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Haut und Trauma: Zur Geschichte der Verletzung* - Esther Fischer ...

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<strong>Esther</strong> <strong>Fischer</strong>-Homberger <strong>Haut</strong> <strong>und</strong> <strong>Trauma</strong>: <strong>Zur</strong> <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> Verletzung<br />

den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts, in welchen das <strong>Trauma</strong> aus verschiedenen<br />

Gründen neue Aktualität gewonnen hat, vielerorts auch wie<strong>der</strong> ein<br />

<strong>Haut</strong>bewusstsein erwacht ist, ohne dass diese Koinzidenz bislang als solche<br />

aufgefallen o<strong>der</strong> thematisiert worden wäre.<br />

In <strong>der</strong> angeregten Atmosphäre des Nachdenkens französischsprachiger Philosophen<br />

(vgl. Schmidgen 1999, S. 337–338) über Körper, Membranen <strong>und</strong> Grenzen<br />

ist 1985 auch Anzieus Le Moi-peau (Dt. 1991: Das <strong>Haut</strong>-Ich) herausgekommen.<br />

Das westliche Denken habe »Erkennen« allzulange mit dem Zertrümmern<br />

<strong>der</strong> Schale gleichgesetzt, schreibt <strong>der</strong> Psychoanalytiker. Das sei überholt, vielerorts<br />

werde neuerdings die zentrale Bedeutung <strong>der</strong> Grenzflächen erkannt. »Die<br />

Biologen haben ihr Interesse vom Zellkern auf die Zellmembran verlegt,« die<br />

Hirnrinde liege ja auch an <strong>der</strong> Peripherie – <strong>und</strong>: »hat nicht das Denken genausoviel<br />

mit <strong>der</strong> <strong>Haut</strong> wie mit dem Gehirn zu tun?« Anzieu erachtet ein neues Grenzbewusstsein<br />

für gesamtkulturell dringend. »Wenn ich zusammenfassend die<br />

Lage <strong>der</strong> westlichen Län<strong>der</strong>, vielleicht sogar <strong>der</strong> ganzen Menschheit am Ende des<br />

zwanzigsten Jahrh<strong>und</strong>erts zu beurteilen hätte, so würde ich die Notwendigkeit<br />

unterstreichen, Grenzen zu setzen«, schreibt er, <strong>und</strong>:<br />

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Grenzen wie<strong>der</strong>herzustellen, Beschränkungen wie<strong>der</strong>einzuführen, bewohnbare Gebiete,<br />

in denen es sich auch leben lässt, festzulegen sind vordringliche psychische <strong>und</strong><br />

soziale Aufgaben; Beschränkungen <strong>und</strong> Grenzen, die gleichzeitig Differenzierung <strong>und</strong><br />

Austausch zwischen den auf diese Weise abgegrenzten Bereichen (wie die Psyche, das<br />

Wissen, die Gesellschaft, die menschliche Natur sie darstellen) ermöglichen (Anzieu<br />

1991, S. 17–21).<br />

»Dass das Thema <strong>Haut</strong> zur Zeit Konjunktur hat, ist bekannt«, schreibt Claudia<br />

Benthien, die eine erste integrative Studie zur Kultur- o<strong>der</strong> Literaturgeschichte<br />

<strong>der</strong> <strong>Haut</strong> publiziert hat. »Seit den 70er Jahren haben sich auch (…) Künstler, insbeson<strong>der</strong>e<br />

aber Künstlerinnen, mit <strong>der</strong> <strong>Haut</strong> auseinan<strong>der</strong>gesetzt« (vgl. Benthien<br />

1998, S. 13–14) – tatsächlich scheint die altgewohnte geschlechterpolitische<br />

Identifikation <strong>der</strong> Frau mit ihrer Körperlichkeit <strong>und</strong> <strong>der</strong>en Benutzeroberfläche<br />

Frauen speziell zu befähigen, Körperlichkeit <strong>und</strong> <strong>Haut</strong> auch intellektuell, historisch,<br />

reflektiert zu begreifen. 22 Auch Didier Anzieu scheint zu seiner Forschung<br />

nicht zuletzt von Annie Anzieu angeregt worden zu sein (Anzieu 1991, S.<br />

22, 170–171, 285–286, 298).<br />

22 Vgl. auch Dudens <strong>Geschichte</strong> unter <strong>der</strong> <strong>Haut</strong>, welche die <strong>Haut</strong> als solche allerdings<br />

weniger ins Zentrum stellt als die <strong>Geschichte</strong> von Körperverständnis <strong>und</strong> -erleben<br />

zwischen ›Innen‹ <strong>und</strong> ›Außen‹ (Duden 1987; vgl. Schmuckli 2001, spez. S. 91–116).<br />

Etwa zu <strong>der</strong>selben Zeit ist auch eine Welle von neuem Interesse für das<br />

psychische <strong>Trauma</strong> angerollt (im Zusammenhang mit dem ›KZ-Syndrom‹ <strong>und</strong><br />

diversen Kriegersyndromen, mit <strong>der</strong> Beschäftigung mit Folteropfern <strong>und</strong> einer<br />

breiten Reflexion <strong>der</strong> kulturellen Norm männlicher Gewalttätigkeit) (<strong>Fischer</strong>-<br />

Homberger 1999, S. 290–291). Diese Welle dürfte durch die aktuelle Kultur <strong>der</strong><br />

systematischen Grenzmissachtung fürs Erste freilich wie<strong>der</strong> gebrochen sein.<br />

Gewalt anästhesiert, die Hammernarkose funktioniert. Reduzierte Empfindlichkeit<br />

ist ein integrieren<strong>der</strong> Bestandteil <strong>der</strong> Maschinerie <strong>der</strong> Gewalt, befreit<br />

jedoch höchstens kurzfristig von Schmerz. Werden wir wie<strong>der</strong>um unsere Empfindlichkeit<br />

drangeben, damit uns nichts wehtut?<br />

O<strong>der</strong> werden wir einen Weg finden zwischen Unempfindlichkeit <strong>und</strong> Überempfindlichkeit,<br />

Wehleidigkeit <strong>und</strong> Quälerei? 23 Ist es möglich, vom Segen <strong>der</strong><br />

Schmerzbekämpfung Gebrauch zu machen, ohne den Schmerz zu verteufeln?<br />

Werden wir es schaffen, unsere empfindliche, auch schmerzempfindliche <strong>Haut</strong><br />

– die Basis <strong>und</strong> Verkörperung <strong>der</strong> Idee von Grenze – wie<strong>der</strong> mehr zu spüren?<br />

Literatur<br />

Allgöwer, M. (1956): The Cellular Basis of Wo<strong>und</strong> Repair. Springfield/Illinois (Charles<br />

C Thomas).<br />

Anzieu, D. (1991): Das <strong>Haut</strong>-Ich. Übers. v. Korte, M. & Lebourdais-Weiss, M.-H.,<br />

Frankfurt a. M. (Suhrkamp). (Orig.: Le Moi-peau, Paris 1985).<br />

Assmann, J. (1996): <strong>Zur</strong> <strong>Geschichte</strong> des Herzens im Alten Ägypten. In: Berkemer, G. &<br />

Rappe, G. (Hg.): Das Herz im Kulturvergleich. (Lynkeus, Studien zur Neuen Phänomenologie;<br />

3). Berlin (Akademie Verlag), S. 143–172.<br />

Benthien, C. (1998): Im Leibe wohnen. Literarische Imagologie <strong>und</strong> historische Anthropologie<br />

<strong>der</strong> <strong>Haut</strong>. Berlin (Berlin Verlag).<br />

Benthien, C. & Krüger-Fürhoff, I. M. (1999): Vorwort. In: Benthien, C. & Krüger-Fürhoff,<br />

I. M. (Hg.): Über Grenzen. Limitation <strong>und</strong> Transgression in Literatur <strong>und</strong> Ästhetik.<br />

Stuttgart-Weimar (Metzler), S. 7–16.<br />

Brockhaus (2001): <strong>Haut</strong>. In: Brockhaus, die Enzyklopädie in 24 Bdn, Mannheim (Brockhaus),<br />

Bd 9.<br />

Charcot, [J.-M.] (1887): Leçons du Mardi à la Salpêtrière. 1887–1888, Notes de Cours<br />

de M.M. Blin, Charcot et Colin. Paris (Progrès Médical/Delahaye et Lecrosnier).<br />

23 Morris weist darauf hin, dass die klassische Hysterie des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts keineswegs<br />

zufällig sowohl mit Anästhesien als auch mit Hyperästhesien einherging (Morris<br />

1993, S. 115, 118).<br />

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