harcourt<br />
beobachtet.“<br />
„Sie ist ein ganz reizen<strong>des</strong> Geschöpf. Ich erwähnte, dass ich ihren Onkel,<br />
den Duke of Richleigh, kenne. Daraufhin erwiderte sie, sie hoffe, dass<br />
ich ihr die Verwandtschaft nicht verübeln würde.“ Marcus lachte erneut.<br />
„Ich habe den Mann immer für einen Hohlkopf gehalten, hätte aber nicht<br />
im Traum daran gedacht, etwas Derartiges zu äußern.“<br />
„Nein? Das überrascht mich aber sehr“, erwiderte Sarah, bevor sie<br />
noch einmal aus dem Fenster schaute. Als sie Brin sah, der die Gartenanlage<br />
betrat, lächelte sie. „Weißt du, Marcus, dass ich Brin unrecht getan<br />
habe? Ich hielt seinen Wunsch, gewisse Damen hierher einzuladen, für<br />
kompletten Unfug. Inzwischen bin ich zu dem Schluss gelangt, dass ich<br />
mich geirrt habe.“<br />
„Oh?“ Er hob die dunklen Brauen, als er die Szene betrachtete. „Nun,<br />
Liebste, es lässt sich nicht leugnen, dass sie ein bezaubern<strong>des</strong> kleines<br />
Geschöpf ist. Außerdem muss ich zugeben, dass ich großen Respekt vor<br />
deinem Urteilsvermögen habe.“<br />
Sarah stieß einen kleinen Seufzer aus. „In der Regel bin ich keine neugierige<br />
Person, wie du weißt, aber ich würde schrecklich gern das Gespräch<br />
belauschen, das da draußen geführt wird.“<br />
Sie wäre sehr enttäuscht gewesen, denn die ersten Worte, die gewechselt<br />
wurden, waren genau so formell wie die kunstvoll bepflanzten Beete,<br />
doch dann nahm Brin Verity am Arm und führte sie zu dem kleinen Tor.<br />
Ehe sie wusste, wie ihr geschah, befand sie sich im Rosarium, das in<strong>des</strong><br />
keineswegs so romantisch war, wie sie am Tag zuvor geglaubt hatte. Kein<br />
einziger Rosenbusch stand in Blüte.<br />
„Warum sind wir hier?“ fragte sie.<br />
„Weil wir vom Salonfenster aus gesehen werden können“, erklärte er<br />
lächelnd und führte sie zu einer ihr sehr vertrauten Bank. „Und mir ist es<br />
lieber, wenn ich nicht beobachtet werde“, fügte er hinzu.<br />
In ihren schönen Augen erschien ein mutwilliges Funkeln. „Hoffentlich<br />
bin ich nicht in Gefahr, meine Tugend zu verlieren.“<br />
„Im Moment nicht. Doch noch ein paar von diesen herausfordernden<br />
Blicken, und ich kann für die Konsequenzen nicht garantieren“, warnte<br />
Brin in leichtem Ton, von dem Verity nicht ganz sicher war, ob er wirklich<br />
scherzhaft gemeint war.<br />
Sie setzte sich neben ihn auf die Bank und fragte nach einer Weile ---<br />
ohne echtes Interesse und mehr, um sein Schweigen zu brechen ---, ob er<br />
am Morgen alles zu seiner Zufriedenheit erledigt hätte.<br />
„Das bleibt abzuwarten“, antwortete er ausweichend und berichtete<br />
dann, dass er sich entschlossen habe, das Haus seines Großvaters in<br />
Yorkshire zu verkaufen. „Es war keine leichte Entscheidung, Verity, aber<br />
die richtige, davon bin ich überzeugt. Ich werde in nicht allzu ferner Zukunft<br />
das Haus in Devonshire beziehen.“<br />
Verity spürte einen Stich im Herzen. Nach der jahrelangen Trennung<br />
von Brin waren sie sich in den letzten Monaten näher gekommen als zu<br />
der Zeit, bevor er zur Armee gegangen var. Die Vorstellung tat weh, dass<br />
er nicht mehr in der Nähe sein würde, wenn sie nach Hause zurückkehrte.<br />
„Wahrscheinlich haben Sie Recht.“ Ihre Stimme klang selbst für ihre<br />
Ohren unnatürlich hoch, und <strong>des</strong>halb wunderte sie sich nicht im Min<strong>des</strong>ten,<br />
als er ihr einen fragenden Blick zuwarf. „Es war sicher die richtige<br />
Entscheidung.“ Sie zwang sich mühsam zu einem Lächeln. „Und außerdem<br />
müssen Sie sich auf Ihre neue Rolle im Leben konzentrieren.“<br />
„Ach ja, meine Stellung als Viscount. Schon die allein wirft einige Probleme<br />
auf.“<br />
„Machen Sie sich etwa Sorgen, dass Sie den allgemeinen Erwartungen<br />
nicht entsprechen?“ erkundigte sich Verity. „Sie kennen doch genügend<br />
Leute, die Ihnen mit Rat und Tat zur Seite stehen. Marcus Ravenhurst<br />
zum Beispiel, und auch ich werde immer Ihre Freundin bleiben.“<br />
„Das freut mich zu hören, denn ich benötige dringend eine Freundin,<br />
um mich vor all den ehestiftenden Müttern zu schützen.“<br />
Verity vermochte ein Kichern nicht zu unterdrücken. Schon die vergangenen<br />
Wochen in London waren für ihn nicht einfach gewesen. Wenn<br />
sich erst die Nachricht vom Ableben seines Onkels herumgesprochen hatte,<br />
würde er noch mehr von ehrgeizigen Müttern belagert werden, die ihm<br />
57
ihre Töchter präsentieren wollten. „Ich weiß allerdings nicht, wie ich Ihnen<br />
bei diesem speziellen Problem helfen könnte.“<br />
Ein paar Sekunden herrschte Schweigen. Dann sagte er: „Ganz einfach<br />
--- indem Sie meine Braut werden.“<br />
Verity, die glaubte, nicht richtig gehört zu haben, sah ihn fassungslos<br />
an. „Das können Sie doch nicht im Ernst meinen“, rief sie, nachdem sie<br />
die Sprache wieder gefunden hatte.<br />
„Es ist mein völliger Ernst“, versicherte er ruhig. „Ich brauche Zeit, um<br />
mich an meine neue Rolle zu gewöhnen. „Und Sie sind die Einzige, die mir<br />
diese Atempause verschaffen kann. Die Verlobung wäre natürlich nicht<br />
von langer Dauer. Sie können sie beenden, wann immer Sie das wünschen.“<br />
Er ergriff ihre Hand. „Ich habe keine Erinnerungen an meine Mutter,<br />
und in meinem späteren Leben sind mir leider nur wenige vertrauenswürdige<br />
Frauen begegnet. Sarah natürlich, und Sie, mein liebes Mädchen,<br />
gehören dazu. Ihnen würde ich ohne zu zögern mein Leben anvertrauen.“<br />
Verity versagte die Stimme. Sie musste sich erst laut räuspern, bevor<br />
sie ein paar Worte herausbrachte. „Sie machen mir da ein wunderbares<br />
Kompliment, ich glaube aber doch, dass Sie zu ziemlich drastischen Mitteln<br />
greifen. Ein vorgetäuschte Verlobung ist kein Ausweg. Sie finden bestimmt<br />
eine andere Lösung, wenn Sie erst in aller Ruhe darüber nachgedacht<br />
haben.“<br />
Zu ihrer grenzenlosen Verwunderung lachte Brin laut auf. „Meine Liebe,<br />
das ist kein spontaner Einfall meinerseits. Ich habe diesen Plan schon<br />
vor Wochen gefasst, man könnte fast sagen, in dem Augenblick, als ich<br />
Sie zum ersten Mal wieder gesehen habe.“<br />
Das war zu viel für Verity. „Heißt das, Sie haben mir in London nur<br />
<strong>des</strong>halb so viel Aufmerksamkeit geschenkt, damit die Gesellschaft glaubt,<br />
Sie hätten eine Schwäche für mich?<br />
„Sie müssen doch zugeben, dass die Ankündigung unserer Verlobung<br />
einiges Aufsehen erregen würde, wenn ich mich nicht vorher bereits um<br />
Sie bemüht hätte. Außerdem bedeutet das Zusammensein mit Ihnen keine<br />
Last“, setzte er hinzu.<br />
„Sie sind ein herzloses Scheusal!“ Verity entriss ihm ihre Hand.<br />
„Was ist mit den armen Mädchen, die Sie eingeladen und denen Sie<br />
falsche Hoffnungen gemacht haben?“<br />
„Der Himmel sei mir gnädig“, rief er, halb belustigt, halb ärgerlich. „Sie<br />
denken doch nicht etwa, dass eines dieser albernen Geschöpfe Gefahr<br />
laufen würde, an gebrochenem Herzen zu leiden? Die Einzige, derentwegen<br />
ich Gewissensbiss hatte, war Clarissa Gillingham, doch seit ich gestern<br />
beobachtet habe, wie sie Castleford verliebte Blicke zugeworfen hat,<br />
scheint mir das auch unwahrscheinlich zu sein.“<br />
„Sie hat ihm keine verliebten Blicke zugeworfen“, protestierte Verity.<br />
„Die beiden haben lediglich die gleichen Interessen.“<br />
„Das mag sein. Aber verraten Sie mir eines: Wie hätte ich Sie allein<br />
hierher einladen sollen? Sie wären misstrauisch geworden und nicht gekommen.“<br />
Verity blickte ihn prüfend an. „Brinley Carter, Sie sind ein übler, berechnender<br />
Schuft.“<br />
Er ließ durch kein Anzeichen erkennen, ob ihn diese wenig schmeichelhafte<br />
Beschreibung seines Charakters ärgerte. „Dann willigen Sie also<br />
ein. Wir können morgen auf dem Ball unsere Verlobung bekannt geben.“<br />
„Ich habe in nichts eingewilligt. Sie brauchen mich gar nicht so kummervoll<br />
anzuschauen“, fügte sie vorwurfsvoll hinzu. „Darauf falle ich nicht<br />
herein.“<br />
Verity wandte den Kopf ab und betrachtete den Rosenbusch direkt vor<br />
ihr. Nachdem sie den ersten Schock überwunden hatte, erschien ihr sein<br />
Vorschlag gar nicht mehr so abwegig. Brin war nicht der Einzige, der unter<br />
unerwünschten Aufmerksamkeiten gelitten hatte. Sie war ziemlich<br />
sicher, dass nach ihrer Rückkehr das Haus ihrer Tante erneut von einer<br />
endlosen Schar einfältiger junger Gentlemen belagert würde, die sich einbildeten,<br />
verliebt zu sein.<br />
„Wir können unsere Verlobung nicht so einfach verkünden“, sagte sie<br />
schließlich und drehte sich wieder zu ihm um. „Wenn Sie die Leute täuschen<br />
wollen, sollten Sie sich an die Regeln halten. Zuerst müssen Sie<br />
sich mit meinem Onkel Lucius in Verbindung setzen und ihn um seine<br />
Zustimmung bitten.“<br />
„Das habe ich bereits getan, als ich unlängst in Yorkshire war. Er hat<br />
keine Einwände erhoben. Genau genommen schien er sogar hoch erfreut<br />
zu sein.“<br />
„Ich kann nicht glauben, was ich da höre.“ Verity schüttelte den Kopf.<br />
„Vielleicht haben Sie es geschafft, Onkel Lucius zu täuschen, bei Tante<br />
Clara ist das eine andere Sache. Sie würde das Spiel sofort durchschauen.“<br />
„Ich denke, da irren Sie sich.“ Er sah sie voller Ernst an. „Werden Sie<br />
es tun, Verity --- um unserer Freundschaft willen? Wollen Sie sich mit mir<br />
verloben?“<br />
Obwohl die Vernunft ihr sagte, dass es Wahnsinn war, an so etwas<br />
auch nur zu denken, hörte sie sich zu ihrem Erstaunen antworten: „Nun<br />
gut, aber nur bis zum Ende der Saison.“<br />
„Glaube mir, mein Liebling, das genügt.“ Seine Stimme war so sanft<br />
wie seine Lippen, mit denen er ihren Mund streifte.<br />
Der zarte, fast brüderliche Kuss rief ihre eine andere leidenschaftliche<br />
Berührung ins Gedächtnis.<br />
Wie, um alles in der Welt, würde der Kutscher reagieren, wenn sie ihm<br />
erzählte ... Und erzählen musste sie es ihm.<br />
14. Kapitel<br />
58
„Da bist du ja, Liebes.“ Lady Billington kam gerade aus dem Salon, als<br />
Stebbins ihre Nichte ins Haus ließ. „Bist du mit Major Carter in seinem<br />
Curricle ausgefahren?“<br />
Verity hielt eine Antwort für überflüssig, da sie ihre Tante bereits vor<br />
Verlassen <strong>des</strong> Hauses hinlänglich darüber informiert hatte, wohin und<br />
mit wem sie auszufahren beabsichtigte. Daher lächelte sie nur höflich,<br />
während sie mit ihr die Treppe hinaufging.<br />
„Gewiss willst du dich noch ein wenig ausruhen, bevor du dich für den<br />
Ball anklei<strong>des</strong>t. Alle anderen Damen haben sich bereits auf ihre Zimmer<br />
zurückgezogen.“<br />
Verity senkte den Kopf und fragte sich wohl zum hundertsten Mal,<br />
welcher Wahnsinn sie bewogen hatte, Brins verrücktem Plan zuzustimmen.<br />
Sie war jetzt seit vierundzwanzig Stunden heimlich verlobt und hatte<br />
seither keine Ruhe mehr gefunden.<br />
Irgendwie fühlte sie sich hin und her gerissen. Einerseits verstand sie<br />
seine Motive und war nach wie vor entschlossen, ihm als Freundin in jeder<br />
Hinsicht zu helfen. Andererseits schreckte sie vor dieser Farce zurück,<br />
die dazu dienen sollte, die Menschen zu täuschen, die sie gern hatte.<br />
Sie hatte es nicht über sich gebracht, ihrer Tante etwas zu sagen. Doch<br />
Brin hatte ihr bei der Fahrt durch den Park klargemacht, dass er die Absicht<br />
habe, auf dem Ball ihre Verlobung bekannt zu geben, und dass es<br />
höchst unfair wäre, Lady Billington nicht vorher zu informieren.<br />
Das Wort „unfair“ hatte für Verity einen bitteren Beigeschmack. Was<br />
konnte unfairer Sein, als die jahrelange Güte und liebevolle Fürsorge, die<br />
einem zuteil geworden waren, mit Lüge zu vergelten?<br />
„Tante Clara, können wir uns kurz unterhalten?“ bat Verity, als sie vor<br />
Lady Billingtons Zimmer standen. „Ich verspreche, nicht lange zu bleiben.<br />
Du wirst noch genügend Zeit zum Ausruhen haben.“<br />
Nichts hätte ihre Tante mehr entzücken können. „Aber natürlich, Liebes.<br />
Während der vergangenen zwei Tage habe ich dich kaum zu Gesicht<br />
bekommen.“ Sichtlich zufrieden öffnete sie die Tür und ließ ihrer Nichte<br />
den Vortritt. „Du hast viel Zeit in Major Carters Gesellschaft verbracht.“<br />
„Ja, und das ist es auch, worüber ich mit dir sprechen möchte.“ Der<br />
Anfang war gemacht, und Verity gedachte, weiterzureden, bevor sie ihre<br />
Meinung wieder änderte. „Major Carter und ich ...“ Sie holte tief Luft, den<br />
Blick unverwandt auf die hübsche Perlenbrosche am Ausschnitt <strong>des</strong> Klei<strong>des</strong><br />
ihrer Tante gerichtet. „Major Carter hat mir die Ehre erwiesen, mich<br />
um meine Hand zu bitten, und ich habe akzeptiert.“<br />
Es war heraus. Sie hatte es gesagt. Seltsamerweise fühlte sie sich<br />
durch das Geständnis maßlos erleichtert, doch die Freude war nur von<br />
kurzer Dauer. Als Verity den Kopf hob, entdeckte sie, dass über Lady Billingtons<br />
rosige Wangen Tränen rannen.<br />
„Nein, nein, du darfst nicht weinen“, bat sie und umarmte ihre Tante.<br />
„Es wird alles gut, das verspreche ich dir.“<br />
„Aber ja, Liebes, das weiß ich ja. Darauf habe ich während der vergangenen<br />
Wochen gehofft und darum gebetet.“<br />
„Wie bitte?“ Verity wich so erschrocken zurück, als hätte man ihr einen<br />
Eimer Wasser über den Kopf geschüttet.<br />
„Er ist der Richtige für dich, liebes. Das habe ich vom ersten Augenblick<br />
an gewusst, als ich ihn beim Ball der Morlands zu Gesicht bekommen<br />
habe.“ Lady Billington kramte in ihrem Retikül und holte ein hauchzartes<br />
seidenes Taschentuch hervor, mit dem sie sich die feuchten Augen<br />
betupfte. „Als ich euch während der vergangenen Tage zusammen gesehen<br />
habe ... Und gestern Abend ist er kaum von deiner Seite gewichen ...<br />
Du hast mich sehr glücklich gemacht.“<br />
Es waren also Tränen der Freude und nicht der Trauer. Verity konnte<br />
es nicht fassen. Aus Angst, ihre Beine würden sie nicht länger tragen,<br />
sank sie auf einen Stuhl. Sie hatte sich in einer Falle verfangen, und das<br />
durch eigene Schuld. Wenn das Verlöbnis in ein paar Wochen gelöst wurde,<br />
würde Tante Clara das Herz brechen.<br />
„Und er ist sehr verliebt in dich, das kann jeder sehen.“<br />
Verity beschlich die dunkle Ahnung, dass ihre Lage sich von Minute zu<br />
Minute verschlechterte. „Ja, wir haben uns sehr gern“, sagte sie, weil ihr<br />
im Augenblick nichts anderes einfiel und sie auch nicht lügen wollte.<br />
Lady Billington lachte. „Du hast mich seit Wochen an der Nase herumgeführt,<br />
du böses Mädchen. Und ich muss zugeben, dass du deine Gefühle<br />
gut verborgen hast. Doch gestern Abend wusste ich Bescheid. Als Brin<br />
nach dem Dinner zu uns in den Salon kam, eilte er sofort zu dir und setzte<br />
sich neben dich auf das Sofa. Da hätte man schon blind sein müssen,<br />
um nicht zu erkennen, dass ihr euch liebt.“<br />
Verity erhob sich wie in Trance und ging langsam zur Tür. Sie wusste,<br />
dass sie unweigerlich mit der Wahrheit herausplatzen würde, wenn sie<br />
gezwungen war, ihrer Tante noch länger zuzuhören. „Ich lasse dich jetzt<br />
allein, damit du dich ausruhen kannst, Tante Clara.“<br />
„das ist nicht nötig. Ich brauche keine Ruhe.“<br />
„Aber ich“, erwiderte Verity. „Wir werden uns später weiter unterhalten“,<br />
versprach sie und floh förmlich aus dem Raum.<br />
Nachdem sie ihr eigenes Zimmer betreten hatte, nahm sie mit zitternden<br />
Fingern den Hut ab, warf ihn auf das Bett und setzte sich daneben.<br />
Sie konnte kaum glauben, dass die sonst so scharfsinnige Frau solche<br />
Absurditäten äußerte --- jeder könne sehen, wie verliebt sie wären ... Was,<br />
um alles in der Welt, hatte sie gesagt oder getan, um diesen Eindruck zu<br />
vermitteln?<br />
Verity streckte sich auf dem Bett aus und schaute zu dem blauseidenen<br />
Baldachin empor, während sie sich im Geist noch einmal den vergangenen<br />
Abend ins Gedächtnis rief.<br />
Wie gewöhnlich hatten sie das Dinner früh eingenommen. Anschlie-<br />
59
ßend hatten Brin und Marcus ein oder zwei Partien Billard gespielt, bevor<br />
sie sich zu den Damen im Salon gesellt hatten. Brin war tatsächlich direkt<br />
zu ihr gekommen und hatte sich neben sie auf das Sofa gesetzt. Abgesehen<br />
von ihrem ersten Abend auf Ravenhurst, als sie ihn geflissentlich<br />
gemieden und der Nacht, als er sich in die Bibliothek zurückgezogen hatte,<br />
war er eigentlich immer in ihrer Nähe gewesen.<br />
Für die Annahme ihrer Tante gab es also eine gewisse Berechtigung.<br />
Nur ihr war nie in den Sinn gekommen, dass Brin ihr aus einem bestimmten<br />
Grund so viel Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Wenn er am<br />
heutigen Abend ihre Verlobung verkündete, würde das für niemanden<br />
eine sonderliche Überraschung bedeuten. Er hatte alles überaus geschickt<br />
eingefädelt. Bis zuletzt hatte sie nicht geahnt, dass er sie nur benutzte,<br />
um sich die ehrgeizigen Mütter von heiratsfähigen Töchtern vom<br />
Leibe zu halten.<br />
Nun, wer wollte ihm das verübeln? Verity lächelte trotz der Tatsache,<br />
dass sie zu naiv gewesen war, um seinen Plan zu durchschauen. Zu ihrer<br />
eigenen Verteidigung ließ sich nur sagen, dass sie von einer Veränderung<br />
seines Verhaltens ihr gegenüber absolut nichts bemerkt hatte.<br />
Seit ihrer ersten Ausfahrt im Hyde Park hatten sie, abgesehen von ein<br />
paar kleinen Wortgefechten, freundschaftliche Beziehungen unterhalten.<br />
Sie hatten sich wie Bruder und Schwester benommen, die sich manchmal<br />
stritten, sich aber die meiste Zeit gut verstanden. Außerdem hatte Brin<br />
sie nie mit demütiger Bewunderung umschmeichelt, wie das die meisten<br />
jungen Gentlemen taten, wenn sie einer jungen Dame den Hof machten.<br />
Verity hoffte, dass sie ihn nie wie ein törichter Backfisch angehimmelt<br />
hatte. Weshalb war ihre Tante dann davon überzeugt, dass sie sich liebten?<br />
Verity gab jeden weiteren Versuch auf, die Gründe für die Annahme ihrer<br />
Tante herauszufinden, erhob sich vom Bett und läutete nach Meg.<br />
Nachdem sie gebadet und sich das Haar gewaschen hatte, das wegen<br />
seiner Länge einige Zeit zum Trocknen benötigte, zog sie das weiße Kleid<br />
an, das sie auf dem Ball bei den Gillinghams getragen hatte. Meg gab sich<br />
besonders viel Mühe beim Frisieren und steckte gerade weiße Seidenblumen<br />
in Veritys schwarze Locken, als es an die Tür klopfte.<br />
Verity nahm an, dass ihre Tante sie besuchen wolle, und wandte sich<br />
erst um, als Meg erschrocken nach Luft schnappte.<br />
Sie hatte Brin noch nie in der Uniform seines Reiterregiments gesehen.<br />
Er wirkte immer eindrucksvoll, aber in der grünen Uniform mit Husarenjacke<br />
sowie dem mit schwarzen Tressen besetzten Umhang und einer<br />
purpurroten Schärpe um die Taille sah er absolut umwerfend aus.<br />
Die Kehle wurde ihr eng, sie schickte ihre Zofe mit einem Nicken weg.<br />
Während er langsam auf sie zukam, spürte sie grenzenloses Bedauern.<br />
Weil er sie damals nicht ernst genommen hatte, war sie so verärgert<br />
gewesen, dass sie an seinem Abschiedsfest, bevor er nach Portugal gereist<br />
war, nicht teilgenommen hatte. Er hätte im Krieg leicht den Tod finden<br />
können, und bei Bajadoz wäre es ja auch fast so weit gekommen.<br />
Während er tapfer für sein Land gekämpft hatte, war er ihr nicht einmal<br />
die Mühe wert gewesen, ihm ein paar Zeilen zu schreiben. Und wenn<br />
er ein paar seltene Urlaubstage in Yorkshire verbracht hatte, war sie ihm<br />
aus dem Weg gegangen. Auch als er im Anschluss an seine langwierige<br />
Rekonvaleszenz auf Ravenhurst nach Hause zurückgekehrt war und seinen<br />
Großvater zum letzten Mal gesehen hatte, war sie zu ihrer Tante nach<br />
Kent gefahren und so einer Begegnung mit ihm ausgewichen.<br />
Plötzlich erkannte sie, wie engherzig sie sich diesem mutigen Mann gegenüber<br />
benommen hatte, der ihr nur die Wahrheit gesagt hatte. Sie war<br />
tatsächlich ein selbstsüchtiges und verwöhntes Geschöpf gewesen, das<br />
nur aus kindischer Eifersucht versucht hatte, ihn über seine Jugendliebe<br />
aufzuklären, und nicht, um ihm in Zukunft Leid zu ersparen.<br />
Brin bemerkte, dass sie mit den Tränen kämpfte. „Was ist los, Verity?“<br />
Er legte ihr sanft die Hände unter die Ellenbogen, zog sie vom Stuhl hoch<br />
und schaute sie forschend an. „Hast du es dir anders überlegt? Empfin<strong>des</strong>t<br />
du Bedauern?“<br />
„Bedauern ja, aber nicht wegen der Verlobung. Ich habe nicht die Absicht,<br />
unser Arrangement rückgängig zu machen.“<br />
Er lächelte. „Das ist gut, weil nämlich Sarah und Marcus schon Bescheid<br />
wissen.“<br />
„Sie sind nicht die Einzigen“, gestand sie. „Meine Tante war überglücklich,<br />
als ich es ihr erzählte. Brin, dir ist doch hoffentlich klar, dass es viele<br />
Fragen geben wird, wenn wir unsere Verlobung wieder lösen“, setzte sie<br />
hinzu.<br />
„Diese Hürde werden wir nehmen, wenn wir davor stehen“, erwiderte er<br />
fast gelangweilt und griff in seine Tasche. „In der Zwischenzeit hoffe ich,<br />
dass du dies als Zeichen meiner Wertschätzung annimmst, Verity Harcourt.“<br />
Ehe sie wusste, wie ihr geschah, schob er einen Ring mit Brillanten<br />
und Saphiren über den dritten Finger ihrer linken Hand.<br />
Sprachlos vor Überraschung betrachtete Verity die funkelnden Steine.<br />
Sie hatte noch nie ein so kostbares Schmuckstück gesehen, das zudem<br />
auch noch völlig ihrem Geschmack entsprach. Wie hatte er es fertig gebracht,<br />
einen Ring zu beschaffen, der ganz genau passte? Plötzlich bekam<br />
die Verlobung einen realen Anstrich, und für ein paar Sekunden wünschte<br />
sich Verity tief im Herzen, es wäre keine Scharade, sondern die Wahrheit,<br />
doch dann gewann ihre Vernunft die Oberhand.<br />
„Der Ring ist wunderschön. Ich verspreche, gut auf ihn aufzupassen<br />
und ihn sofort zurückzugeben, wenn ...“<br />
„Nein“, unterbrach er sie mit weicher Stimme. „Solange ich lebe, wird<br />
keine andere Frau diesen Ring tragen. Er gehört dir und nur dir --- ganz<br />
gleich, wie die Sache ausgeht.“<br />
Bevor sie fragen konnte, was er meinte, umfasste er ihre Taille und<br />
60
senkte den Kopf. Als er --- ob zufällig oder absichtlich, das vermochte sie<br />
nicht zu beurteilen --- ihre Brüste leicht berührte, durchströmten sie ungeahnte<br />
Wonnen, und statt empört gegen diese intime Liebkosung zu protestieren,<br />
seufzte sie enttäuscht auf, weil er mit seinem Mund ihre Lippen<br />
nur streifte.<br />
„Das hat deinen Wangen ein wenig Farbe verliehen“, stellte er mit unverhohlener<br />
Genugtuung fest.<br />
Verity errötete bis in die Haarwurzeln, während in ihr die widerstreitendsten<br />
Emotionen miteinander kämpften und es ihr unmöglich machten,<br />
einen klaren Gedanken zu fassen. Sie wünschte sich verzweifelt, dass<br />
er sie noch einmal küssen möge.<br />
Brin spürte offenbar kein derartiges Verlangen. Er nahm ihren mit<br />
Fransen besetzten Seidenschal und legte ihn ihr um die Schultern. „Sarah<br />
meinte, du wür<strong>des</strong>t vielleicht gern mit mir noch hier bleiben, nachdem<br />
die anderen abgereist sind, aber das musst du natürlich selbst entscheiden,<br />
ich werde dich nicht drängen.“<br />
Verity fühlte sich außerstande, auch nur diese einfache Entscheidung<br />
zu treffen. Fragend schaute sie ihn an, als ob es die natürlichste Sache<br />
der Welt für sie wäre, sich bei ihm Rat zu holen.<br />
Er schien ihre Unsicherheit zu spüren und fasste für sie einen Entschluss.<br />
„Meiner Meinung nach solltest du bleiben“, meinte er. „Sobald du<br />
nämlich mit deiner Tante wieder in der Stadt bist, werden euch die<br />
Klatschbasen mit neugierigen Fragen bestürmen. Ich lasse unsere Verlobungsanzeige<br />
in der ‚Morning Post’ veröffentlichen, und mit ein bisschen<br />
Glück hat sich die erste Aufragung bis zu unserer Rückkehr wieder gelegt.“<br />
Angesichts ihrer zweifelnden Miene fügte er hinzu: „Außerdem<br />
brauchst du ein paar Tage Ruhe und Frieden.“<br />
Dagegen ließ sich nichts einwenden, doch nachdem Brin sofort nach<br />
Betreten <strong>des</strong> Salons ihre Verlobung verkündete und sie von den dort versammelten<br />
Gästen mit Glückwünschen bestürmt wurden, konnte Verity<br />
sich <strong>des</strong> Gefühls nicht erwehren, dass sie Wochen und nicht Tage voller<br />
Ruhe und Frieden brauchte, um ihren Seelenfrieden wieder zu finden.<br />
Verity gelang es nur mühsam, äußerlich Haltung zu bewahren. Sie bewunderte<br />
Brin, der die überschwänglichen Gratulationen mit solcher Gelassenheit<br />
und sichtlicher Freude entgegennahm, dass sie sich mehrfach<br />
ins Gedächtnis rufen musste, dass die Verlobung eine Täuschung war.<br />
Er beantwortete souverän alle Fragen, die ihm gestellt wurden. Doch<br />
als sich Lady Westbury beim Dinner erkundigte, wann die Hochzeit stattfinden<br />
würde, und er fröhlich erklärte, er sei kein Freund von langen Verlobungen<br />
und denke eher an Wochen als an Monate, verschluckte sich<br />
Verity fast an einem Stück Wildpastete. Sie nahm sich vor, ihm bei nächster<br />
Gelegenheit mitzuteilen, dass er die Dinge entschieden zu weit treiben<br />
würde.<br />
„Was, um alles in der Welt, ist nur in dich gefahren?“ fragte sie leise,<br />
als sie nach dem Essen wieder in den großen Salon gingen. „Wie konntest<br />
du nur behaupten, die Hochzeit würde demnächst stattfinden? Du tappst<br />
in deine eigene Falle“, fuhr sie, verärgert über sein unerschütterliches<br />
Selbstvertrauen, fort. „Erwarte von mir keine Hilfe, wenn du dich aus deinem<br />
eigenen Lügengespinst nicht mehr befreien kannst.“<br />
„Dazu wärst du auch kaum in der Lage, mein liebes Mädchen, weil du<br />
nämlich ebenfalls darin gefangen bist. Und jetzt hör auf, mich wie ein<br />
wüten<strong>des</strong> Kätzchen anzufauchen und geh zu deiner Tante hinüber. Sie<br />
versucht ständig, deine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Ich hole dich<br />
rechtzeitig für den ersten Walzer ab.“<br />
Unbeeindruckt von dem vernichtenden Blick, den sie ihm zuwarf, begrüßte<br />
er die soeben erst eingetroffenen Nachbarn der Ravenhursts. Verity,<br />
die keineswegs wie eine glückliche Braut wirkte, trat zu ihrer Tante,<br />
die mit Mrs. Fenner und deren Tochter plauderte.<br />
„Du siehst aus, als ob es zwischen den Liebenden einen kleinen Streit<br />
gegeben hätte“, bemerkte Hilary triumphierend. Ihre Miene spiegelt so viel<br />
boshafte Befriedigung wider, dass Verity sie am liebsten geohrfeigt hätte.<br />
„So würde ich das nicht ausdrücken“, erwiderte sie vorsichtig. „Aber<br />
ich bin nicht taub, wenn jemand absichtlich versucht, mich zu ärgern,<br />
wie du sehr wohl weißt, meine Liebe.“<br />
Hilary war nicht gerade taktvoll, aber auch nicht so dumm, sich mit<br />
ihrem ziemlich temperamentvollen Gegenüber anzulegen. Sie mischte sich<br />
mit ihrer Mutter unter die anderen Gäste.<br />
„Sarah hat mir berichtet, dass du länger auf Ravenhurst bleiben<br />
willst“, sagte Lady Billington, während sie ihre Nichte schnell zu ein paar<br />
leeren Stühlen führte, wo sie sich ungestört eine Weile unterhalten konnten.<br />
„Ich habe natürlich nichts dagegen, wenn das dein Wunsch ist.“<br />
„Bitte entschuldige, Tante Clara, ich wollte es dir vor dem Dinner erzählen,<br />
habe es dann aber vergessen. Ich hatte bisher auch noch nicht<br />
die Gelegenheit, mit Sarah darüber zu reden. Es war Brins Idee. Er hat<br />
diese Entscheidung für mich getroffen.“<br />
Das war Musik für Lady Billingtons Ohren. Sie hatte von Anfang an ihr<br />
Vertrauen in die Fähigkeit <strong>des</strong> Majors gesetzt, ihre eigenwillige Nichte zu<br />
bändigen. Offenbar hatte er bereits damit angefangen. Klugerweise äußerte<br />
sie nichts von ihren Überlegungen, sondern meinte lediglich: „Mir war<br />
nicht klar, dass er eure Verlobung schon so früh am Abend bekannt geben<br />
wollte. Ich war ziemlich überrascht.“<br />
„Da bist du nicht die Einzige“, lautete die mürrische Antwort.<br />
„Ich wusste auch nicht, dass ihr nur eine kurze Verlobung im Sinn<br />
habt.“<br />
„In der Tat, sie wird nur kurz sein“, bestätigte Verity mit zusammengebissenen<br />
Zähnen.<br />
Das Quartett, das für den Abend engagiert worden war, begann zu<br />
spielen, und der Mann, dem Veritys wenig schmeichelhafte Gedanken<br />
61
galten, kam, um sie für den ersten Tanz zu holen. Die Gesellschaft ---<br />
ursprünglich nur als informelle Angelegenheit gedacht --- hatte sich jetzt<br />
in einen Verlobungsball gewandelt, sodass sie das Parkett eine Weile für<br />
sich hatten. Da alle Augen auf ihnen ruhten, war Verity sehr erleichtert,<br />
als sich auch andere Paare ihnen zugesellten.<br />
Sie hatte dem Mann noch keineswegs vergeben, der bereits angefangen<br />
hatte, ihr Leben zu organisieren.<br />
„Wenn dieser starrsinnige Ausdruck auf deinem Gesicht nicht bald<br />
verschwindet, mein Mädchen, küsse ich dich hier mitten auf der Tanzfläche.“<br />
Obwohl das nicht wie eine leere Drohung klang, ließ sich Verity nicht<br />
einschüchtern. „Wenn du das wagst“, flüsterte sie drohend, „werde ich dir<br />
eine Ohrfeige geben. Dann merken die Leute, dass diese Verbindung nicht<br />
das ist, was sie zu sein scheint.“<br />
Sein schallen<strong>des</strong> Lachen war kaum die Reaktion, die Verity im Sinn<br />
gehabt hatte. Als einige Gäste ihnen verständnisvoll schmunzelnd zunickten,<br />
erwiderte Verity zu ihrem eigenen Erstaunen das Lächeln. Der bloße<br />
Versuch, längere Zeit wütend auf ihn zu sein, war reine Energieverschwendung.<br />
Er benahm sich nie so, wie man erwartete, und, was<br />
schlimmer war, er verfügte über die Fähigkeit, sie in der einen Sekunde in<br />
Rage zu versetzen, um sie in der nächsten in den siebten Himmel zu entführen.<br />
Verity betrachtete lächelnd sein markantes Gesicht und das lockige<br />
rotbraune Haar, das er aus der Stirn gebürstet hatte. Sie liebte die winzigen<br />
Fältchen, die sich beim Lachen in seinen Augenwinkeln bildeten ---<br />
wie das gerade eben der Fall war.<br />
„Du bist ein echter Schatz“, sagte er unerwartet und so unpersönlich,<br />
als plaudere er über das Wetter, was den Wert <strong>des</strong> Kompliments keineswegs<br />
minderte. „Es ist ein Wunder, dass du nicht schon vor Jahren von<br />
irgendjemanden weggeschnappt wur<strong>des</strong>t.“<br />
„Dazu war ich zu schlau. Es ist wirklich eine Kunst, der Ehefalle zu<br />
entgehen. Das weißt du ja selbst, da dir das bisher auch erfolgreich gelungen<br />
ist. Und das ist auch der Grund, weshalb wir beide jetzt in dieser<br />
absurden Lage stecken“, setzte sie hinzu, nachdem sie mit kühnem<br />
Schwung einem Zusammenstoß mit Hilary und ihrem energiegeladenen<br />
Partner ausgewichen waren. Sie blickte zur Tür hinüber, wo die Ravenhursts<br />
neu eintreffende Gäste begrüßten. „Du hast doch wohl zumin<strong>des</strong>t<br />
Sarah und Marcus die Wahrheit gesagt?“<br />
„Natürlich“, erwiderte er nach einer Pause.<br />
„Wissen sie auch, dass du den Titel geerbt hast?“<br />
„Ja, ich habe sie davon informiert. Sie sind absolut diskret. Man kann<br />
ihnen alles anvertrauen und sicher sein, dass es nicht weiter getragen<br />
wird. Ich hoffe, dass du Marcus während deines Aufenthalts besser kennen<br />
lernst. Er wirkt ein wenig abweisend, aber du bist zu gescheit, um<br />
dich durch eine oder zwei schroffe Bemerkungen einschüchtern zu lassen.<br />
Einen besseren Freund als ihn ...“ Er verstummte unvermittelt und<br />
schaute zur Tür.<br />
Verity folgte der Richtung seines Blickes und sah, dass Lord Castleford<br />
in Begleitung seines Sohnes und seines Neffen hereinkam. Warum hatte<br />
deren Ankunft zur Folge, dass Brin vergaß, was er sagen wollte, und sein<br />
Gesicht einen so nachdenklichen Ausdruck annahm?<br />
„Clarissa wird sich zweifellos freuen, dass Claud eingetroffen ist.“<br />
„Stört dich das?“<br />
„Gütiger Himmel, nein. Warum sollte es?“<br />
Es sollte ihn nicht stören, dachte Verity, als der Tanz endete und er sie<br />
zu Lady Billington zurückgeleitete. Doch wenn nicht Clauds Erscheinen<br />
der Grund für den seltsam besorgten Ausdruck in seinen Augen war, was<br />
hatte ihn dann so irritiert?<br />
Ihre Tante unterhielt sich mit Lady Gillingham und deren Tochter. Brin<br />
wechselte mit den drei Damen ein paar Worte, bevor er Lady Caroline um<br />
den nächsten Tanz bat. Falls Clarissa beleidigt war, weil er die Tochter<br />
<strong>des</strong> Earl ihr vorzog, verriet sie das durch kein Wimpernzucken. Sie blickte<br />
flüchtig zu den Castlefords hinüber, die angeregt mit ihren Gastgebern<br />
plauderten, dann betrachtete sie angelegentlich ihre sittsam auf dem<br />
Schoß gefalteten Hände.<br />
Verity setzte sich neben das Mädchen. „Er ist ein sehr sympathischer<br />
Gentleman, nicht wahr? Kein Wunder, dass Sie ihn mögen.“<br />
Clarissa unternahm keinen Versuch, das zu leugnen. Ihre Wangen<br />
färbten sich rosig. „Ja, ich mag ihn“, gab sie zu. „Er ist nicht so attraktiv<br />
und lebhaft wie sein Cousin, gefällt mir aber viel besser.“<br />
Verity runzelte ein wenig die Stirn. „Demnach mögen Sie also seinen<br />
Cousin nicht?“<br />
„Nein, nicht besonders“, bestätigte Clarissa. „Er hat einen so harten,<br />
berechnenden Blick, dass mir je<strong>des</strong> Mal, wenn ich in London mit ihm<br />
getanzt habe, ein kalter Schauer über den Rücken gelaufen ist. Natürlich<br />
kenne ich ihn nicht besonders gut und sollte vielleicht nicht vorschnell<br />
urteilen, weil der erste Eindruck sehr oft täuschen kann.“<br />
„Das ist wahr. Ich glaube aber nicht, dass Sie in Ihrer Beurteilung seiner<br />
Person so falsch liegen.“<br />
„Ich habe mich auch nicht getäuscht, als ich Mama erzählte, dass Major<br />
Carter Sie sehr gern hätte. Aber das wusste sie bereits. Ich freue mich<br />
so für Sie, Verity. Sie und der Major passen gut zusammen.“<br />
Das war so ungefähr das, was Verity früher selbst gedacht hatte, doch<br />
zu erfahren, dass auch andere zu dem gleichen Schluss gelangt waren,<br />
war ihr unangenehm. Unwillkürlich fragte sie sich, was die anderen Leute<br />
wohl noch an ihrer Beziehung zu Brin bemerkt hatten, was ihr bislang<br />
gar nicht aufgefallen war.<br />
Als sie bemerkte, dass Claud und sein Cousin auf sie zusteuerten, warf<br />
62
sie Brin einen schnellen Blick zu, doch er tanzte noch immer mit der<br />
Tochter <strong>des</strong> Earl. Es war kaum überraschend, dass sie nicht miteinander<br />
sprachen, schließlich schien Lady Caroline unfähig zu sein, mehr als vier<br />
Worte hintereinander über die Lippen zu bringen. Etwas seltsam war allerdings,<br />
dass sich Brin nicht auf seine Partnerin konzentrierte, sondern<br />
warnend in Veritys Richtung schaute.<br />
„Ich hoffe, Sie waren bei Ihrem gestrigen Vorhaben erfolgreich, Mr.<br />
Castleford“, sagte Verity zu Claud, da Clarissa anscheinend nur ein<br />
scheues Lächeln zustande brachte.<br />
Lawrence Castlefords Lippen verzogen sich zu einem geringschätzigen<br />
Grinsen. „Das ist wohl kaum das richtige Thema für eine Konversation,<br />
Claud“, unterbrach er die begeisterte Schilderung seines Cousins von zwei<br />
tüchtigen Arbeitspferden, die dieser am Tag zuvor erstanden hatte, „zumal<br />
da wir Miss Harcourt zu ihrer Verlobung gratulieren sollten.“<br />
Verity konnte nicht tatenlos mit ansehen, wie der arme Claud absichtlich<br />
gedemütigt und verunsichert werden sollte. Deshalb beeilte sie sich,<br />
ihn zu verteidigen. „Im Gegenteil, Mr. Castleford“, versicherte sie und<br />
blickte geradewegs in die kalten blauen Augen <strong>des</strong> Dandys. „Miss Gillingham<br />
zum Beispiel würde viel lieber dem Bericht Ihres Cousins über die<br />
Vorzüge seiner Neuerwerbungen lauschen, als gezwungen zu sein, ein<br />
weiteres Gespräch über meine Verlobung zu ertragen, über die bereits so<br />
viel geredet wurde.“ Sie erhob sich. „Ermutigt durch die Tatsache, dass<br />
ich bald unwiderruflich in den Fesseln der Ehe gefangen bin, zögere ich<br />
daher nicht, Sie zu bitten, mein Tanzpartner zu sein.“<br />
Ihr dreistes Benehmen schien ihn nicht zu schockieren, sondern eher<br />
zu belustigen. Weitaus unangenehmer war, dass er ihre Figur abschätzte,<br />
während sie zur Tanzfläche gingen. Verity konnte sich <strong>des</strong> Eindrucks<br />
nicht erwehren, dass er genau wusste, wie sie unter dem Kleid aussah.<br />
Wollte mich Brin davor warnen? Überlegte sie, als Lawrence Castleford<br />
die Hand auf ihre schmale Taille legte. Habe ich jetzt unabsichtlich einen<br />
notorischen Wüstling ermutigt, sich Freiheiten herauszunehmen?<br />
„Ich wusste gar nicht, dass Sie die Absicht hatten, an diesem Wochenende<br />
das Haus Ihres Onkels zu besuchen“, sagte sie. „Ich dachte nicht,<br />
dass ländliche Vergnügungen Ihrem Geschmack entsprechen.“<br />
„Im Gegenteil, Miss Harcourt, ich liebe Castleford Grange. Meine beiden<br />
Eltern sind gestorben, als ich noch sehr jung war. Ich bin in diesem<br />
Haus aufgewachsen und betrachte es als mein Heim, dem ich regelmäßig<br />
Besuche abstatte.“ Er blickte kurz zu seinem Cousin hinüber. „Claud<br />
scheint sich sehr zu dem Gillingham-Mädchen hingezogen zu fühlen.“ Mit<br />
einem boshaften Lächeln setzte er hinzu: „Das Leben steckt voller Überraschungen.<br />
Ich dachte nicht, dass es meinem Cousin gegeben ist, ein so<br />
reizen<strong>des</strong> Geschöpf zu bezaubern.“<br />
Der arme Claud! Wie viele Sticheleien musste er von seinem älteren<br />
und weitaus weltgewandteren Cousin im Laufe der Jahre erduldet haben?<br />
Nachdem sie Lord Castlefords Züge etwas genauer studiert hatte, begriff<br />
sie, was Clarissa mit der Bemerkung gemeint hatte, ihr liefe in seiner<br />
Gegenwart ein kalter Schauer über den Rücken. Als er erneut zu Claud<br />
hinübersah, stand in seinen Augen nicht Verachtung, sondern ein wesentlich<br />
gefährlicherer Ausdruck.<br />
Irgendwie gelang es ihr, ihre Abneigung zu verbergen. Erleichtert atmete<br />
sie auf, als der Tanz zu Ende war und er sie zu ihrer Tante zurückführte.<br />
Er hatte sich kaum entfernt, als eine tiefe Stimme ihr zuraunte: „Nimm<br />
dich vor dem Mann in Acht, Liebste. Dass du mit ihm tanzt, ist in Ordnung,<br />
doch du darfst niemals, ich wiederhole --- niemals --- mit ihm allein<br />
sein.“<br />
Hätte Brin diese Warnung vor ein paar Tagen ausgesprochen, hätte sie<br />
ihm vermutlich mitgeteilt, er solle sich um seine eigenen Angelegenheiten<br />
kümmern.<br />
„Zum Glück ist er kein regelmäßiger Gast in diesem Haus“, fuhr er<br />
fort, während er Lawrence nachblickte. „Mein Freund Marcus, sonst ein<br />
nachsichtiger Mann, ermutigt ihn nicht zum Kommen. Trotzdem könnte<br />
es Castleford einfallen, dir hier einen Besuch abzustatten.“<br />
„Keine Sorge, Brin, ich bin inzwischen selbst zu der Ansicht gelangt,<br />
dass man ihm nicht trauen kann. Ich denke, er wäre fast zu allem fähig.<br />
Der Blick, mit dem er den armen Claud bedacht hat, war voller Hass.“<br />
„Zwischen den beiden Cousins besteht bestimmt keine Liebe. Aber sorge<br />
dich nicht um Claud. Der junge Mann wird dich vielleicht noch überraschen.<br />
Glaube mir, er ist durchaus imstande, sich um sich selbst zu<br />
kümmern.“<br />
Verity beschloss, Lawrence Castlefords Anwesenheit zu vergessen. Das<br />
war nicht schwer, da Brin, wenn sie nicht gerade mit einem von Ravenhursts<br />
Nachbarn tanzte, kaum je von ihrer Seite wich. Als sich der Abend<br />
dem Ende zuneigte, stellte sie zu ihrem Erstaunen fest, dass sie sich im<br />
Gegensatz zu ihren früheren Befürchtungen ausgesprochen gut amüsiert<br />
hatte.<br />
Die ersten Gäste verabschiedeten sich, und Lady Billington stand auf.<br />
„Ich denke, es ist an der Zeit, sich zurückzuziehen“, verkündete sie. „Ich<br />
möchte morgen nicht zu spät aufbrechen. Wann kommst du wieder nach<br />
London?“<br />
„Das weiß ich nicht. Ich habe den ganzen Abend über kaum ein Dutzend<br />
Worte mit Sarah gewechselt. Sie war viel zu sehr mit den anderen<br />
Gästen beschäftigt. Brin hat keinen genauen Termin genannt. Ich werde<br />
ihn fragen.“ Sie drehte sich um und stellte verwundert fest, dass er nicht<br />
mehr da war. „Oh, er ist irgendwohin verschwunden.“<br />
„Ich habe ihn vor ein paar Minuten auf die Terrasse gehen sehen“, sagte<br />
Lady Billington, die sehr zufrieden war, dass der Major sich den ganzen<br />
Abend um ihre Nichte gekümmert hatte. „Warum gehst du nicht zu ihm<br />
63
und fragst ihn? Du kannst mir ja morgen Bescheid geben.“<br />
Das musste man Verity nicht zweimal sagen. Brin stand am anderen<br />
Ende der Terrasse. Er hatte einen Fuß auf die niedere Steinbalustrade<br />
gestützt, hielt eine Zigarre zwischen den Fingern und schaute in den Park<br />
hinaus.<br />
Offenbar spürte er, dass er nicht mehr allein war, denn er wandte sich<br />
ihr zu. Als er sie zärtlich anlächelte, erschienen wieder die winzigen Fältchen<br />
in seinen Augenwinkeln, die sie so bezauberten. Kaum hatte sie ihn<br />
erreicht, schnippte er mit den Fingern die halb gerauchte Zigarre über die<br />
Brüstung.<br />
„Das war nicht notwenig“, versicherte Verity.<br />
„Ich weiß, dass die Ladys diese Gewohnheit nicht schätzen, kann mich<br />
aber anscheinend nicht davon befreien. Sarah verabscheut Rauchen, hat<br />
es mir aber freundlicherweise gestattet.“<br />
„Mich stört es nicht, aber selbst wenn das der Fall wäre, hätte ich<br />
nicht das Recht, dir Vorschriften zu machen.“<br />
„Das ist seltsam“, erwiderte er, wobei er herausfordernd eine Braue<br />
hochzog. „Ich habe nämlich das Gefühl, dein Benehmen beeinflussen zu<br />
dürfen.“<br />
Obwohl sich Verity nur allzu bewusst war, dass er nicht scherzte, wurde<br />
sie nicht ärgerlich. Trotzdem erwiderte sie scheinbar empört: „Ich würde<br />
dir nicht raten, das zu versuchen. Oder hast du etwa vergessen, dass<br />
wir nicht wirklich verlobt sind ...“ Sie schüttelte verwundert den Kopf.<br />
„Ich musste mich heute Abend verschiedentlich selbst daran erinnern,<br />
dass unsere Verlobung nur zum Schein besteht. Sie schien irgendwie so<br />
real zu sein.“<br />
„Sie ist real, Verity.“<br />
Brin hatte sich gar nicht verstellt! Ihr wurde plötzlich klar, wie naiv sie<br />
gewesen war. Er hatte sich völlig natürlich benommen, weil für ihn die<br />
Verlobung eine ernste Sache war. Und für sie ...?<br />
„Du wünscht dir doch auch, dass sie echt ist, nicht wahr?“ Er gab ihr<br />
keine Gelegenheit, zu antworten, aber das war auch nicht nötig. Falls er<br />
überhaupt Zweifel gehabt hatte, so wurden diese durch ihre Reaktion, als<br />
er seine Lippen besitzergreifend auf ihren Mund presste, zerstreut.<br />
Verity stöhnte leise auf, als er begann, mit der Zunge ihren Mund zu<br />
erforschen. Seine Hände, die über ihren Rücken und ihre Hüften glitten,<br />
schienen durch den Stoff ihres Klei<strong>des</strong> eine heiße Spur auf ihrer Haut zu<br />
hinterlassen. Er hielt sie so eng umschlungen, dass sie nicht mehr wusste,<br />
wo sein Körper begann und ihrer aufhörte. Sie war überwältigt. In ihr<br />
stieg ein Verlangen nach mehr auf, nach sehr viel mehr.<br />
Als junges Mädchen hätte sie alles gegeben, um einmal in den Armen<br />
dieses Mannes zu liegen. Jetzt erfüllte sich dieser Traum, den sie über so<br />
viele Jahre verdrängt hatte. Plötzlich war sie davon überzeugt, dass sie<br />
zusammengehörten --- verbunden durch eine unzerstörbare Liebe, die die<br />
Zeit überdauern würde.<br />
Mit einem leisen, weichen Lachen löste er sich von ihrem Mund und<br />
hauchte ein paar federzarte Küsse auf ihre Schläfen. „Du hast mich vorhin<br />
wegen der Bemerkung, die Hochzeit würde bald stattfinden, gescholten,<br />
Liebste. Uns bleibt doch gar nichts anderes übrig. Zu unser beider<br />
Heil wäre es ein großer Fehler, zu warten. Ich bin ein Mann mit natürlichen<br />
Instinkten und Wünschen.“ Lächelnd fügte er hinzu: „Meine Zurückhaltung<br />
als Gentleman reicht nicht ins Unermessliche, und du hast<br />
sie während der vergangenen Wochen bis an die äußerste Grenze beansprucht.“<br />
Er blickte in ihre Augen, aus denen ihm die ganze Liebe entgegenstrahlte,<br />
sie sie für ihn empfand. „Ich wollte dich vom ersten Moment an,<br />
als ich dich wieder sah“, sagte er. „Zuerst konnte ich es fast nicht glauben,<br />
dass du es wirklich warst. Doch deine Augen und Haare haben sich<br />
nicht verändert, nur dass sich das Mädchen von einst in eine wunderschöne<br />
junge Frau verwandelt hat. Und du hast schon immer zu mir gehört,<br />
Verity. Kein anderer Mann wird dich je bekommen. Das schwöre<br />
ich.“<br />
Seine leidenschaftlichen Worte hätten sie eigentlich überglücklich machen<br />
sollen, riefen jedoch schmerzliche Erinnerungen wach, die sie zutiefst<br />
ernüchterten. Verity löste sich von ihm. Sie konnte selbst nicht<br />
glauben, was gerade geschehen war, was sie hatte geschehen lassen. „Ich<br />
kann nicht ... Ich hatte nicht vor ...“ Ihre Kehle war wie zugeschnürt. „O<br />
Gott, was habe ich getan? Brin, bitte verzeih mir, aber da gibt es noch<br />
einen anderen.“<br />
Als er einen Schritt auf sie zuging, wich sie zurück. In ihren tränenfeuchten<br />
Augen spiegelte sich Panik wider. „Nein, mein Liebling, es gibt<br />
keinen anderen“, versicherte er. „Es ist ...“<br />
Weiter kam er nicht. Sie machte auf dem Absatz kehrt und rannte ins<br />
Haus. Durch eine der Fenstertüren beobachtete er ihre Flucht durch den<br />
Salon. Er wusste, dass er für die Tränen, die sie nicht viel länger zurückhalten<br />
konnte, verantwortlich war.<br />
„Du bist es nicht, die um Verzeihung bitten muss“, murmelte er, drehte<br />
sich um und starrte in die Dunkelheit. „Aber wirst du mir jemals verzeihen<br />
können?“<br />
15. Kapitel<br />
Verity öffnete die leicht geschwollenen, geröteten Augen und entdeckte<br />
ihre Zofe, die neben dem Bett stand und besorgt zu ihr herunterschaute.<br />
Es war sonst nicht Megs Art, ungerufen zu ihrer Herrin zu kommen. Doch<br />
ein kurzer Blick auf die Uhr erklärte das ungewöhnliche Benehmen <strong>des</strong><br />
Mädchens.<br />
64
„Gütiger Himmel, stimmt das?“ Verity war nicht einmal in London so<br />
spät aufgestanden, allerdings war sie auch noch nie erst so spät eingeschlafen.<br />
Die Dienstboten hatten sich bereits ihren morgendlichen Pflichten<br />
gewidmet, als es ihr endlich gelungen war, ihren Tränenstrom zu<br />
stoppen. Allerdings hatte der Schlaf keine beruhigende Wirkung auf sie<br />
ausgeübt ...<br />
Als Verity bemerkte, dass Meg sich nicht von der Stelle rührte, kehrte<br />
sie jäh in die Gegenwart zurück. „Ist Lady Billington bereits abgereist?“<br />
fragte sie.<br />
„Ja, Miss, vor einer Stunde. Sie wollte noch mit Ihnen sprechen, aber<br />
Major Carter hat versprochen, Ihnen ihre Abschiedsgrüße zu übermitteln.“<br />
Die bloße Erwähnung seines Namens versetzte Verity einen Stich ins<br />
Herz. Welche Qualen würde sie erst erleiden, wenn sie ihm von Angesicht<br />
zu Angesicht gegenüberstand? Sie presste eine Hand gegen die pochende<br />
Schläfe. Obwohl schon der Gedanke daran unerträglich war, wusste sie,<br />
dass sie die unvermeidliche Konfrontation nicht endlos hinausschieben<br />
konnte.<br />
„Ist der Major im Haus, Meg?“<br />
„Nein, Miss, er ist zusammen mit Mr. Ravenhurst ausgeritten.“<br />
Verity wäre es lieber gewesen, das klärende Gespräch so schnell wie<br />
möglich hinter sich zu bringen. Ahnte Brin vielleicht schon etwas?<br />
Schließlich war er kein Narr, und obwohl sie den Kutscher nicht direkt<br />
erwähnt hatte, musste ihm inzwischen klar sein, dass es noch jemanden<br />
gab, der ihr genauso viel bedeutete wie er.<br />
Megs Frage, ob sie das geblümte Musselinkleid bereitlegen solle, riss<br />
sie aus ihren Grübeleien. Sie hatte das Gefühl, als würde ein zentnerschwerer<br />
Stein auf ihrer Seele lasten. Jeder, der auch nur einen Funken<br />
Verstand besaß, würde unweigerlich merken, dass irgendetwas mit ihr<br />
nicht stimmte.<br />
Sarah, die Verity erst kurz vor dem Lunch begegnete, erkannte sofort<br />
die Zeichen äußerster Anspannung. Sie war am vergangenen Abend Zeugin<br />
von Veritys kopfloser Flucht gewesen. Außerdem war ihr Brins besorgte<br />
Miene aufgefallen, als er von der Terrasse hereingekommen war. Sie<br />
hatte an eine momentane Verstimmung zwischen Verliebten geglaubt,<br />
vermutete aber inzwischen, dass es sich um etwas Ernsthaftes handelte.<br />
„Marcus hat Ihren Verlobten zu einem Boxkampf verschleppt, der auf<br />
einer Wiese in der Nähe von Oxford stattfindet“, erklärte sie und schob<br />
ihre Hand durch Veritys Arm, während sie die Halle in Richtung Speisezimmer<br />
durchquerten. „Wie jemand Vergnügen daran finden kann, zuzuschauen,<br />
während erwachsene Männer mit den Fäusten aufeinander einprügeln,<br />
ist mir schleierhaft.“<br />
Verity musste unwillkürlich lächeln. „Ja, merkwürdig, nicht wahr? Allerdings<br />
würde ich nie versuchen, den Gentlemen ihre Amüsements zu<br />
verbieten, und ich nehme an, dass Sie genauso denken.“<br />
„Das schon, aber die Schufte haben uns für den ganzen Tag uns selbst<br />
überlassen. Sie werden erst am späten Nachmittag zurückkommen. Ich<br />
muss Reverend Martin einen Besuch abstatten. Wollen Sie mit begleiten?“<br />
„Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich gern mit Ihrer herrlichen<br />
Stute ausreiten, Sarah. Normalerweise bin ich keine Langschläferin, und<br />
jetzt werde ich für meine Faulheit mit Kopfschmerzen bestraft. Ein<br />
schneller Galopp über das Gelände wird mir helfen.“<br />
Sarah war sich <strong>des</strong>sen nicht so sicher, ließ es aber dabei bewenden.<br />
Eine halbe Stunde später beobachtete sie, wie ihr Gast durch den Park<br />
ritt und auf das kleine Wäldchen zusteuerte, bevor sie selbst in die Kutsche<br />
stieg.<br />
Verity lenkte die Stute auf einen der Wege, die zwischen den Bäumen<br />
entlangführten. Unter den schattigen Kronen fand sie Schutz vor der heißen<br />
Mittagsglut. Natürlich war ihr klar, dass die Sonnenstrahlen nichts<br />
mit den pochenden Schmerzen in ihren Schläfen zu tun hatten. Bevor sie<br />
nicht mit Brin gesprochen und ihm erklärt hatte, was mit ihr in den vergangenen<br />
Wochen geschehen war, würde sie keine Erleichterung finden.<br />
Sie hoffte, dass er sie verstehen würde, obwohl das vermutlich zu viel verlangt<br />
war. Schließlich begriff sie ja selbst kaum, wie sie in eine solche<br />
Verwirrung der Gefühle hatte geraten können.<br />
Sie wusste, dass sie mehr Glück gehabt hatte als viele andere Mädchen.<br />
„Verwöhnt“ hatten Brin und der Kutscher sie genannt, und natürlich<br />
hatten sie Recht. Obwohl sie schon als Kind ihre Eltern verloren hatte,<br />
waren stets Menschen für sie da gewesen --- ihr Onkel Lucius und<br />
Tante Clara, um nur zwei zu nennen ---, die alles getan hatten, um ihre<br />
Jugend so sorglos und unbeschwert wie nur möglich zu gestalten.<br />
Ihre Muter hatte sichergestellt, dass ihr einziges Kind niemals heiraten<br />
musste, um versorgt zu sein. Ihrem Testament zufolge kam Verity bei einer<br />
Heirat oder dem Erreichen <strong>des</strong> einundzwanzigsten Lebensjahres in<br />
den Besitz einer beträchtlichen Erbschaft. Daher hatte sie sich niemals<br />
ernsthaft nach einem passenden Partner umgesehen. Sie hatte viele junge<br />
Männer kennen gelernt, doch es war nicht einer darunter gewesen, von<br />
dem sie sich hätte vorstellen können, ihr ganzes Leben mit ihm zu<br />
verbringen. Nicht einer ... bis ihr der Kutscher über den Weg gelaufen und<br />
Brin ihr wieder begegnet war.<br />
Warum sie sich ausgerechnet in einen so herrischen Mann wie den<br />
Kutscher verliebt hatte, war ihr selbst unbegreiflich. Aber sie liebte ihn ---<br />
wie sie auch Brin liebte, und da sie beide liebte, fiel es ihr schwer, sich für<br />
einen zu entscheiden.<br />
Verity hörte plötzlich, dass jemand ihren Namen rief. Sie drehte sich<br />
im Sattel um und entdeckte Claud Castleford, der einen kräftigen Falben<br />
ritt und winkend über das Feld auf sie zu trabte.<br />
„Ich dachte schon, Sie würden mich mit Absicht ignorieren“, sagte er<br />
65
und lenkte sein Pferd neben das ihre. Dabei wirkte er so gekränkt, dass<br />
sie ohne Zögern versicherte, dies sei gewiss nicht der Fall.<br />
„Ich war in Gedanken versunken ...“ Verity schaute sich um, „ ... offenbar<br />
habe ich mich jetzt auch noch verirrt. Wo bin ich eigentlich? Ich<br />
erinnere mich nur, dass ich mich zuletzt im Wald von Ravenhurst befand.“<br />
„Dann waren Sie wirklich in einer anderen Welt. Sie sind mittlerweile<br />
auf dem Grund und Boden von Castleford.“ Mit einem jungenhaften Lächeln<br />
fügte er hinzu: „Besser gesagt, die Stute hat den Weg hierher gefunden.<br />
Sarah pflegt oft hier entlangzureiten.“<br />
„Was bist du für ein kluges Mädchen.“ Verity klopfte den seidenweichen<br />
Hals <strong>des</strong> Pfer<strong>des</strong>. „Hoffentlich bist du auch klug genug, um den<br />
Rückweg zu finden.“<br />
„Oh, ich denke, dass wir es gemeinsam schaffen, Sie auf die richtige<br />
Spur zu setzen. Wenn Sie es nicht sehr eilig haben, würden Sie mich wohl<br />
nach Grange begleiten? Oder erwartet Sie Ihr Verlobter sehnsüchtig auf<br />
Ravenhurst?“<br />
Falls Claud den schmerzlichen Ausdruck bemerkte, der über ihr Gesicht<br />
flog, zeigte er das nicht. „Im Augenblick ist im Haus niemand anwesend“,<br />
fuhr er fort. „Mein Vater erwartet später einige Gentlemen. Aber es<br />
bleibt genügend Zeit, um Sie in Grange herumzuführen.“<br />
Verity akzeptierte die Einladung, ohne lange nachzudenken. Sie hatte<br />
Claud von Anfang an gemocht. Er war nicht nur ein anständiger Mann,<br />
sondern auch ein guter Unterhalter. Allerdings fand sie es ein bisschen<br />
mühsam, immer wieder hören zu müssen, dass er eine gewisse junge Lady<br />
erwähnte.<br />
Als ihre Geduld endgültig erschöpft war, sagte sie in ihrer gewohnt<br />
freimütigen Art: „Um Himmels willen, Mr. Castleford, wenn Sie sich von<br />
Clarissa Gillingham so angezogen fühlen, warum unternehmen Sie dann<br />
nichts? Wie wollen Sie Ihr Herz gewinnen, solange Sie hier sind und die<br />
junge Dame in London weilt? Wenn Sie meinen Rat hören wollen, packen<br />
Sie Ihre Sachen und reisen Sie ihr auf schnellstem Wege nach.“<br />
Verity musste sich sehr zusammennehmen, um nicht in lautes Gelächter<br />
auszubrechen. Clauds völlig verblüfftem Gesichtsausdruck nach zu<br />
urteilen, hätte man meinen können, dass sie eine Expedition zum anderen<br />
Ende der Welt und nicht eine verhältnismäßig kurze Fahrt nach London<br />
vorgeschlagen hätte.<br />
„Bei Gott, Miss Harcourt, das ist die Lösung!“ Nachdem er im Stallhof<br />
von Grange abgesessen war, half er Verity aus dem Sattel. „Mama wird<br />
übermorgen zurück erwartet. Wenn ich sie darum bitte, wird sie mit mir<br />
nach London kommen. Nicht etwa, dass ich Ihre Zustimmung oder Unterstützung<br />
brauche“, fuhr er eilig fort, weil Verity ihn missbilligend anblickte.<br />
„Doch als ihr Begleiter habe ich die besten Aussichten, alle Orte zu<br />
besuchen, wo ich Miss Gillingham treffen kann.“<br />
Verity, die neben ihm die holzgetäfelte Halle betrat, betrachtete ihn mit<br />
Respekt. „Brin erwähnte bereits, dass in Ihnen verborgene Talente<br />
schlummern, Mr. Castleford, und er hatte Recht. Eine großartige Strategie!“<br />
„Hat er das gesagt?“ Claud errötete vor Freude. „Ich bin wirklich nicht<br />
so schwerfällig, wie einige Leute glauben, Miss Harcourt. Ich denke nur<br />
manchmal, dass es besser ist, den Mund zu halten, anstatt seine Meinung<br />
zu äußern und ein großes Theater zu verursachen.“<br />
Verity gewann den Eindruck, dass er dabei auf Mitglieder seiner Familie<br />
anspielte, wollte sich aber nicht in Probleme einmischen, die sie nichts<br />
angingen. Daher richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf das schöne Innere<br />
<strong>des</strong> Herrenhauses, das im frühen Tudor-Stil erbaut worden war.<br />
Claud zeigte ihr die meisten Räume im unteren Stockwerk. Die Besichtigungsrunde<br />
endete in der ebenfalls holzgetäfelten Bibliothek, die zwar<br />
ein wenig düster wirkte, aber behaglich eingerichtet war.<br />
„Ein wunderbares altes Haus“, versicherte Verity. „Kein Wunder, dass<br />
Sie es so lieben.“<br />
„O ja, das tue ich“, gab er zu. „Grange gehört seit Jahrhunderten unserer<br />
Familie und ist sozusagen lebendige Geschichte. Der Castleford-<br />
Stammbaum trägt zweierlei Früchte --- gute und schlechte“, fuhr er<br />
schmunzelnd fort. „Mehr als ein fauler Apfel war darunter. Der Ahnherr,<br />
der dieses Haus erbaute, war ein Musterbeispiel dafür. Er ließ die Geheimgänge<br />
anlegen, sodass er seine Gäste ausspionieren und alles, was er<br />
hörte, zu seinem Vorteil nutzen konnte. Ein ziemlich unangenehmer Charakter!“<br />
„So klingt es.“<br />
„Die meisten dieser versteckten Flure wurden zerstört, als man die<br />
Räume vergrößerte. Dieser eine hier ...“, er klopfte gegen die Wandverkleidung,<br />
die ein hohles Geräusch von sich gab „... existiert noch. Lawrence<br />
und ich haben ihn entdeckt, als wir noch Jungen waren. Mein Vater ließ<br />
die Eingänge zunageln, weil man vom Gang aus je<strong>des</strong> Wort hören konnte,<br />
das im Zimmer gesprochen wurde. Einige sehr geheime Treffen haben im<br />
Laufe der Jahre hier stattgefunden.“<br />
Verity, die ihm nur halb zuhörte, unterzog die Täfelung einer eingehenden<br />
Prüfung. „Man würde nie auf den Gedanken kommen, dass sich<br />
hier eine Tür befindet. Sie ist bemerkenswert gut verborgen.“<br />
„Sie ist hier.“ Claud deutete auf eine bestimmte Kassette im Paneel.<br />
„Wenn Sie ganz genau hinschauen, sehen Sie einige der Nägel, mit denen<br />
die Tür befestigt ist. Der andere Eingang, in Lawrence Zimmer, ist leichter<br />
zu lokalisieren. Wenn Sie möchten, führe ich Sie hin.“<br />
Verity kam gar nicht in den Sinn, dass sie sich eigentlich weigern<br />
müsste, einen Gentleman in ein Schlafzimmer zu begleiten. Sie war neugierig<br />
und folgte Claud die kunstvoll geschnitzte Treppe hinauf.<br />
„Lawrence ist mit meinem Vater irgendwo hingegangen, sodass es un-<br />
66
wahrscheinlich ist, dass wir in seinem Zimmer ertappt werden“, informierte<br />
Claud sie, als sie eintraten. Die Wände waren ebenfalls holzgetäfelt,<br />
allerdings viel aufwendiger als die in der Bibliothek und der Halle. „Er<br />
kann fuchsteufelswild werden, wenn er merkt, dass jemand in seinem<br />
Zimmer gewesen ist.“<br />
Erneut lauschte Verity ihm nur mit halbem Ohr. Sie betrachtete aufmerksam<br />
die Täfelung, bis sie nach einer kleinen Weile an einem Teil eine<br />
kleine Veränderung bemerkte. „Hier ist es“, rief sie triumphierend, „hinter<br />
der alten Kommode.“<br />
„Sehr gut.“ Claud rückte das Möbel ein Stück von der Wand ab. „Ich<br />
wette, Sie finden nicht die Vorrichtung, mit der man die Tür öffnen konnte.“<br />
Verity nahm die Herausforderung ohne Zögern an. Die Mitte je<strong>des</strong> einzelnen<br />
der viereckigen Felder bildete eine geschnitzte Rose. Eine davon<br />
muss es sein, dachte sie und suchte, bis sie eine Rose fand, die sich drehen<br />
ließ. Und tatsächlich öffnete sich mit einem leichten Klicken ein<br />
Stück der Täfelung.<br />
„Gütiger Himmel!“ sagte Claud, <strong>des</strong>sen Augen vor Erstaunen ganz groß<br />
wurden. „Vater hat das Ding vor Jahren zunageln lassen. Lawrence und<br />
ich waren sehr ärgerlich, als die Arbeiten beendet waren.“<br />
Er ging zu einem kleinen Tisch neben dem Bett und entzündete eine<br />
Kerze. „Wenigstens bietet sich mir jetzt die Gelegenheit, Ihnen zu zeigen,<br />
wo Lawrence und ich uns versteckt haben, wenn wir vor unserem langweiligen<br />
Hauslehrer flüchten wollten.“<br />
Verity folgte ihm lächelnd durch die Öffnung und ein paar Stufen hinunter.<br />
Fußspuren, die im Staub deutlich zu erkennen waren, zeigten,<br />
dass dieser Geheimgang in letzter Zeit benutzt worden war.<br />
Die schmale Wendeltreppe führte zu einem engen, nicht allzu langen<br />
Gang. Drei Wände waren aus Stein, die vierte bestand aus Holz. An der<br />
Decke hingen Spinnweben, und die Luft roch muffig.<br />
„Was haben wir denn hier?“ fragte Claud erstaunt, der erst jetzt die<br />
Fußspuren entdeckte. „Jemand muss kürzlich hier unten gewesen sein.<br />
Vermutlich einer der Arbeiter, der kontrollieren musste, ob hier Reparaturen<br />
notwendig sind. Hinter dieser dünnen Zwischenwand befindet sich die<br />
Bibliothek und ...“ Claud verstummte abrupt und legte warnend einen<br />
Finger vor die Lippen. Es war deutlich zu hören, dass die Tür von der Halle<br />
in die Bibliothek geöffnet wurde.<br />
Lawrences gelangweilte Stimme drang durch die Holzvertäfelung zu ihnen<br />
herein. „An diesem vergeudeten Nachmittag ist ganz allein Claud<br />
schuld!“<br />
„Du kannst ihn nicht dafür verantwortlich machen“, entgegnete Lord<br />
Castleford. „Hätten wir vorher mit ihm gesprochen, hätte er uns bestimmt<br />
erklärt, dass Chumleys Pferde nichts taugen. Claud mag es an manchem<br />
mangeln, doch ganz bestimmt nicht an Pferdeverstand.“<br />
„Obwohl Claud wusste, dass mir seine Grauschimmel ins Auge stachen,<br />
hat er sie diesem verdammten Freund von Ravenhurst verkauft.“<br />
„Er hatte je<strong>des</strong> Recht dazu, sie zu verkaufen, wem immer er wollte. Du<br />
hast keinen Grund, dich zu beklagen. Er hat nie einen Einwand erhoben,<br />
wenn du sie während deines Aufenthaltes hier benutzt hast. Und als ich<br />
die Grauschimmel nach London mitgenommen habe, hast du dir das Gespann<br />
bei mehr als einer Gelegenheit geliehen.“<br />
„Er hätte sie mir trotzdem zuerst anbieten können. Das Geld hätte ich<br />
schon irgendwie aufgetrieben.“<br />
„Um Himmels willen, hör auf zu jammern. Ich muss über ganz andere<br />
Dinge nachdenken.“ Das Klirren von Glas war zu hören, bevor Lord<br />
Castleford in milderem Ton hinzufügte: „Hier, trink das. Es wird dir helfen,<br />
dich zu beruhigen. Dir ist hoffentlich klar, dass du dich heute Abend<br />
allein beschäftigen musst. Du und Claud seid aus der Bibliothek verbannt.“<br />
„Ja, das weiß ich. Mach dir <strong>des</strong>halb keine Sorgen. Ich finde schon etwas,<br />
womit ich mir die Zeit vertreiben kann.“<br />
Was Lord Castleford antwortete, erfuhr Verity nicht mehr. Claud bedeutete<br />
ihr, ihm die Treppe hinauf zu folgen. „Sie stehen ja bei Ihrem<br />
Cousin nicht gerade hoch im Kurs“, meinte sie, als Claud die Holztäfelung<br />
schloss und die Kommode wieder zurechtrückte.<br />
Seine Augen funkelten schadenfroh, als er sie aus dem Zimmer und<br />
den Korridor entlang zum oberen Ende der Treppe führte. „Mir war<br />
durchaus klar, wie sehr er sich für das Gespann interessierte. Ich wusste<br />
aber auch, wer am Ende dafür bezahlen würde. Lawrence scheint<br />
manchmal viel Geld zu haben, ist jedoch meistens so verschuldet, dass<br />
mein Vater ihn auslösen muss.“<br />
Als die Eingangstür geöffnet wurde, hielt Verity sich am Geländer fest.<br />
Den untersetzten Mann mit krausem Haar, der gerade die Halle durchquerte,<br />
hatte sie schon einmal gesehen, und sie konnte sich noch gut<br />
daran erinnern, wo das gewesen war.<br />
„Wer ist das?“ fragte sie leise.<br />
„Blackmore, der Kammerdiener meines Cousins“, erwiderte Claud. „Er<br />
ist Lawrence treu ergeben. Ich für meinen Teil kann den Burschen nicht<br />
ausstehen. Er ist dem Rum sehr zugetan ... Oje, habe ich auch wirklich<br />
die Kerze gelöscht? Ich gehe wohl besser zurück und schaue nach. Falls<br />
Blackmore sie brennen sieht, informiert er Lawrence davon, dass jemand<br />
in seinem Zimmer war.“<br />
Nachdem Claud verschwunden war, brauchte Verity ein paar Sekunden,<br />
um diese Information sowie das soeben Gehörte zu verarbeiten. Als<br />
sie sich wieder gefangen hatte, lief sie rasch die Treppe hinunter und aus<br />
dem Haus bis zum Stallhof, ohne unterwegs auch nur einmal anzuhalten.<br />
Nachdem sie wieder im Sattel der Stute saß, galoppierte sie, als ob der<br />
Teufel hinter ihr her wäre, über die Felder in Richtung auf den kleinen<br />
67
Marktflecken Houghton. Sie war vollkommen darauf fixiert, Thomas Stone<br />
zu treffen und durch ihn Kontakt mit dem Kutscher aufzunehmen.<br />
Daher hörte sie weder, dass sie von einem Reiter verfolgt wurde, noch<br />
sah sie die Hecke, die ein Stück weiter vorn drohend aufragte. Sarahs<br />
Stute entging allerdings nicht, dass sie sich einem ungeliebten Hindernis<br />
gefährlich näherten. Sie legte die Ohren an und bremste abrupt. Als Folge<br />
davon flog ihre Reiterin durch die Luft und landete in einem Graben direkt<br />
vor dem Gebüsch.<br />
Ein bisschen beschämt, weil sie sich so leicht hatte abwerfen lassen,<br />
kam Verity langsam wieder auf die Füße. Sie stöhnte leise auf, als sie ihr<br />
Gewicht auf das rechte Bein verlagerte.<br />
„Du dummes Ding“, schalt sie das Pferd, das sich vorsichtshalber ein<br />
paar Schritte von ihr entfernte. Erst jetzt bemerkte sie den Mann, der ihr<br />
gefolgt war, und drehte sich um. Ihr Gesicht hatte jede Farbe verloren.<br />
„Miss Harcourt, ist mit Ihnen alles in Ordnung?“ Claud sprang vom<br />
Pferd, legte ihr die Hand unter den Arm und half ihr aus dem niedrigen<br />
Graben heraus. „Warum sind Sie so überstürzt aufgebrochen? Habe ich<br />
etwas Falsches gesagt oder getan?“ erkundigte er sich besorgt. Seine Beunruhigung<br />
wuchs, als er merkte, dass sie ein bisschen hinkte. „Ich bringe<br />
Sie zurück nach Ravenhurst.“<br />
„Nein, ich muss nach Houghton.“ Verity wurde plötzlich klar, dass sie<br />
dieser schwierigen Situation allein nicht gewachsen war. Sie blickte ihn<br />
prüfend an, bevor sie einen Entschluss fasste. „Claud, ich brauche Ihre<br />
Hilfe“, sagte sie. „Zuvor muss ich Ihnen aber einiges erklären, was Sie<br />
unbedingt wissen müssen. Wenn Sie mir dann nicht helfen wollen, kann<br />
ich das verstehen.“<br />
Ohne ihn aus den Augen zu lassen, berichtete sie ihm von dem französischen<br />
<strong>Spion</strong>, dem Kutscher, ihrem Treffen mit Thomas Stone sowie der<br />
Tatsache, dass der Mittelsmann, den sie in dem kleinen Gasthof gesehen<br />
hatte, Blackmore gewesen war.<br />
Nachdem sie geendet hatte, sagte Claud nur ein einziges Wort: „Lawrence.“<br />
„Es tut mir Leid“, flüsterte sie. „Das muss ein schlimmer Schock für<br />
Sie sein.“<br />
„Im Gegenteil, Miss Harcourt. Ich habe schon immer gewusst, dass<br />
Lawrence ein hartherziger Teufel ist.“ Sein Gesicht wie auch seine Stimme<br />
waren bar jeden Ausdrucks. Und doch glaubte Verity, dass er etwas empfinden<br />
musste. Seine nächsten Worte bestätigten das. „Ich bedaure lediglich<br />
meinen Vater. Wie er damit fertig wird, weiß ich nicht. Aber an vielem<br />
trägt er selbst die Schuld.“<br />
Fragend schaute Verity ihn an.<br />
„Mein Vater wie auch einige andere wissen seit geraumer Zeit, dass Informationen<br />
an den Feind weitergegeben werden. Die Familie war immer<br />
eingeweiht, wann diese geheimen Treffen stattfanden.“ Claud sah plötzlich<br />
älter aus als seine vierundzwanzig Jahre. „Er glaubte wohl, seinen Angehörigen<br />
trauen zu können. Und Lawrence war von jeher wie ein Sohn für<br />
ihn.“ Er seufzte. „Und ich habe ruhig zugeschaut und zugelassen, dass<br />
Lawrence sich auf Kosten meiner Mutter und meiner Person die Zuneigung<br />
meines Vaters erschlichen hat. Ich kann zwar nicht mehr verhindern,<br />
dass er durch seine Taten unserem Namen Schande machen wird,<br />
aber ich will verdammt sein, wenn ich tatenlos mit ansehe, wie er sein<br />
Vaterland verrät. Was soll ich tun, Miss Harcourt?“<br />
„Wann findet das nächste Treffen statt?“ erkundigte sie sich.<br />
„Gleich nach dem Dinner, das wir um sechs Uhr einnehmen. Ich könnte<br />
nach Houghton reiten und mit diesem Stone reden“, schlug er vor.<br />
„Nein, das muss ich selbst erledigen. Mich kennt er und weiß, dass ich<br />
ihm keine Lügen auftische.“<br />
Claud war kein Narr und lächelte. „Da dieser Mann zweifellos hergeschickt<br />
wurde, um ein Auge auf die Mitglieder meiner Familie zu haben,<br />
würde er mir vermutlich kein Wort abnehmen.“<br />
Verity vergeudete keine Zeit damit, das zu leugnen. „Ich bin nicht einmal<br />
sicher, ob sich Stone überhaupt in dem Gasthof aufhält. Wenn es<br />
zum Schlimmsten kommt, sollten wir bereit sein, den Versuch Ihres Cousins,<br />
den <strong>Spion</strong> mit Informationen zu versorgen, zu vereiteln.“<br />
Ihr war nicht wohl in ihrer Haut. Ihre Bitte bedeutete nicht nur, dass<br />
er Lawrence beobachten musste, bis die Behörden verständigt werden<br />
konnten, sondern auch, dass er dabei sein eigenes Leben aufs Spiel setzte.<br />
„Sie kehren ins Haus zurück und benehmen sich so natürlich wie möglich.<br />
Versuchen Sie nicht, Lawrence aufzuhalten. Ich nehme an, er zieht<br />
sich immer unter einem Vorwand zurück, wenn diese Treffen stattfinden.<br />
Dann versteckt er sich in dem Geheimgang, wo es ihm möglich ist, die<br />
Gespräche zu belauschen. Wenn er auch heute Abend so handelt, lassen<br />
Sie ihn gewähren.“<br />
„Woher soll ich wissen, ob Sie es geschafft haben, mit diesem Stone<br />
Verbindung aufzunehmen?“ erkundigte er sich nach kurzem Nachdenken.<br />
„Das ist ein Problem. Gar nicht, es sei denn, es gelingt mir, Ihnen eine<br />
Nachricht zu schicken oder selbst zu kommen.“<br />
„Nein, das könnte Verdacht erregen. Ich werde dafür sorgen, dass weder<br />
Lawrence noch Blackmore das Haus verlassen. Das ist das Min<strong>des</strong>te,<br />
was ich tun kann, um unsere Ehre ein wenig wiederherzustellen.“<br />
Verity schaute ihm nach, wie er im Eiltempo nach Grange zurückritt.<br />
Sie humpelte auf Sarahs Stute zu, die sich inzwischen beruhigt hatte und<br />
zufrieden Gras zupfte.<br />
Sie hatte das Pferd fast erreicht, als plötzlich ein Höllenlärm losbrach.<br />
Eine offene Kutsche voller grölender und singender Passagiere, die von<br />
jemandem gelenkt wurde, der entweder unfähig oder betrunken war, raste<br />
auf der anderen Seite an der Hecke vorbei. Sarahs Stute spitzte die Oh-<br />
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en, doch als dann einer der Insassen in das Horn <strong>des</strong> Kutscher blies,<br />
gingen dem Tier die Nerven durch. Das Pferd preschte los --- zurück nach<br />
Ravenhurst, in den sicheren Stall.<br />
16. Kapitel<br />
Brin warf Marcus einen kurzen Seitenblick zu, dann schaute er wieder<br />
auf die Straße. Er hätte nie zustimmen dürfen, seinen Freund zu begleiten.<br />
Der Boxkampf hatte kaum sein Interesse erregt. Andererseits wäre es<br />
ein unverzeihlicher Fehler gewesen, mit Verity auf Ravenhurst zu bleiben.<br />
Gegenwärtig durfte er ihr sein Verhalten noch nicht erklären. Sobald er<br />
jedoch dazu in der Lage war, musste er ihr irgendwie verständlich machen,<br />
dass er ihr um keinen Preis in der Welt hatte wehtun wollen. Er<br />
hatte sich dumm und gedankenlos, aber nicht absichtlich grausam<br />
benommen.<br />
Brin hatte ursprünglich beabsichtigt, ihr --- wenn die Zeit gekommen<br />
war --- alles zu gestehen und angenommen, sie würde das Ganze als<br />
Scherz betrachten. Jetzt war er sich nicht mehr sicher, dass ihr ausgeprägter<br />
Sinn für Humor genügen würde, das unnötige Leid auszulöschen,<br />
das er ihr zugefügt hatte.<br />
„Gütiger Himmel!“ rief Marcus plötzlich, als er eine kleine Gestalt bemerkte,<br />
die ein Stück vor ihnen durch ein Tor kam. „Ist das nicht Verity?“<br />
Brin erwachte aus seinen Betrachtungen und sprang vom Wagen, bevor<br />
Marcus die Pferde zum Halten gebracht hatte. Er streifte das schmutzige<br />
Reitkostüm mit einem flüchtigen Blick, doch bevor Verity ihm eine<br />
Erklärung dafür geben konnte, hob er sie auf die Arme und platzierte sie<br />
auf den Sitz neben Marcus. Ihre Beteuerungen, es ginge ihr --- abgesehen<br />
von einem verstauchten Knöchel --- hervorragend, und ihre Bitte, sie sofort<br />
nach Houghton zu bringen, stießen auf taube Ohren. Marcus hatte<br />
eine ziemlich genaue Vorstellung davon, dass die Hecke etwas mit dem<br />
Unfall zu tun hatte. Brin teilte Verity nachdrücklich mit, dass sie nirgendwo<br />
hingehen würde, bevor der Doktor nicht einen Blick auf ihre Verletzungen<br />
geworfen hätte.<br />
Verity hätte vor Zorn am liebsten aufgeschrien, konnte aber gegen die<br />
beiden Freunde, zwischen denen sie eingeklemmt war, nichts unternehmen.<br />
Sie saß schweigend da, bis sie den Stallhof von Ravenhurst erreichten.<br />
Marcus hatte die Grauschimmel kaum zum Stillstand gebracht, als Verity<br />
auch schon Sutton beauftragte, ein frisches Pferd für sie zu satteln ---<br />
eine Bitte, die Brin sofort widerrief. Ohne ihren Befehl, er möge sie sofort<br />
absetzen, zu beachten, trug er sie ins Haus.<br />
„Dem Himmel sei Dank, ihr habt sie gefunden“, rief Sarah und lief ih-<br />
nen entgegen. „Gerade eben hat man mir berichtet, dass meine Stute allein<br />
zurückgekehrt ist. Ich war schon im Begriff, Männer wegzuschicken,<br />
die Verity suchen sollten. Ist sie schlimm verletzt? Ich gehe nach oben<br />
und sehe nach, was getan werden kann.“<br />
Marcus, der ziemlich nachdenklich wirkte, legte ihr die Hand auf den<br />
Arm. „Nein, meine Liebe, überlass es Brin, sich darum zu kümmern. Ich<br />
denke, dass die Beschwerden der jungen Dame nicht nur etwas mit dem<br />
verstauchten Knöchel zu tun haben.“<br />
Sarah lächelte. „Du hast Recht. Brin wird sie beruhigen. Er hat eine so<br />
einfühlsame Art.“<br />
Sie hätte sich sehr gewundert, wenn sie ein paar Minuten später miterlebt<br />
hätte, wie ihr Freund Verity bei den Schultern packte und sie schüttelte,<br />
sodass die wenigen verbliebenen Haarnadeln in alle Richtungen flogen<br />
und ihr die schwarzen Locken offen auf die Schultern fielen.<br />
„Hör endlich auf, dich wie ein unartiges Kind zu benehmen“, befahl er<br />
mit harter Stimme.<br />
„Brin ... Du verstehst nicht ...“ Verity blickte flehend zu ihm hoch. „Ich<br />
muss nach Houghton reiten. Es ist lebenswichtig, dass ich dort jemanden<br />
treffe.“ Selbst in ihrem erregten Zustand merkte sie, dass er plötzlich<br />
stutzte.<br />
„Wen?“ Keine Antwort folgte, doch Brin spürte, dass sie plötzlich auf<br />
der Hut zu sein schien. „Geht es nicht in dein hübsches Köpfchen, dass<br />
du nirgendwo hinreiten wirst? Und die einzige Person, die du außer Sarah<br />
sehen wirst, ist der Arzt.“ Sein Blick verriet, dass er nicht nur ärgerlich,<br />
sondern auch verletzt war. „Vertraust du mir denn so wenig, oder hältst<br />
du mich lediglich für unfähig, an deiner Stelle zu handeln?“ fragte er.<br />
„Doch, ich vertraue dir. Es ist nur so, dass ...“<br />
Sie ließ sich auf das Bett sinken, weil sie nicht mehr die Kraft hatte,<br />
sich zu wehren, nicht einmal mit Worten. Die Schmerzen in ihrem verstauchten<br />
Knöchel wurden stärker, und auch das Pochen in ihren Schläfen<br />
war zurückgekehrt. Am schlimmsten aber war das Wissen, dass der<br />
arme Claud, wenn nicht schnell etwas geschah, völlig allein mit einer sehr<br />
gefährlichen Situation fertig werden musste.<br />
Da sie kaum eine andere Wahl hatte, berichtete sie zum zweiten Mal<br />
an diesem Tag über ihre Absprache mit dem Kutscher und enthüllte<br />
dann, was sie am Nachmittag entdeckt hatte.<br />
Brin reagierte keineswegs so, wie sie es erwartet hatte. Er schien nicht<br />
im Min<strong>des</strong>ten überrascht zu sein, sondern äußerte lediglich ziemlich<br />
grimmig: „Claud kennt also jetzt alle Fakten.“<br />
Verity musterte ihn scharf. „Claud ist nicht in die Sache verwickelt,<br />
darauf verwette ich mein Leben. Wenn du sein Gesicht gesehen hättest,<br />
als er die Tür zu dem Geheimgang öffnete und feststellte, dass sein Cousin<br />
ein Verräter ist ... Nein, Brin, Claud ist unschuldig.“<br />
„Ich hoffe zu Gott, dass dein Instinkt richtig ist“, erwiderte er und ging<br />
69
zur Tür. „Ich werde dafür sorgen, dass Stone informiert wird.“ Die Hand<br />
um den Türknauf gelegt, drehte er sich noch einmal um und bedachte sie<br />
mit diesem wundervollen Lächeln, aus dem tiefe Zuneigung sprach. „Keine<br />
Sorge, mein Liebling, dein Kutscher wird dich nicht enttäuschen.“<br />
Brin war kaum verschwunden, als Sarah hereinkam, sodass Verity<br />
keine Zeit hatte, über diese Bemerkung oder gar über das, was möglicherweise<br />
gerade in Castleford Grange geschah, nachzudenken. Erst sehr<br />
viel später, nachdem der Arzt sie untersucht und bestätigt hatte, sie hätte<br />
keine ernsthafteren Verletzungen als einen verstauchten Knöchel sowie<br />
ein paar Prellungen erlitten, ließ man sie allein, und prompt kehrten die<br />
quälenden Gedanken zurück.<br />
Das Schlafmittel, das der Arzt dagelassen hatte, blieb ebenso unberührt<br />
wie das Tablett mit einem kleinen Imbiss, das Meg erst kurz nach<br />
neun Uhr wieder abräumte. Es schien ewig zu dauern, bis die Uhr zehn<br />
Mal und dann elf Mal schlug. Eine Viertelstunde vor Mitternacht hatte<br />
Verity es satt, in der Hoffnung, ein Geräusch zu hören, das Brins Rückkehr<br />
ankündigte, die Ohren anzustrengen. Vielleicht hatte er Thomas<br />
Stone nicht erreicht und war selbst nach Grange geritten, um Claud zu<br />
helfen. Diese Möglichkeit hätte sie in Betracht ziehen müssen, bevor sie<br />
ihm die ganze Geschichte anvertraut hatte. Gütiger Himmel, sie hatte sein<br />
Leben ebenfalls in Gefahr gebracht! Da sie das Gefühl hatte, keinen Augenblick<br />
länger warten zu können, warf sie die Bettdecke zurück und zog<br />
einen Morgenrock an. Wenn sie schon sonst nichts anderes tun konnte,<br />
wollte sie wenigstens mit Marcus reden. Brin hatte großen Respekt vor<br />
dem Urteilsvermögen seines Freun<strong>des</strong>, und vielleicht war der Hausherr ja<br />
imstande, ihre ärgsten Befürchtungen zu zerstreuen.<br />
Die Halle war leer, doch durch die einen Spalt offene Tür zur Bibliothek<br />
schimmerte Licht, was Verity nicht sonderlich verwunderte. Marcus<br />
würde sich nicht zurückziehen, solange sein Freund noch unterwegs war.<br />
Als sie nach kurzem Klopfen eintrat, fand sie im Raum jedoch lediglich<br />
seine Frau vor.<br />
Sarah legte ihre Handarbeit weg und führte Verity zu einem Sessel auf<br />
der anderen Seite <strong>des</strong> Kamins. „Der Arzt hat mir versichert, dass das<br />
Schlafmittel bis zum Morgen wirken würde“, sagte sie.<br />
„Ich habe es nicht genommen“, gestand Verity. „Wo ist Marcus?“ „Er<br />
hat zusammen mit Brin am frühen Abend das Haus verlassen und keiner<br />
der beiden ist bislang zurückgekehrt.“<br />
„Oh, Himmel, nein!“<br />
Sarah beobachtete, wie Verity die Hände vor das Gesicht schlug. Sie<br />
hatte sofort gewusst, dass irgendetwas nicht in Ordnung war, als ihr Ehemann<br />
ihr ohne ein weiteres Wort der Erklärung mitgeteilt hatte, er<br />
würde Brin begleiten. Zuerst hatte sie befürchtet, dass man Verity vielleicht<br />
überfallen hätte. Doch als sie Meg beim Baden ihrer jungen Herrin<br />
geholfen und dafür gesorgt hatte, dass Verity im Bett den Besuch <strong>des</strong><br />
Doktors erwartete, hatte sie diesen Gedanken verscheucht. Verity hatte<br />
nicht verängstigt, sondern besorgt gewirkt.<br />
Sarah ging zur Anrichte und füllte zwei Gläser mit Wein. „Da Sie sich<br />
weigern, die Medizin einzunehmen, sollten Sie dies trinken. Allerdings<br />
dürfte Ihnen der Wein zu Kopf steigen, da Sie Ihr Dinner nicht angerührt<br />
haben. Dabei bin ich die Letzte, die Ihnen das vorwerfen kann“, fügte sie<br />
reumütig hinzu. „Ich habe selbst kaum etwas gegessen.“<br />
Sie nahm ihren Platz wieder ein und blickte sekundenlang in ein Paar<br />
veilchenblauer Augen, die zutiefst beunruhigt wirkten. „Wohin sind sie<br />
gegangen, Verity? Wissen Sie das?“<br />
„Ich vermute, dass sie auf Castleford Grange sind“, erwiderte Verity,<br />
die keinen Grund zum Lügen mehr sah, und erzählte, was sie am Nachmittag<br />
in dem schönen alten Herrenhaus entdeckt hatte.<br />
„Lawrence Castleford ist also ein Verräter“, stellte Sarah verwundert<br />
fest. „Nun ja, Marcus hat ihm nie vertraut, und auf sein Urteil kann man<br />
sich eigentlich immer verlassen.“<br />
„Es tut mir Leid, Sarah. Jetzt habe ich auch noch das Leben Ihres<br />
Mannes in Gefahr gebracht.“<br />
„Nein, das haben Sie nicht.“ Sarah bemühte sich, ihre Ängste zu verbergen.<br />
„Marcus hat sich selbst dafür entschieden, Brin zu begleiten. Und<br />
ich hätte nicht versucht, ihm das auszureden, auch wenn ich es gekonnt<br />
hätte.“ Ein stolzes kleines Lächeln umspielte ihre Lippen. „Marcus hat<br />
sich stets gewünscht, seinem Land während <strong>des</strong> gegenwärtigen Konfliktes<br />
mit Frankreich zu dienen. Jetzt hat sich ihm die Gelegenheit geboten, für<br />
seine Heimat etwas Nützliches zu tun. So wie Sie das getan haben. Wie,<br />
um alles in der Welt, sind Sie eigentlich in diese hässliche Angelegenheit<br />
verwickelt worden?“<br />
Verity hatte schnell herausgefunden, dass Sarah Ravenhurst sich zwar<br />
sehr für das Wohl anderer Menschen interessierte, aber nicht neugierig<br />
war. Ob sie nun wirklich mehr erfahren oder die Zeit bis zur Rückkehr<br />
ihres Mannes überbrücken wollte, war nicht sicher. Doch auf Grund von<br />
Marcus’ Verstrickung in die Ereignisse hatte Sarah ein Recht darauf, genauer<br />
informiert zu werden.<br />
Um ein bisschen Zeit zu gewinnen, machte Verity es sich in ihrem Sessel<br />
bequem. Sie war gerade im Begriff, die ganze Geschichte zum dritten<br />
Mal an diesem Tag zu erzählen, als endlich die Geräusche an ihr Ohr<br />
drangen, auf die sie so sehnsüchtig gewartet hatte. Sie richtete sich kerzengerade<br />
auf, ihre Miene spiegelte zugleich freudige Erwartung und Sorge<br />
wider.<br />
„Ich gehe.“ Sarah hatte schon fast die Tür erreicht, bevor Verity sich<br />
auch nur rühren konnte. „Brin dürfte ohnehin nicht begeistert sein, dass<br />
Sie um diese Zeit noch auf sind --- da muss er nicht auch Zeuge Ihres<br />
Humpelns werden.“<br />
Da dies Veritys geringste Sorge war, erhob sie keinen Einwand.<br />
70
Schließlich war Sarah die Hausherrin, und sie zweifelte nicht daran, dass<br />
sie bald genug Informationen erhalten würde, mochten sie nun gut oder<br />
schlecht sein.<br />
Obwohl Sarah die Tür hinter sich geschlossen hatte, vernahm Verity<br />
Stimmen, aber nicht deutlich genug, um zu verstehen, wem sie gehörten,<br />
oder was gesagt wurde.<br />
Dann wurde die Tür wieder geöffnet. Verity, die kaum zu atmen wagte,<br />
wartete. Doch als nur Schweigen herrschte, stand sie auf. Das Weinglas<br />
entglitt ihren bebenden Fingern, als sie sah, wer vor der Tür stand und<br />
ihr den Rücken zuwandte.<br />
„Kutscher ...?“ Sie hinkte ein paar Schritte auf ihn zu, doch er drehte<br />
sich nicht um. „Dann haben Sie also meine Botschaft erhalten?“ Sie hatte<br />
selbst das Gefühl, etwas Dummes gesagt zu haben, doch sein unerwartetes<br />
Erscheinen hatte sie so überrascht, dass sie keinen klaren Gedanken<br />
fassen konnte.<br />
„Ja, Mädchen.“<br />
„Ist alles vorbei?“<br />
„Ja, Mädchen.“<br />
Verity humpelte näher. „Sind Brin und Marcus in Sicherheit?“ Sie<br />
zwang sich zum Reden, obwohl ihre Kehle wie ausgedörrt war.<br />
„Ravenhurst ist bei seiner Frau, Mädchen.“<br />
„Und Brin?“ Da keine Antwort erfolgte, spürte sie einen eisigen Stich<br />
im Herzen. „Was ist mit Brin geschehen?“ Ihre Stimme klang schrill vor<br />
Panik. „Verdammt noch mal, so rede doch!“<br />
„Reg dich nicht auf Mädchen.“ Er fuhr herum und zog sich den Schal<br />
vom Gesicht. „Er ist hier, Liebling.“<br />
Verity stand wie betäubt da. Sekundenlang wagte sie sich nicht einzugestehen,<br />
was ihr Verstand ihr schon seit Wochen gesagt hatte. Dann<br />
stieg langsam ein unbändiger Zorn über seine Täuschung und den unnötigen<br />
Kummer, den er ihr bereitet hatte, in ihr hoch, und es gelüstete sie<br />
nach Rache.<br />
Sie ballte die Fäuste, holte weit aus und versetzte ihm, bevor er sich<br />
wehren konnte, einen Hieb auf das linke Ohr. Der Dreispitz flog ihm vom<br />
Kopf, landete auf Marcus’ Schreibtisch und wirbelte dort einige Papiere<br />
durcheinander.<br />
„Du Scheusal“, schrie sie ihn an und wollte weglaufen, wurde jedoch<br />
zurückgehalten.<br />
Brin presste ihr die Arme fest an den Körper und trug sie quer durch<br />
den Raum. Dann ließ er sich in dem Sessel nieder, den sie soeben verlassen<br />
hatte, und setzte sie sich auf den Schoß. Da sie seiner Meinung nach<br />
ein Recht dazu hatte, wütend und verletzt zu sein, unternahm er nicht<br />
den geringsten Versuch, die Flut ihrer Beschimpfungen zu stoppen, die<br />
sie ihm entgegenschleuderte. Viele dieser Worte konnte sie unmöglich im<br />
vornehmen Internat in Bath gelernt haben, sondern eher im Stall, wo sie<br />
viel Zeit zu verbringen pflegte. Vorsichtshalber hielt er sie fest, bis sie sich<br />
auf die wirkungsvollste Waffe einer Frau besann und in Tränen ausbrach.<br />
Nachdem er ihr ein Taschentuch in die unwilligen Finger gedrückt hatte,<br />
wartete er, bis auch dieser Strom versiegt war. „Ich wollte dir nicht<br />
wehtun, Liebste“, murmelte er, schmiegte ihren Kopf an seine Schulter<br />
und streichelte ihre seidigen schwarzen Locken.<br />
„Du hast von Anfang an dein Spiel mit mir getrieben“, beschuldigte sie<br />
ihn, nachdem sie die Fassung wiedergewonnen hatte. Als sie sich aufrichten<br />
wollte, hinderte er sie nicht daran.<br />
„Nein, Kleines, das ist nicht wahr.“ Um seinen Mund spielte ein Lächeln.<br />
„Ich wusste in dem Moment, als ich dich zum ersten Mal geküsst<br />
habe, dass du die Richtige für mich bist.“ Der zornige Ausdruck in ihren<br />
Augen war noch nicht verschwunden. Doch als sich darin eine Spur von<br />
Neugier mischte, sprach er rasch weiter: „Ich dachte, es wäre leicht, dir<br />
den Hof zu machen, da wir beide vorhatten, einige Wochen in London zu<br />
verbringen. Aber als wir uns dann im Hyde Park trafen, wurde mir klar,<br />
dass die Annahme, mein <strong>Herzens</strong>wunsch würde sich ohne Schwierigkeiten<br />
erfüllen, mehr als vermessen gewesen war. Du hast mich angesehen,<br />
als hätte ich die Pest. Natürlich weiß ich jetzt, warum das so war, doch zu<br />
der Zeit war mir nicht bewusst, dass du einen alten Groll gegen mich hegtest<br />
...“<br />
„Das hast du raffiniert eingefädelt“, unterbrach sie ihn. „Und in der<br />
Maske <strong>des</strong> Kutschers hat du eine Menge von mir erfahren, oder?“ Als sie<br />
ihn scharf ansah, ertappte sie ihn dabei, wie er ungeschickt ein Lächeln<br />
zu verbergen suchte. „Wie ist es dir eigentlich neulich Abend gelungen, so<br />
schnell wieder in die Bibliothek zu gelangen?“ fragte sie.<br />
„Das war nicht leicht. Ich hatte Dreispitz und Umhang kaum in einem<br />
Schrank in der Halle versteckt und den Riegel vorgeschoben, als ich auch<br />
schon hörte, wie du versuchtest, ins Haus zu kommen.“<br />
Verity wusste nicht, ob sie auf ihn ärgerlich sein sollte oder auf sich<br />
selbst, weil sie in ihrer Naivität die Wahrheit nicht schon längst erkannt<br />
hatte.<br />
Er schien ihre Gedanken zu erraten. „Ich habe meine Rolle wohl zu gut<br />
gespielt, wollte dir aber niemals wehtun. Als Kutscher konnte ich dich nur<br />
selten sehen, und das war mir zu wenig. Als Major Brin Carter habe ich<br />
dich öfter getroffen und geglaubt, du könntest dich in mich verlieben,<br />
wenn du mich besser kennen wür<strong>des</strong>t. Es ging einfach darum, dir einen<br />
Grund zu liefern, um meine Gesellschaft zu suchen.“<br />
„Das war infam.“<br />
„Aber wirkungsvoll, wie die vergangene Nacht bewiesen hat“, fuhr er<br />
fort. „In meiner Verkleidung als Kutscher konnte ich zwar meine Identität<br />
verbergen, aber nicht meine Gefühle für dich. Ich litt unter den Konsequenzen<br />
meines Täuschungsmanövers, als ich merkte, wie sehr ich dich<br />
damit gequält habe. Das war nicht Teil meines Plans.“<br />
71
Verity merkte, dass sie schwach wurde. Sie war gerade im Begriff, ihm<br />
zu verzeihen, als ihr Blick auf das Taschentuch fiel, das sie in ihrer Hand<br />
hielt. Ein ähnliches hatte er ihr in Little Frampington gegeben. „Du hast<br />
mich geschlagen, Brin Carter“, sagte sie.<br />
Er brach in Gelächter aus, zeigte sich bei diesem Vorwurf jedoch unnachgiebig.<br />
„Du hättest diesen Ort niemals allein aufsuchen dürfen, und<br />
das weißt du auch. Obwohl ich zugeben muss, dass deine Torheit zum<br />
Erfolg <strong>des</strong> heutigen Abends geführt hat“, fügte er grimmig hinzu.<br />
Verity vergaß für den Augenblick ihren berechtigten Groll und bat ihm<br />
um eine Erklärung, wie das Ganze für ihn begonnen hätte.<br />
Brin war sofort bereit, ihre Neugier zu befriedigen. „Ich hatte mein Offizierspatent<br />
bereits verkauft und weilte ungefähr seit einem Monat wieder<br />
in England, als uns die Nachricht erreichte, Napoleon sei von Elba geflohen.<br />
Wellingtons eigener Geheimdienst hatte herausgefunden, dass unser<br />
kleiner Franzose wieder aktiv war. Da Wellington wünschte, dass er und<br />
vor allem seine englischen Kontaktpersonen entlarvt würden, schickte er<br />
eine dringende Depesche an Lord Charles und schlug vor, dass dieser<br />
sich meiner Dienste bedienen solle.“<br />
Verity erinnerte sich daran, dass ihr Onkel gesagt hatte, der Duke of<br />
Wellington würde sehr viel von Major Carter halten. „Hast du und Onkel<br />
Charles Lawrence Castleford von Anfang an verdächtigt?“<br />
„Wir waren überzeugt, dass es jemand sein müsse, der im Kriegsministerium<br />
arbeitet. Doch bevor du in Frampington die Grauschimmel entdeckt<br />
hast, hatten wir keine Ahnung von der Identität <strong>des</strong> Verräters.“ Er<br />
betrachtete sie mit einem respektvollen Blick. „Erinnerst du dich an den<br />
Ball bei den Gillinghams, als dein Onkel mit Lord Castleford sprach? Damals<br />
hat Lord Charles herausgefunden, dass Lord Castlefords Neffe den<br />
Curricle und das Gespann zu benutzen pflegte. Wir vermuteten, dass Lord<br />
Castleford und sein Neffe beteiligt waren. Es wäre auch möglich gewesen,<br />
dass Claud Bescheid wusste. Erst heute Abend kam die Wahrheit ans<br />
Licht. Dein Instinkt hat dich nicht getrogen. Claud ist unschuldig, und<br />
Castleford hatte keine Ahnung vom üblen Treiben seines Neffen. Ich habe<br />
noch nie einen Mann erlebt, der so völlig am Boden zerstört war.“<br />
„Hast du die Hausgesellschaft bei den Ravenhursts arrangiert, um eine<br />
Ausrede zu haben, herzukommen und die Leute von Grange zu beobachten?“<br />
„Nicht nur <strong>des</strong>halb“, räumte er mit einem reuigen Lächeln ein. „Ich war<br />
überzeugt, dass für keine der Damen Gefahr bestand. Natürlich wollte ich<br />
den <strong>Spion</strong> entlarven, wusste aber, dass ich nicht völlig bei der Sache gewesen<br />
wäre, wenn ich dich in London zurückgelassen hätte. Genau genommen<br />
war es Stone, der hergeschickt wurde, um aufzupassen. Ich sollte<br />
nur im Notfall eingreifen.“<br />
„Und was ist heute Nacht geschehen?“<br />
„Marcus war der Einzige, dem ich mich in Bezug auf die Aufgabe, die<br />
ich für die Regierung erfüllen sollte, anvertraut habe. Als ich ihm erzählte,<br />
was du herausgefunden hast, bot er mir seine Hilfe an. Genau wie du war<br />
er davon überzeugt, dass Claud mit der Sache nichts zu tun hatte. Da es<br />
weniger verdächtig wirkt, wenn ein Nachbar unangemeldet einen Besuch<br />
abstattet, schickte ich ihn mit einer Botschaft zu Claud, während ich<br />
mich mit Stone in Verbindung setzte. Marcus und ich trafen uns später<br />
außerhalb von Grange, mussten aber eine Weile warten, bis Lawrences<br />
Kammerdiener aus dem Haus kam. Ich erschoss Blackmore, bevor er die<br />
Information weitergeben konnte.“<br />
Das klang sehr nüchtern und herzlos, doch für einen Soldaten war das<br />
Erschießen eines Menschen wohl kaum eine neue Erfahrung.<br />
„Und Lawrence?“<br />
„Ihn habe ich nicht getötet --- das war Claud. Der Knall, den mein<br />
Schuss verursachte, erweckte die Aufmerksamkeit von Lawrence. Als er<br />
zu fliehen versuchte, schoss Claud ihm eine Kugel durch den Kopf. Ich<br />
nehme an, er wollte seinem Cousin den Henker ersparen. Alles, was er<br />
sagte, war, dass man ein Tier, das wahnsinnig geworden sein, von seinem<br />
Elend erlösen müsse.“<br />
„Was wurde aus dem französischen <strong>Spion</strong>?“<br />
„Er sitzt in Haft.“<br />
„Also ist alles vorbei“, stellte sie erleichtert fest.<br />
„Es dürfte eine ganze Weile dauern, bis Lord Castleford die Ereignisse<br />
dieser Nacht verkraftet hat. Aber für uns, mein Liebling, ist es vorbei.“<br />
Brin legte die Arme um ihre schmale Taille und hielt sie eng umschlungen,<br />
während er die Bänder an ihrem Nachtgewand betrachtete.<br />
„Bevor Sarah kommt, was sie angesichts ihres ausgeprägten Sinnes für<br />
Schicklichkeit bald tun wird, frage ich dich: Wann werden wir heiraten?“<br />
Verity wusste nicht, worüber sie empörter sein sollte --- über seinen<br />
anzüglichen und zugleich bewundernden Blick oder seine arrogante Annahme,<br />
dass sie nach allem, was er ihr angetan hatte, eine Ehe mit im<br />
überhaupt in Betracht ziehen würde.<br />
„Glaubst du wirklich, ich würde auch nur einen Gedanken daran verschwenden,<br />
einen so üblen Schurken wie dich zu heiraten?“<br />
„Wenn das so ist, Mädchen ...“, Brin schüttelte scheinbar schockiert<br />
den Kopf, „... dann kann ich nur sagen, dass dein Verhalten geradezu<br />
betrüblich zu wünschen übrig lässt. Ich könnte so weit gehen, dich für<br />
dein sittenloses Betragen zu tadeln --- immerhin sitzt du mitten in der<br />
Nacht auf dem Schoß eines Mannes, nur mit einem dünnen Nachthemd<br />
bekleidet, das fast nichts von deinen Reizen verhüllt. Außerdem könnte<br />
ich hinzufügen, dass es hochgerutscht ist und einen Blick auf deine<br />
schönen Beine erlaubt, der selbst einen Heiligen in Versuchung führen<br />
könnte.“<br />
Ehe sie jedoch ihre Blöße bedecken konnte, riss Brin sie an sich und<br />
küsste sie so leidenschaftlich, dass ihr einfach die Luft zum Streiten fehl-<br />
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te, selbst wenn sie es gewollt hätte --- was nicht der Fall war.<br />
Obwohl sie es immer noch für klüger hielt, zwei Mal nachzudenken,<br />
bevor sie den Bund fürs Leben mit einem Mann schloss, von dem sie<br />
fürchtete, dass er charakterlich eher zu dem dominanten Kutscher als<br />
dem Gentleman Major Carter neigte, hegten ihr Herz und ihre Sinne keine<br />
Zweifel mehr.<br />
Brins Lachen klang triumphierend, als er sie ein Stück von sich schob.<br />
„Nach dieser Reaktion wäre es töricht, auch nur den Versuch zu machen,<br />
deinem Schicksal zu entgehen, mein Liebling.“<br />
Verity schmiegte sich glücklich in die Arme ihres zukünftigen Gatten.<br />
Sie lächelte zufrieden, weil sie nämlich bereits vor Wochen zu dieser Erkenntnis<br />
gelangt war.<br />
- E N D E -<br />
73