52*53*54*55*56*58 *59*60*61*62*63 - Schauspiel Stuttgart
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63 KABALE KABALE UND LIEBE
KABALE UND LIEBE<br />
> VON FRIEDRICH SCHILLER <<br />
Premiere am 28. März 2009 im <strong>Schauspiel</strong>haus<br />
Keine Pause<br />
www.staatstheater-stuttgart.de
schauspielstuttgart<br />
kabale und liebe<br />
Besetzung<br />
präsident von walter, Jörg Lichtenstein<br />
am Hof eines deutschen Fürsten<br />
ferdinand, Christoph Gawenda<br />
sein Sohn, Major<br />
hofmarschall von kalb Florian von Manteuffel<br />
lady milford, Susana Fernandes Genebra<br />
Favoritin des Fürsten<br />
wurm, Benjamin Grüter<br />
Haussekretär des Präsidenten<br />
miller, Boris Koneczny<br />
Stadtmusikant<br />
dessen frau Rahel Ohm<br />
luise, Minna Wündrich<br />
dessen Tochter<br />
ein kammerdiener<br />
des fürsten Bernhard Baier<br />
regie Claudia Bauer<br />
bühne Hendrik Scheel<br />
kostüme Daria Kornysheva<br />
musik Smoking Joe<br />
dramaturgie Sabine Westermaier<br />
regieassistenz Laura Tetzlaff<br />
bühnenbildassistenz Jelena Nagorni<br />
kostümassistenz Leah Lichtwitz<br />
Dinah Lichtwitz<br />
s: 4 ˚ s: 5 ˚<br />
schauspielstuttgart<br />
kabale und liebe<br />
dramaturgieassistenz Verena Eitel<br />
inspizienz Bernd Lindner<br />
souffleur Frank Laske<br />
regiehospitant Johannes Siegmund<br />
bühnenbildhospitantin Camila Durán<br />
kostümhospitantin Anika Billard<br />
Technische Direktion: Karl-Heinz Mittelstädt // Technische Direktion<br />
<strong>Schauspiel</strong>: Andreas Zechner // Technische Einrichtung: Jürgen Zott //<br />
Ton: Frank Bürger, Gerd-Richard Schaul // Licht: Stefan Bolliger //<br />
Beleuchtung: Peter Krawczyk // Video: Rainer Schwarz // Requisite:<br />
Edgar Girolla, Jörg Schellenberg // Maschinerie: Hans-Werner Schmidt //<br />
Leitung Dekorationswerkstätten: Bernhard Leykauf // Technische<br />
Produktionsbetreuung: Karin von Kries // Malsaal: Maik Sinz //<br />
Bildhauerei: Michael Glemser // Dekorationsabteilung: Donald Pohl //<br />
Schreinerei: Frank Schauss // Schlosserei: Patrick Knopke //<br />
Leitung Maske: Heinz Schary // Maske: Stefan Jankov, Katrin Sahre,<br />
Jutta Wennrich // Kostümdirektion: Werner Pick // Produktionsleitung<br />
Kostüme: Sabine Wagner // Gewandmeisterinnen: Renate Jeschke (Damen),<br />
Anna Volk (Herren) // Färberei: Martina Lutz // Kunstgewerbe:<br />
Heidemarie Roos-Erdle, Daniel Strobel // Modisterei: Eike Schnatmann //<br />
Rüstmeisterei: Rolf Otto // Schuhmacherei: Verena Bähr, Alfred Budenz
schauspielstuttgart<br />
kabale und liebe<br />
DAS PRINZIP FERDINAND<br />
ODER DAS OBJET PETIT A<br />
Eine beliebte Süßigkeit, die es in jeder Bäckerei und in<br />
jedem Supermarkt zu kaufen gibt, ist die Kinderüberraschung,<br />
ein hohles von farbigem Papier umhülltes<br />
zwanzig Gramm schweres Schokoladenei, außen braun,<br />
innen weiß. Im Inneren des Eis befindet sich ein weiteres<br />
gelbes Plastikei, in dem sich wiederum ein kleines<br />
Plastikspielzeug oder winzige Teile, die sich zu einem<br />
Spielzeug zusammenbasteln lassen, befinden. Die meisten<br />
Kinder packen, wenn sie eine Kinderüberraschung<br />
bekommen, das Ei ungeduldig aus, brechen die Schokolade<br />
entzwei, ohne sie zu essen, weil sie völlig auf das Spielzeug<br />
fixiert sind. Die Faszination, die dieses verborgene<br />
Spielzeug auf Kinder ausübt, veranschaulicht laut Slavoj<br />
Žižek auf vollkommene Weise Jacques Lacans These:<br />
s: 6 ˚ s: 7 ˚<br />
schauspielstuttgart<br />
kabale und liebe<br />
»Ich liebe dich, aber unerklärlicherweise liebe ich etwas in<br />
dir, das mehr ist als du selbst und daher zerstöre ich dich.«<br />
Es verkörpert, so Žižek, das objet petit a in seiner reinsten<br />
Form: ein Gegenstand, der die zentrale Leere unseres<br />
Begehrens füllt; das unergründliche ,Etwas‘, das ein gewöhn-<br />
liches Objekt erhaben werden lässt; der verborgene Schatz,<br />
in der Mitte des Dings, das wir begehren.<br />
Kinderüberraschung gibt es in Deutschland seit 1974, die<br />
Fiktion der romantischen Liebe als Motiv des menschlichen<br />
Begehrens seit dem 12. Jahrhundert. Verfolgt man<br />
dieses Motiv bis heute ist eines augenfällig: Die großen<br />
Liebenden der Weltliteratur sind nicht die, die es in den<br />
sicheren Hafen der Ehe schaffen, sondern jene, die an den<br />
steilen Klippen ihrer Liebe zerschellen. Die romantische<br />
Liebe in Reinform ist per se unglücklich. Sie ist eine privilegierte<br />
Form des Leidens, garantiert sie doch, dass das<br />
Leben des Liebenden gefährlich, groß und tragisch ist. In<br />
ihrer schönsten Form entwickelt sie einen Sog, dem dieser
nicht widerstehen kann und der ihn in einem Triumph<br />
verzehrt und vernichtet.<br />
Zurück zum Ei: Obwohl sich das kleine Plastikspielzeug<br />
in materieller Hinsicht von dem Ei aus Schokolade unterscheidet,<br />
ist es der ursächliche Grund, das Ei zu kaufen.<br />
Dieses harmlose Stückchen Abfall der Konsumwelt füllt<br />
also die Lücke in der Schokolade selbst. Auf die romantische<br />
Liebe übertragen, steht es für die magische<br />
Eigenschaft, die den Liebenden eben gerade dieses und<br />
nicht jenes Objekt begehren lässt. Das Erkennen der<br />
magischen Eigenschaft des Objekts ist gleichzusetzen mit<br />
der Liebe auf den ersten Blick. Ohne jedes Vorzeichen<br />
wird der Liebende der Magie des Objekts gewahr und<br />
macht es zur optimalen Projektionsfläche seiner<br />
geheimsten Wünsche.<br />
Auch Schiller wusste schon, wie prekär es ist, den Anderen<br />
zum Bild seiner Obsession zu machen. In kabale und liebe<br />
wird die Liebe zwischen Luise und Ferdinand Gegenstand<br />
s: 8 ˚<br />
schauspielstuttgart<br />
kabale und liebe<br />
eines ,satanisch feinen Gewebs‘, das sich die narzisstischpassionierte<br />
Liebe Ferdinands zu nutze macht. Von Anfang<br />
an deklariert Ferdinand unmissverständlich seinen Besitzanspruch:<br />
»Dieses Weib ist für diesen Mann«.<br />
Seine Hybris zu glauben, die Geliebte zu erkennen –<br />
»Ich schau durch deine Seele, wie durch das klare Wasser<br />
dieses Brillanten.« –, ist vergleichbar dem Versuch der<br />
Überraschungsei-Sammler durch Schütteln, Wiegen und<br />
Horchen, bereits vor dem Kauf auf den Inhalt des Eis<br />
zu schließen. Die Profis unter ihnen haben das Glück zu<br />
75% ins Schwarze zu treffen, während Ferdinands<br />
Trefferquote im Verlauf des Dramas immer mehr gegen<br />
Null geht. Luise bleibt zwar das alleinige Objekt seines<br />
Begehrens, dessen Ursache liegt jedoch mehr und mehr<br />
außerhalb von ihr.<br />
Der magische erste Augenblick, der Luise für Ferdinand<br />
zu seiner vom ,Gott der Liebenden‘ bestimmten Frau werden<br />
ließ, wird zunehmend vom sekundären Beweggrund seiner<br />
Liebe, sich von seinem Vater bzw. der von ihm verhassten<br />
s: 9 ˚<br />
schauspielstuttgart<br />
kabale und liebe
schauspielstuttgart<br />
kabale und liebe<br />
Gesellschaft abzugrenzen, überlagert. Ferdinand stilisiert<br />
die Geliebte zur Hauptfigur eines heroisch-empfindsamen<br />
Liebesdramas, ohne je seine Vorstellungen von Liebe mit<br />
denen seiner Geliebten abzugleichen. Zurecht wirft Luise<br />
ihm vor: »Man verliert ja nur, was man besessen hat, und<br />
dein Herz gehört deinem Stande.« Je mehr Hindernisse<br />
sich ihrer Liebe in den Weg stellen, umso rigoroser werden<br />
Ferdinands Forderungen an sie. Als Luise die Flucht<br />
mit ihm ablehnt und sein schwelendes Misstrauen mit<br />
dem Auffinden des von Wurm diktierten Briefs auf fruchtbaren<br />
Boden fällt, tauscht er das Bild der Heiligen mit<br />
dem der Natter, die er zertreten muss.<br />
»Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des<br />
Wortes Mensch ist und er ist nur da ganz Mensch, wo er<br />
spielt.« Schiller bestimmt den freien Menschen als authentischen,<br />
mit sich selbst übereinstimmenden Menschen.<br />
In unserer Version von kabale und liebe wird die<br />
scheinbar unfreieste Figur, entstaubt vom christlichen<br />
*** Übrigens wird in regelmäßigen Abständen gefordert, die unter Sammlern<br />
kurz Ü-Ei benannte Süßigkeit zu verbieten, da Kinder womöglich nicht zwischen<br />
dem essbaren Anteil (Schokolade ist gleich Objekt des Begehrens) und dem sich<br />
s: 10 ˚<br />
s: 11 ˚<br />
schauspielstuttgart<br />
kabale und liebe<br />
und bürgerlichen Sittenkodex des späten 18. Jahrhunderts,<br />
die sechzehnjährige Luise zur freiesten Figur von allen.<br />
Der Verzicht ihre Liebe zu leben garantiert ihr Bestehen.<br />
Alle anderen Figuren bleiben ,Sklaven eines einzigen<br />
Marionettendrahts‘, allen voran Ferdinand. Er, der die<br />
anderen am ,Riesenwerk seiner Liebe hinaufschwindeln‘<br />
lassen will, wird Opfer seiner Liebe. In seiner Wut und<br />
Verzweiflung, dass sein Bild der Geliebten sich immer<br />
weniger mit der Wirklichkeit deckt, zerstört er sie und<br />
sich. Erst im Angesicht des Todes, erlebt er wie beim<br />
ersten Anblick von Luise noch einmal den Zauber der<br />
Liebe, fallen für einen ewigen Moment objet petit a und<br />
Objekt des Begehrens in eins.<br />
sabine westermaier<br />
innerhalb befindlichen Spielzeug (objet petit a ist gleich Ursache des Begehrens)<br />
unterscheiden können. Die Kinder, so heißt es, könnten sich bei dem Versuch,<br />
auch das Spielzeug zu essen, gefährlich verschlucken.
s: 12 ˚<br />
schauspielstuttgart<br />
kabale und liebe<br />
Lass auch Hindernisse wie Gebirge zwischen uns treten,<br />
ich will sie für Treppen nehmen und drüber hin in deine Arme fliegen.<br />
Kartentelefon Nr. 0711 20 20 90<br />
s: 13 ˚<br />
schauspielstuttgart<br />
kabale und liebe
Vor ein paar Jahren wurde im britischen Fernsehen<br />
ein charmanter Werbespot für eine Biermarke<br />
gesendet. Er begann mit einer Begegnung<br />
wie in einem Märchen: Eine junge Frau läuft am<br />
Fluss entlang, sieht einen Frosch, setzt ihn sanft<br />
auf ihren Schoß, küsst ihn, und natürlich verwandelt<br />
er sich in einen schönen jungen Mann. Doch<br />
die Geschichte ist noch nicht vorbei: Der junge<br />
Mann wirft einen hungrigen Blick auf sie, zieht<br />
sie an sich, küsst sie – und sie verwandelt sich in<br />
eine Bierflasche, die der Mann triumphierend in<br />
der Hand hält. Für die Frau hat ihre Liebe und<br />
Zuneigung (die durch den Kuss signalisiert wird)<br />
einen Frosch in einen schönen Mann verwandelt,<br />
eine volle phallische Gegenwart. Für den Mann<br />
geht es darum, die Frau auf ein Partialobjekt zu<br />
s: 14 ˚<br />
schauspielstuttgart<br />
kabale und liebe<br />
schauspielstuttgart<br />
kabale und liebe<br />
reduzieren, den Grund seines Begehrens. Wegen<br />
dieser Asymmetrie kann es keine Geschlechtsbeziehung<br />
geben: Entweder haben wir eine Frau<br />
mit einem Frosch oder einen Mann mit einer<br />
Bierflasche. Was wir niemals haben werden, ist<br />
das natürliche Paar der schönen Frau und des<br />
Mannes: Der phantasmatische Gegenpart dieses<br />
idealen Paars wäre die Figur eines Frosches, der<br />
eine Bierflasche umarmt – ein inkongruentes Bild,<br />
das, anstatt die Harmonie der sexuellen Beziehung<br />
zu garantieren, ihren lächerlichen Misston herausstreichen<br />
würde. (...) Besteht nicht die ethische<br />
Aufgabe unserer heutigen Künstler darin, uns mit<br />
dem Frosch zu konfrontieren, der eine Bierflasche<br />
umarmt, wenn wir in unseren Tagträumen unsere<br />
Geliebte umarmen? ° slavoj žižek<br />
s: 15 ˚
s: 16 ˚<br />
schauspielstuttgart<br />
kabale und liebe<br />
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kabale und liebe<br />
Liebe ist und bleibt für die alteuropäische Tradition trotz<br />
erkannter Besonderheit ein konstituierendes Merkmal der<br />
Gesellschaft selbst. (...) Die philosophischen und religiösen<br />
Generalisierungen, die die Grenzen der einzelnen Gesellschaft<br />
und damit das Liebesgebot auf die Menschen schlechthin auszuweiten<br />
trachten, behalten einen utopischen Erfolg. Der evolutionäre<br />
Erfolg lag in der entgegengesetzten Richtung: nicht in<br />
einem Universellwerden, sondern in der Einschränkung und<br />
Mobilisierung des Mediums; nicht darin, dass man alle liebt,<br />
sondern darin, dass man einen beliebigen ausgewählten anderen<br />
Menschen liebt. Die das abdeckende Konzeption der Liebe wird<br />
seit dem ausgehenden Mittelalter geschaffen und setzt sich in<br />
der Neuzeit durch. Sie deutet Liebe als amour passion, als<br />
Leidenschaft. Vordem explizit ausgegrenzt und als menschliche<br />
Unvermeidlichkeit ohne gesellschaftliche Funktion behandelt,<br />
wird Passion nun zum führenden Merkmal. Mit ihr verbinden<br />
sich in der heute geläufigen, ja fast schon trivialisierten<br />
Vorstellung Sinnmomente wie: willenloses Ergriffensein und<br />
s: 17 ˚
krankheitsähnliche Besessenheit, der man ausgeliefert ist,<br />
Zufälligkeit der Begegnung und schicksalhafte Bestimmung für-<br />
einander, unerwartbares (und doch sehnlichst erwartetes) Wunder,<br />
das einem irgendwann im Leben widerfährt, Unerklärlichkeit des<br />
Geschehens, Impulsivität und ewige Dauer, Zwanghaftigkeit und<br />
höchste Freiheit der Selbstverwirklichung. (...) Die Institutionalisierung<br />
der Liebe als Passion symbolisiert die gesellschaftliche<br />
Ausdifferenzierung von Intimbeziehungen. Das wichtigste<br />
Anzeichen dafür neben dem Abstreifen von Verantwortlichkeit<br />
ist der Umstand, dass Indifferenzen und Irrelevanzen explizit<br />
legitimiert werden: dass bei wahrer, echter, tiefer Liebe (...) es<br />
weder auf Stand noch auf Geld, weder auf Reputation noch auf<br />
Familie noch auf sonstige ältere Loyalitäten ankommen kann. Das<br />
Zerstörerische daran wird gesehen – und geradezu mitgenossen.<br />
(...) Trotz aller mittelalterlichen Wurzeln der ,romantischen Liebe‘<br />
ist ihre Institutionalisierung als Ehegrundlage eine entschieden<br />
neuzeitliche Errungenschaft, in den ersten programmatischen<br />
Postulierungen dem Sentimentalismus des 18. Jahrhunderts zu<br />
danken und dort Bestandteil bürgerlicher Kritik aristokratischer<br />
Immoral. Erst damit wird dieses Konzept der Liebe aus den<br />
Beliebigkeiten des rein individuellen Erlebens herausgenommen<br />
und in sozialen Erwartungen festgemacht. Es enthält den<br />
s: 18 ˚<br />
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kabale und liebe<br />
schauspielstuttgart<br />
kabale und liebe<br />
Charakter einer Zumutung – einer Zumutung für die, die passioniertes<br />
Lieben anderer miterleben und billigen müssen; einer<br />
Zumutung vor allem aber auch für die, die sich verlieben müssen,<br />
bevor sie heiraten. (...) Liebe wird zum reflexiven Mechanismus<br />
und auch in dieser Hinsicht zu einer voraussetzungsvollen,<br />
riskierten und störungsanfälligen Institution. Sie wird auf sich<br />
selbst angewandt, ehe sie sich ein Objekt wählt. Man liebt das<br />
Lieben und deshalb einen Menschen, den man lieben kann. (...)<br />
Im Übrigen ist für den Normalfall eine mehr oder weniger klischeeförmige<br />
Außensteuerung dieses auf Liebe gerichteten Liebens<br />
bezeichnend. Die Liebe mag dann zunächst auf ein generalisiertes<br />
Suchmuster gerichtet werden, das eine Erfüllung erleichtern<br />
kann. Setzt nicht ,Liebe auf den ersten Blick‘ voraus, dass man<br />
schon vor dem ersten Blick verliebt war?<br />
° niklas luhmann<br />
s: 19 ˚
s: 20 ˚<br />
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kabale und liebe<br />
schauspielstuttgart<br />
kabale und liebe<br />
Das ,Herz-Stück‘ von kabale und liebe ist das<br />
Wort ,Herz‘ selbst. Hundertundfünfmal kommt<br />
es vor und die Beherztheit mit der alle Figuren<br />
um Liebe und Glück ringen ist gnadenlos.<br />
Untersucht man die zahllosen Regieanweisungen,<br />
die schmerzlich starren Blicke, die Bestürzungen<br />
und Erschütterungen, die Flut der Tränen, die<br />
beherzten Würfe ins Sofa, wird deutlich, dass alle,<br />
auch die sogenannten Bösewichter, befragt<br />
nach dem innersten Beweggrund ihres Handelns,<br />
tragisch Liebende sind. Das Herz konstituiert<br />
sich als Gegenstand des Tausches.<br />
s: 21 ˚
s: 22 ˚<br />
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kabale und liebe<br />
s: 23 ˚<br />
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kabale und liebe<br />
das menschliche begehren<br />
ist das begehren des andern<br />
Das Subjekt begehrt nur, insoweit es<br />
den Andern selbst als begehrend<br />
erfährt, als den Sitz eines unergründlichen<br />
Begehrens, als ob ein opakes<br />
Begehren von ihm oder ihr ausginge.<br />
Der andere wendet sich nicht nur mit<br />
einem rätselhaften Begehren an mich,<br />
er konfrontiert mich auch mit der<br />
Tatsache, dass ich selbst nicht weiß,<br />
was ich wirklich begehre, mit dem<br />
Rätsel meines eigenen Begehrens. (...)<br />
Geliebt zu werden lässt mich unmittelbar<br />
die Kluft zwischen dem fühlen, was<br />
ich als endliches Wesen bin, und dem<br />
unergründlichen X in mir, das Liebe<br />
hervorruft. Lacans Definition von Liebe<br />
– »Liebe heißt, etwas geben, das man<br />
nicht hat ...« – muss daher ergänzt<br />
werden – » ... und zwar jemandem, der<br />
es nicht will.« ° slavoj žižek
schauspielstuttgart<br />
kabale und liebe<br />
luise. Nicht doch, mein Vater! Das sind nur Schauer, die sich um<br />
das Wort herum lagern – Weg mit diesem, und es liegt ein Brautbette<br />
da, worüber der Morgen seinen goldenen Teppich breitet und die<br />
Frühlinge ihre bunten Girlanden streun. Nur ein heulender Sünder<br />
konnte den Tod ein Gerippe schelten; es ist ein holder niedlicher<br />
Knabe, blühend, wie sie den Liebesgott malen, aber so tückisch nicht<br />
– ein stiller dienstbarer Genius, der der erschöpften Pilgerin Seele<br />
den Arm bietet über den Graben der Zeit, das Feenschloss der ewigen<br />
Herrlichkeit aufschließt, freundlich nickt und verschwindet.<br />
Dem Tod haftet etwas Anstößiges an, das freilich von anderer<br />
Beschaffenheit ist als das Unanständige des Liebesaktes. Der Tod<br />
ruft Tränen hervor, das sexuelle Verlangen zuweilen Lachkrämpfe.<br />
Doch ist das Lachen dem Weinen nicht so entgegengesetzt, wie es<br />
den Anschein hat: der Gegenstand des Lachens und der Gegenstand<br />
des Weinens ist immer an eine Art Gewalt gebunden, die den regelmäßigen,<br />
den gewohnten Lauf der Dinge plötzlich unterbricht. Im<br />
Allgemeinen sind es unerwartete Ereignisse, die Tränen hervorrufen,<br />
andererseits kann uns aber auch ein unverhofftes glückliches<br />
Ereignis derart erregen, dass wir vor Freude weinen. Das sexuelle<br />
Chaos entlockt uns gewiss keine Tränen, aber immer löst es<br />
Verwirrung, manchmal sogar Bestürzung aus, und dann bleibt nur<br />
noch die Alternative, dass wir entweder lachen oder uns der Gewalt<br />
der Umarmung überlassen. ° georges bataille<br />
s: 24 ˚<br />
s: 25 ˚<br />
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kabale und liebe
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kabale und liebe<br />
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kabale und liebe<br />
Andy Warhol hat in den siebziger Jahren eine schöne kleine<br />
Theorie entwickelt. Für ihn gibt es vier Faktoren, die verliebt<br />
machen: Gesicht, Körper, Geld und Macht respektive Ansehen.<br />
Zur richtigen Partnerwahl müssen Sie nur Ihre Liebesliga<br />
bestimmen, dann steht dem Glück nichts mehr im Wege. Dies<br />
verlangt aber eine gewisse Aufrichtigkeit sich selbst gegenüber.<br />
Bewerten Sie bei sich und beim Objekt Ihres Begehrens<br />
die vier Faktoren nach drei Noten: Spitze, Mittel und Nichts.<br />
Danach wissen Sie in welcher Liebesliga Sie, in welcher der<br />
andere spielt. Wenn Sie also z.B. Gesicht ,Spitze‘, Körper und<br />
Geld ,Mittel‘ und Macht ,Nichts‘ haben, spielen Sie mit allen<br />
Menschen, die ebenfalls einmal Spitze, zweimal Mittel und einmal<br />
Nichts haben, in derselben Liga. Dabei ist es gleichgültig,<br />
welche der vier Faktoren jeweils mit Spitze, Mittel oder<br />
Nichts bewertet sind. Zur Bestimmung der Mitgliedschaft in<br />
einer Liga reichen die puren Zahlenverhältnisse. Auf diese<br />
Weise können Sie leicht feststellen, welche Menschen zu<br />
Ihnen passen. Sie dürfen nur nicht schummeln. Viel Glück.
s: 28 ˚<br />
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kabale und liebe<br />
s: 29 ˚<br />
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kabale und liebe<br />
Das Prinzip Luise<br />
oder das Gesetz ist das Begehren<br />
Der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan<br />
bezeichnet das Erlernen der Sprache als<br />
magische Schwelle. Mit der Überschreitung dieser<br />
Schwelle tritt das Kleinkind in eine Welt ein,<br />
aus der es nicht mehr in das Stadium der präsprachlichen<br />
Phase zurückkehren kann und sich<br />
fortan der symbolischen Ordnung, der Ordnung<br />
der Sprache, mit all ihren Konventionen und<br />
Strukturen unterordnen muss. Auch in der Liebe<br />
können solch magische Schwellen gefunden werden.<br />
Und vergleichbar dem Kleinkind, das die
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schauspielstuttgart<br />
kabale und liebe<br />
einmal erlernte Sprache nicht wieder<br />
verlernen kann, kann auch der Liebende<br />
nicht wieder hinter eine einmal übertretene<br />
Schwelle, in eine vergangene Liebes-Phase<br />
zurückkehren.<br />
Luise weiß – bewusst oder unbewusst – um diese<br />
magische Schwelle in ihrer Liebe zu Ferdinand.<br />
Sie erkennt, dass das Ideal ihrer Liebe mit<br />
dem Eintritt in die Realität, also dem Versuch<br />
einer gemeinsam gelebten Zukunft mit dem<br />
Geliebten, unabwendbar zerstört werden würde.<br />
Ihre Liebe ist das pure, reine Gefühl noch<br />
unangetastet von jedweden Forderungen, An-<br />
sprüchen und Bedürfnissen. »Ich will ja nur<br />
wenig – an ihn denken – das kostet ja nichts.«<br />
Luise ist eine genügsam Liebende, ihre Liebe<br />
herrscht in ihren Gedanken und ihrer Sprache<br />
über den Geliebten, nicht in der Tat oder dem<br />
körperlichen Begehren. Es ist eine Liebe, der<br />
die Distanz nichts anhaben kann, da sie sich<br />
im Sehnen und nicht in der Erfüllung offenbart.<br />
Ihre Verankerung in der Welt der reinen<br />
Vorstellung schützt sie vor einer Funktionalisierung<br />
und Instrumentalisierung in ein<br />
kulturelles und soziales System. So wie auch<br />
das nicht-sprechende Kleinkind noch vor der<br />
Unterordnung seiner selbst als Subjekt durch<br />
s: 31 ˚<br />
schauspielstuttgart<br />
kabale und liebe<br />
die Sprache geschützt ist, ist Luises Liebe<br />
frei von jedem äußeren Einfluss. Was würde<br />
wohl aus Luises Liebe werden, würde sie<br />
versuchen sie zu leben? Aus dem Selbstzweck<br />
Liebe würde ein kultureller und sozialer<br />
Faktor, der einem Alltag voller Hindernisse<br />
standhalten, sich in eine von unzähligen<br />
Variablen strukturierte Realität als nur eine<br />
Variable von vielen einordnen müsste. Auch<br />
wenn ihre Liebe all dies aushalten könnte, so<br />
schön wie in den ersten Momenten des Verliebtseins<br />
wäre sie nie wieder. Gerade durch den<br />
Verzicht – »Auch will ich ihn ja jetzt nicht.<br />
Ich entsag’ ihm für dieses Leben.« –, diese<br />
Liebe leben zu wollen, kann sie ihre Vollkommenheit<br />
erhalten.<br />
Luise ist wie eine Bungee-Springerin, deren<br />
Wonne nicht im eigentlichen Akt, dem Sprung,<br />
liegt, sondern in dem Moment davor.<br />
Der Sprung selbst, die Überwindung<br />
der Angst, der Adrenalin-Kick,<br />
das Gefühl des freien Falls, all<br />
dies ist für Luise nicht reizvoll.
Was für sie zählt, wenn sie in die Tiefe schaut,<br />
ist der Moment der Erhabenheit über die Welt,<br />
zur gleichen Zeit von allem losgelöst und ganz<br />
und gar im Gefühl der Nähe mit allem aufzugehen.<br />
Der Sprung, so schön er ist, würde diese<br />
Einheit vergänglich werden lassen. Und so<br />
verweilt sie im perfekten Moment, zelebriert<br />
seine Schönheit, den Genuss des Verzichts, der<br />
hier nichts beschränkt, sondern im Gegenteil<br />
alles möglich macht.<br />
Luise liebt um der Liebe willen. Jeder kennt<br />
diese genügsamen Momente des ersten Verliebtseins,<br />
in denen ein Gedanke an die geliebte<br />
Person das vollkommene Glück bedeutet, der<br />
Anblick des Geliebten ausreicht um die Welt in<br />
einen Ort der bedingungslosen Glückseligkeit<br />
zu verwandeln. Das Gefühl der ersten Berührung,<br />
des ersten Kusses, die so nie wiederkehren.<br />
Und jeder kennt sie, die hilflosen Versuche<br />
die Perfektion dieser ersten Momente wiederherzustellen.<br />
Denn die Befriedigung eines Begehrens macht<br />
aus dem Begehren ein Besitzen, und nur zu oft<br />
ist der nächste Schritt, der auf das Besitzen<br />
folgt, der Überdruss. Wir entlieben uns und<br />
ziehen weiter zum nächsten Objekt unseres<br />
Begehrens. So stellt sich die Nicht-Befriedigung<br />
s: 32 ˚<br />
schauspielstuttgart<br />
kabale und liebe<br />
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schauspielstuttgart<br />
kabale und liebe<br />
unseres Begehrens als eigentlich erstrebenswerter<br />
Zustand heraus, der uns vor der<br />
Enttäuschung und dem Schmerz einer entschwindenden<br />
Liebe schützt. Gleichzeitig wird das<br />
beständige Begehren als größerer Genuss als<br />
eine schnelle, kurzfristige Befriedigung<br />
kultiviert. »Denn die Lust setzt dem Genießen<br />
Grenzen, die Lust als inkohärentes Band des<br />
Lebens.« Das Prinzip des Verzichts ist nicht<br />
nur ein entbehrendes, sondern vielmehr ein<br />
erhaltendes.<br />
Wenn die Vergänglichkeit der Liebe zur<br />
Wesenhaftigkeit ihrer selbst gehört, bleibt<br />
den Liebenden nichts anderes als aktiv zu<br />
werden und selbst die magischen Schwellen,<br />
die Grenzen im Genießen permanent neu<br />
zu erschaffen. Das Begehren selbst wird zum<br />
Gesetz, denn jede Liebe ist endlich, das<br />
Begehren aber ist es nicht. ° Verena Eitel
impressum<br />
textnachweis<br />
Carl Hegemann, Die Liebesligen oder jenseits von klug und blöde, 1000 Theorien (18), in:<br />
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. Januar 2000;<br />
Niklas Luhmann, Liebe, Eine Übung, Frankfurt am Main 2008, S. 30 – 41;<br />
Slavoj Žižek, Lacan, Eine Einführung, Frankfurt am Main 2008, S. 61, 62, 64, 78f;<br />
Georges Bataille, Die Tränen des Eros, Hrsg. Gerd Bergfleth, S 35 f.;<br />
Slavoj Žižek, Die gnadenlose Liebe, Frankfurt am Main 2001, S.32 – 37;<br />
Slavoj Žižek, Faktor X. Das Ding und die Leere;<br />
1. Das unergründliche Genießen, Konzeption, Regie und Produktion: Anne von der Heiden,<br />
Thomas Knoefel und Klaus Sander. Audio-Cd, 78 Minuten, Köln 2003<br />
herausgeber<br />
<strong>Schauspiel</strong> <strong>Stuttgart</strong> / Staatstheater <strong>Stuttgart</strong><br />
intendant<br />
Hasko Weber<br />
redaktion<br />
Sabine Westermaier, Verena Eitel<br />
gestaltung<br />
Strichpunkt, <strong>Stuttgart</strong> / www.strichpunkt-design.de<br />
druck<br />
Engelhardt und Bauer<br />
s: 34 ˚