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Haut und Trauma: Zur Geschichte der Verletzung* - Esther Fischer ...

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<strong>Esther</strong> <strong>Fischer</strong>-Homberger <strong>Haut</strong> <strong>und</strong> <strong>Trauma</strong>: <strong>Zur</strong> <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> Verletzung<br />

Erschütterung« sei das wichtigste Moment. Dass die traumatogenen Lähmungen<br />

durch »eine directe moleculare Umlagerung« hervorgerufen würden, ist ihm vorstellbar.<br />

66<br />

Wahrscheinlicher ist es aber, dass diese peripherische Erschütterung sich sogleich<br />

auf die entsprechenden Nervencentren fortpflanzt <strong>und</strong> diese lähmt. Das Wesen dieser<br />

Lähmung besteht allem Anschein nach in dem Verlust <strong>der</strong> Erinnerungsbil<strong>der</strong>, <strong>der</strong> Bewegungsvorstellungen.<br />

»Die Entstehung von Lähmungszuständen auf dem Wege <strong>der</strong> Vorstellung ist<br />

bereits den älteren Autoren bekannt gewesen, aber es ist das Verdienst Charcot’s,<br />

diese Lehre gründlich ausgebildet <strong>und</strong> experimentell gestützt zu haben«,<br />

schreibt Oppenheim (Oppenheim 1889, S. 86, 123–127; vgl. Lerner 2001, S.<br />

140–171).<br />

Tatsächlich hat Jean Martin Charcot (1825–1893), <strong>der</strong> Pariser »Papst <strong>der</strong><br />

Neurosen« das rein psychologische Konzept einer »Ideogenie« <strong>der</strong> traumatischen<br />

Neurose – die er als traumatische Hysterie auffasste – entwickelt. Er<br />

hat damit an die Hypnoseforschung seiner Zeit angeknüpft <strong>und</strong> dieser in <strong>der</strong><br />

Medizin zu einem respektablen Platz verholfen. Charcot war eigentlich ausgezogen,<br />

nach den neuropathologischen Gr<strong>und</strong>lagen <strong>und</strong> Ursachen <strong>der</strong> Hysterie<br />

zu suchen, die er auch gef<strong>und</strong>en zu haben glaubte. Aber in <strong>der</strong> rechtlich<br />

relevanten Auseinan<strong>der</strong>setzung um die Entschädigungsberechtigung medizinisch<br />

schwer erklärbarer krankhafter Erscheinungen nach Unfällen erwiesen sich sogar<br />

seine Belege dafür als zu wenig tragfähig. So entwickelte er das Konzept, die<br />

traumatische Hysterie sei auf eine Idee, eine ›Ein-Bildung‹ <strong>und</strong> damit auf eine<br />

weiter nicht erklärungsbedürftige psychische Größe zurückzuführen. Charcot<br />

verglich den Zustand des Schocks – zum Beispiel nach Unfall – mit demjenigen<br />

<strong>der</strong> Hypnose. Diese hat er <strong>der</strong> Académie des Sciences schon 1882 als wissenschaftliche<br />

Methode anzuerkennen empfohlen. Er meinte, dass sich im Schock<br />

irgendwelche Ideen, vom »Ich« unkontrolliert, in <strong>der</strong> Psyche festzusetzen <strong>und</strong><br />

von da aus ihre Wirksamkeit zu entfalten vermöchten. So würde zum Beispiel<br />

die ängstliche Vorstellung, man sei infolge eines Eisenbahnunfalls gelähmt,<br />

eine reale Lähmung verursachen können. Im Zustand des Unfallschocks werde<br />

»jede (…) in das Gehirn eingeführte Vorstellung (…) von dem somnambulen<br />

Gehirn angenommen« <strong>und</strong> setze sich da »nach Art eines Parasiten« fest, »ohne<br />

von dem (…) betäubten Ich eine Anfechtung zu erfahren.«<br />

Ich behaupte also, es ist ein Akt <strong>der</strong> Autosuggestion, welcher unter den von mir<br />

angegebenen Bedingungen die hysterotraumatischen Lähmungen zu Stande<br />

kommen lässt (…) Dieser psychische Process bedarf einer gewissen Zeit zur<br />

Ausarbeitung, die ich auch als Inkubationszeit bezeichnet habe. 7 Dies ist die (…) psychologische<br />

Theorie, die ich für das Verständniss <strong>der</strong> localen hysterotraumatischen<br />

Lähmungen aufgestellt habe. Ich muss gestehen, ich halte etwas auf sie (Charcot 1892,<br />

S. 99–100).<br />

Charcots Plädoyer für die Anerkennung <strong>der</strong> Hypnose als wissenschaftliche<br />

Methode hat unter an<strong>der</strong>em den Philosophen Pierre Janet (1859–1947) zum<br />

Studium hypnotischer Phänomene angeregt. Janet hat schon als junger Lehrer<br />

nach einem wissenschaftlichen Zugang zu psychischen Leiden <strong>und</strong> psychischem<br />

Leben überhaupt gesucht <strong>und</strong> das Studium hypnotischer Phänomene erschien<br />

ihm als solcher geeignet. 1889 bildete er zusammen mit Liébeault, Bernheim<br />

<strong>und</strong> an<strong>der</strong>en das Komitee eines Internationalen Kongresses für experimentellen<br />

<strong>und</strong> therapeutischen Hypnotismus. Die traumatische Ursache von Nervenleiden<br />

hat er schon in seiner philosophischen Dissertation (Janet 1889) thematisiert.<br />

Bei fast <strong>der</strong> Hälfte <strong>der</strong> r<strong>und</strong> 600 oftmals hysterischen PatientInnen, die er in<br />

seinen ersten vier Büchern beschreibt, findet er eine <strong>Trauma</strong>togenie <strong>und</strong> entwickelt<br />

eine entsprechende Psychologie. Er betrachtete die Dissoziation als<br />

zentralen Prozess in <strong>der</strong> Genese <strong>der</strong> posttraumatischen Symptomatik. Er meint,<br />

psychische Ges<strong>und</strong>heit habe mit <strong>der</strong> Fähigkeit zu tun, die eigene Erfahrung<br />

angemessen zu kategorisieren <strong>und</strong> zu integrieren (van <strong>der</strong> Kolk et al. 1996,<br />

S. 52; van <strong>der</strong> Kolk 1996, S. 285). Geschehnisse, die mit allzu heftigen Emotionen<br />

einhergingen, traumatische Erinnerungen könnten nirgends abgelegt<br />

werden, dissoziierten daher von Bewusstsein <strong>und</strong> willentlicher Kontrolle, spalteten<br />

sich ab – zu Janets Zeit war die »multiple Persönlichkeit«, von welchen<br />

später zunächst nur die gespaltenen Persönlichkeiten übriggeblieben sind, ein<br />

7 Hier notiert <strong>der</strong> Übersetzer Freud: »Dies ist die berühmte Theorie von <strong>der</strong> Entstehung<br />

hysterischer Lähmungen durch Autosuggestion, die Charcot zuerst in den ›Neuen<br />

Vorlesungen, 1886‹ ausgesprochen hat« (Charcot 1892, S. 100). In den französischen<br />

Vorlesungsnotizen kommen ›Parasit‹ <strong>und</strong> ›Inkubation‹ an <strong>der</strong> analogen Stelle<br />

interessanterweise nicht vor (Charcot 1887, S 114–115). Den Begriff <strong>der</strong> ›Inkubation‹<br />

verwendet Freud unter seinem eigenen Namen zuerst 1888 im Zusammenhang mit<br />

<strong>der</strong> hysterischen Lähmung nach Eisenbahntrauma (1888b, G.W. Bd 19, S. 85), wo er<br />

auch erstmals »den Ausdruck des Unbewussten in einer Weise benutzt, die den späteren<br />

psychoanalytischen Gebrauch ahnen lässt«, wie die Herausgeberinnen notieren.<br />

1895 schreibt Freud: »Charcot nannte dieses Intervall mit Vorliebe die ›Zeit <strong>der</strong> psychischen<br />

Ausarbeitung‹« (1895d, G.W. Bd 1, S. 195; vgl. 1939a, G.W. Bd 16, S. 171;<br />

vgl. <strong>Fischer</strong>-Homberger 1999; 1971). Das Bild vom Parasiten findet sich beim frühen<br />

Freud wie<strong>der</strong>, wo bei Konversionen ein Erinnerungssymbol »nach Art eines Parasiten<br />

im Bewusstsein haust« (1894a, G.W. Bd 1, S. 63; Charcot 1892, S. 99).<br />

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