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Haut und Trauma: Zur Geschichte der Verletzung* - Esther Fischer ...

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<strong>Esther</strong> <strong>Fischer</strong>-Homberger <strong>Haut</strong> <strong>und</strong> <strong>Trauma</strong>: <strong>Zur</strong> <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> Verletzung<br />

Gegenteil dessen wurde, was man sich darunter eigentlich vorstellt, nämlich<br />

zu einem ausschließlich durch das intrapsychische Geschehen determinierten<br />

Faktor« (zuerst: 1894a, G.W. Bd 1, S. 64; May [-Tolzmann] 1996, S.<br />

49–56, spez. S. 53–54). Die <strong>Haut</strong>, die im körpernahen Denken Modell <strong>und</strong><br />

Basis <strong>der</strong> Grenze zwischen Diesseits <strong>und</strong> Jenseits, »Zu-mir-Gehörigem«<br />

<strong>und</strong> »Nicht-zu-mir-Gehörigem« stellt, ist damit außerhalb <strong>der</strong> psychoanalytischen<br />

Aufmerksamkeit gerückt, ebenso das hautverletzende <strong>Trauma</strong> –<br />

wie weggeblasen erscheint damit die Assoziation von <strong>Haut</strong> <strong>und</strong> <strong>Trauma</strong>.<br />

<strong>Zur</strong>ück bleibt ein psychoanalytisches Körperbild, das die Züge einer<br />

<strong>Trauma</strong>tisierung trägt: ein hochverletzlicher <strong>und</strong> verletzter Körper mit<br />

w<strong>und</strong>enartig empfindlichen Löchern <strong>und</strong> ohne eine <strong>Haut</strong>, die vermittelst<br />

ihrer unterschiedlichen Sinne für Wärme, Druck o<strong>der</strong> Schmerz verschiedene<br />

Grade von Nähe <strong>und</strong> Distanz differenziert wahrzunehmen <strong>und</strong> im Fall<br />

ihrer Verletzung sich zu regenerieren fähig ist. Ein Körper mit Löchern –<br />

M<strong>und</strong>, Anus <strong>und</strong>, bei <strong>der</strong> Frau, Geschlecht – um welche sich in Freuds<br />

psychologischem Modell die Psyche, ihre Entwicklung <strong>und</strong> das Verhältnis<br />

<strong>der</strong> Geschlechter organisiert (vgl. <strong>Fischer</strong>-Homberger 2004, S. 65),<br />

<strong>und</strong> mit einer <strong>Haut</strong>, die in Freuds Schriften vorwiegend überreizt, gerötet,<br />

verbrannt, verletzt, auch abgezogen, gedrückt, gekneipt, mit <strong>der</strong> Nadel<br />

gestochen, verdorben, weggerissen, schmerzhaft, hyper- <strong>und</strong> hypalgetisch<br />

<strong>und</strong> krank erscheint, wenn nicht als sexuell reizendes, lustbringendes <strong>und</strong><br />

sozusagen an beliebiger Stelle erregbares Organ. 9 Freud setzt den traumatisierten<br />

<strong>und</strong> leicht re-traumatisierbaren Körper offenbar als den normalen<br />

voraus. William Ronald Dodds Fairbairn (1889–1964) hat diesen Körper<br />

schon 1946 als »Ergebnis pathologischer Prozesse« bezeichnet.<br />

70<br />

Die Konzeption erogener Zonen basiert auf einer atomistischen o<strong>der</strong> molekularen<br />

Vorstellung vom Organismus (…) Einen normal funktionierenden Organismus<br />

kann man nur vom künstlichen Standpunkt wissenschaftlicher Analyse<br />

in getrennt wirkende Teile aufglie<strong>der</strong>n (…) 10<br />

9 Konkordanz zu den gesammelten Werken von Sigm<strong>und</strong> Freud (1995). Im Rahmen <strong>der</strong><br />

sado-masochistischen Abirrungen übernimmt »die <strong>Haut</strong>, die sich an beson<strong>der</strong>en Körperstellen<br />

(…) zur Schleimhaut modifiziert hat, also die erogene Zone κατ’εξοχην«,<br />

überhaupt die Rolle einer erogenen Zone (1905d, G.W. Bd 5, S. 84, 68–69).<br />

10 Hermann Schmitz würde hier von »Leibesinselschw<strong>und</strong>« sprechen (Schmitz 1965, S.<br />

25–28, 151–69; Fairbairn 1982, S. 66; vgl. <strong>Fischer</strong>-Homberger 2004, S.80–81).<br />

Das Bild, welches Freud vom Integument des Körpers entwirft, ist nicht das<br />

eines multimodal fühlenden, empfindlichen, abwehr- <strong>und</strong> strapazierfähigen Organs,<br />

welches Kontakt <strong>und</strong> Abgrenzung reguliert, son<strong>der</strong>n das einer in Frage<br />

gestellten, wenn nicht – als erogene Zone – explizit zur Überschreitung einladenden<br />

Grenze. Wer so umhüllt ist, wird, wenn überhaupt, höchstens einen<br />

schmalen Bereich von Berührung we<strong>der</strong> als integritätsverletzend noch als isolierend<br />

erleben können.<br />

Freuds Blick ist eben in erster Linie auf die körperlichen <strong>und</strong> psychischen<br />

Gegenden gerichtet, die unter <strong>der</strong> <strong>Haut</strong> liegen – dort, <strong>und</strong> nicht an <strong>der</strong> Oberfläche,<br />

sucht er die erste Wahrheit. Mit diesem Interesse für das Verborgene<br />

liegt er ganz im Enthüllungs- <strong>und</strong> Demaskierungstrend seiner Zeit, die von<br />

allem fasziniert ist, was unter <strong>und</strong> hinter Fassaden, Kulissen, Polsterungen,<br />

Klei<strong>der</strong>n, Schminken, Behauptungen, Oberflächen überhaupt liegt, die insgesamt<br />

bestrebt ist, die Strukturen unter <strong>und</strong> hinter Vorgezeigtem freizulegen (Ellenberger<br />

1970, S. 273–278; 537–540). Wie<strong>der</strong>holt hat Freud die psychoanalytische<br />

Arbeit mit dem archäologischen Schürfen nach Zeugen von Vergessenem<br />

verglichen (das bergmännische Fachwort ›schürfen‹ geht übrigens auf mittelhochdeutsch<br />

›schür[p]fen‹ zurück, das auch für das Ritzen <strong>der</strong> <strong>Haut</strong> gebraucht<br />

wurde). Auch im kriminologischen Fahnden nach <strong>der</strong> versteckten Wahrheit<br />

wurzelt wohl Freuds penetrativer Blick. Tatsächlich gehörten gerichtspsychiatrisch<br />

interessierte Mediziner zu seinen wichtigen Lehrern: Jean Martin Charcot,<br />

Brouardel <strong>und</strong> Richard von Krafft-Ebing (1840–1902), <strong>der</strong> Verfasser gerichtspsychiatrischer<br />

Lehrbücher <strong>und</strong> Autor <strong>der</strong> Psychopathia sexualis (1886).<br />

Freuds Aufmerksamkeit auf alles, was unter <strong>der</strong> Oberfläche liegt, entspricht<br />

schließlich auch dem Stand <strong>der</strong> somatischen, speziell <strong>der</strong> Wiener Medizin<br />

seiner Zeit. Jenes Wien gilt als »die Wiege <strong>der</strong> Endoskopie« (Seydl 1997, S.<br />

35) – einer Diagnostik, die alle verfügbaren Löcher benützt, das Körperinnere<br />

den Sinnen unmittelbar zugänglich zu machen. So besehen kann Freud füglich<br />

als Entdecker <strong>der</strong> ›Psychoskopie‹ bezeichnet werden. Jenes medizinische Wien<br />

hat auch den Aufschwung einer Chirurgie gesehen, welche sich ab Mitte des<br />

19. Jahrh<strong>und</strong>erts dank Anästhesie <strong>und</strong> Antisepsis durch die <strong>Haut</strong>grenze kaum<br />

mehr am Eindringen in den Körper behin<strong>der</strong>t fand. In den 1870er <strong>und</strong> 1880er<br />

Jahren dringen Ch. A. Theodor Billroth (1829–1894) <strong>und</strong> seine Schüler erstmals<br />

in eine <strong>der</strong> großen Körperhöhlen vor, was eine spektakuläre Erweiterung<br />

des chirurgischen Handlungsradius bedeutete <strong>und</strong> die Chirurgie zur sozusagen<br />

inbegrifflichen Therapie aufsteigen ließ. Freud hat es daher nahegelegen, seine<br />

psychoanalytische Kur mit <strong>der</strong> Chirurgie zu vergleichen.<br />

Ich habe bei mir häufig die kathartische Psychotherapie mit chirurgischen<br />

Eingriffen verglichen, meine Kuren als psychotherapeutische Operationen<br />

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