Spion des Herzens
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Sie beauftragte Meg, eine Droschke zu mieten, und wollte gerade den<br />
Hof der Poststation überqueren, als sie merkte, dass sie ihr Retikül vergessen<br />
hatte. Die anderen Passagiere hatten die Kutsche bereits verlassen,<br />
und Verity ärgerte sich maßlos, dass sie ihren Beutel holen musste,<br />
statt den <strong>Spion</strong> im Auge zu behalten. Kaum hatte sie den Fuß auf die oberste<br />
Stufe <strong>des</strong> kleinen Treppchens gesetzt, als ihr jemand die Hand entgegenstreckte,<br />
um ihr beim Aussteigen zu helfen. Es war der dreiste Kutscher!<br />
Nun war es vollends um ihre Beherrschung geschehen.<br />
„Sie sind nicht nur ein ungebildeter Tölpel, sondern auch der schlechteste<br />
Kutscher, der jemals Zügel in der Hand hatte“, schimpfte sie. „Und<br />
jetzt verschwinden Sie endlich!“<br />
Er brach in schallen<strong>des</strong> Gelächter aus. Bevor Verity eine weitere<br />
schneidende Bemerkung formulieren konnte, fasste er sie mit beiden<br />
Händen um die schlanke Taille und hob sie so mühelos aus der Kutsche,<br />
als wäre sie leicht wie eine Feder. „Sie sind zu einem hübschen Ding herangewachsen,<br />
Miss Harcourt, und das gefällt mir gut.“<br />
Als Verity ausholte, wich er geschickt dem Schlag aus, sodass sie ihn<br />
verfehlte. Sie musste sich damit zufrieden geben, mit erhobenem Kopf<br />
über den Hof zu stolzieren. Dabei klang ihr sein Lachen immer noch in<br />
den Ohren.<br />
„Haben Sie gesehen, welchen Weg der Ausländer eingeschlagen hat,<br />
Meg?“ fragte sie, nachdem sie sich vergeblich nach ihm umgeschaut hatte.<br />
„Nein, Miss, ich war damit beschäftigt, einen Wagen zu mieten.“<br />
Da es sinnlos war, auf Londons belebten Straßen nach dem <strong>Spion</strong> zu<br />
suchen, nannte Verity dem Fahrer die Adresse ihrer Tante und kletterte<br />
in die Droschke.<br />
„Dieser schreckliche Kutscher“, sagte sie. „Wenn ich rachsüchtig wäre,<br />
würde ich mich bei seinem Vorgesetzen über ihn beschweren. Haben Sie<br />
gemerkt, wie der Mann mich behandelt hat?“<br />
Meg hatte tatsächlich beobachtet, auf welche Weise man ihrer jungen<br />
Herrin aus der Kutsche geholfen hatte. „Er war ein bisschen frech, Miss“,<br />
räumte sie ein und konnte nur mit Mühe ein Kichern unterdrücken. „Außerdem<br />
war er sehr von Ihnen angetan.“<br />
„So eine Unverschämtheit! Wenn dieser Bursche noch einmal meinen<br />
Weg kreuzt, werde ich ...“ Verity richtete sich plötzlich auf. „Meg, er kannte<br />
mich. Er wusste meinen Namen“, rief sie ungläubig.<br />
„Aber natürlich, Miss, den habe ich ihm im Gasthof meines Onkels genannt.“<br />
„Nein, Meg, ich bin sicher, dass wir uns schon früher begegnet sind. Er<br />
stammt aus Yorkshire. Sein Dialekt war echt.“ Verity überlegte. „Wer<br />
könnte er sein?“<br />
3. Kapitel<br />
Lady Billington pflegte nie im Bett zu frühstücken, wenn sie einen Gast<br />
unter ihrem Dach beherbergte. Doch als sie am folgenden Morgen in den<br />
kleinen Frühstückssalon trat, dann nicht nur, um ihrer Nichte Gesellschaft<br />
zu leisten. Sie beabsichtigte, Verity klarzumachen, dass es sehr<br />
töricht gewesen war, eine Zofe zu engagieren, ohne zuerst deren Referenzen<br />
zu überprüfen.<br />
Verity nahm die in mildem Ton vorgebrachte Kritik mit Gleichmut zur<br />
Kenntnis. „Hast du denn Megs Zeugnis nicht gelesen? Gestern Abend bat<br />
ich sie, es dir zukommen zu lassen. Ich war mir sicher, dass du Lady<br />
Longbourne gekannt hast.“<br />
„Ja, ich kannte sie, wenn auch nicht sehr gut. Und ja, Dodd hat mir<br />
das Zeugnis heute Morgen als Erstes vorgelegt, und es scheint in Ordnung<br />
zu sein“, gab sie zu. „Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass<br />
du dir nicht die Mühe gemacht hast, selbst einen Blick darauf zu werfen,<br />
bevor du dem Mädchen eine Stellung angeboten hast. Du bist einfach zu<br />
impulsiv, Liebes. Ich habe dich gestern wieder besseres Wissen allein zurückgelassen<br />
und Höllenqualen erlitten. Was hätte dir nicht alles passieren<br />
können.“<br />
Etwas ist passiert, dachte Verity, während sie in ein gebuttertes Brötchen<br />
biss. Im Geist durchlebte sie noch einmal den gestrigen Tag, nachdem<br />
sie den Gasthof am Wegrand betreten hatte. Dann redete ihre Tante<br />
weiter, und Verity zwang sich, ihr zuzuhören.<br />
„Vergangene Nacht erfuhr ich von meiner Freundin Louisa Hickox,<br />
dass sich dein Major Carter in London aufhält. Er wohnt in einem Haus<br />
am Berkeley Square, das seinem Freund Marcus Ravenhurst gehört.“<br />
„Er ist nicht mein Major Carter“, protestierte Verity entrüstet.<br />
„Aber Liebes, du weißt doch, wie ich das meine. Angeblich soll er drei<br />
jungen Ladys seine spezielle Aufmerksamkeit schenken. Wie es scheint,<br />
denkt er daran, eine Familie zu gründen. Keine schlechte Sache, wenn er<br />
in den Besitz <strong>des</strong> Titels gelangt, was mit jedem Tag wahrscheinlicher<br />
wird.“<br />
Ohne darauf zu reagieren, erkundigte Verity sich: „Weißt du zufällig,<br />
ob Onkel Charles in der Stadt ist?“<br />
Lady Billington wunderte sich nicht über die plötzliche Frage. Verity<br />
hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass Lord Charles ihr Liebling<br />
unter den männlichen Mitgliedern der Familie Harcourt war.<br />
„Ich denke schon, Liebes. Er verlässt London ja nur sehr selten. Sein<br />
einziges Interesse gilt seiner Karriere.“ Mit einem Achselzucken fuhr sie<br />
fort: „Vermutlich ist es gut, dass er nie geheiratet hat.“<br />
„Heute Morgen scheint dir nur Heiraten im Kopf herumzuspuken, Tante<br />
Clara. Es gibt schlimmere Schicksale, als ungebunden zu bleiben“, behauptete<br />
Verity und stand auf. „Ich werde ihm einen kleinen Besuch abstatten.<br />
Schließlich habe ich ihn seit zwölf Monaten nicht mehr gesehen.“<br />
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