Spion des Herzens
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Spion des Herzens
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„Da habe ich mich selbst matt gesetzt, nicht wahr, Miss Harcourt? Bitte<br />
beweisen Sie mir, dass Sie mir nichts nachtragen, indem Sie beim Tanz<br />
vor dem Supper meine Partnerin sind und mir erlauben, Sie danach zu<br />
Tisch zu begleiten.“<br />
Es kam ihr keinen Augenblick in den Sinn, ihn abzuweisen, obwohl sie<br />
dadurch die goldene Regel brach, an einem Abend nur einmal mit dem<br />
gleichen Gentleman zu tanzen. Sie fand, dass ihre langjährige Bekanntschaft<br />
ein Abweichen von diesem Grundsatz rechtfertigte.<br />
Je länger sie sich in seiner Gesellschaft aufhielt, <strong>des</strong>to wahrscheinlicher<br />
war es, dass sie etwas Wichtiges herausfinden würde --- vorausgesetzt<br />
es gab etwas Wichtiges herauszufinden.<br />
Während der folgenden Wochen verstrich kaum ein Tag, an dem Verity<br />
nicht zusammen mit Major Carter gesehen wurde, entweder abends in<br />
seinen Armen auf der Tanzfläche oder am Tag an seiner Seite in seinem<br />
Curricle. Natürlich konnte nicht ausbleiben, dass der ton der plötzlichen<br />
Vorliebe <strong>des</strong> Majors für Miss Harcourt eine eigene Deutung verlieh.<br />
Es schien ganz so, als würde der elegante Major eine vierte junge Dame<br />
als mögliche Kandidatin für die zukünftige Viscountess Dartwood in Betracht<br />
ziehen. Und sie passten gut zusammen, das hübsche, schlanke<br />
Mädchen mit den rabenschwarzen Haaren und der breitschultrige<br />
Gentleman mit den rotbraunen Locken.<br />
Man hätte schon blind und taub sein müssen, um nicht zu wissen,<br />
was die Leute dachten. Er versäumte nie, sie zum Tanz aufzufordern,<br />
wenn sie am Abend den gleichen Ball besuchten. Andererseits konnte<br />
Verity ehrlicherweise nicht behaupten, dass er sie direkt bevorzugte.<br />
Denn sobald eine der drei anderen Ladys zugegen war, denen er seit seiner<br />
Ankunft in London den Hof gemacht hatte, tanzte er ebenfalls mit der<br />
betreffenden jungen Dame.<br />
Zuerst hatte sich Verity über die Aufmerksamkeit amüsiert, die sie auf<br />
sich lenkten, wenn sie zusammen waren. Doch als die Tage verstrichen,<br />
wurde sie immer unzufriedener, bis sie schließlich von Schuldgefühlen<br />
geplagt wurde. Sie versuchte, sich einzureden, dass sie von den nobelsten<br />
Absichten beseelt, seine Gesellschaft suchte --- zum Wohle ihres Heimatlan<strong>des</strong><br />
und vielleicht zu Brinleys Bestem, doch dadurch beruhigte sich ihr<br />
Gewissen nicht. Je öfter sie ihn sah, <strong>des</strong>to mehr fühlte sie sich zu ihm<br />
hingezogen, und sie war sicher, dass es ihm ebenso ging. War es aber fair,<br />
ihn zu ermutigen und somit zu riskieren, dass seine Gefühle zu ihr tiefer<br />
wurden? Nein, es war herzlos und ungerecht. Außerdem war das ihrer<br />
nicht würdig.<br />
Als Verity eine Woche nach dem Ball bei den Gillinghams in das<br />
Frühstückzimmer kam, saß Lady Billington bereits am Tisch.<br />
„Du ahnst nicht, was ich heute erhalten habe“, rief sie strahlend. „Einen<br />
Brief von Sarah Ravenhurst. Sie lädt uns für ein paar Tage auf ihren<br />
Landsitz ein. Hier, ließ selbst.“<br />
Nachdem sie die paar Zeilen überflogen hatte, runzelte Verity die Stirn.<br />
„Ich wusste gar nicht, dass du mit den Ravenhursts so gut bekannt bist,<br />
Tante Clara.“<br />
„Das bin ich gar nicht, Liebes. Natürlich kenne ich Marcus Ravenhurst.<br />
Er ist ein sehr ernster und zurückhaltender Mann. Seine charmante,<br />
junge Frau habe ich im vergangenen Jahr getroffen, als sie für ein paar<br />
Wochen in London waren. Aber sehr gut kenne ich sie alle beide nicht.“<br />
„Und warum wurden wir dann nach Ravenhurst eingeladen?“<br />
Ihrer Tante war der Grund völlig klar. Lady Ravenhurst hatte die Einladung<br />
auf Bitte ihres guten Freun<strong>des</strong> Brinley Carter ausgesprochen. Verity<br />
hatte nicht den leisesten Versuch unternommen, den Major auf Distanz<br />
zu halten, wann immer er ihre Nähe gesucht hatte. Insgeheim war<br />
Lady Billington entzückt über die Art, wie sich die Dinge zwischen den<br />
beiden entwickelt hatte.<br />
Der Major, ein wahrer Gentleman, hatte seine Aufmerksamkeiten nicht<br />
übertrieben. Doch für jeden Menschen, der auch nur einen Funken Intelligenz<br />
besaß, war es offensichtlich, dass die beiden gern zusammen waren<br />
und gut zueinander passten. Es war auch unverkennbar, dass Verity ihre<br />
kindischen Abneigungen gegen ihn abgelegt hatte. Nicht ganz so klar war<br />
in<strong>des</strong>, ob sie tiefere Gefühle für ihn hegte.<br />
„Dem Brief nach zu schließen, hat Sarah Ravenhurst mehrere Personen<br />
eingeladen“, meinte Lady Billington. „Es würde mich nicht wundern,<br />
wenn du auf Brinleys Wunsch hin auf die Gästeliste gesetzt worden bist.<br />
Allem Anschein nach habt ihr beide euch ja angefreundet. Und was mich<br />
betrifft“, fuhr sie fort, „so betrachte ich die Einladung als große Ehre. Außerdem<br />
kann ich nicht leugnen, dass ich das Haus sehr gern sehen würde.<br />
Es soll recht ungewöhnlich sein. Aber wir müssen uns nicht sofort<br />
entscheiden, ob wir die Einladung annehmen. Denken wir ein oder zwei<br />
Tage darüber nach.“<br />
Verity ließ sich nicht einen Moment täuschen. Ihre Tante hatte bereits<br />
ihre Entscheidung getroffen, aber sie selbst auch. Ein Besuch auf Ravenhurst<br />
kam überhaupt nicht in Frage. Es wäre zu grausam gewesen. Brinley<br />
in dem Glauben zu bestärken, dass ihre Gefühle im Spiel waren. Sie<br />
hatte sich ihm gegenüber sehr unfair verhalten, auch wenn das mit den<br />
besten Absichten geschehen war. Wie sollte sie die Dinge in Ordnung<br />
bringen? Und, was noch wichtiger war, wie konnte sie Sarah Ravenhursts<br />
Einladung ablehnen, ohne das Misstrauen ihrer Tante zu erregen?<br />
Lady Billington riss sie aus ihren düsteren Betrachtungen, indem sie<br />
über die Soiree plauderte, die sie am Abend besuchen wollten. Verity hörte<br />
zwar zu, ging jedoch sofort nach dem Frühstück nach oben in ihr Zimmer,<br />
wo sie Straßenkleidung anzog. Frische Luft und Zeit für sich selbst<br />
waren jetzt das, was sie nötig brauchte.<br />
Meg aus dem Weg zu gehen, war nicht schwer. Sie betrat nie das Zim-<br />
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