Spion des Herzens
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sche nicht ganz einfach war. „Was, um alles in der Welt, ist geschehen?“<br />
„Das rechte Vorderrad ist beschädigt und eine der Zugleinen gerissen.<br />
Zum Glück sind wir in Sichtweite von Sittingbourne, Madam. Wenn Sie in<br />
der anderen Kutsche zum Gasthof ‘Crown’ fahren, führen Clem und ich<br />
die Pferde dorthin. Ich werde mich unverzüglich um die Reparatur kümmern,<br />
aber heute werden wir vermutlich nicht mehr weiterfahren können.“<br />
„Wie dumm. Ich wollte eigentlich London heute noch erreichen, um<br />
Lady Swayles Gesellschaft besuchen zu können.“ Sie zuckte die Achseln.<br />
„Nun, daraus wird wohl nichts. Helfen Sie Miss Verity und mir beim Aussteigen.“<br />
Da Verity jung und schlank war, hatte sie beim Verlassen der Kutsche<br />
keine Mühe. Lady Billington, deren Körperumfang im Laufe der Jahre um<br />
einiges zugenommen hatte, fiel das nicht so leicht. Es bedurfte der vereinten<br />
Kräfte ihrer Nichte und <strong>des</strong> Reitknechts, um sie ins Freie zu befördern.<br />
Die zweite Kutsche, die ein paar Yards hinter ihnen angehalten hatte,<br />
war nicht nur hoch beladen --- Lady Billington pflegte niemals mit leichtem<br />
Gepäck zu reisen ---, in ihr saßen auch ihre persönliche Zofe, der<br />
Butler Dodd und zwei der widerwärtigsten Haustiere, die Verity je getroffen<br />
hatte: ein grüner Papagei und ein überfütterter Schoßhund namens<br />
Horace.<br />
Es entstand ein Höllenspektakel, als Verity Horace kurzerhand von<br />
seinem Platz hof und ihn dem entsetzten Butler in die Arme drückte. Der<br />
verhätschelte Pekinese war zutiefst empört darüber, dass man ihn so roh<br />
aus seinem Schlummer geweckt hatte. Er verlieh seiner Entrüstung<br />
durch lautes Kläffen Ausdruck, woraufhin der aufgeschreckte Papagei<br />
ohrenbetäubend zu kreischen begann.<br />
Der Tumult dauerte an, bis sie in den Hof <strong>des</strong> Gasthauses einbogen.<br />
Verity sprang aus der Kutsche, noch ehe der Reitknecht die Stufen hinuntergelassen<br />
hatte. „Das genügt“, erklärte sie. „Ich weigere mich, auch<br />
nur noch eine Meile mit deinen widerwärtigen Kreaturen zu fahren. Warum<br />
du diese lauten Biester mit auf Reisen nimmst, ist mir unbegreiflich.“<br />
„Aber, Liebes, so beruhige dich doch“, sagte Lady Billington beschwichtigend<br />
und folgte ihrer Nichte in den Gasthof. „Ich weiß wirklich nicht,<br />
von wem du dieses heftige Temperament hast. Dein Vater war ein ganz<br />
ruhiger Mann, und ich kann mich nicht erinnern, dass deine Mutter je die<br />
Beherrschung verloren hätte.“ Sie runzelte plötzlich die Stirn. „Aber von<br />
den Harcourts ist bekannt, dass sie schnell aus der Fassung gerieten.<br />
Dein Urgroßvater, der vierte Duke, neigte zu heftigen Wutausbrüchen.<br />
Einige seiner Familienmitglieder waren der Meinung, dass man ihn hätte<br />
ins Irrenhaus sperren müssen.“<br />
Verity bedachte sie mit einem ungnädigen Blick. „Zwischen geistiger<br />
Umnachtung und gerechtfertigtem Ärger besteht ein Unterschied, Tante<br />
Clara. Deine abscheulichen Schoßtiere stellen sogar die Geduld eines Heiligen<br />
auf die Probe. Wenn du mich zwingst, während der restlichen Fahrt<br />
nach London mit den beiden Biestern in der gleichen Kutsche zu sitzen,<br />
garantiere ich für nichts. Ich würde nicht davor zurückschrecken, dem<br />
grünen Federvieh den Hals umzudrehen und den verwöhnten Köter aus<br />
dem Fenster zu werfen.“<br />
Ihre Tante verzichtete klugerweise darauf, ihre Nichte zu belehren,<br />
dass es eine unverzeihliche Grausamkeit wäre, wehrlosen Geschöpfen<br />
etwas anzutun. „Aber Liebes, du kannst doch nicht allein hier bleiben“,<br />
wandte sie statt<strong>des</strong>sen ein.<br />
„Ridge ist bei mir, ich bin also nicht allein“, erwiderte Verity und<br />
sprach schnell weiter, um zu verhindern, dass ihre Tante die gefährliche<br />
Wendung bemerkte, die das Gespräch genommen hatte. „Lass uns eine<br />
Kleinigkeit essen und abwarten, was Ridge uns zu berichten hat. Wenn<br />
wir mit ihm gesprochen haben, entscheiden wir, was wir tun sollen.“<br />
Da Lady Billington einsah, dass das am vernünftigsten war, bestellte<br />
sie beim Wirt eine leichte Mahlzeit, bevor sie und Verity sich in die Kaffeestube<br />
zurückzogen. Dort vertrieben sie sich die Zeit damit, das lebhafte<br />
Treiben in dem viel besuchten Gasthof zu beobachten. Als Ridge endlich<br />
kam, brachte er keine guten Nachrichten. Wie es schien, konnte die Kutsche<br />
erst am nächsten Morgen repariert werden. Er schlug vor, in der<br />
Herberge zu bleiben und die Reise am folgenden Tag nach Beendigung der<br />
Arbeiten fortzusetzen.<br />
Lady Billington war mit diesem Arrangement zufrieden und rief nach<br />
dem Wirt. Doch als Verity verkündete, dass sie ebenfalls übernachten und<br />
am nächsten Tag mit Ridge fahren würde, protestierte ihre Tante empört.<br />
„Es tut mir Leid, Verity, aber das kommt nicht in Frage. Es ist undenkbar,<br />
dass du ohne Zofe hier bleibst. Du wirst mich also begleiten.“<br />
„Nein, nicht zusammen mit den schrecklichen Tieren“, beharrte Verity.<br />
Sie sah das Zucken um Ridges Lippen und –den Ausdruck von Mitgefühl<br />
in seinen Augen, bevor sie sich an den Wirt wandte, der geduldig im Hintergrund<br />
wartete. „Kann man hier eine Kutsche mieten?“<br />
„Normalerweise schon, aber zu dieser Jahreszeit wollen alle Leute zur<br />
Saison nach London, ich habe also keinen Wagen zur Verfügung.“ Er<br />
strich sich über das schüttere Haar. „Vielleicht bekommen Sie ja einen<br />
Platz in der Postkutsche.“<br />
„Du kannst nicht ohne weibliche Gesellschaft reisen“, warf ihre Tante<br />
ein. „Und Dodd kann ich dir nicht überlassen. Sie muss mir heute Abend<br />
beim Ankleiden helfen.“<br />
„Möglicherweise habe ich eine Lösung für Ihr Problem, Madam“, sagte<br />
der Wirt zu Veritys größter Freude --- und zum Entsetzen ihrer Tante.<br />
„Meine Nichte wartet ebenfalls auf die Postkutsche.“ Er deutete auf einen<br />
Ecktisch, an dem eine einzelne junge Frau saß. „Sie stand in Diensten der<br />
verwitweten Lady Longbourne. Die alte Dame ist vor einem Monat gestor-<br />
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