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Vorwort<br />

Die ersten Fernsehbilder eines Sportereignisses, an die ich mich erinnern kann,<br />

waren Einblendungen von siegreichen Sportlerinnen und Sportlern in ein großes<br />

Publikum. Diese Effekte der Bildregie bei den Wettkämpfen in der Leichtathletik<br />

bei den Olympischen Spielen von Montreal 1976 begleiten mich bis heute.<br />

Als Kind konnte ich nicht verstehen, wie es möglich war, einen Sportler, der gerade<br />

einen Wettkampf gewonnen hatte, schon inmitten eines großen Publikums zu<br />

zeigen. Während ich mir diese technischen Spielereien bald erklären konnte, blieb<br />

ich vom Wunsch beseelt, die Handlungsmechanismen der Olympischen Bewegung<br />

zu ergründen. Die vorliegende Studie beschäftigt sich mit der Geschichte Israels, vor<br />

der Staatsgründung 1948 und danach, und mit seinem Verhältnis zur bedeutendsten<br />

Sportbewegung der Welt. Es war bisher kein besonders nahes und herzliches Verhältnis,<br />

aber es veranschaulicht die große Bedeutung des Sports für die israelische<br />

Populärkultur, die sich in dieser Beziehung nicht von der anderer Staaten und Völker<br />

unterscheidet.<br />

Das Verlangen, diese Zusammenhänge besser zu verstehen, Sachverhalte zu ergründen<br />

und aufzudecken, Einzelinformationen zu einem Ganzen zusammenzufügen,<br />

sowie nicht zuletzt auch die Liebe zum Sport, haben mich dazu veranlasst, diese<br />

Arbeit in Angriff zu nehmen. Ihre Entstehung verdanke ich auch meiner Frau Tali,<br />

die mich nach Deutschland begleitet hat, um dort gemeinsam einen Neuanfang zu<br />

wagen.<br />

Ich möchte mich bei zwei Lehrern bedanken, die mir geholfen haben, das unmöglich<br />

Erscheinende in die Tat umzusetzen: Prof. Dr. Manfred Lämmer von der<br />

Deutschen Sporthochschule Köln und Prof. Dr. Moshe Zimmermann von der Hebräischen<br />

Universität Jerusalem. Beide standen mir nicht nur mit Rat, Anregungen und<br />

konstruktiver Kritik zur Seite und haben sämtliche Schwierigkeiten und Fortschritte<br />

dieses Unternehmens begleitet, sondern waren auch bei der Beschaffung finanzieller<br />

Mittel behilflich, ohne die ich das Projekt nicht hätte realisieren können. In diesem<br />

Zusammenhang bedanke ich mich auch bei der Willi-Daume-Stiftung der Deutschen<br />

Olympischen Akademie und beim Richard-Koebner-Institut für Deutsche Geschichte<br />

an der Hebräischen Universität Jerusalem.<br />

Die Materialien zu dieser Studie stammen größtenteils aus dem Archiv des Internationalen<br />

Olympischen Komitees in Lausanne. Den Verantwortlichen dort gebührt<br />

mein Dank dafür, dass mir die Ehre zuteil wurde, zu den ersten zu gehören, die<br />

ein IOC-Forschungsstipendium erhielten. Ich danke auch dem israelischen Mitglied<br />

des IOC, Dr. h.c. Alex Gilady, und Prof. Walther Tröger, die mich für dieses Stipendium<br />

empfohlen haben.<br />

Bedanken möchte ich mich auch bei Amos Schocken, dem Verleger der israelischen<br />

Tageszeitung Haaretz, der die Entscheidung der Redaktion mittrug, meine<br />

Dienste als Korrespondent in Deutschland während meines dortigen Studienaufenthalts<br />

in Anspruch zu nehmen, sowie Erik Eggers, Heike Kuhn, Dr. Evelyn Mertin,<br />

Dr. Karl Lennartz, Frau Margot Brabender und Herrn Werner Sonnenschein von der<br />

9


Deutschen Sporthochschule Köln für ihre herzliche Aufnahme. Nicht zuletzt sei<br />

auch Patricia Eckert und Ruth Beck vom Olympischen Museum in Lausanne sowie<br />

Roni Dror, dem Archivar der Makkabi-Weltunion gedankt, die weder Mühe noch<br />

Zeit scheuten, mir bei meiner Arbeit zu helfen.<br />

Das vorliegende Werk erscheint mit Unterstützung der Gesellschaft der Freunde<br />

und Förderer der Deutschen Sporthochschule Köln, der Deutschen Sportstiftung und<br />

der Deutschen Olympischen Akademie.<br />

Kfar Sava/Israel, im September 2012<br />

Amichai Alperovich<br />

10


Einführung<br />

Die Olympische Bewegung wurde im Juni 1894 auf einem Kongress an der Universität<br />

Sorbonne in Paris gegründet 1 und entwickelte sich im Laufe der Jahre zu einer<br />

der größten und bedeutendsten Bewegungen der Welt. Ausdruck ihrer großen<br />

Bedeutung sind nicht nur die alle vier Jahre stattfindenden Olympischen Spiele, sondern<br />

auch das Bestreben von Staaten und Territorien, dieser Bewegung anzugehören,<br />

die für mehr als nur für Sport und Körperertüchtigung steht. 2 Ihr Gründer, Baron<br />

Pierre de Coubertin, sagte ihr eine Zukunft als „Lebensphilosophie des 20. Jahrhunderts“<br />

3 voraus, wobei er damit eher ihren weltweiten Einfluss als kosmopolitische<br />

Bewegung meinte als eine Glaubensquelle. 4 Die Realität hat diese Vision bei<br />

weitem übertroffen: Heute zählt die Olympische Familie 205 Staaten und Territorien.<br />

Während die meisten Länder erst nach dem Zweiten Weltkrieg zur Olympischen<br />

Bewegung stießen, geht die äußerst wechselvolle Geschichte der Beziehungen zwischen<br />

der internationalen Repräsentanz des zionistischen Sports und der Olympischen<br />

Bewegung viel weiter zurück. Die vorliegende Arbeit versucht zu ergründen,<br />

weshalb sich das Verhältnis zwischen der Jüdischen Nationalbewegung und der<br />

Olympischen Bewegung so lange Zeit schwierig gestaltete und welche Hindernisse<br />

einer normalen Entwicklung im Wege standen.<br />

Die Beziehungen zwischen der Olympischen Bewegung und dem zionistischen<br />

Sport waren von den Anfängen um 1900 bis in das letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts<br />

keineswegs so, wie man dies aufgrund des internationalen Charakters der<br />

Olympischen Bewegung hätte erwarten können. Letztere hat sich nämlich häufig den<br />

Annäherungsbemühungen des zionistischen Sports zu entziehen versucht und die<br />

Beziehungen auch nach der Anerkennung der Sportorganisationen von Palästina<br />

bzw. später des Staates Israel noch vielfach weiter erschwert.<br />

Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass sich die Olympische Bewegung<br />

im Laufe der Jahre zum Spiegelbild internationaler politischer Probleme entwickelte<br />

5 und dass die Situation der jüdischen Gemeinschaft im britischen Mandatsgebiet<br />

--------------------------------------------<br />

1 Vgl. dazu N. MÜLLER, One Hundred Years of Olympic Congresses 1894-1994, Lausanne 1994, S.<br />

15, 29-39.<br />

2 P. DE COUBERTIN, Olympism. Selected Writings, Lausanne 2000; C. Diem, Der Olympische Gedanke.<br />

Reden und Aufsätze, Schorndorf 1967.<br />

3 A. GUTTMANN, The Games Must Go On. Avery Brundage and the Olympic Movement, New York<br />

1984, S. X; D. R. MCFALL, Baron Pierre de Coubertin’s Intent of Internationalism in the Modern Olympic<br />

Games, Master Thesis, Springfield College 1980, S. 41.<br />

4 Zum Verhältnis von Sport und Religion vgl. S. J. HOFFMAN (Hrsg.), Sport und Religion, Champaign<br />

1992; J. J. COAKLEY, Sport in Society. Issues & Controversies, 6. Aufl., Boston u. a. 1998, S. 475-500.<br />

5 Die Olympische Bewegung war immer wieder politischen Konflikten ausgesetzt, die entweder bei<br />

den Spielen selbst zum Ausdruck kamen oder sie schon im Vorfeld beeinträchtigten, etwa durch Ausschlüsse<br />

oder Boykotte. Dieser Einfluss wurde in der Forschung eingehend behandelt. Siehe zum Beispiel<br />

C. R. HILL, Olympic Politics. Athens to Atlanta 1896-1996, 2. Aufl., Manchester/New York 1996; J. M.<br />

HOBERMAN, Sport and Political Ideology, Austin 1994; A. HÖFER, Der Olympische Friede. Anspruch<br />

und Wirklichkeit einer Idee, Sankt Augustin 1994; D. B. KANIN, A Political History of the Olympic<br />

Games, Boulder 1981; J. RIORDAN/A. KRÜGER (Hrsg.), The International Politics of Sport in the 20th<br />

Century, London/New York 1999; J. M. LEIPER, „Political Problems in the Olympic Games”, in: J.<br />

11


Palästina und später im Staat Israel dieses Verhältnis sehr stark beeinflusste. Die<br />

Olympische Bewegung neigte viele Jahre dem Block der arabischen Länder zu – auf<br />

Kosten des israelischen Sports und seines Auftretens auf internationaler Ebene.<br />

Doch dieses problematische Verhältnis ist nicht allein der Olympischen Bewegung<br />

zuzuschreiben. Wie so oft, dürften beide Seiten dazu beigetragen haben. Einige<br />

Krisen wurden durch den zionistischen Sport, seine Institutionen und sein soziokulturelles<br />

und politisches Umfeld ausgelöst. Auch interne Machtkämpfe im zionistischen<br />

Sport, besonders nach der Gründung des Staates Israel, sowie der Umstand,<br />

dass die politisch Verantwortlichen dem Sport lange Zeit nur geringe Aufmerksamkeit<br />

schenkten, trugen zu der konflikthaften Entwicklung bei.<br />

12<br />

Zur Betrachtungsweise<br />

Menschen haben zwar seit den frühesten Anfängen Leibesübungen und Wettkämpfe<br />

betrieben, doch die Entwicklung des modernen Sports im späten 19. und<br />

frühen 20. Jahrhundert im Rahmen der Herausbildung der Industriegesellschaft war<br />

ein Novum, das durch soziale Umwälzungen möglich wurde und sich über nationale<br />

Grenzen hinaus entfaltete. 6 Der bekannte Nationalismusforscher Benedikt Anderson<br />

definiert die Kultur als Baustein der Nationenbildung und den Sport als integralen<br />

Bestandteil der Kultur. 7 Der führende Sporthistoriker John Mangan sieht den Sport<br />

wiederum als moderne soziale Erscheinung und als Spiegelbild von Nationen, Männern,<br />

Frauen und Gesellschaftsklassen. 8 Gardiner und Wenborn legen dar, dass uns<br />

der Sport einiges über die Welt lehre. „[…] Er beeinflusse unsere Meinung über<br />

Menschen, die für Nationen, Gesellschaften, Gemeinschaften und Individuen stünden<br />

und vermittle uns Perspektiven über Politik, Religion, Krieg und Kultur.“ 9<br />

Der Sport ist eine moderne Erscheinung und seine Erforschung dementsprechend<br />

jung. Beide gehen auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück. Seither<br />

hat sich aber die sporthistorische Forschung nur langsam entwickelt: Sie bediente<br />

sich jahrzehntelang derselben Methoden, d. h. sie beschränkte sich weitgehend auf<br />

das Sammeln von Daten und Fakten. 10 Dieser Ansatz charakterisierte die Disziplin<br />

--------------------------------------------<br />

SEGRAVE/D. CHU (Hrsg.), Olympism, Champaign 1981, S. 106-117; J. MACALOON, Politics and the<br />

Olympics: Some New Dimensions, Barcelona 1995; H. J. WINKLER, Sport und politische Bildung. Modellfall<br />

Olympia, Opladen 1972.<br />

6 RIORDAN/KRÜGER, The International Politics, introduction.<br />

7 B. ANDERSON, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt am<br />

Main 1988.<br />

8 J. A. MANGAN (Hrsg.), Sport in Europe. Politics, Class, Gender, London 1999, prologue. Vgl. auch<br />

J. A. MANGAN (Hrsg.), Making European Masculinities. Sport, Europe, Gender, London 2000 und Europe,<br />

Sport, World. Shaping Global Societies, London 2001.<br />

9 J. GARDINER/N. WENBORN, The History Today. Companion to British History, London 1995, prologue,<br />

p. I.<br />

10 M. G. PHILIPS, „Deconstructing Sport History: The Postmodern Challenge“, in: Journal of Sport<br />

History 28 (1998)1, S. 330-331.


is in die späten 1970er Jahre, 11 bevor sich, unter anderem durch den Einfluss der<br />

Sozialforschung, ein Methodenwandel abzeichnete. 12<br />

Bevor wir uns mit den Merkmalen dieses Wandels befassen, sei erwähnt, dass<br />

dieser neue Weg noch bei weitem nicht von allen Sporthistorikern beschritten wird<br />

und dass so mancher noch an einer Methode festhält, die, so D. Booth, nicht geeignet<br />

ist, einen ernsthaften wissenschaftlichen Eindruck zu vermitteln. 13 In seiner Kritik<br />

legt Booth weiter dar, die Sportgeschichte habe von den neuen Forschungsstrukturen<br />

und -gebieten profitiert und ihre Vertreter seien deshalb gefordert, die neuen<br />

Methoden anzuwenden. 14<br />

Doch worum geht es eigentlich bei diesem neuen Ansatz? Bei den Arbeiten, die<br />

mit ihm verfasst werden, verlagert sich der Schwerpunkt von der Beschäftigung mit<br />

dem Sport an sich (Entwicklung einzelner Sportarten, Wettbewerbe und Resultate)<br />

auf die Untersuchung des Einflusses des Sports auf diverse soziale Ebenen (Nationen,<br />

soziale Schichten, Frauen, Minderheiten und ethnische Gruppen). 15 Diese Tendenz<br />

hat in den letzten Jahren verstärkt zu einer Erforschung der Beziehungen zwischen<br />

dem Sport und den erwähnten Bereichen geführt. Besondere Erwähnung verdienen<br />

die Arbeiten über Sport und Nationenbildung, 16 Sport und Gesellschaftsklassen<br />

und Ideologien, 17 zur Geschlechterproblematik sowie zur Darstellung des<br />

menschlichen Körpers im Sport. 18<br />

In jüngster Vergangenheit entwickelte sich im Bereich der Sportgeschichte noch<br />

eine weitere, den chronologisch-deskriptiven Ansatz in Frage stellende Methode, die<br />

durch rhythmische Sprache und ultramoderne Darstellungsmethoden gekennzeichnet<br />

ist. Eine führende Vertreterin ist Synthia Sydnor 19, die von Walter Benjamin beeinflusst<br />

scheint und deren Ansatz sich an dessen Ausspruch „Ich habe nichts zu sagen,<br />

nur zu zeigen“ orientiert. Sydnors Beitrag über die Entwicklung des Kunstschwim-<br />

--------------------------------------------<br />

11 N. L. STRUNA, „Social History and Sport“, in: J. COAKLEY/E. DUNNING (Hrsg.), Handbook of<br />

Sport Studies, London 2000, S. 188.<br />

12 R. HOLT, „Sport and a Post-Modern Future“, in: L. ALLISON (Hrsg.), Taking Sport Seriously, Aachen<br />

1998, S. 11-12.<br />

13 D. BOOTH, „Sports History: What Can Be Done?“, in: Sport, Education and Society 2 (1997), p.<br />

191-204.<br />

14 D. BOOTH, „Theory: Distorting or Enriching Sport History?“, in: Sport History Review 34(2003), p.<br />

13-14.<br />

15 STRUNA, „Social History and Sport“, S. 192-196; J. HILL, „British Sports History: A Post-Modern<br />

Future?“, in: Journal of Sport History 23(1996), S. 1-19.<br />

16 G. JARVIE/G. WALKER (Hrsg.), Scottish Sport in the Making of the Nation, Leicester 1994; T.<br />

MASON (Hrsg.), Sport in Britain: A Social History, Cambridge 1989; F. J. G. VAN DER MERVE, „Afrikaner<br />

Nationalism in Sport“, in: Canadian Journal of the History of Sport 22(1991)2, S. 24-46.<br />

17 R. HOLT (Hrsg.), Sport and the Working Class in Modern Britain, Manchester 1990; N. L. STRUNA,<br />

People of Prowess: Sport, Leisure and Labor in Early Anglo-America, Urbana 1996; J. RIORDAN, Sport,<br />

Politics and Communism, Manchester 1991; J. M. HOBERMAN, Sport and Political Ideology; A. KRÜGER/<br />

J. RIORDAN (Hrsg.), The Story of Worker Sport, Champaign 1996.<br />

18 A. GUTTMANN, The Erotic in Sports, New York 1996; A. GUTTMANN, Women's Sports: A History,<br />

New York/Oxford 1991; J. A. HARGREAVES, Sporting Females: Critical Issues in the History and Sociology<br />

of Women's Sport, London 1994; P. VERTINSKY, „Gender Relations, Women's History and Sport<br />

History: A Decade of Changing Enquiry 1983-1993“, in: Journal of Sport History 21(1994)1, S. 1-58.<br />

19 Vgl. S. SYDNOR, „A History of Synchronized Swimming“, in: Journal of Sport History 25(1998)2,<br />

S. 252-267.<br />

13


mens, eine postmoderne, ausschließlich von Frauen betriebene Sportart, besteht, wie<br />

sie selbst sagt, nicht nur aus geschriebenem Text, sondern auch aus einer Adaption<br />

von Stoffen von Samuel Beckett und Bertold Brecht. 20 Die neue Methode der Geschichtsforschung<br />

ist eine „radikale Form von Postmodernismus” 21, die jedoch nur<br />

von einer Minderheit als Methode der Zukunft betrachtet wird. Am meisten verbreitet<br />

ist jener postmoderne Ansatz, der die Sportgeschichtsforschung in den zwei letzten<br />

Jahrzehnten dominierte, nämlich ein Mittelweg zwischen der „klassischen“ Methode<br />

und dem radikalen postmodernen Ansatz. 22 Philips, Booth und Pope 23 vertreten<br />

die Auffassung, dass sich Sporthistoriker nicht auf ihr Spezialthema beschränken,<br />

sondern ständig neue Methoden der Quellensuche und neue Fragestellungen<br />

entwickeln sollten, um ihre Texte zu bereichern und ein breiteres Publikum anzusprechen.<br />

Die vorliegende Arbeit folgt der Betrachtungsweise von Booth und Pope,<br />

die sich am besten eignet, die Entwicklung des zionistischen Sports auf internationaler<br />

Ebene zu analysieren und zu verstehen.<br />

14<br />

Zum Stand der Forschung<br />

Die Frage nach dem Standort des jüdischen Sports wirft zahlreiche Fragen auf,<br />

vor allem zur Definition. George Eisen, führend auf diesem Forschungsgebiet, behauptet<br />

zu Recht, dass es keine Definition für den jüdischen Sport und für die Unterscheidung<br />

zwischen jüdischen und anderen Sportlern gibt. 24 Dagegen fällt es nicht<br />

schwer, die Anfänge des zionistischen Sports zeitlich einzuordnen und seine Wege<br />

zu verfolgen. Diese Frage wurde bislang vor allem am Beispiel der Entstehung der<br />

zionistischen Sportvereine in Deutschland 1900 25 und der Anfänge des Sports in Palästina<br />

sowie dessen politisch geprägter Aufspaltung untersucht. 26 Die schmale For-<br />

--------------------------------------------<br />

20 SYDNOR, „A History of Synchronized Swimming”, S. 260.<br />

21 C. M. PARRAT, „About Turns: Reflecting on Sport History in the 1990’s“, in: Sport History Review<br />

29(1998), S. 4-17.<br />

22 PHILIPS, „Deconstructing Sport History”, S. 337-338.<br />

23 S. W. POPE, „Sport History: Into the 21st Century”, in: Journal of Sport History 25(1998)2, S. 1-10.<br />

24 G. EISEN, „Jews and Sport: A Century of Retrospect”, S. 226-228. Zahlreiche Arbeiten beschäftigen<br />

sich mit dem Verhältnis der jüdischen Religion zu Leibesübungen und Sport, doch aus keiner lassen<br />

sich typische Elemente des jüdischen Sports gewinnen. Vgl. Y. SOREK, Körperkultur in Eretz-Israel im<br />

Zeitalter der Mischna und des Talmud (hebr.), Tel Aviv 1977; Y. SOREK, Körperkultur und Sport im Judentum<br />

des Mittelalters und der Renaissance (hebr.), Netanya 1980; A. AREND, „Die Körperkultur im<br />

Schrifttum der Rabbanim in den letzten Generationen" (hebr.), in: CH. KAUFMANN/CH. CHARIF (Hrsg.),<br />

Körperkultur und Sport in Israel im Zwanzigsten Jahrhundert (hebr.), Jerusalem 2000, S. 25-50.<br />

25 M. LÄMMER (Hrsg.), Die jüdische Turn- und Sportbewegung in Deutschland 1898-1938. Beiträge<br />

zu einer Tagung an der Führungs- und Verwaltungsakademie Berlin des Deutschen Sportbundes, 7.-10.<br />

November 1988, St. Augustin 1989.<br />

26 Die Entwicklung des Sports in Palästina (innerjüdisch: Eretz-Israel) wurde bislang nur spärlich dokumentiert.<br />

Siehe U. SIMRI, Die Sport- und Turnvereine in Palästina vor dem Ersten Weltkrieg (hebr.),<br />

Wingate Institute, Netanya 1968; ders., Die Leibeserziehung und der Sport in Palästina in den Jahren<br />

1917-1927 (hebr.), Wingate Institute, Netanya 1971; ders., Die Feste von Rechovot – die ersten organisierten<br />

Sportwettkämpfe in Palästina, Wingate Institute, Netanya 1967. Die Veröffentlichungen über die<br />

Makkabbi-Bewegung stammen zumeist von Mitgliedern der Bewegung selbst und sind nicht als wissenschaftliche<br />

Abhandlungen zu betrachten. Siehe z. B. Y. YEKUTIELI, Mein Weg zur Makkabiah (hebr.),<br />

Ness Ziona 1969; CH. WEIN, Die Makkabiaden in Palästina (hebr.), Tel Aviv 1980; S. MEIRI, Nachum<br />

der Makkabäer. Stationen im Leben von Nachum Chet (hebr.), Haifa [o. J.]. Besonders erwähnenswert ist


schungsbasis einerseits und der Umstand, dass sich die vorhandene Literatur über<br />

die Entwicklung des internationalen Sports und der Olympischen Bewegung kaum<br />

mit Israel befasst, hinterlässt eine Lücke, die durch die vorliegende Arbeit geschlossen<br />

werden soll. Es gilt, das besondere Verhältnis zwischen der Olympischen Bewegung<br />

und dem zionistischen Sport nachzuzeichnen.<br />

Zur Formulierung der Thesen, die dieses komplizierte Verhältnis beschreiben<br />

sollen, wurden Hunderte von Publikationen konsultiert. Daraus konnte eine Fülle<br />

von Informationen gewonnen werden, doch dem Schrifttum, das sich mit der Entwicklung<br />

des israelischen Sports befasst, mangelt es zum Teil an Genauigkeit. Es<br />

genügt oft weder den Kriterien der Wissenschaftlichkeit, noch beruhen die darin geäußerten<br />

Thesen auf Informationen aus erster Hand. Daher war eine intensive Quellensuche<br />

in folgenden europäischen und israelischen Archiven notwendig: Politisches<br />

Archiv des Auswärtigen Amtes (Bonn), Bundesarchiv (Berlin), Historisches<br />

Archiv des IOC, Olympisches Museum (Lausanne), Israelisches Staatsarchiv (Jerusalem),<br />

Zionistisches Zentralarchiv (Jerusalem), Makkabi-Archiv (Ramat Gan, Israel)<br />

und Zvi Nishri-Archiv (Wingate-Institut bei Netanya, Israel).<br />

Die Arbeit wirft auch zahlreiche Fragen zum Wesen der Olympischen Bewegung<br />

auf, insbesondere mit Blick auf die Entstehung und Entwicklung der jüdischen<br />

Nationalbewegung. Besonders bedeutsam in diesem Zusammenhang ist die Frage<br />

der Wechselbeziehung von Nationalität und Internationalität. Die vorliegende Arbeit<br />

befasst sich mit dieser Problematik aus der Perspektive beider Bewegungen. Dabei<br />

gilt es zunächst auch zu prüfen, welches Organ für die Pflege dieser Beziehungen<br />

zuständig war, d. h. was sich hinter der Bezeichnung „Vertretung des zionistischen<br />

Sports“ jeweils verbirgt. Dieser Aspekt birgt einen Konflikt, der uns bei der Diskussion<br />

über weite Strecken begleiten wird, da er die Frage berührt, wer oder was eigentlich<br />

mit „zionistischem Sport“ gemeint ist. Die Antworten darauf bilden sodann<br />

die Grundlage einer weiterführenden Diskussion über den Charakter der sportlichen<br />

Betätigung („Turnen“ oder „Sport“) in verschiedenen Zeitabschnitten sowie über<br />

den Standort des zionistischen Sports.<br />

Die Olympische Bewegung hat die gesamte Entwicklung und Richtung des internationalen<br />

Sports seit Ende des 19. Jahrhunderts entscheidend mitprägt. Ging es<br />

ihr hauptsächlich um den reglementierten Wettkampfsport 27 oder war sie auch als<br />

Institution zur Förderung des Massensports ohne Wettbewerbs- und Leistungsorientierung<br />

gedacht? Diese Frage war sehr zentral für den Sport des frühen 20. Jahrhunderts,<br />

und im zionistischen Sport und seinen Fraktionen äußerte sie sich bei den inneren<br />

Machtkämpfen und ideologischen Auseinandersetzungen.<br />

--------------------------------------------<br />

die Arbeit über die Makkabi-Bewegung in der Türkei: D. ZIFFER, Die zionistische Fahne über dem Bosporus.<br />

Der Makkabi in Konstantinopel zwischen Zionismus und Osmanentum 1895-1923 (hebr.), Jerusalem<br />

2001. Zum Hapoel vgl. E. GIL, Die Geschichte des Hapoel (hebr.), Tel Aviv 1977; ferner CH.<br />

KAUFMANN, „Hapoel“ in der Mandatszeit (1923-1936), Dissertation, Universität Haifa, Haifa 1993.<br />

27 J. HUIZINGA, Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Reinbek 1987, S. 84-94 und 211-<br />

214 ist der Auffassung, vor allem die Gründung der Olympischen Bewegung habe den leistungsbetonten<br />

Wettkampfsport forciert.<br />

15


Des weiteren untersucht diese Arbeit verschiedene Aspekte der Beziehungen<br />

zwischen der Vertretung des zionistischen Sports und der Olympischen Bewegung –<br />

bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. 28 Bislang wurden diese Beziehungen in den wenigen<br />

Fällen auf die Aufnahmebemühungen eines Teils der Vertretung des zionistischen<br />

Sports in Palästina in den frühen 1920er Jahren in die Olympische Bewegung<br />

reduziert. Andere Aspekte wurden jedoch nicht berücksichtigt.<br />

16<br />

Olympische und Zionistische Bewegung – Gemeinsame Geburt<br />

Die Gründung der Olympischen Bewegung und der Zionistischen Bewegung fiel<br />

in die Zeit der Blüte der Nationalbewegungen und internationaler Bewegungen in<br />

der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. 29 Angesichts der Niederlage Frankreichs<br />

gegen Preußen im deutsch-französischen Krieg 1870/71 kam der französische Baron<br />

Pierre de Coubertin auf den Gedanken, dass körperliche Ertüchtigung das französische<br />

Volk physisch und moralisch stärken würde. 30 Der Ursprung der Idee der<br />

Olympischen Bewegung liegt also in starkem Nationalgefühl. Dies war auch bei der<br />

Zionistischen Bewegung der Fall. Der Journalist Theodor Herzl beschloss unter dem<br />

Eindruck der Affäre des der Spionage beschuldigten und öffentlich degradierten jüdischen<br />

Offiziers in der französischen Armee, Alfred Dreyfus, sich für die Errichtung<br />

einer nationalen Heimstätte des jüdischen Volkes einzusetzen. 31 Die beiden Erfahrungen<br />

der Erniedrigung, die Coubertin und Herzl persönlich miterlebten, führten<br />

auf separaten Wegen zur Gründung der Olympischen Bewegung 1894 in Paris und<br />

zur Gründung der Zionistischen Bewegung 1897 in Basel.<br />

Die Parallelen zwischen diesen beiden Bewegungen waren jedoch nicht nur<br />

formaler Art, auch der Zeitpunkt ihrer Entstehung war kein Zufall. Es gab noch eine<br />

ganze Reihe von Ähnlichkeiten:<br />

– Beide Bewegungen verbanden Nationalismus und Internationalismus und stellten<br />

sich damit der größten ideologischen und politischen Herausforderung der<br />

damaligen Zeit.<br />

– Der Geist beider Bewegungen widersprach dem Internationalismus marxistischer<br />

Prägung. Coubertin, Spross einer Adelsfamilie, stützte die Olympische<br />

--------------------------------------------<br />

28 WEIN, Die Makkabiaden in Eretz-Israel, S. 16; Y. GABAI/Y. PAZ, 70 Jahre Israelischer Fußballverband<br />

1928-1998 (hebr.), Tel Aviv 1998, S. 23.<br />

29 J. M. HOBERMAN, „Toward a Theory of Olympic Internationalism“, in: Journal of Sport History<br />

22(1995)1, S. 3. Die Olympische Bewegung gehörte wie die Zionistische Bewegung zu den mehr als 200<br />

internationalen und nationalen Bewegungen, die zwischen 1855 und 1914 gegründet wurden.<br />

30 GUTTMANN, The Games Must Go On, S. 13; vgl. auch MCFALL, Baron Pierre de Coubertin’s Intent,<br />

S. 9. Die gründlichste Arbeit über Coubertins Leben und Werk sowie über seine Gedanken zu diesem<br />

Krieg stammt von J. MACALOON, This Great Symbol: Pierre de Coubertin and the Origins of the<br />

Modern Olympic Games, Chicago 1981.<br />

31 Z. STERNHELL, Bildung einer Nation oder Verbesserung der Gesellschaft? (hebr.), Tel Aviv 1986,<br />

S. 22-23; siehe auch Z. KEDEM, Die Geschichte des Zionismus bis 1914 (hebr.), Jerusalem 1987, S. 86-<br />

87. Die Literatur über die Anfänge und ideologischen Grundlagen des Zionismus ist sehr umfangreich.<br />

Siehe z. B. SH. AVINERI, Die zionistische Idee in all ihren Schattierungen (hebr.), Tel Aviv 1980; Z.<br />

LACQUEUR, Die Geschichte des Zionismus (hebr.), Tel Aviv/Jerusalem 1974; D. VITAL, Die zionistische<br />

Revolution (hebr.), Tel Aviv 1980; zu der Persönlichkeit, die am meisten mit der Gründung der Zionistischen<br />

Bewegung identifiziert wird, siehe A. ELON, Herzl (hebr.), Tel Aviv 1977.


Bewegung anfangs vor allem auf zahlreiche Vertreter des Adels. 32 Er ging davon<br />

aus, dass ihre Mitwirkung der Bewegung kosmopolitischen Charakter verleihen<br />

würde, doch die Bewegung war national begründet. Sie war nichts anderes<br />

als die Umsetzung der „europäischen Idee“, einer Bestrebung bürgerlichkonservativer<br />

Europäer, die einen internationalen Rahmen für ihre Ideologie<br />

suchten. 33 Parallel dazu entwickelte sich auch eine sozialistische Richtung. Ein<br />

Ausdruck davon war die Durchführung von Arbeitersportfesten für beide Geschlechter<br />

und alle Nationen auf gleichberechtigter Basis durch die Sozialistische<br />

Arbeitersportinternationale (SASI). Diese betrachtete die Olympischen<br />

Spiele als Einrichtung des bürgerlichen Klassenfeindes und veranstaltete zwischen<br />

1925 und 1937 eigene Spiele, die sogenannten Arbeiterolympiaden. 34 Die<br />

zionistische Bewegung war ideologisch ähnlich strukturiert wie die vor ihr gegründeten<br />

europäischen Nationalbewegungen und insofern vom Marxismus<br />

weit entfernt, erkannte jedoch keinen Widerspruch zwischen Nationalismus und<br />

Sozialismus. Der Historiker Zeev Sternhell meint, es gebe keine Nationalbewegung,<br />

die sich nicht „ideologische“ Ziele gesteckt, ihre Identität durch kulturelle<br />

und historische Gemeinsamkeiten begründet, Selbstbestimmung durch Befreiungskampf<br />

angestrebt sowie Souveränität und die Gründung eines Nationalstaates<br />

erreicht habe. 35 Die führenden Köpfe der Zionistischen Bewegung, unter ihnen<br />

auch Herzl, kopierten die europäischen Nationalbewegungen: Die Nationalität<br />

steht über der Staatszugehörigkeit, und die einzelnen Ethnien kämpfen für<br />

ihre nationale Unabhängigkeit. Dies war nach Sternhell auch das Wesen der jüdischen<br />

Nationalbewegung. 36<br />

– Beide Bewegungen formierten sich an der Wende zum 20. Jahrhundert, beriefen<br />

sich gleichzeitig aber auch auf die Geschichte, d. h. auf die antike bzw. biblische<br />

Tradition. Coubertin wollte die Spiele der griechischen Antike erneuern,<br />

im vollen Bewusstsein der gescheiterten Versuche im 19. Jahrhundert. 37 Parallel<br />

--------------------------------------------<br />

32 A. KRÜGER, „Neo-Olympismus zwischen Nationalismus und Internationalismus“, in: H. UEBER-<br />

HORST (Hrsg.), Geschichte der Leibesübungen, Band 3/1: Leibesübungen und Sport in Deutschland von<br />

den Anfängen bis zum Ersten Weltkrieg, Berlin 1980, S. 549.<br />

33 HOBERMAN, „Toward a Theory of Olympic Internationalism“, S. 9.<br />

34 HOBERMAN, „Toward a Theory of Olympic Internationalism“, S. 7. Zu den Arbeiterolympiaden<br />

siehe A. KRÜGER/J. RIORDAN (Hrsg.), The Story of Worker Sport, Champaign 1996.<br />

35 STERNHELL, Bildung einer Nation, S. 24-25. Zum sozialistischen Nationalismus im Zionismus siehe<br />

ebenda, S. 120-122, 283-308. Vgl. auch M. AVIZOHAR, Im zerbrochenen Spiegel. Soziale und nationale<br />

Ideale und ihre Reflektion in der Welt der israelischen Arbeiterpartei (hebr.), Tel Aviv 1990.<br />

36 Ebenda, S. 26.<br />

37 Im 19. Jahrhundert gab es mehrere Versuche, die Olympischen Spiele zu erneuern, vor allem in<br />

England und Griechenland. Dazu K. GEORGIADIS, Die ideengeschichtliche Grundlage der Erneuerung<br />

der Olympischen Spiele im 19. Jahrhundert in Griechenland und ihre Umsetzung 1896 in Athen, Kassel<br />

2000; A. KIVROGLOU, Die Olympien im 19. Jahrhundert in Griechenland: Entstehung, Gründung und<br />

wirtschaftspolitische Aspekte bei der Einführung der griechischen Nationalfeste, Diss. Deutsche Sporthochschule<br />

Köln, Köln 2002. Ferner W. DECKER/A. KIVROGLOU, „The First Greek Olympic Games of<br />

Zappas in 1859“, in: R. NAUL, Contemporary Studies in the National Olympic Games Movement, Frankfurt<br />

am Main 1997, S. 9-18; G. GORI, „Olympic Games in 19th Century England with Special Consideration<br />

of the Liverpool Olympics“, in: NAUL, Contemporary Studies, S. 55-71; D. C. YOUNG, „Myths and<br />

Mist Surrounding the Revival of the Olympic Games: The Hidden Story”, in: F. LANDRY/M. LANDRY/M.<br />

YERLES (Hrsg.), Sport…The Third Millenium, Laval 1991, S. 101-115.<br />

17


dazu strebte die Führung der Zionistischen Bewegung die Verwirklichung ihrer<br />

nationalen Bestrebungen in der biblischen Heimat der Juden, in Eretz-Israel<br />

(Palästina) an.<br />

– Die Gründungsmitglieder beider Bewegungen tendierten zum Pazifismus. Coubertin,<br />

der selbst Mitglied mehrerer pazifistischer Organisationen war, 38 und einige<br />

spätere Friedensnobelpreisträger an der Gründung der Olympischen Bewegung<br />

beteiligte, 39 ging es um die Verwirklichung der Utopie einer besseren Welt<br />

über die „Verbesserung“ des einzelnen Menschen. Er handelte in der Überzeugung,<br />

dass die Schranken zwischen Menschen und Kulturen nur durch direkte<br />

Begegnungen überwunden werden konnten. Nach seinen Vorstellungen sollten<br />

diese Begegnungen auf Sportwettkämpfen beruhen und vor allem Jugendliche<br />

einbeziehen. 40 Eisen legt dar, dass das Judentum, dessen Nationalbewegung eine<br />

Heimstätte in Palästina anstrebte, auf ähnlichen Werten basierte:<br />

„Jewish values, similar to those of the international sport movement, have had to<br />

grapple with the idea of an inherent conflict between transcendence and nationalistic<br />

aspirations and national psychologies. […] Judaism promotes a pacifist ideology,<br />

similar to that of the early Olympic leadership.“ 41<br />

Die parallele Entwicklung der beiden Bewegungen beruhte aber nicht nur auf<br />

Ähnlichkeiten, und darin lag die Hauptschwierigkeit im Verhältnis zwischen der<br />

Olympischen Bewegung und dem zionistischen Sport:<br />

– Die Affäre Dreyfus diente dem Zionismus als Katalysator für die Idee einer Nationalbewegung,<br />

die sich der Rückführung des jüdischen Volkes in sein Land<br />

und seine Heimat verschrieb, passte gleichzeitig aber auch in Coubertins nationalistisches<br />

und antidreyfusianisches Weltbild. 42 Zwar etablierte sich die Olympische<br />

Bewegung offiziell als apolitische Bewegung frei von Rassismus und Militarismus43<br />

– in der Tat sah Coubertin den olympischen Gedanken jenseits aller<br />

Ideologien44 – , doch wie sich später zeigen sollte, war sie konservativ-nationalistischem<br />

Gedankengut zugeneigt, wie es auch von judenfeindlichen Regimes<br />

vertreten wurde. 45 Hieraus ergibt sich eine Diskrepanz zwischen den von Cou-<br />

--------------------------------------------<br />

38 Zu den internationalen pazifistischen Organisationen, siehe: S. E. COOPER, Patriotic Pacifism. Waging<br />

War on War in Europe 1815-1914, New York 1991.<br />

39 D. R. QUANZ, „Die Gründung des IOC im Horizont von bürgerlichem Pazifismus und Internationalismus“,<br />

in: G. GEBAUER (Hrsg.), Die Aktualität der Sportphilosophie, Sankt Augustin 1993, S. 191-216.<br />

40 Zu Coubertins Friedenskonzept vgl. MCFALL, Baron Pierre de Coubertin's Intent, S. 41-45. Einen<br />

sehr guten Einblick in die Werte der Olympischen Bewegung bietet J. T. POWELL, Origins and Aspects of<br />

Olympism, Champaign 1994.<br />

41 EISEN, „Jewish History and the Ideology of Modern Sport”, S. 485.<br />

42 MACALOON, This Great Symbol, S. 112.<br />

43 HOBERMAN, „Toward a Theory of Olympic Internationalism”, S. 15.<br />

44 MACALOON, This Great Symbol, S. 6. Coubertin schwebte eine überideologische Bewegung vor<br />

nach dem Vorbild der Richard Wagner-Festspiele. Vgl. P. DE COUBERTIN, Olympische Erinnerungen.<br />

Mit einem Vorwort von Willi Daume. Anmerkungen von Volker Kluge [Aus dem Französischen übersetzt<br />

und mit einem Nachwort versehen von Erhard Höhne], 2. Aufl., Frankfurt a. M./Berlin 1996, S. 65;<br />

HOBERMAN, „Toward a Theory of Olympic Internationalism”, S. 8.<br />

45 Zwischen der Olympischen Bewegung und dem NS-Staat gab es eine enge Zusammenarbeit, vor allem<br />

nach der erneuten Vergabe der Olympischen Winterspiele 1940 nach Garmisch-Partenkirchen.<br />

18


ertin propagierten universalen und antirassistischen Werten und der „Realpolitik“<br />

des IOC, das kontinuierlich, wenn auch nicht unbedingt mit Absicht, judenfeindlichen<br />

und antizionistischen Kräften zuneigte. Zudem ließ sich Coubertins<br />

antisemitisch und konservativ geprägtes Nationalempfinden offensichtlich nicht<br />

vereinbaren mit dem jüdischen Nationalismus und dessen Ausdruck auf der<br />

Ebene des Sports.<br />

Im Zuge der gesellschaftlichen Umwälzungen im Europa des 19. Jahrhunderts<br />

gewann der Sport eine immer größere Bedeutung, zunächst auf nationaler, dann auf<br />

internationaler Ebene. 46 Seine fortschreitende Institutionalisierung und die verstärkte<br />

internationale Zusammenarbeit mit der Friedensbewegung führten schließlich zur<br />

Gründung der Olympischen Bewegung und der Olympischen Spiele.<br />

Von dieser sozialen Neuerung in West- und Mitteleuropa sowie in den USA waren<br />

die Juden nicht ausgenommen. Sie leisteten in ihren jeweiligen Ländern einen<br />

wesentlichen Beitrag zur Entwicklung des Leistungssports. Jüdische Sportler errangen<br />

bereits bei den ersten Olympischen Spielen 1896 in Athen neun Goldmedaillen,<br />

eine Silbermedaille und vier Bronzemedaillen. Diese Erfolge noch vor Gründung<br />

der Zionistischen Bewegung im Jahre 1897 zeigte den Weg der späteren Entwicklung<br />

auf: Jüdische Sportler begannen, die sich auf internationaler Ebene formierende<br />

jüdische Nationalbewegung zu vertreten.<br />

Die Entstehung der Jüdischen Turn- und Sportbewegung<br />

Die Olympische Bewegung war aufgrund ihrer kosmopolitischen Botschaft für<br />

jüdische Sportler von großer Anziehungskraft. Erfolge bei Olympischen Spielen verschafften<br />

ihnen zwar besondere patriotische Verdienste, 47 doch sie unterstrichen<br />

gleichzeitig die Besonderheit und das „Anderssein“: Wen vertraten sie eigentlich als<br />

Juden? Die ungeklärte Frage der nationalen Zugehörigkeit der jüdischen Sportler<br />

und die von der Führung der Zionistischen Bewegung propagierte Vision des – körperbetonten<br />

– „neuen jüdischen Menschen“ sowie die damit verbundene Ideologie<br />

der Selbstverwirklichung durch Landarbeit und Landerschließung im verheißenen<br />

Land bildeten die Grundlage der Entwicklung des zionistischen Sports. Ihre<br />

führenden Vertreter riefen die jüdische Jugend weltweit auf, sich der Körperertüchtigung<br />

zu widmen, um einen „neuen Juden“ zu schaffen. Der von Herzls Weggefährten<br />

Dr. Max Nordau beim 2. Zionistenkongress 1898 in Basel geprägte Begriff<br />

„Muskeljudentum“ gab den Anstoß zur Gründung der ersten zionistisch orientierten<br />

Sportvereine.<br />

Der zionistische Sport, dessen erster Verein den Namen „Bar Kochba“ trug, benannt<br />

nach dem Führer des jüdischen Aufstandes gegen das römische Imperium<br />

(132-135 n. Chr.), breitete sich zuerst im deutschen Sprachraum und später in ganz<br />

Europa und Nordamerika aus. Beim 6. Zionistenkongress 1903 wurde die Jüdische<br />

--------------------------------------------<br />

46 Siehe dazu CH. EISENBERG, „The Rise of Internationalism in Sport”, in: M. H. GEYER/J. PAUL-<br />

MANN (Hrsg.), The Mechanics of Internationalism: Culture, Society and Politics from the 1840s to the<br />

First World War, Oxford/New York 2001, S. 375-403.<br />

47 EISEN, „Jewish History and the Ideology of Modern Sport“, S. 504-505.<br />

19


Turnerschaft gegründet. Gleichzeitig spornte Nordau die für ihre jeweiligen Heimatländer<br />

antretenden jüdischen Sportler zu weiteren Leistungen an, um ihrer Vorbildfunktion<br />

gerecht zu werden. 48<br />

Die Jüdische Turnerschaft zählte im Jahre 1912 in Europa und Palästina ca.<br />

5000 Mitglieder. Dieses rasche Wachstum war auch von einer Ausweitung auf weitere<br />

Sportarten begleitet. 49 Nach einer Unterbrechung durch den Ersten Weltkrieg<br />

wurde beim 12. Zionistenkongress in Karlsbad im August 1921 die Makkabi-<br />

Weltunion gegründet, benannt nach Yehuda Ha-Makkabi, einem weiteren jüdischen<br />

Helden aus der Antike.<br />

Die Gründung dieser Organisation bedeutete den Beginn einer neuen Ära, der<br />

zionistischen Ausrichtung des jüdischen Sports. Nach den Vorstellungen der Führung<br />

des Makkabi im Mandatsgebiet Palästina sollten zionistische Sportler fortan<br />

nicht mehr fremde Staaten vertreten, sondern eine national-jüdischen Mannschaft<br />

bilden. Zu diesem Zweck wurde die Gründung einer zionistischen Sportorganisation<br />

gefordert, deren Sportler bei internationalen Wettkämpfen das britische Mandatsgebiet<br />

Palästina repräsentieren sollten.<br />

Im Frühjahr 1922 formulierten die Verantwortlichen des Makkabi die Ziele des<br />

zionistischen Sports in Palästina. Dazu gehörte auch – nach erfolgter Anerkennung<br />

ihrer Vereinigung durch das Internationale Olympische Komitee – die Teilnahme an<br />

den Olympischen Spielen. Die Schritte, die unternommen wurden, um dieses Vorhaben<br />

zu verwirklichen, werfen weitere Fragen auf: Was bedeutete die Aufnahme des<br />

zionistischen Sports in die Olympische Bewegung aus internationaler Perspektive<br />

und vor allem auch im Hinblick auf die Sportstrukturen in Palästina? Wer lenkte die<br />

zionistischen Sportorganisationen, und welche Ziele verfolgten sie?<br />

Die Olympische Bewegung war zu dieser Zeit eine bürgerliche Bewegung, die<br />

nur Amateursportlern offen stand. Nach der Devise „schneller, höher, stärker“ erhob<br />

sie die sportliche Leistung zum höchsten Wert. Parallel dazu entstand nach dem Ersten<br />

Weltkrieg eine weitere, klassenbetonte Sportbewegung, die Sozialistische Arbeitersportinternationale<br />

(SASI), deren Selbstverständnis sich stark von dem der<br />

Olympischen Bewegung abhob: Sport war Mittel des Klassenkampfes und darüber<br />

hinaus vor allem breitensportlich orientiert.<br />

Die zionistischen Sportorganisationen in Mittel- und Westeuropa neigten in ihrer<br />

sozialen Zusammensetzung eher dem Bürgertum zu. Entsprechend tendierte auch<br />

die Makkabi-Weltunion, die sich mehrheitlich aus Europäern zusammensetzte, zur<br />

Olympischen Bewegung und nicht zur Sozialistischen Arbeitersportinternationale.<br />

Auch die Mitglieder des Makkabi, die im Laufe der Jahre nach Palästina ausgewandert<br />

waren und den Grundstein des dortigen Makkabi-Kreises gelegt hatten, waren<br />

bürgerlicher Herkunft. So spiegelte der Wunsch, mit einer nationalen Delegation an<br />

den Olympischen Spielen teilzunehmen, sowohl die sportliche als auch die politische<br />

Orientierung des Makkabi wider.<br />

--------------------------------------------<br />

48 M. S. NORDAU, Zionistische Schriften, Bd. 2, Berlin 1923, S. 86.<br />

49 Siehe die offizielle Statistik in der Jüdischen Turnzeitung 13 (1912), Heft 6, S. 139.<br />

20


Die Umsetzung dieser Idee hatte dramatische Auswirkungen auf die Struktur<br />

des zionistischen Sports weltweit, besonders in Palästina. Diese Arbeit beschäftigt<br />

sich sowohl mit der Wahl des Zeitpunktes der Bemühungen um internationale Anerkennung<br />

durch Aufnahme in die Olympische Bewegung als auch mit der Struktur<br />

des zionistischen Sports im Kontext der internationalen Sportstrukturen. Die Eingliederung<br />

des zionistischen Sports in den internationalen Sport wurde bislang noch<br />

nicht wissenschaftlich untersucht, und die wenigen Arbeiten, die sich in der einen<br />

oder anderen Form mit den Sportorganisationen in Israel und der Makkabiah, dem<br />

jüdischen Weltsportfest, beschäftigten, konzentrierten sich ausschließlich auf das<br />

Geschehen in Palästina und schenkten der Entwicklung auf internationaler Ebene<br />

kaum Beachtung.<br />

Die Ambitionen der Makkabi-Führung in Palästina schufen in der Weltunion<br />

neue Schwerpunkte und gaben der Organisation eine neue Richtung: Nicht mehr die<br />

sportlichen Aktivitäten als Plattform für Kontakte unter Zionisten in aller Welt standen<br />

im Vordergrund, sondern der Aufbau einer nationalen Sportorganisation und der<br />

Auftritt eigener Mannschaften auf internationaler Ebene. Zu diesem Zweck wollte<br />

man die besten jüdischen Sportler weltweit dazu bewegen, zukünftig bei den Olympischen<br />

Spielen für Eretz-Israel anzutreten. Voraussetzung war freilich die Aufnahme<br />

einer zuständigen Organisation des Territoriums von Palästina in die Olympische<br />

Bewegung.<br />

Ein wesentliches Problem hatte die Führung des Makkabi in Palästina bei ihrem<br />

Vorhaben nicht berücksichtigt: die Veränderlichkeit ihrer eigenen Sportlandschaft.<br />

Bis 1922 war der jüdische Sport im Mandatsgebiet noch unter einer Führung vereint,<br />

dann kam es jedoch auf Grund der beschriebenen Neuausrichtung zur Gründung<br />

zweier weiterer Sportverbände, die die verschiedenen ideologischen Lager in der<br />

Zionistischen Bewegung vertraten: Die Gründung des Beitar erfolgte aus Opposition<br />

gegen die Bemühungen um Integration in den internationalen Sport. Hapoel wandte<br />

sich aus Opposition zum bürgerlichen Kurs des Makkabi der Sozialistischen Arbeitersportinternationale<br />

zu. Auslöser der Spaltung des Sports in Palästina und seiner<br />

zunehmenden Politisierung war letztlich das Bestreben des Makkabi um Aufnahme<br />

in die Olympische Bewegung.<br />

Die Ambitionen auf dem internationalen Parkett sowie der Kampf um die Vorherrschaft<br />

im jüdischen Sport in Palästina zu einer Zeit, in der sich Hapoel aufgrund<br />

der massiven Einwanderung aus Osteuropa, die mehrheitlich nicht dem bürgerlichen<br />

Lager zuzuordnen war, längst zu einer großen Organisation entwickelt hatte, stellten<br />

auch den Sinn der 1932 zum ersten Mal durchgeführten „internationalen“ jüdischen<br />

Sportwettkämpfe, der Makkabiah, in Frage.<br />

Als weiteres Hindernis auf dem Weg in die Olympische Bewegung stellte sich<br />

das Unvermögen der Makkabi-Führung in Palästina heraus, die Chancen ihres Aufnahmeantrags<br />

bzw. die Bedingungen für eine solche Aufnahme richtig einzuschätzen.<br />

Dies hatte große Verzögerungen zur Folge. Zunächst ging es darum, die Sportstrukturen<br />

im eigenen Bereich den Anforderungen des Internationalen Olympischen<br />

Komitees anzupassen, die sein Präsident Pierre de Coubertin 1924 in Paris genannt<br />

21


hatte, vor allem die gleichberechtigte Vertretung sämtlicher Bevölkerungsgruppen<br />

im Mandatsgebiet zu garantieren.<br />

22<br />

Das Olympische Komitee von Palästina<br />

Die Bedingungen, die das IOC der Führung des Makkabi in Palästina auferlegte,<br />

dämpften die „olympische Begeisterung“ für einige Zeit. Ein Olympisches Komitee<br />

von Palästina wurde jedenfalls erst 1933, also neun Jahre nach der Formulierung der<br />

Bedingungen durch Pierre de Coubertin, gegründet. Dabei stellen sich weitere Fragen:<br />

Wie erfüllte die Makkabi-Führung die Forderung nach Einbeziehung arabischer<br />

Vertreter in ein Olympisches Komitee, das ursprünglich allein als Vertretung der national-jüdischen<br />

Sportbewegung konzipiert war? Was unternahm sie, um die Anerkennung<br />

durch das IOC zu beschleunigen, und wie wurde diese Anerkennung bzw.<br />

die Berechtigung der Teilnahme an den Olympischen Spielen schließlich erreicht?<br />

Zweifellos veranlasste die unerwartete Reaktion des IOC auf den ursprünglichen<br />

Antrag auf Anerkennung des Makkabi die Funktionäre, sich zunächst dem Sport auf<br />

nationaler Ebene zu widmen und die internationalen Ambitionen für eine gewisse<br />

Zeit auszusetzen. Zudem machten sich Differenzen bemerkbar zwischen dem Makkabi<br />

im Mandatsgebiet und der Weltunion. Die Weltunion war sich der Klassengegensätze<br />

und der ideologischen Konflikte zwischen den einzelnen Sportorganisationen<br />

in Palästina, besonders der tiefen Zerstrittenheit zwischen Makkabi, Hapoel und<br />

Beitar, nicht bewusst. Die unterschiedlichen Standpunkte kamen erst bei den Verhandlungen<br />

über die Teilnahme eines Hapoel-Sportlers an der ersten Makkabiah<br />

1932 deutlich zum Ausdruck. Während sich die Vertreter der Weltunion pragmatisch<br />

und kompromissbereit gaben, war die Führung in Palästina strikt dagegen, da sie befürchtete,<br />

ein Kompromiss mit Hapoel könnte die Chancen auf die eigene Anerkennung<br />

durch das IOC gefährden.<br />

Nach der Konsolidierung der inneren Strukturen und der erfolgreichen Durchführung<br />

der ersten Makkabiah wurde unter Vorsitz von Dr. Friedrich Hermann<br />

Kisch und unter vorübergehender Beteiligung eines arabischen Vertreters, der dem<br />

zionistischen Sport quasi als Feigenblatt diente, um den Anforderungen des IOC zu<br />

genügen, das Olympic Committee of Palestine gegründet. Mit Hilfe von Vertretern<br />

des IOC, die sich unter anderem in privater Geschäftsmission in Palästina aufhielten,<br />

und durch Kontakte, die durch Delegationen bei internationalen Sportveranstaltungen<br />

unter Schirmherrschaft des IOC geknüpft werden konnten, wurde das Olympische<br />

Komitee von Palästina im Jahre 1934 schließlich offiziell anerkannt und erhielt<br />

damit das Recht der Teilnahme an Olympischen Spielen .<br />

Die Übernahme der Regierung in Deutschland durch die Nationalsozialisten<br />

1933 und deren judenfeindliche Politik stellte das neu gegründete Komitee sofort<br />

vor eine schwierige Entscheidung: Sollte man die Einladung des Organisationskomitees<br />

der Olympischen Spiele von Berlin 1936 ausschlagen und auf die Teilnahme an<br />

den Spielen verzichten, auf die man so lange hingearbeitet hatte? Die Diskussion<br />

dieses heiklen Themas wird sich auch mit dem Einfluss der Führung der Zionistischen<br />

Bewegung auf das Olympische Komitee von Palästina und mit dem Verhältnis


der Olympischen Bewegung zur Politik und mit der Entscheidungsunabhängigkeit<br />

der Nationalen Olympischen Komitees beschäftigen.<br />

Der Verzicht des Olympischen Komitees von Palästina auf die Teilnahme an<br />

den Olympischen Spielen von 1936 in Berlin, die dem leistungsorientierten „Muskeljudentum“<br />

Gelegenheit für eine Kraftdemonstration vor versammelter NS-Elite<br />

geboten hätte, entfachte eine weltweite Debatte unter jüdischen Sportlern: Sollten<br />

sie ihre Heimatstaaten bei diesen Olympischen Spielen vertreten, deren Gastgeber<br />

ihre Glaubensgenossen rassistisch verfolgten oder sollten sie sich mit den Angehörigen<br />

ihrer eigenen Nation solidarisch zeigen?<br />

Der Zweite Weltkrieg brachte das internationale Sportgeschehen in Europa weitgehend<br />

zum Erliegen, auch das Olympische Komitee von Palästina stellte seine Tätigkeit<br />

ein. Sein Vorsitzender, Colonel Kisch, fiel im Krieg in den Reihen der britischen<br />

Armee, wodurch diese Fraktion des zionistischen Sports ihre herausragende<br />

Persönlichkeit verlor. Die Vernichtung eines Großteils der jüdischen Elitesportler in<br />

Europa und die starke Beeinträchtigung der Tätigkeit der Makkabi-Weltunion, die<br />

ihren Schwerpunkt, wenn auch nicht formal, nach Palästina verlegte, das starke<br />

Wachstum des Hapoel in Palästina sowie die Tatsache, dass die nächsten Olympischen<br />

Spiele 1948 in London anberaumt waren, bewogen Makkabi und Hapoel<br />

erstmals zur Kooperation im Hinblick auf die Zusammenstellung einer gemeinsamen<br />

zionistischen Mannschaft. Die Verhandlungen in dieser Frage sind besonders<br />

interessant, weil sich beide ideologisch ausgerichteten Verbände pragmatisch gaben:<br />

Makkabi war zahlenmäßig nicht sehr stark, verfügte aber über zahlreiche Verbindungen<br />

zum internationalen Sport und besaß formal das Vorrecht, eine Delegation<br />

für die Olympischen Spiele zusammenzustellen. Hapoel dagegen war im sportlichen<br />

Bereich sehr aktiv, aber ohne Zugang zur Olympischen Bewegung.<br />

Die Gründung des Staates Israel im Mai 1948 führte zu einer völlig neuen Situation.<br />

Rein formal endete damit die Mitgliedschaft des Olympischen Komitees von<br />

Palästina in der Olympischen Bewegung weil die territoriale Einheit, auf die sich die<br />

Anerkennung durch das IOC bezogen hatte, rechtlich nicht mehr existierte. Zudem<br />

blieb der arabische Bevölkerungsteil des ehemaligen britischen Mandats in Palästina<br />

ohne olympische Vertretung, auch wenn sich das Olympische Komitee von Palästina<br />

vor der Staatsgründung nur aus Vertretern des zionistischen Sports zusammengesetzt<br />

hatte. Daher weigerte sich das IOC, israelische Sportler an den Olympischen<br />

Spielen 1948 in London teilnehmen zu lassen. 50<br />

In dieser Arbeit soll, wie bereits erwähnt, das zur Debatte stehende Thema erstmals<br />

aus unterschiedlicher Sicht und unter Verwendung verschiedener Quellen, vor<br />

allem von Archivmaterial, behandelt werden. Um Antworten auf die Frage des<br />

Standorts des zionistischen Sports auf internationaler Ebene zu finden, liegt der Fokus<br />

jedoch zunächst auf seiner inneren Struktur. Diese Betrachtungsweise drängt<br />

sich vor allem deshalb auf, weil die bereits vorhandenen Arbeiten von Funktionären<br />

--------------------------------------------<br />

50 U. SIMRI/I. PAZ, Athen 1896 – Barcelona 1992. Alles über die Olympischen Spiele (hebr.), Tel Aviv<br />

1992, S. 35; U. SIMRI, 100 Jahre Olympische Bewegung (hebr.), Jerusalem 1994, S. 121; E. GIL/ Y.<br />

YEKUTIELI (Hrsg.), Israel bei den Olympischen Spielen in Helsinki. Israel bei den Asienspielen in Manila<br />

(hebr.), Tel Aviv 1954, S. 19.<br />

23


der jüdischen Sportorganisationen selbst stammen (Yosef Yekutieli, Chaim Wein,<br />

Emanuel Gil, Israel Paz u. a.) oder von Autoren, die sich mit einer dieser Organisationen<br />

identifizierten (Uriel Simri). Mit der allmählichen Ablösung der Gründergeneration<br />

der zionistischen Sportverbände droht auch die spärlich vorhandene subjektive<br />

Information zu verschwinden. Diese Lücke soll auch im Hinblick auf das bedeutende<br />

Kapitel der Beziehungen zwischen den Institutionen des Staates Israel und<br />

der Olympischen Bewegung hiermit geschlossen werden.<br />

Die Nichtteilnahme israelischer Sportler an den Olympischen Spielen von 1948<br />

in London ist auch auf bestimmte Entwicklungen im internationalen Sport zurückzuführen,<br />

die die Zusammenarbeit zwischen Makkabi und Hapoel notwendig machten.<br />

Während die Sozialistische Arbeitersportinternationale nach dem Zweiten Weltkrieg<br />

faktisch ein Ende fand, brach für die Olympische Bewegung eine vielversprechende<br />

neue Ära an, zum einen wegen des Wegfalls der sozialistischen Konkurrenz, zum<br />

anderen wegen der Tatsache, dass die Olympischen Spiele und die Bühne des internationalen<br />

Sports von den Großmächten und später von den unabhängig gewordenen<br />

Staaten der „Dritten Welt“ zur politischen Selbstdarstellung genutzt wurde. Die<br />

Olympischen Spiele wurden dadurch aber auch häufig Opfer politischer Konflikte, 51<br />

ein Umstand, der zumindest nach Horne, Tomlinson und Whannel nicht als Schwäche,<br />

sondern vielmehr als Stärke der Bewegung zu betrachten ist:<br />

„Since the end of the Second World War (1945) – being a nation in the modern<br />

world has come to be signified by two things: belonging to the United Nations and<br />

marching in the Opening Ceremony of the Olympic Games.“ 52<br />

Mit anderen Worten, die Olympischen Spiele waren für die einzelnen Länder<br />

von derart großer Bedeutung, dass sich die Teilnahme oder Nichtteilnahme zu einer<br />

Frage des politischen Status entwickelte. Zusätzlich kam es zur Einrichtung kontinentaler<br />

Spiele in Asien, Afrika und Amerika unter der Schirmherrschaft des IOC.<br />

Die Ausklammerung Europas dürfte wohl darauf zurückzuführen gewesen sein, dass<br />

es sich bei der Olympischen Bewegung in den Augen ihrer Führung dem Wesen<br />

nach um eine europäische Bewegung handelte und insofern dort kein Förderungsbedarf<br />

bestand.<br />

Die regionale Zuordnung zu Asien war der Hauptgrund für die Aussperrung Israels<br />

von den Olympischen Spielen 1948 in London. Auch die Tatsache, dass sich<br />

Israel damals im Krieg mit den arabischen Staaten befand, sowie die unklaren Verhältnisse<br />

im israelischen Sport selbst trugen dazu bei, dass der erste Auftritt einer<br />

israelischen Olympia-Delegation erst 1952 erfolgte.<br />

--------------------------------------------<br />

51 Siehe Anm. 5 in der Einführung. Vgl. Ferner U. P. OKAFOR, The Interaction of Sports and Politics<br />

as a Dilemma of the Modern Olympic Games, Ph.D. Dissertation. Ohio State University, [Columbus]<br />

1979; A. R. PLATT, The Olympic Games and their Political Aspects 1952-1972, Ph.D. Dissertation, Kent<br />

State University, Kent 1976; S. B. KEE u. a. (Hrsg.), Olympics and Politics, Seoul [1984]; C. R. HILL,<br />

Olympic Politics. Athens to Atlanta 1896-1996, 2. Aufl., Manchester/New York 1996; KANIN, A Political<br />

History of the Olympic Games; R. PFEIFFER, Sport und Politik. Die Boykottdiskussionen um die Olympischen<br />

Spiele von Mexiko City 1968 bis Los Angeles 1984, Frankfurt am Main u. a. 1987.<br />

52 J. HORNE/A. TOMLINSON/G. WHANNEL (Hrsg.), Understanding Sport. An Introduction to the Sociological<br />

and Cultural Analysis of Sport, London/New York 1999, S. 194.<br />

24


Drei parallele Ebenen<br />

Die Beziehungen zwischen dem Staat Israel und der Olympischen Bewegung<br />

nahmen ihren Anfang bei den Verhandlungen über eine Teilnahme Israels an den<br />

Olympischen Spielen 1948 in London und setzten sich in den fünfziger und sechziger<br />

Jahren auf drei Ebenen fort:<br />

– im direkten Verhältnis zwischen Israel und dem IOC<br />

– im Verhältnis zu den Regionalspielen<br />

– auf der Ebene interner Auseinandersetzung um die Gestaltung des israelischen<br />

Sports<br />

Das Verhältnis zwischen Israel und der Olympischen Bewegung wurde wesentlich<br />

von diesen drei Ebenen bestimmt, wobei jeweils eine andere Ebene den Ton angab.<br />

So war die Nichtteilnahme Israels an den Olympischen Spielen von 1948 in<br />

London sowie die zögerliche Anerkennung der israelischen Sportorganisationen<br />

durch das IOC und eine Reihe von Fachverbänden auf politische Erwägungen im<br />

Hinblick auf die ersten Mittelmeerspiele von 1951 in Alexandria zurückzuführen.<br />

Zudem drängten der interne Machtkampf zwischen den israelischen Sportverbänden<br />

Makkabi, Hapoel und Beitar sowie die Förderung des israelischen Sports durch die<br />

Regierung auf internationaler Ebene die Beziehungen zwischen der Olympischen<br />

Bewegung und dem Staat Israel längere Zeit in den Hintergrund. Sie kamen erst<br />

dann wieder auf die Tagesordnung, als es dem IOC angezeigt erschien.<br />

Solange sich die israelischen „Sportfraktionen“ nicht auf eine gemeinsame Vertretung<br />

nach außen einigen konnten, war auf internationaler Ebene an erfolgreiche<br />

Verhandlungen nicht zu denken. Insofern ist der Stillstand in der Frage der Aufnahme<br />

Israels in die Olympische Bewegung nicht allein dem IOC anzulasten. Um diese<br />

Schwäche auszugleichen, führte das israelische Außenministerium in den späten<br />

1940er und frühen 1950er Jahren stellvertretend für den israelischen Sport direkte<br />

Verhandlungen mit dem IOC-Präsidenten, dem Schweden Sigfrid Edström, die die<br />

vorläufige Anerkennung des Israelischen Olympischen Komitees noch vor dessen<br />

endgültiger Bildung zur Folge hatte. Obwohl durch dieses Verfahren dessen Zusammensetzung<br />

beeinflusst wurde, war diese Lösung für alle Parteien akzeptabel.<br />

Der andauernde Konflikt zwischen den israelischen Sportverbänden und die<br />

lange Dauer der Verhandlungen kam dem IOC, das damals seinem ägyptischen Mitglied<br />

und Gründer der Mittelmeerspiele, Mohamed Taher Pascha, zuneigte, durchaus<br />

gelegen. Taher Pascha gelang es, die Teilnahme Israels an diesen Spielen mit dem<br />

Hinweis auf die noch ausstehende Anerkennung des Israelischen Olympischen Komitees<br />

durch das IOC und auf den Kriegszustand zwischen Israel und Ägypten zu<br />

verhindern. Der Ausschluss Israels von den Mittelmeerspielen 1951 in Alexandria<br />

bildete den Anfang eines lang währenden Konflikts in der Frage der geographischen<br />

Zuordnung des Landes im Hinblick auf regionale Spiele unter der Schirmherrschaft<br />

des IOC. Hier liegt auch die Ursache dafür, dass sich der Mittelmeeranrainerstaat<br />

Israel zuerst nach Asien orientieren musste (bis Mitte der siebziger Jahre), dann (in<br />

den achtziger Jahren) in sportlicher Hinsicht keinem Kontinent angehörte und<br />

schließlich (1994) in die europäischen Strukturen aufgenommen wurde.<br />

25


Da Israel aufgrund einer Bestimmung in den Statuten der Mittelmeerspiele die<br />

Teilnahme an dieser Sportveranstaltung bis heute verweigert wird und eine Mannschaft<br />

von Makkabi-Palästina 1934 an den Westasienspielen teilnahm, wurde Israel<br />

den Asien-Spielen zugeteilt. Unabhängig von der regelmäßigen Teilnahme israelischer<br />

Sportler an Wettkämpfen im asiatischen Rahmen bemühte sich das israelische<br />

NOK unablässig um die Zulassung zu den Mittelmeerspielen, zu der regionalen<br />

Sportveranstaltung, der Israel in geographischer Hinsicht angehören sollte.<br />

Die Gründung der Bewegung Blockfreier Staaten in den 1950er Jahren unter der<br />

Führung des indonesischen Präsidenten Sukarno führte 1962 zum Ausschluss Israels<br />

und Taiwans von den Asienspielen in Jakarta und in der Folge auch zu einem der<br />

wenigen Erfolge Israels in diesem Konflikt: Das IOC entzog den Regionalspielen<br />

die Schirmherrschaft.<br />

Dieser Schritt war deshalb bedeutsam, weil das IOC damit die Kontrolle über<br />

diese Veranstaltungen an die internationalen Sportverbände abtrat.<br />

Der Ausschluss Israels von den Asienspielen 1962 hatte weitere strukturelle<br />

Konsequenzen im internationalen Sport. Als Reaktion auf die Suspendierung Indonesiens<br />

durch das IOC gründeten die blockfreien Staaten mit der Unterstützung Chinas,<br />

das damals nicht der Olympischen Bewegung angehörte, eine Konkurrenzveranstaltung<br />

zu den Olympischen Spielen, die sogenannten Games of the New Emerging<br />

Forces (GANEFO). Die GANEFO schienen zunächst eine ernstzunehmende<br />

Herausforderung, lösten sich jedoch bereits 1967, aufgrund der Neuorientierung<br />

der Politik der Volksrepublik China, wieder auf.<br />

Die Asienspiele von 1962 in Jakarta bildeten erst den Anfang der Schwierigkeiten,<br />

mit denen der israelische Sport in Asien konfrontiert war, bis er Ende 1981<br />

durch eine neugegründete Organisation, der Israel nicht mehr angehörte, von diesen<br />

Regionalspielen ausgeschlossen wurde. Der Status der Nichtzugehörigkeit zu einem<br />

kontinentalen Sportbereich endete erst 1994 mit der Integration des Israelischen<br />

Olympischen Komitees und sämtlicher israelischer Verbände olympischer Sportarten<br />

in die europäischen Strukturen.<br />

Die Aufnahme Israels in die Olympische Bewegung Anfang 1952 war aber noch<br />

kein Garant für die regelmäßige Teilnahme an zukünftigen Spielen. So führte etwa<br />

die Suezkrise 1956 zu einem Boykottaufruf arabischer Staaten gegen die Staaten, die<br />

sich am Angriff auf Ägypten beteiligten (Großbritannien, Frankreich und Israel).<br />

Das IOC verurteilte die Aggression, suspendierte die NOKs der betreffenden Staaten<br />

jedoch nicht. Die Vermutung liegt nahe, dass das IOC ganz anders entschieden hätte,<br />

wenn Großbritannien und Frankreich nicht an der Kampagne beteiligt gewesen<br />

wären. Die Suezkrise führte zum ägyptischen Boykott der Olympischen Spiele von<br />

1956 in Melbourne. Diese Arbeit wird aufzeigen, dass die diesbezügliche Entscheidung<br />

der Ägypter noch vor Ausbruch der militärischen Auseinandersetzung fiel, also<br />

im Gegensatz zur vorherrschenden These nicht eine direkte Folge des Sinai-<br />

Feldzuges war. Das IOC verhielt sich Ägypten gegenüber mit Nachsicht, was als<br />

weiteres Indiz für dessen pro-arabische Haltung gewertet werden kann. Zudem beschwor<br />

seine Führung angesichts der militärischen Aktionen auf der Sinaihalbinsel<br />

26


und des sowjetischen Einmarsches in Ungarn den „olympischen Frieden“, ein Lippenbekenntnis,<br />

wie sich herausstellte. 53<br />

Nach den fieberhaften Aktivitäten der israelischen Sportfunktionäre auf internationaler<br />

Ebene in den fünfziger und frühen sechziger Jahren beruhigte sich die Lage<br />

allmählich: Die Mitgliedschaft Israels in der Olympischen Bewegung war eine Tatsache,<br />

und auch die Bemühungen um die Teilnahme an regionalen Spielen hatten<br />

sich als relativ erfolgreich erwiesen. Doch parallel zu den „außenpolitischen“ Bemühungen<br />

tobte in Israel ein Machtkampf zwischen den einzelnen Sportvereinigungen<br />

um die Zusammensetzung des Nationalen Olympischen Komitees. Diese Streitigkeiten,<br />

eine direkte Folge der ideologischen Spaltung, schwächten den israelischen<br />

Sport und schadeten seinem internationalem Ansehen. Doch nachdem es Hapoel<br />

gelungen war, die Führung im Israelischen Olympischen Komitee und in der<br />

nationalen Dachorganisation zu übernehmen, beruhigte sich die Lage auch in diesem<br />

Bereich. Dieses Tauziehen um die Führung im israelischen Sport, das noch vor der<br />

Staatsgründung begann und erst in den frühen 1960er Jahren entschieden wurde,<br />

schadete dem Ansehen der Sportverbände in den Augen der Staatsführung und führte<br />

dazu, dass die Förderung des Sports nicht zu den nationalen Prioritäten gehörte.<br />

Gleichzeitig bot die parteipolitische Orientierung der Verbände der Politik breite<br />

Einflussmöglichkeiten.<br />

Die Lage auf den drei erwähnten Ebenen stabilisierte sich Mitte der sechziger<br />

Jahre: Israel hatte seit 1952 an allen Olympischen Spielen teilgenommen. Im Konflikt<br />

um die Schirmherrschaft des IOC über die Regionalspiele setzte sich der israelische<br />

Standpunkt durch, nachdem Israel sowohl bei den Mittelmeerspielen als auch<br />

bei den Asienspielen diskriminiert worden war, und auch der interne Streit um die<br />

Vormachtstellung in den nationalen Sportinstitutionen und im Israelischen Olympischen<br />

Komitee wurde beigelegt.<br />

Die olympische Utopie in Gefahr<br />

5. September 1972 in München: In den frühen Morgenstunden stürmt ein<br />

Kommando der Palästinenserorganisation „Schwarzer September“ das Quartier der<br />

israelischen Olympiamannschaft im Olympischen Dorf, tötet zwei ihrer Mitglieder<br />

und nimmt neun weitere als Geiseln. Im Verlaufe der dramatischen Ereignisse werden<br />

die Olympischen Spiele unterbrochen. Bei einer gescheiterten Befreiungsaktion<br />

der deutschen Polizei sterben schließlich alle neun Geiseln sowie ein Polizeibeamter<br />

und fünf der acht Terroristen. Das IOC setzt die Spiele einen Tag aus, danach aber<br />

wieder fort. Bei der Trauerfeier im Olympiastadion formuliert Präsident Avery<br />

Brundage die Devise: „The games must go on“.<br />

Die nachfolgende Untersuchung gilt vor allem:<br />

--------------------------------------------<br />

53 Zum friedensfördernden Anspruch der Olympischen Bewegung siehe vor allem HÖFER, Der Olympische<br />

Friede; M. LÄMMER, „Der sogenannte Olympische Friede in der griechischen Antike“, in: Stadion<br />

8/9 (1982/83), S. 47-83.<br />

27


– der Frage der direkten und indirekten Verantwortung der Beteiligten: den Terroristen,<br />

den Gastgebern (Bundesregierung, Land Bayern, Stadt München, dem<br />

Organisationskomitee) und dem IOC<br />

– der Zeitdimension: vor dem tragischen Tag, zwischen dem Anschlag und der<br />

endgültigen Entscheidung über die Fortsetzung der Spiele; dem Einfluss der Ereignisse<br />

auf den weiteren Verlauf der Spiele und auf die Olympische Bewegung<br />

insgesamt<br />

– der Haltung der Olympischen Bewegung gegenüber den israelischen Opfern.<br />

Der Terroranschlag in München verwandelte die Olympischen Spiele von einem<br />

friedfertigen und freudvollen Treffen von Sportlerinnen und Sportlern in einen<br />

Hauptschauplatz der Weltpolitik. IOC-Direktorin Monique Berlioux bezeichnete die<br />

Ereignisse als „schrecklichstes Drama in der olympischen Geschichte“. 54 Die gewaltige<br />

Resonanz machte diesen Terroranschlag zu einem der meistdokumentierten Ereignisse<br />

der olympischen Geschichte.<br />

Trotz der Fülle von Dokumenten ist das Hauptproblem auch dieser Arbeit die<br />

Tatsache, dass angesichts der vielen Beteiligten manche Einzelheiten des Geschehens<br />

noch im Dunkeln liegen und andererseits zahlreiche Versionen derselben Begebenheiten<br />

vorliegen. Erschwerend kommt hinzu, dass nicht alle relevanten Quellen<br />

zugänglich sind. Die Terroristen wurden etappenweise liquidiert, und es ist<br />

schwierig, verlässliches Material über ihre Perspektive vor jenem Tag zu finden.<br />

Zudem halten die Regierungen Israels wie auch Deutschlands nach wie vor zahlreiche<br />

Dokumente unter Verschluss. Das IOC gewährte dagegen dem Autor Einsicht in<br />

sämtliche Akten und gab zusätzliche Auskünfte über seine Rolle. Das bisher zugängliche<br />

Material erlaubt eine schematische Rekonstruktion der Ereignisse, nicht<br />

jedoch eine lückenlose Darstellung. In dieser Arbeit wird versucht, den Ablauf des<br />

Geschehens auch aus bisher wenig berücksichtigter Perspektive nachzuzeichnen, vor<br />

allem aus der Sicht der Entscheidungsträger des IOC sowie aus der des Israelischen<br />

Olympischen Komitees und der Familien der Opfer. Die blutigen Ereignisse von<br />

München leiteten eine neue Ära hinsichtlich der Haltung des IOC und der Organisationskomitees<br />

zur Frage der Sicherheit der Olympischen Spiele ein und entfachten<br />

eine Diskussion über die Friedensidee der Olympischen Bewegung.<br />

Ein weiterer zu behandelnder Aspekt ist die Pflege des Andenkens an die israelischen<br />

Opfer. Die Olympischen Spiele stehen zwar unter der Schirmherrschaft des<br />

IOC, sind sogar förmlich dessen „Eigentum“, werden aber nicht direkt von ihm organisiert.<br />

Dennoch hat das IOC bei den Vorbereitungen des alle vier Jahre stattfindenden<br />

Weltsportfestes eine Schlüsselfunktion und besondere Verantwortung. Während<br />

es gelang, die sicherheitstechnischen Lehren von 1972 zu ziehen, um eine Wiederholung<br />

derartiger Terroraktionen möglichst auszuschließen, tat es sich mit der<br />

Pflege der Erinnerung an die Opfer weit schwerer.<br />

Der Geist der olympischen Brüderlichkeit wurde schon 1980 in Moskau ein<br />

weiteres Mal auf eine ernsthafte Probe gestellt. Während sich die ganze Welt auf die<br />

--------------------------------------------<br />

54 M. BERLIOUX, „The History of the International Olympic Committee“, in: M. KILLANIN/J. RODDA<br />

(Hrsg.), The Olympic Games. 80 Years of People, Events and Records, London 1976, S. 20.<br />

28


ersten Olympischen Spiele in einem Land des sozialistischen „Ostblocks“ vorbereitete,<br />

arbeitete die israelische Regierung bereits auf einen Teilnahmeverzicht hin. Der<br />

Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan im Dezember 1979 führte zum<br />

Boykott der Spiele in Moskau durch zahlreiche Staaten, die damit einem Boykottaufruf<br />

von US-Präsident Jimmy Carter folgten. Auch das Israelische Olympische<br />

Komitee entschied sich im Mai 1980, den Spielen fernzubleiben. Doch die israelischen<br />

Boykottüberlegungen begannen bereits 1974 bei der Wahl Moskaus als Austragungsort<br />

und nahmen 1977 nach dem Wahlsieg des konservativen Likudblocks<br />

konkrete Züge an. Dabei spielten die Haltung der sowjetischen Regierung gegenüber<br />

ihren jüdischen Bürgern und inhaftierten Dissidenten und die strategische Zusammenarbeit<br />

mit den USA eine besondere Rolle.<br />

Das Israelische Olympische Komitee setzte sich dagegen unermüdlich für die<br />

Teilnahme an den Spielen in Moskau ein, trotz der Hindernisse, die ihr die eigene<br />

Regierung und das sowjetische Organisationskomitee in den Weg legten. Doch die<br />

Anstrengungen waren vergeblich. Außenpolitische Erwägungen gaben den Ausschlag.<br />

Zum ersten Mal seit der Staatsgründung boykottierte Israel ein internationales<br />

Sportereignis aus Gründen, die mit Sport nichts zu tun hatten. Die Nichtteilnahme<br />

in Moskau war nach Berlin 1936, London 1948 und Melbourne 1956 ein weiteres<br />

Zeichen der Ohnmacht gegenüber den politischen Entscheidungsträgern. Selbst<br />

Erwägungen bezüglich der Beziehungen Israels zu den jüdischen Gemeinden in der<br />

Diaspora wurden von der Regierung für wichtiger erachtet als die Interessen der israelischen<br />

Sportler.<br />

Der Verzicht auf die Teilnahme an den Olympischen Spielen 1980 in Moskau<br />

hat dem israelischen Sport im Nachhinein betrachtet nicht sehr geschadet, obwohl er<br />

zu jener Zeit nach dem Ausschluss aus Asien international isoliert war. Die Interimsperiode,<br />

die mit dem Mord an den besten israelischen Sportlern und Trainern<br />

begann und in die auch das Ende der Karrieren anderer Sportler fiel, die wegen des<br />

Boykotts nicht in Moskau dabei sein konnten, schuf neue Gelegenheiten, auch aufgrund<br />

der veränderten geopolitischen Lage in den späten achtziger und frühen neunziger<br />

Jahren: Der Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums führte zu einer positiven<br />

Wende in der Haltung der internationalen Sportverbände gegenüber Israel, zu<br />

einem Emigrationsschub jüdischer Sportler aus der Sowjetunion nach Israel sowie<br />

zur Aufnahme von Gesprächen zwischen Israel und der PLO, die letztlich für den<br />

Anschlag auf die israelische Olympiamannschaft in München verantwortlich war.<br />

Der Fall des „Eisernen Vorhangs“ und die Entspannung zwischen Israel und den<br />

Palästinensern trugen wesentlich zur Normalisierung des Verhältnisses zwischen<br />

dem Israelischen Olympischen Komitee und dem Internationalen Olympischen Komitee<br />

bei. 100 Jahre nach Gründung der Olympischen Bewegung wurde Israel in die<br />

europäischen Sportstrukturen aufgenommen und nahm zum ersten Mal an Olympischen<br />

Winterspielen teil. Außerdem wurde mit Alexander Gilady ein Israeli in das<br />

IOC gewählt.<br />

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