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Spion des Herzens

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Nichte sich wünschte. Verity verspürte weder die geringste Lust, auch nur<br />

eine Minute in dem engen kleinen Laden zu verbringen, zusammen mit<br />

Frauen, die nur Rüschen und Pelzbesätze im Sinn hatten, noch wollte sie<br />

riskieren, auf der Straße dem französischen <strong>Spion</strong> plötzlich von Angesicht<br />

zu Angesicht gegenüberzustehen. Daher lehnte sie ziemlich kurz angebunden<br />

ab.<br />

„Würden Sie lieber mit Hilary ausreiten? Es verspricht wieder ein warmer<br />

Tag zu werden, und da macht es sicher mehr Spaß, die Gegend im<br />

Sattel zu erkunden.“<br />

Clarissas freundliche Einladung entlockte Verity immerhin ein Lächeln.<br />

Doch selbst die Aussicht auf einen schnellen Galopp durch den<br />

Park vermochte nicht, sie in Versuchung zu führen.<br />

„Das ist sehr nett von Ihnen, aber ich würde lieber heute Vormittag im<br />

Haus bleiben“, erwiderte sie. „Aus irgendeinem Grund habe ich nicht gut<br />

geschlafen. Ein bisschen Zeit für mich selbst wird mir gut tun.“<br />

„Das hilft mir persönlich auch immer“, warf Sarah rasch ein, als sie<br />

sah, dass Lady Billington im Begriff war, ihre Nichte wegen dieser für sie<br />

untypischen Lethargie einem Verhör zu unterziehen.<br />

Sie war der Meinung, dass es Zeiten gab, in denen man die Menschen<br />

sich selbst überlassen sollte. Verity schien nicht zu den jungen Frauen zu<br />

gehören, die zu Depressionen neigten, aber irgendetwas hatte sie offensichtlich<br />

schwermütig gemacht. Vielleicht war tatsächlich nur der<br />

Schlafmangel daran schuld, doch Sarah fragte sich unwillkürlich, ob Veritys<br />

ungewöhnliches Benehmen nicht etwas mit Brin zu tun hatte. Sie<br />

hatte kurz mit ihm gesprochen, ehe er weggeritten war. Er war ebenfalls<br />

seltsam in sich gekehrt gewesen, als ob er sich in seine eigene Welt zurückgezogen<br />

hätte.<br />

Sarah erinnerte ihre Gäste daran, dass sie aufbrechen müssten, wenn<br />

sie zum Lunch zurück sein wollten.<br />

Da sie geplant hatte, die kranke Frau eines Pächters zu besuchen,<br />

verweilte sie ebenfalls nicht lange beim Frühstück. Als sie einige Zeit später<br />

die Halle durchquerte, begegnete sie Verity, die mit einem Buch in der<br />

Hand aus der Bibliothek kam.<br />

„Sind die anderen weggefahren?“ fragte sie lächelnd. „Ich nehme es Ihnen<br />

nicht übel, dass Sie die Putzmacherin nicht noch einmal aufsuchen<br />

wollen. Gestern war es sehr stickig dort, und ich fürchte, dass es heute<br />

noch wärmer wird.“<br />

Verity seufzte bekümmert. „Leider bin ich so oft eine Enttäuschung für<br />

meine Tante. Ich bringe einfach kein großes Interesse für solche Nebensächlichkeiten<br />

wie Hüte auf und finde es langweilig, solche Dinge einzukaufen.“<br />

„Sie erinnern mich manchmal an mich selbst, Verity“, rief Sarah lachend.<br />

„Wir unterhalten uns weiter, wenn ich zurück bin, falls Sie Lust<br />

dazu haben. Ich werde nicht lange ausbleiben.“<br />

Verity ging in den sonnigen rückwärtigen Salon und setzte sich ans<br />

Fenster, von dem aus man einen herrlichen Blick auf die gepflegten Gartenanlagen<br />

hatte. Sie wunderte sich über die Wandlung, die innerhalb der<br />

letzten zwölf Stunden mit ihr vorgegangen war. Als sie in der vorigen<br />

Nacht durch den Park gelaufen war, hatte sie die Aussicht auf ein paar<br />

kostbare Augenblicke in Gesellschaft <strong>des</strong> Kutschers mit erwartungsvoller<br />

Freude erfüllt, und sie hatte sogar etwas wie Glück empfunden. Und nun<br />

waren ihre Lebensgeister auf dem Tiefpunkt angelangt.<br />

Der ziemlich abrupte Abschied <strong>des</strong> Kutschers war allerdings nicht der<br />

einzige Grund für ihre Zweifel und Sorgen, die ihr das Herz so schwer<br />

machten. Viel schwerwiegender waren die verwirrenden Träume, die sie<br />

anschließend heimgesucht hatten.<br />

Warum, um alles in der Welt, war ihr Brin in der Verkleidung <strong>des</strong> Kutschers<br />

erschienen und hatte sie geküsst? Sie mochte ihn sehr gern, auch<br />

wenn sie sich manchmal über ihn ärgerte, genau wie über den Kutscher.<br />

Als Brin sich ihr in der Bibliothek anvertraut und so verloren gewirkt hatte,<br />

weil er in den Besitz <strong>des</strong> Titels gelangt war, hatte sie den ebenso unerklärlichen<br />

wie brennenden Wunsch empfunden, ihn vor den Widrigkeiten<br />

<strong>des</strong> Lebens zu beschützen.<br />

Brin kehrte kurz vor Mittag nach Ravenhurst zurück. Als er erfuhr,<br />

dass sich sowohl Sarah als auch Verity im Haus aufhielten, zog er sich<br />

um und begab sich zu dem kleinen Salon, in dem er, wie ihm der Butler<br />

versichert hatte, die Damen finden würde. Es gelang ihm, seine Enttäuschung<br />

zu verbergen, als er entdeckte, dass lediglich Sarah anwesend<br />

war.<br />

Nachdem sie eine Weile über Belanglosigkeiten geplaudert hatten, fragte<br />

Sarah unvermittelt: „Ist dir eigentlich klar, dass Verity viel Zeit bei deinem<br />

Großvater verbracht hat, als du in der Armee gedient hast?“<br />

„Hat sie dir das erzählt?“<br />

„Nicht direkt, nein. Sie erwähnte lediglich, dass sie für ihn die Korrespondenz<br />

erledigt hat, während du dich hier von deinen Verwundungen<br />

erholt hast.“<br />

Er wirkte nicht im Min<strong>des</strong>ten überrascht; seine Lippen umspielte ein<br />

zärtliches Lächeln. „Ich weiß, dass sie ihn sehr gern hatte, ja bewunderte.<br />

Aber erst als ich kürzlich in Yorkshire war und einen Abend mit meinem<br />

Geschäftspartner Jonas Penn verbrachte, erfuhr ich, dass es Verity und<br />

nicht Angela war, die dem alten Mann so viel Zeit gewidmet hat.“<br />

Ein blauer Schemen vor dem Fenster erregte ihre Aufmerksamkeit. Bei<br />

genauerem Hinsehen erkannte sie Verity, die durch den Garten schlenderte.<br />

Sarah sprang auf. „Gütiger Himmel, Marcus ist wieder da“, rief sie besorgt.<br />

Sie hoffte inständig, dass ihr mitunter wenig diplomatischer Gatte<br />

die Fremde, die auf seinem Grund und Boden herumspazierte, nicht<br />

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