Haut und Trauma: Zur Geschichte der Verletzung* - Esther Fischer ...
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<strong>Esther</strong> <strong>Fischer</strong>-Homberger <strong>Haut</strong> <strong>und</strong> <strong>Trauma</strong>: <strong>Zur</strong> <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> Verletzung<br />
zum diagnostischen Eindringen ins Körperinnere wie nie zuvor entfalten. Um<br />
dieselbe Zeit beginnt sich auch die – vor allem <strong>der</strong> Schmerzdämpfung dienende<br />
– subcutane bzw. ›hypo<strong>der</strong>matische‹ Injektion, zu verbreiten (vgl. Schramm<br />
1987). Im Laufe dieser Entwicklung verlor <strong>der</strong> Unterschied zwischen offenen<br />
<strong>und</strong> geschlossenen Verletzungen rasch seine bisherige gr<strong>und</strong>sätzliche Bedeutung.<br />
4<br />
Die neue Möglichkeit, die <strong>Haut</strong> problemlos durchdringen zu können, brachte<br />
also einen – langhand vorbereiteten, nun aber auch in <strong>der</strong> Praxis leicht realisierbaren<br />
<strong>und</strong> realisierten – Bedeutungssturz <strong>der</strong> <strong>Haut</strong>barriere mit sich. Diagnostik<br />
<strong>und</strong> Therapie legten ihre Invasionshemmung ab. Die <strong>Haut</strong> bildete für die Medizin<br />
fortan keine Grenze mehr zwischen Verborgenem <strong>und</strong> Wahrnehmbarem,<br />
ärztlichem Ich <strong>und</strong> dem Du <strong>der</strong> Kranken. Was <strong>der</strong> alte W<strong>und</strong>arzt bei schweren<br />
Verletzungen mit Entsetzen zu Gesicht bekam, ist unter <strong>der</strong> anästhesierenden<br />
<strong>und</strong> desinfizierenden Hand des Chirurgen <strong>und</strong> dem Röntgenblick <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen<br />
medizinischen Wissenschaft Oberfläche geworden – die mo<strong>der</strong>ne Medizin geht<br />
unter die <strong>Haut</strong> (vgl. <strong>Fischer</strong>-Homberger 1998; Benthien 1998, S. 88–100).<br />
B. ›Schock‹ <strong>und</strong> ›Erschütterung‹ assoziieren sich dem ›<strong>Trauma</strong>‹<br />
Für viele körperliche <strong>und</strong> psychische Störungen hat <strong>der</strong> ärztliche Blick unter<br />
<strong>der</strong> <strong>Haut</strong> solide ursächliche Erklärungen gef<strong>und</strong>en. An<strong>der</strong>e hat er da vergeblich<br />
gesucht.<br />
Den Gerichtschirurgen war es lange schon bekannt gewesen, dass in<br />
die Folgen von Verletzungen Faktoren eingingen, die den Tätern nicht<br />
zugerechnet werden konnten <strong>und</strong> die sich aus den gegebenen Läsionen<br />
nicht erklären ließen. Vorbestehende Leiden, Disposition, Alter, klimatische<br />
Faktoren o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e spezielle Verhältnisse konnten, das wussten sie,<br />
den tödlichen Ausgang scheinbar geringfügiger Verletzungen bewirken.<br />
Allmählich wurde es sodann klar, dass auch die Traumen selbst Erscheinungen<br />
verursachen konnten, die sich pathologisch-anatomisch nicht erklären<br />
ließen. Deutsche Gerichtsmediziner zogen die Physiologie bei, diese zu verstehen:<br />
Kreislauf <strong>und</strong> Nervensystem konnten durch Verw<strong>und</strong>ungen offenbar<br />
schwer verstört werden, ohne dass davon irgendetwas organisch fassbar wurde.<br />
In <strong>der</strong> Gerichtsmedizin, <strong>der</strong>en Urteil gerade in kontroversen Situationen eingeholt<br />
wird, die daher an kritikfesten (in erster Linie naturwissenschaftlichen) Begründungen<br />
vital interessiert ist, finden sich die Entwicklungen <strong>der</strong> Gesamtmedizin<br />
oftmals vorweggenommen (<strong>Fischer</strong>-Homberger 1983, S. 14, 298–299).<br />
4 <strong>und</strong> <strong>der</strong> Eiter seinen vorantiseptischen Ruf als »Balsamus vulnerarius« (Most 1834,<br />
S. 682; vgl. Schlüter 2000, S. 134; vgl. Whipple 1963).<br />
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Im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert emergierte, nunmehr außerhalb <strong>der</strong> gerichtlichen Medizin, <strong>der</strong><br />
Begriff des ›Schocks‹. Es war die gelehrte Chirurgie im Großbritannien <strong>der</strong> ersten<br />
industriellen Revolution, die den »Schock« – nicht nur im Sinn des Stoßes,<br />
son<strong>der</strong>n auch im Sinne einer verstörenden Erschütterung – in Gebrauch gebracht<br />
hat (Groeningen 1885, S. 3–6). Sie beschrieb damit nicht nur den traumatischen<br />
Schock, son<strong>der</strong>n auch manche physiologischen Kollapsphänomene infolge von<br />
Operationen – die ja allerdings im erweiterten Sinne ebenfalls »traumatisch«<br />
wirken. »Die einfachste Verletzung«, heißt es bei John Hunter,<br />
ist eine Art von Erschütterung. 5 Die einzige hier erscheinende Wirkung ist eine<br />
Schwäche <strong>der</strong> Thätigkeit o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Funktionen des Theils o<strong>der</strong> des Ganzen, <strong>der</strong>jenigen<br />
ähnlich, welche durch Quetschungen veranlasst wird, wo <strong>der</strong> Zusammenhang nicht<br />
gelitten hat. 6<br />
Das 19. Jahrh<strong>und</strong>ert präzisiert die Lehre von <strong>der</strong> Erschütterung bzw. dem<br />
Schock, verallgemeinert sie <strong>und</strong> versucht, sie zu begründen. Dass beim Schock<br />
keine Unterbrechung <strong>der</strong> Kontinuität <strong>der</strong> <strong>Haut</strong> vorliege, bleibt dabei als Selbstverständlichkeit<br />
unerwähnt – zwischen <strong>Haut</strong> <strong>und</strong> Schock wird kein Zusammenhang<br />
angenommen. In Albert von Eulenburg’s Encyclopädie <strong>der</strong> Heilk<strong>und</strong>e<br />
stellt Simon Samuel, <strong>der</strong> Königsberger Dozent für allgemeine Pathologie <strong>und</strong><br />
Therapie, den »traumatischen Shock« als »Reflexparalyse« dar (Samuel).<br />
Er versucht den ›Schock‹ vom Begriff <strong>der</strong> ›W<strong>und</strong>e‹ loszulösen. Der Name<br />
»Schock«, schreibt er 1889, sei den »Bezeichnungen traumatischer Torpor,<br />
W<strong>und</strong>stupor, W<strong>und</strong>schreck entschieden vorzuziehen«. Er sei »von den Englän<strong>der</strong>n<br />
eingeführt für die nach schweren Verletzungen <strong>und</strong> Operationen eintretenden<br />
nervösen Zufälle, die mit dem Tode endigen können, ohne dass irgend eine<br />
ausreichende anatomische o<strong>der</strong> chemische Verän<strong>der</strong>ung nachweisbar wäre.«<br />
»Außer dem traumatischen Shock« fügt er später hinzu, »wird auch von einzelnen<br />
Autoren ein psychischer Shock statuirt. Dass zu den Neurosen, welche<br />
durch Emotion entstehen, auch eine Schrecklähmung gehört, selbst plötzlicher<br />
Tod durch Schreck, ist außer Frage« (Samuel 1889).<br />
5 Im Original: »a degree of concussion« (Hunter 1794, S. 192), wozu <strong>der</strong> Autor anmerkt:<br />
»Here I mean concussion as a general term, not confining it to the brain.«<br />
6 Es giebt vielerley Zufälle, welche den Beystand des W<strong>und</strong>arztes erfor<strong>der</strong>n aber nicht<br />
Krankheiten genannt werden können, weil sie von ausser dem Körper befindlichen<br />
Ursachen abhängen, <strong>und</strong> als Folgen einer ihm zugefügten Gewalt angesehen werden<br />
müssen, welche die Struktur <strong>der</strong> Theile gewissermassen abän<strong>der</strong>t, <strong>und</strong> die natürlichen<br />
Operationen unterbricht« (Hunter 1797, S. 4–5, vgl. auch S. 9; vgl. <strong>Fischer</strong>-Homberger<br />
1975, S. 47–54).<br />
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