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Ihr kennt eure Bibel nicht! - von Katharina Mommsen

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Germanie Studi i MOMME MOMMSEN<br />

(Supersedes German Studi i· A )<br />

Founded by Heinrich M y ..<br />

Edited by <strong>Katharina</strong> <strong>Mommsen</strong>, Stanf r I rnia LEBENDIGE UBERLIEFERUNG<br />

No. 69<br />

GEORGE . HÖLDERLIN . GOETHE<br />

PETERLANG<br />

Bem· Berlin· Frankfurt am Main· New York· P rl . Wi n PEIER LANG


Inhalt<br />

Vorwort ...... . ............................. . ........... V<br />

Inhalt .................... . ............................ VII<br />

Abkürzungsverzeichnis ..... . . . ....... . ... . ............. . IX<br />

"<strong>Ihr</strong> <strong>kennt</strong> <strong>eure</strong> <strong>Bibel</strong> <strong>nicht</strong>!" <strong>Bibel</strong>- und Horazanklänge<br />

in Stefan Georges Gedicht DER KRIEG • 1 • ••• •• •• • ••• • ••••• • 1<br />

Der Rhein und das Rheinland<br />

in der Dichtung Stefan Georges ........ . ... . ........... 27<br />

Nostradamus-Anklänge in Stefan Georges TAFELN • • •• .. . . • . .40<br />

Hölderlins Lösung <strong>von</strong> Schiller. Zu Hölderlins Gedichten<br />

AN HERKULES und DIE EICHBÄUME und den Übersetzungen<br />

aus Ovid, Vergil und EUripides . . . . . . . . ... . . . ...... . .... 53<br />

Die Problematik des Priestertums bei Hölderlin .. . ..... . ... 107<br />

Dionysos in der Dichtung Hölderlins<br />

mit besonderer Berücksichtigung der FRIEDENSFEIER • • •• •. • 135<br />

Traditionsbezüge als Geheimschicht in Hölderlins Lyrik.<br />

Zu den Gedichten DIE WEISHEIT DES TRAURERS,<br />

DER WANDERER, FRIEDENSFEIER, BROD UND WEIN • .•. •• .. • ...• 185<br />

Spinoza und die Deutsche Klassik ................. . . . . . . . 217<br />

Goethes Verhältnis zu Christus und Spinoza.<br />

Blick auf die WERTHER-Zeit . . ................... . ...... 275<br />

Goethe als Selbstdarsteller . . . ... . . . ... . . . . . . . . . .. .. . .... 307<br />

"Schwänchen" und "Schwan" im S CHENKENBUCH<br />

des WEST-ÖSTLICHEN DIVAN . .. . .. . . . . . . . . . . . .. . . . . . ... . . 343<br />

VII


Goethe und Zelter ...................................... 353<br />

Goethe und Eckermann<br />

................................. 363<br />

Zur ENTSTEHUNG VON GOETHES WERKEN IN DOKUMENTEN ........ 369<br />

Internationales Echo auf DIE ENTSTEHUNG VON<br />

GOETHES WERKEN IN DoKUMENTEN ..................... . . 385<br />

Nachweise der ersten Veröffentlichung ................... 391<br />

Register<br />

VIII<br />

........................................... . .. . 393<br />

EGW<br />

Eis .<br />

Abkürzungsverzeichnis<br />

= Momme <strong>Mommsen</strong> unter Mitwirkung <strong>von</strong> <strong>Katharina</strong> <strong>Mommsen</strong>,<br />

Die Entstehung <strong>von</strong> Goethes Werken in Dokumenten. Bd. I:<br />

Abaldemus bis Byron. Hg. vom Institut für deutsche Sprache und<br />

Literatur der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin.<br />

Berlin: Akademie Verlag. 1958. XLIX, 572 S.; Bd. II: Cäcilia bis Dichtung<br />

und Wahrheit. Berlin: Akademie Verlag. 1958. xv, 529 S.<br />

= Winckelmanns sämtliche Werke. Hg. <strong>von</strong> Joseph Eiselein. Bd. 1-12.<br />

Donaueschingen, 1825-1829.<br />

Ethic. = Ethica Ordine Geometrico Demonstrata. In: Spinoza Opera / Werke<br />

Lateinisch und Deutsch Vier Bände. Hg. <strong>von</strong> Konrad Blumenstock.<br />

Bd. II: Ethica - Ethik [dt. <strong>von</strong> Berthold Auerbachl. Darmstadt 1967.<br />

Grimms Wörterbuch = Deutsches Wörterbuch <strong>von</strong> Jacob Grimm und Wilhelm<br />

Grimm. Bd. 1-16. Leipzig: Verlag <strong>von</strong> S. Hirze!. 1854-1954.<br />

HA = Goethes Werke. HamburgerAusgabein 14 Bänden. Textkritisch durchgesehen<br />

und mit Anmerkungen versehen <strong>von</strong> Erich Trunz. 7. Auf!.<br />

1964.<br />

HFA = Johann Gottfried Herder, Werke in zehn Bänden. Bd. 2 (1993) hg. <strong>von</strong><br />

Gunter E. Grimm und Bd. 4 (1994) hg. <strong>von</strong> Jürgen Brummack und<br />

Martin Bollacher. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag.<br />

1985 ff.<br />

HHA = Heinrich Heine Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. In<br />

Verbindung mit dem Heinrich-Heine-Institut hg. <strong>von</strong> Manfred Windfuhr<br />

im Auftrage der Landeshauptstadt Düsseldorf. Bde I/I, 1/2, 2,<br />

8/1,8/2. Hamburg: Hoffmannn und Campe Verlag. 1975 ff.<br />

Houben = Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren<br />

seines Lebens. Hg. <strong>von</strong> H. H. Houben. 23. Auf!. Leipzig 1948.<br />

JA = Goethe Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bdn. In B = Verbindung<br />

mit Konrad Burdach u. a. hg. <strong>von</strong> Eduard <strong>von</strong> der Hellen.<br />

Stuttgart und Berlin: Cotta 1902-1912.<br />

SchrGG = Schriften der Goethe-Gesellschaft. Im Auftrage des Vorstandes hg.<br />

Weimar 1885 ff.<br />

NA<br />

= Schillers Werke. Nationalausgabe. Im Auftrag des Goethe- und Schiller-Archivs,<br />

des Schiller-Nationalmuseums und der Deutschen Akademie<br />

hg. Bd . 1-42. Weimar 1943-1995.<br />

IX


StA = Hölderlin, Sämtliche Werke. Große Stuttgarter Ausgabe. Bd. 1-7.<br />

Stuttgart. 1943-1972.<br />

Str. = Strophe<br />

SWS = Johann Gottfried Herder, Sämtliche Werke. Hg. <strong>von</strong> Bernhard Suphan.<br />

Bd.1-33. Berlin.1877-1913.<br />

v. = Vers<br />

WA I = Goethes Werke. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie <strong>von</strong> Sachsen.<br />

Abth.1. Werke. 55 Bde (in 63). Weimar 1887-1918.<br />

WA 11 = -. Abth. 11. Naturwissenschaftliche Schriften. 13 Bde. Weimar 1890-<br />

1904.<br />

WA III = - . Abth. III. Tagebücher. 15 Bde (in 16). Weimar 1887-1919.<br />

WAIV = -. Abth. IV. Briefe. 53 Bde. Weimar 1887-1990.<br />

Z. = Zeile<br />

x<br />

"<strong>Ihr</strong> <strong>kennt</strong> <strong>eure</strong> <strong>Bibel</strong> <strong>nicht</strong>!"<br />

<strong>Bibel</strong>- und Horazanklänge<br />

in Stefan Georges Gedicht DER KRIEG<br />

Anspielungen auf die <strong>Bibel</strong> häufen sich bei George, seit er um 1907<br />

begann, als Dichter zum politischen Zeitgeschehen zu sprechen.<br />

Wie er allein in einer Welt, die sich für die fortgeschrittenste hielt,<br />

Symptome des Verfalls bemerkte, wie er das unvermeidliche Nahen<br />

<strong>von</strong> Katastrophen sah und die bedrohte Zukunft der Deutchen<br />

- all das rief Erinnerungen an die jüdische Geschichte in ihm<br />

wach, wo so oft die Stimmen einsamer Warner bevorstehendes<br />

politisches Unheil ankündigten. Mit Worten und Wendungen der<br />

<strong>Bibel</strong>, besonders der Propheten des Alten Testaments, verlieh<br />

George dem, was er jetzt zu sagen hattte, verstärkten Nachdruck.<br />

Assoziationen an eine große Menschheitsepoche, absichts voll erweckt,<br />

veranschaulichten Art und Ausmaß der aktuellen Gefahr.<br />

Für die Leser <strong>von</strong> Georges vielfach dunklen politischen Gedichten<br />

ergab sich dadurch eine zusätzliche Schwierigkeit. Bei dem<br />

Rückgang der <strong>Bibel</strong><strong>kennt</strong>nis in neuerer Zeit wurde es immer schwerer,<br />

seine Anspielungen zu bemerken. Im ganzen blieb aber der<br />

Sinn des Textes auch für den <strong>nicht</strong> mit der <strong>Bibel</strong> Vertrauten weitgehend<br />

verständlich. Ein Wahrnehmen der Anspielung bereichert die<br />

Deutung, bedingt sie jedoch <strong>nicht</strong>. Wenn DER KRIEG 1 mit dem Bild<br />

des Waldbrandes auf eindrucksvolle Weise beginnt, so schließt<br />

George sich damit der Einleitung des berühmten Hesekiel-Abschnitts<br />

Kap. 21 und 22 an (auf den wir noch zurückkommen). Das<br />

Waldbrandgleichnis gewinnt durch die Anspielung an Gewicht,<br />

doch ist es auch aus sich selbst zur Genüge verständlich. Wenn<br />

George den Deutschen Untreue gegenüber ihren geistigen Ursprüngen<br />

vorwirft mit der Wendung »die jeweils trünnigen erben« (DER<br />

Stefan George, DAS NEUE REICH. Gesamt-Ausgabe der Werke. Endgültige Fassung.<br />

18 Bde. Berlin: Georg Bondi. 1927-1934. Bd. 9. S. 28-34.<br />

1


schmach« mit inhaltlich ähnlichen Wend ungen der <strong>Bibel</strong> zusammenzubringen,<br />

obwohl sich Möglichkeiten hierfür geradezu<br />

aufdrängen. Naheliegen mußte es denn doch, zu fragen, ob George<br />

mit »Blut-schmach« <strong>nicht</strong> 'Blutschuld' im Sinne hatte. Im<br />

Wesen der Blutschuld liegt es, dass sie selbstverständlich Schmach,<br />

Schande, Befleckung zur Folge hat. Sehr wohl könnte das Wort<br />

»Blut-schmach« eine symbolistische Prägung sein, die diesen inneren<br />

Zusammenhang gedrängt kurz zum Ausdruck bringt. Die<br />

<strong>Bibel</strong> hätte daraufhin befragt werden müssen, ob <strong>nicht</strong> vom Begriff<br />

der Blutschuld her ein Verständnis des Worts »Blutschmach« sich<br />

ergibt und ob Georges Erwähnung der <strong>Bibel</strong> möglicherweise darauf<br />

abzielte. Dies zu unternehmen, wies Morwitz ausdrücklich ab.<br />

Nicht stichhaltig ist wiederum, was er als Begründung anführt:<br />

man dürfe das Wort Blutschuld, das in Psalm 51, v. 14 [richtig v. 16]<br />

vorkomme, <strong>nicht</strong> mit Blutschmach verwechseln. Die Nennung der<br />

einen Stelle führt irre. Das Wort "Blutschuld" erscheint in der <strong>Bibel</strong><br />

<strong>nicht</strong> nur einmal in jenem Psalm, es gehört zu den besonders<br />

häufig vorkommenden Wendungen. 9 Wesentlich ist, dass dabei<br />

wiederholt - wie nur natürlich - der Zusammenhang <strong>von</strong> Blutschuld<br />

mit Schmach zur Sprache kommt. Es heißt dann etwa: Blutschuld<br />

schändet, befleckt, besudelt, verunreinigt, in mannigfachen<br />

Variationen. (Dieser charakteristische Zusammenhang fehlt in dem<br />

<strong>von</strong> Morwitz benannten Psalm 51.)<br />

Unsere Aufgabe ist damit vorgezeichnet. An typischen Beispielen<br />

wird zu zeigen sein, welche Rolle in der <strong>Bibel</strong> Blutschuld spielt,<br />

wie ihre Bewertung und Charakteristik ist. Blutschuld belastet im<br />

Alten Testament oft ein einzelnes Individuum, öfter ein ganzes Volk.<br />

Fälle der zweiten, in den staatlichen Bereich gehörenden Art interessieren<br />

uns im Zusammenhang mit Georges politischem Gedicht<br />

am meisten. Als Vergehen wiegen sie besonders schwer und werden<br />

<strong>von</strong> Jahwe aufs grimmigste bestraft. In der Geschichte <strong>von</strong><br />

Naboths Weinberg (1. Könige 21) hat König Ahab "totgeschlagen,<br />

9 Nur vereinzelt taucht das Wort "Blutschande" auf, an das man auch denken könnte.<br />

Es bedeutet dann aber lediglich Inzest, was in unserm Zusammenhang <strong>nicht</strong><br />

zur Debatte steht. (3. Mos. 20, 17: "das ist eine Blutschande. Die sollen ausgerottet<br />

werden <strong>von</strong> den Leuten des Volks.")<br />

8<br />

I \Zu auch in Besitz genommen"; daher wird der Herr" <strong>von</strong> Ahab<br />

1I r tten, was männlich ist". "Geschlachtet" werden dessen sieb­<br />

'" , "hne, "seine Großen, seine Verwandten und seine Priester, bis<br />

ß • uch <strong>nicht</strong> einer übrigblieb" (2. Könige 10). Gott wollte mit<br />

\ r Bestrafung das vergoßene "Blut" rächen. Sollte <strong>nicht</strong> auf<br />

'r/i ferung dieser Art angespielt sein, wenn George <strong>von</strong> 'wahlu<br />

zurottenden Stämmen', wenn er <strong>von</strong> Blutschmach als der<br />

r t n« spricht? Das wäre dem Geist des Alten Testaments grund-<br />

1. 11 h gemäß, während in Vermischung ein Schlimmstes zu se­<br />

Il k in swegs biblischen Bluts-Wertungen entspricht.<br />

Wl Befleckung durch Blutschuld ein ärgstes Delikt ist, das<br />

lIun r wieder zur Darstellung gelangt, sollen einige Beispiele ver­<br />

,I 1111 h n. Ein Volk wird in jedem Falle durch Blutschuld "geschän­<br />

I. ll/, ueh wenn nur einzelne unrecht Blut vergossen:JO<br />

.' hltlldet das Land <strong>nicht</strong>, darin ihr wohnet; denn wer blutschuldig ist, der<br />

h nde! das Land, und das Land kann vom Blut <strong>nicht</strong> versöhnt [enthnl]<br />

werden, das darin vergossen wird, außer durch das Blut des, der<br />

I v 'rgossen hat. Verunreinigt das Land <strong>nicht</strong>, darin ihr wohnet, darin ich<br />

I h wohne.<br />

ht Jahwe im Zusammenhang <strong>von</strong> Weisungen über Behand­<br />

Totschlagdelikts (4. Mos. 35, 33). Ähnlich 5. Mos. 19, 10:<br />

I", I luf daß <strong>nicht</strong> unschuldig Blut in deinem Lande vergossen werde, das<br />

11 1 'r H rr, dein Gott, zum Erbe gibt, und Blutschulden auf dich kommen.<br />

I III'm ind es aber die Mordtaten <strong>von</strong> vielen oder der Obrigkeit,<br />

111111 huld über ein Land bringen, es schänden und beflecken:<br />

1 'nn ('ur' Hände si nd mit Blut befleckt und <strong>eure</strong> Finger mit Untugend [ ... ]<br />

<strong>Ihr</strong> · f'UH' 1 ... 1 sind schnell, unschuldig Blut zu vergießen . (Jes. 59, 3-7)<br />

INII h Einno hme Jerusalems ... ] Es ist aber geschehen um der Sünden<br />

wlllt'fl <strong>Ihr</strong> 'r Propheten und um der Missetaten willen ihrer Priester, die<br />

d ill 11\ da ,('rechi eIl Blut vergossen. Sie gingen hin und her auf den Gassen<br />

Wh' dll' Bl inden und wa ren mit Blut besudelt [ ... ] Des Herrn Zorn hat sie<br />

I Ift'III , (Klog·1. J r. 4,13-16)<br />

111 I 11 loIH('nden Ilcrvorh 'bungen durch Kursivdruck <strong>von</strong> M. M.<br />

9


Und sei [ ... ] vergossen unschuldig Blut, das Blut ihrer Söhne und ihrer Töchter<br />

[ ... ] daß das Land mit Blutschulden befleckt ward. (Psalm 106, 38.)<br />

Wenn ihr schon [ ... ] viel betet, höre ich euch doch <strong>nicht</strong>; denn <strong>eure</strong> Hände<br />

sind voll Blut. Waschet, reiniget euch [ ... ] Wie geht das zu, daß die fromme<br />

Stadt zur Hure geworden ist? Sie war voll Rechts. Gerechtigkeit wohnte darin,<br />

nun aber - Mörder [ ... ] Deine Fürsten sind Abtrünnige [ ... ] Mein Volk,<br />

deine Leiter verführen dich [ ... ] Und der Herr geht ins Gericht mit den Ältesten<br />

seines Volks und mit seinen Fürsten [ ... ] der Raub <strong>von</strong> den Armen ist in<br />

<strong>eure</strong>m Hause [ ... ] Dann wird der Herr den Unflat der Töchter Zions waschen<br />

und die Blutschulden Jerusalems vertreiben <strong>von</strong> ihr durch den Geist, der<br />

richten und ein Feuer anzünden wird. (Jes. Kap. 1-4.)<br />

Gewöhnlich wird die Wehr- und Schuldlosigkeit der Opfer beklagt<br />

bei solchen Mordtaten, dazu die Korruption der Justiz:<br />

Bessert euer Leben und Wesen, daß ihr recht tut einer gegen den andern und<br />

den Fremdlingen, Waisen und Witwen keine Gewalt tut und <strong>nicht</strong> unschuldiges<br />

Blut vergießt. (Jer. 7, 5 f. ähnlich 22, 3.)<br />

Witwen und Fremdlinge erwürgen sie und töten die Waisen [ ... ] Sie rüsten sich wider<br />

die Seele des Gerechten und verdammenunschuldig Blut. (Psalm 94, 6, 21.)<br />

Die frommen Leute sind weg in diesem Lande, und die Gerechten sind <strong>nicht</strong><br />

mehr unter den Leuten. Sie lauern alle auf Blut; ein jeglicher jagt den andern,<br />

daß er ihn verderbe, und meinen, sie tun wohl daran, wenn sie Böses tun.<br />

Was der Fürst will, das spricht der Richter [ ... ] Die Gewaltigen raten nach ihrem<br />

Mutwillen, Schaden zu tun, und drehen's, wie sie es wollen. (Micha 7, 2 ff.)<br />

Im Evangelium zum Stephans-Tag (Neues Testament) heißt es:<br />

Auf daß über euch komme all das gerechte Blut, das vergossen ist auf Erden<br />

[ ... ] Wahrlich, ich sage euch, daß solches alles wird über dies Geschlecht kommen.<br />

(Matth. 23, 35. Apostelgesch. 6, 8 ff.)<br />

Meist fehlt <strong>nicht</strong> der Hinweis, daß göttliche Bestrafung das mit<br />

Blutschuld behaftete Volk heimsuchen wird.<br />

10<br />

Es ist noch um eine kleine Zeit, so will ich die Blutschulden in Israel heimsuchen<br />

. (Hos. 1, 4.)<br />

Erwürget alles tot [ ... ] Es ist eitel Blutschuld im Lande und Unrecht in der<br />

Stadt [ ... ] Darum soll mein Auge auch <strong>nicht</strong> schonen, ich will auch <strong>nicht</strong><br />

gnädig sein, sondern will ihr Tun auf ihren Kopf werfen. (Hes. 9, 6-9.)<br />

Mord n, St hl n und Eh brechen hat überhandgenommen, und eine Blutschuld<br />

kommt nach der andern . Darum wird das Land jämmerlich stehen, und<br />

allen Einwohnern wird's übel gehen [ ... ] Mein Volk ist dahin, darum daß es<br />

<strong>nicht</strong> lernen will. (Hos. 4, 2-6.)<br />

Vergießt <strong>nicht</strong> unschuldig Blut [ ... ] Werdet ihr solchem <strong>nicht</strong> gehorchen, so<br />

habe ich bei mir selbst geschworen, spricht der Herr, dies Haus soll verstört<br />

werden. (Jer. 22, 3-5.)<br />

Das Land ist voll Blutschulden und die Stadt voll Frevels [ ... ] Der Ausrotter<br />

kommt. (Hes. 7, 25.)<br />

Das Wort "ausrotten" erscheint in ähnlichem Zusammenhang zahllose<br />

Male, wo das Alte Testament <strong>von</strong> göttlichem Strafgericht über<br />

Mörder, Gottlose, Ungerechte, Verfluchte usw. handelt. So entspricht<br />

auch in Georges Versen die Warnung, Blutschmach werde durch<br />

Ausrottung bestraft, biblischem Wortgebrauch. Eine Hauptstelle,<br />

die Ahndung <strong>von</strong> Blutschuld betreffend, ist Hesekiel Kap. 21 und<br />

22. In diesem besonders ausgedehnten Bericht erscheinen alle<br />

Motive, die wir bisher fanden, dazu auch weitere, die ihrer Ähnlichkeit<br />

wegen mit Stellen in Georges KRIEG beachtet werden mögen.<br />

Im Auszug lassen wir die charakteristischen Themen - hier in der<br />

Übersetzung <strong>von</strong> Menge 11 - erscheinen. Befleckung durch Blutschuld:<br />

Willst du <strong>nicht</strong> der blutbefleckten Stadt das Urteil sprechen? [ .. . ] Wehe der<br />

Stadt, die Blut in ihrer Mitte vergossen hat [ ... ] Durch dein Blut, das du vergossen,<br />

hast du dich mit Schuld beladen, und durch deine Götzen [ ... ] bist<br />

[ ... ] du unrein geworden; du hast die Tage deines Gerichts nahe herangebracht<br />

[ ... ] Darum mache ich dich zum Hohn für die Völker [ ... ] sie werden<br />

dich verspotten, weil dein Ruf befleckt ist.<br />

Ungerechtigkeit herrscht, die Opfer sind wehrlose Bürger:<br />

Die Fürsten Israels [ ... ] sind [ ... ] beflissen gewesen, Blut zu vergießen. Vater<br />

und Mutter verachtet man in dir, den Fremdling behandelt man gewalttätig<br />

[ ... ] Waisen und Witwen bedrückt man [ ... ] Verleumder weilen in dir, die auf<br />

Blutvergießen ausgehen. [Aufzählung fernerer Vergehen wie Unzucht, Ehebruch,<br />

Inzest .. . ] Bestechungsgeschenke nimmt man in dir an, um Blut zu<br />

vergießen [ ... ] Ich schlage meine Hände zusammen [ ... ] über deine Bluttaten.<br />

11 Die Heilige Schrift übersetzt und neu bearbeitet <strong>von</strong> Hermann Menge. Zitate nach<br />

dem Neudruck der 12. Aufl.: Evangelische Haupt-<strong>Bibel</strong>gesellschaft zu Berlin, 1960.<br />

Von der Menge-<strong>Bibel</strong> erschien das N. T. 1909, das A. T. 1926.<br />

11


<strong>Ihr</strong>e Fürsten sind [ ... ] beutegierige Wölfe: sie gehen darauf aus, Blut zu vergießen<br />

und Menschenleben zu ver<strong>nicht</strong>en, um Gewinn zu erraffen [ ... ] Das Volk<br />

im Lande verübt Gewalttätigkeit und begeht Raub, bedrückt die Armen und<br />

Elenden und übervorteilt die Fremdlinge gegen alles Recht.<br />

Ausrottung mit Feuer und Schwert, Vertreibung werden die <strong>von</strong><br />

Gott verhängten Strafen sein:<br />

Ich will ein Feuer in dir anzünden, das soll alle saftreichen und alle dürren<br />

Bäume in dir verzehren; die lodernde Flamme soll <strong>nicht</strong> erlöschen, und alle<br />

[ ... ] sollen durch sie versengt werden! [Vgl. in DER KRIEG die Metaphern <strong>von</strong><br />

Waldbrand und "Flammenzeichen".] [ ... ] Ich will mein Schwert aus der Scheide<br />

ziehen und Gerechte wie Gottlose in dir ausrotten! Weil ich beide, Gerechte<br />

wie Gottlose, in dir ausrotten will, darum soll mein Schwert aus der Scheide<br />

fahren gegen alles Fleisch [ ... ] Ich werde dich unter die Völker zerstreuen<br />

und dich in die Länder versprengen und deine Unreinheit gänzlich aus dir<br />

wegschaffen, damit du durch eigene Schuld entehrt vor denAugen der Heidevölker<br />

dastehst.<br />

Wie Jahwes Racheschwert solchen Blutschuld-Frevel bedroht, schildert<br />

Hesekiel ausführlich in zehn Versen (dem "Schwertlied"), zu<br />

Beginn der ganzen Partie. Das läßt daran denken, wie die Blutschmach-Stelle<br />

bei George eingeleitet ist durch den Abruf: »Die ihr<br />

die fuchtel schwingt auf leichenschwaden«. (Fuchtel: breiter Degen<br />

als Symbol ausgeübter Zucht.) Innerhalb dieses "Schwertliedes"<br />

heißt es:<br />

Das Schwert, ja, das Schwert ist geschärft [ ... ] daß man's dem Totschläger in<br />

die Hand gebe. Schreie und heule, du Menschenkind; denn es geht über mein<br />

Volk und über alle Regenten in Israel, die dem Schwert samt meinem Volk<br />

verfallen sind [ ... ] denn das Schwert wird zweifach, ja dreifach kommen, ein<br />

Würgeschwert, ein Schwert großer Schlacht, das sie auch treffen wird in den<br />

Kammern, dahin sie fliehen. Ich will das Schwert lassen klingen, daß die<br />

Herzen verzagen und viele fallen sollen an allen ihren Toren. Ach, wie glänzt<br />

es und haut daher zur Schlacht! Haue drein, zur Rechten und zur Linken,<br />

was vor dir ist!<br />

Das bisher Betrachtete lehrt uns soviel: Während die <strong>von</strong> Morwitz<br />

angeführte Geschichte vom Einfluß fremdländischer Frauen einen<br />

besonderen Fall darstellt, das Wort »Blutschmach« darin <strong>nicht</strong> vorkommt,<br />

gibt es eine überwältigende Fülle <strong>von</strong> <strong>Bibel</strong>stellen, die <strong>von</strong><br />

12<br />

Befleckung durch Blutschuld expressis verbis sprechen. Durch Blutschuld<br />

befleckt und deswegen gestraft wird ein Volk, wenn es<br />

Mordtaten im eigenen Lande, Gewalttätigkeit an wehrlosen Mitbürgern<br />

verübt, wie dies Tyrannei, innerer Zwist, Bürgerkriege und<br />

dergleichen mit sich bringen können. Geht man Georges Verweis<br />

auf die <strong>Bibel</strong> ernstlich nach, so wird sich für sein Wort <strong>von</strong> der<br />

»Blut-schmach« dieser Bedeutungsbereich eröffnen.<br />

Ungefähre Übereinstimmung mit biblischen Vorstellungen zeigen<br />

Georges Verse noch insofern, als sie innerhalb der verschuldeten<br />

Gesamtheit eine Gruppe der Besseren unterscheiden, bezeichnet<br />

als deren »bestes gut«. Im Alten Testament wird oft, wo <strong>von</strong><br />

göttlicher Vergeltung die Rede ist, die Unterscheidung <strong>von</strong> Guten<br />

und Schlechten, Gerechten und Ungerechten, Gottgetreuen und<br />

Gottlosen in Betracht gezogen:<br />

Und soll geschehen in dem ganzen Lande, spricht der Herr, daß zwei Teile<br />

darin sollenausgerottet werden und untergehen, und der dritte Teil soll darin<br />

übrigbleiben. Und ich will den dritten Teil durchs Feuer führen und läutern,<br />

wie man Silber läutert, und prüfen, wie man Gold prüft. (Sach. 13,8 f.)<br />

Ich will in dir ausrotten beide, Gerechte und Ungerechte. (Hes. 21, 8.)<br />

Denn seine Gesegneten erben das Land; aber seine Verfluchten werden ausgerottet.<br />

(Psalm 37, 22.)<br />

Du hast totgeschlagen, dazu in Besitz genommen [ ... ] ich will [ .. . ] <strong>von</strong>Ahab<br />

ausrotten, was männlich ist. (1. Kön. 21,19 ff.)<br />

Es kommt vor, dass Gott einen Engel beauftragt, die Frommen zu<br />

kennzeichnen, damit sie bei der allgemeinen Ver<strong>nicht</strong>ung verschont<br />

bleiben:<br />

Erwürget Alte, Jünglinge, Jungfrauen, Kinder und Weiber, alles tot; aber die<br />

das Zeichen an sich haben, derer sollt ihr keinen anrühren [ ... ] es ist eitel Blutschuld<br />

im Lande und Unrecht in der Stadt [ .. . ] ich will keine Schonung mehr<br />

üben. (Hes. 9, 6-10)<br />

Mehrfach erscheint auch die Gestalt eines großen Fürbitters, der<br />

dil' Begnadigung eines Teils erfleht. Sprichwörtlich geworden ist<br />

Abrahams Eintreten für die fünzig Gerechten, seine Fürbitte für<br />

Sodom:<br />

13


Willst du denn den Gerechten mit dem Gottlosen umbringen? Es möchten<br />

vielleicht fünfzig Gerechte in der Stadt sein [ ... ] Das sei ferne <strong>von</strong> dir, daß du<br />

das tust und tötest den Gerechten mit dem Gottlosen. (1. Mos. 18, 23 ff.)<br />

Wiederholt wird Moses zum Fürbitter. In Psalm 106, wo <strong>von</strong> der<br />

"Befleckung" des Landes durch "Blutschulden" gesprochen wird,<br />

heißt es (v. 23, Menge):<br />

Da gedachte er sie zu vertilgen, wenn <strong>nicht</strong> Mose, seinAuserwählter, mit Fürbitte<br />

vor ihn hingetreten wäre, um seinen Grimm vorn Ver<strong>nicht</strong>en abzuwenden.<br />

An die großen Fürbitter des Alten Testaments erinnert in der <strong>von</strong><br />

»Blutschmach« handelnden Strophe Georges die Wendung: »Wollt<br />

uns bewahren«, deren Form übrigens in der <strong>Bibel</strong>, besonders in<br />

den Psalmen, sprachliche Parallelen hat; z.B. Psalm 12, 8: "Du, Herr,<br />

wollest sie bewahren und uns behüten."<br />

Insofern in den betreffenden <strong>Bibel</strong>berichten die Ungerechten<br />

gewöhnlich die breite Masse bilden, der Gerechten Zahl begrenzt<br />

ist, besteht wirklich eine Übereinstimmung mit Georges Vorstellungen.<br />

Auch das »beste gut« ist offenbar nur ein kleiner Teil des<br />

ganzen verschuldeten Volkes. In der <strong>Bibel</strong> finden sich jedoch keine<br />

Parallelen bezüglich des 5 chi c k s als des kleineren Teils bei George.<br />

In DER KRIEG wird der schuldbeladenen Gesamtheit mit Ausrottung<br />

gedroht, »wenn <strong>nicht</strong> ihr bestes gut zum banne geht.« So<br />

dunkel uns die letzte Wendung vorläufig noch bleibt, so wird doch<br />

als gewiß gelten dürfen, dass die für den kleineren Teil als möglich<br />

gesehene Alternative ebenfalls ist, ein schweres Schicksal auf sich<br />

zu nehmen, vielleicht ein besonders schweres. Der <strong>Bibel</strong> gemäß<br />

wäre dagegen: die kleinere Zahl erwartet das bessere Los.<br />

Die Frage, der wir uns damit nähern, wie Georges Wort vom<br />

'Zum-Banne-gehn des besten Guts' zu verstehen sei, wurde auch<br />

bisher <strong>von</strong> denAuslegern in dieser Richtung beantwortet: der Dichter<br />

deril


Angesichts solch bevorstehender Schmach und Ver<strong>nicht</strong>ung -<br />

welchen Ausweg kann es für Römer noch geben? Horaz richtet<br />

diese sein Gedicht beherrschende Frage an zwei Hörergruppen:<br />

an die Gesamtheit des Volks sowie an dessen etwaigen "besseren<br />

Teil" (melior pars). Der Dichter selbst antwortet mit der ihm<br />

recht dünkenden Weisung. Man folge dem berühmten Vorbild, das<br />

vor alters die Griechen <strong>von</strong> Phokaia gaben, (die Einwohner einer<br />

ionischen Seestadt in Kleinasien). Die Phokäer, um Schimpf und<br />

Ver<strong>nicht</strong>ung durch persische Zwingherrschaft zu entgehen, faßten<br />

den Beschluß, allesamt freiwillig auszuwandern. (500 Jahre vor<br />

Horaz; der Zufluchtsort war Korsika.) Sie verfluchten die zurückgelassene<br />

Heimat, belegten aber mit feierlichem Bannfluch auch<br />

sich selbst, die Auswandernden. Sie schworen, niemals zurückzukehren,<br />

verflucht solle jeder sein, der den Eid breche. Als "Phokäischer<br />

Fluch" ist diese doppelte Verwünschung im Altertum<br />

sprichwörtlich geworden. Horaz deutet auf ihn hin mittels der Ausdruckskraft<br />

der lateinischen Sprache. Sein Lobpreis der griechischen<br />

Auswanderer als "Phocaeorum exsecrata civitas" drückt mit<br />

dem mehrdeutigen Wort exsecrata das Wesen des Phokäischen Fluches<br />

aus: wo Freiheitsliebende Heimat und Auswanderung zugleich<br />

verwünschen.<br />

Einen gleichen Doppelschwur fordert Horaz nun <strong>von</strong> seinen<br />

Römern mit kräftigen Akzenten. Kein Eidbruch solle verziehen<br />

werden. Die Unmöglichkeit jedes Heimkehrgedankens versinnlicht<br />

er mit drastischen Bildern einer Utopie: nur wenn die Natur ihre<br />

Gesetze umkehrt, wenn Felsen zu schwimmen anfangen, Flüsse<br />

bergaufwärts steigen usw., nur dann wäre das Brechen des Schwures<br />

kein Verbrechen. "Säumen wir also <strong>nicht</strong>. Die Schiffe bestiegen,<br />

sie werden uns zu den Inseln der Seligen bringen!"<br />

Zur dichterischen Rhetorik des Horaz gehört das Hervorheben<br />

bedeutungsvoller Wendungen durch Wiederholung. so wird der<br />

Appell an die beiden Gruppen der Römer, an die melior pars, den<br />

"besseren Teil", sowie an die Gesamtheit (omnis) wiederholt. Nur<br />

der "bessere Teil", so sieht er voraus, wird das schwere Los der<br />

Verbannung wählen. Ihm allein eignet die nötige Standhaftigkeit,<br />

Tapferkeit (virtus). Der "unbelehrbaren Masse" fehlt aus Feigheit<br />

18<br />

der Mut zur Voraussicht. Bequemlichkeit vorziehend, bleiben sie<br />

auf fluchbeladenem Faulbett liegen und dämmern ihrem Unheil<br />

entgegen. Bei diesem nochmaligen Appell an die Römer wiederholt<br />

Horaz auch die Wendung "exsecrata civitas" ein zweites Mal,<br />

was ihr größten Nachdruck verleiht. Das Wort, das vorher die Haltung<br />

der Phokäer charakterisierte, dient jetzt, die Römer dazu aufzufordern,<br />

selbst eine solche exsecrata civitas zu werden, mit doppeltem,<br />

Phokäischem Fluch ihr Land zu verlassen (v. 36 f.):<br />

eamusomnis exsecrata civitas<br />

[Wandern wir aus allesamt mit (dem) Phokäischem Fluch,l<br />

aut pars indocili melior grege.<br />

[oder des unbelehrbaren Haufens besserer Teil.l<br />

Die erste dieser Zeilen nahm Platen zum Titel seines Polenlieds:<br />

"Eamus omnis exsecrata civitas" (1831) - eine Bestätigung, wie<br />

populär die 16. Epode noch im 19. Jahrhundert war. Horaz beschließt<br />

sein Gedicht, indem er auf Schwere und Problematik des<br />

Auswanderungsschicksals hinweist. Wieder geht er über zur Form<br />

der Utopie. Von den seligen Inseln, dem verheißenen Ziel der Flucht<br />

wird erzählt: Jupiter hat diese Inseln aufgespart, als er die goldene<br />

Zeit in eine eiserne verwandelte, aufgespart für die Frommen - als<br />

"Fromme" (pia gens) bezeichnet Horaz hier den landflüchtigen<br />

"besseren Teil", der sich <strong>von</strong> dem "unfrommen Geschlecht" lossagte.<br />

Die paradiesischen Zustände auf den Inseln schildert Horaz mit<br />

wunderhaften Details - 20 Verse lang -, <strong>von</strong> denen jede Einzelheit<br />

vor Augen führt, wie unrealisierbar seine politische Weisung war,<br />

wenn er sie auch für die bestmögliche ansah. Sowenig es je ein<br />

goldenes Zeitalter gab, sowenig existieren übriggebliebene selige<br />

Inseln. Unerbittliche Wirklichkeit ist für die Auswanderer nur die<br />

s lbstgewählte Verbannung, Fluch und Flucht. Glückslösungen gibt<br />

('S für sie <strong>nicht</strong>. Exil bleibt Exil, ein Unglück. Mit einer nochmali­<br />

M('n Bezeichnung d es " besseren Teils" als die "Frommen" wird im<br />

S hl ußvers deren Schicksal ironisch zweideutig verkündet: "Den<br />

I,'rom men wi rd, so weiß der Seher, zuteil: die glückl iche Flucht. "<br />

pi is sccunda valc mc d atur fu ga.<br />

19


Das Schlußwort 'fuga' bedeutet Landesflucht, Exil und - Verbannung!<br />

Wie Horaz den "besseren Teil" bei drohender Ver<strong>nicht</strong>ung eines<br />

schuldbeladenen Staatsganzen zu retten sucht, darin zeigen sich<br />

beachtenswerte Entsprechungen zu dem Ausspruch über das »beste<br />

gut« bei George. Die Errettung der "frommen", der "pia gens"<br />

kommt <strong>nicht</strong> als göttlicher Gnadenakt wie die Schonung der 50<br />

Gerechten in der <strong>Bibel</strong>. Der" bessere Teil" vermag sie selbst zu erwirken,<br />

wenn er den harten Weg der Verbannung, der Auswanderung<br />

geht. Faßt man in der Wendung Georges: »wenn <strong>nicht</strong> ihr bestes gut<br />

zum banne geht«, das Wort Ban n als gleichbedeutend mit<br />

Ver ban n u ng auf - was dichterischem Wortgebrauch nach durchaus<br />

möglich ist 17 -, so ergibt sich ein ähnlicher Sinn wie bei Horaz.<br />

In die Verbannung gehn setzt eigenen Entschluß voraus. (Anders<br />

als verbannt werden, wo Beschlüsse anderer befolgt werden.) Gedacht<br />

ist also - alles deutet darauf hin - an eine Verbannung ähnlicher<br />

Art, wie sie das berühmte horazische Gedicht zeigt: die Selbstverbannung,<br />

das freiwillige Auswandern einer exsecrata civitas.<br />

Die Formulierung »wenn <strong>nicht</strong> ihr bestes gut zum banne geht«<br />

bekundet eine spürbare Ungewißheit: es wird eine schwer zu hoffende<br />

Lösung aufgezeigt. Besteht das 'zum Banne gehn' in freiwilliger<br />

Auswanderung nach Weise der 16. Epode, so finden sich bei<br />

Horaz die Gründe, die solcher Lösung entgegenstehen. Exil bedeutet<br />

seit alters ein zu schweres Los, als dass es freiwillig auf sich<br />

genommen wird. Vor allem aber: es gibt kein Ziel, wohin die Auswanderung<br />

gehen könnte. Mit aller Eindringlichkeit zeigt Horaz,<br />

wie aus dem fluchbeladenen Römerreich kein Entkommen möglich<br />

war. Es hätte schon seliger Inseln bedurft, - und die gibt es<br />

<strong>nicht</strong>.<br />

So wußte aber auch George, dass in der Weltlage, die sein Gedicht<br />

schildert, kein Ort denkbar wäre, wohin man hätte »zum<br />

17 Goethe braucht mehrmals "Bann" für "Verbannung" (z.B. DIE NATÜ RLICHE TOCHTER,<br />

V. 2277). So auch George selbst in DER LETZTE DER GETREUEN (DAS NEUE REICH, Gesamt­<br />

Ausgabe Bd. 9, S. 133); in der Danteübertragung, Gesamt-Ausgabe Bd. 10/ 11,<br />

S. 109, FEGEFEUER Gesang 21 (in Bezug auf die Verbannung Dantes, ital. bando,<br />

v.102).<br />

20<br />

banne gehn« können. Im selben Jahre 1917, da DER KRIEG erschien,<br />

schrieb der Dichter einem Freund, der an Auswanderung dachte:<br />

"Ein entrinnen gibt es jetzt <strong>nicht</strong> [ ... ] Es gibt keine 'stillen Inseln'<br />

mehr und selbst wenn man hinflüchten könnte so ist keine bürgschaft<br />

ob das lang so bleibt. Allmählich wird alles in das gewirr<br />

hineingerissen und es muss so sein. Ich weiss das genau. "18 Viel<br />

spricht dafür, dass George auf das Bild <strong>von</strong> den stillen Inseln zu<br />

damaliger Zeit geführt wurde durch Beschäftigung mit dem horazischen<br />

Gedicht, worin das Fehlen <strong>von</strong> seligen Inseln alle Selbstverbannungsideen<br />

utopisch macht.<br />

Die 16. Epode behandelt das Auswanderungsthema - darauf<br />

beruht ihr Ruhm als politisches Gedicht - in vorsätzlich irrealer<br />

Weise. Auswanderung der Besseren ist kein reales Geschehen, das<br />

erzählerisch dargestellt wird. Von ihr spricht der Dichter nur in<br />

Form eines Rats. Er setzt sie als Idee, Wunschbild, Hypothese der<br />

politischen Wirklichkeit entgegen. Da einem fluchbeladenen Staat<br />

der Untergang droht, wäre Auswanderung die einzig richtige Tat<br />

und Antwort. Wie Horaz auf die Unrealisierbarkeit seines Ratschlags<br />

hinweist, daraus ergibt sich die Hauptbotschaft seines Gedichts.<br />

Es charakterisiert recht eigentlich eine völlig verzweifelte<br />

politische Situation. An diese Botschaft erinnerte Platen, als er die<br />

Gesamtheit der Polen zur Auswanderung aufforderte. Für ein ganzes<br />

Land war das ein undurchführbarer Ratschlag. Als Idee kennzeichnete<br />

er aber drastisch die verzweifelte Lage Polens nach der<br />

Einnahme Warschaus.<br />

So läßt aber auch Georges Wort »wenn <strong>nicht</strong> ihr bestes gut zum<br />

banne geht« die Deutung zu: eine Möglichkeit des zum Banne<br />

Gehens, des Auswanderns mag schon gar <strong>nicht</strong> mehr bestehn; auf<br />

jeden Fall charakterisiert aber die bloße Idee, dass es aus innerer<br />

Notwendigkeit erforderlich wäre, eine völlig verzweifelt geword<br />

ne politische Situation nach Weise des Horaz-Gedichts. In DER<br />

KR ICG tritt diese Möglichkeit als Eventualität ein, wenn begangene<br />

»Blut-schmach« die Ausrottung aller nach sich zöge. Hier fallen<br />

III Rob rt Bo hringer, Mein Bild <strong>von</strong> Stefan George, 2. AufL München und Düsseldorf<br />

I 68, S. 158.<br />

21


Dort waren die Deutschen <strong>nicht</strong> genannt, aber auch <strong>nicht</strong> ausgenommen.<br />

Wenn in DER KRIEG die künftige Betitelung der Deutschen<br />

als odium generis humani, »hass und abscheu menschlichen geschlechts«,<br />

vorausgesagt wird (Str. 10), so traute er ihnen damit<br />

offenbar Schlimmstes zu. Blutschuld durch Bürgerkrieg - wie es<br />

im einzelnen dazu kommen würde, konnte der Dichter <strong>nicht</strong> wissen,<br />

aber dass prinzipiell die Zukunft dergleichen bringen würde,<br />

sah er vorher und sprach es aus.<br />

George hatte eine besondere Hochschätzung für die politischen<br />

Sichten Heinrich Heines. Dieser läßt sich als Vorgänger sogar nachweisen<br />

bei Georges Wortsprägung »Geheimes Deutschland«28.<br />

Möglicherweise hat Heine ihn auch bestärkt in der visionärenAnnahme,<br />

dass Bürgerkrieg und Revolution in Deutschland <strong>nicht</strong> auszudenkende<br />

Formen annehmen könnten. In derselben Schrift, in der<br />

Heine vom geheimnisvollen, anonymen, unterirdischen Deutschland<br />

spricht, prophezeit er auch Untaten der wirklichen Deutschen,<br />

wie es sie in der Geschichte der Menschheit nie zuvor gegeben habe:<br />

" ... wenn <strong>Ihr</strong> es einst krachen hört, wie es noch niemals in der Weltgeschichte<br />

gekracht hat, so wißt: der deutsche Donner hat endlich sein Ziel erreicht. Bei<br />

diesem Geräusche werden die Adler aus der Luft tot niederfallen, und die<br />

Löwen in der fernsten Wüste Afrikas werden die Schwänze einkneifen und<br />

sich in ihren königlichen Höhlen verkriechen. Es wird ein Stück aufgeführt<br />

werden in Deutschland, wogegen die französische Revolution nur wie eine<br />

harmlose Idylle erscheinen wird. "29<br />

28 Vgl. Heines Vorrede zur 2. Auf!. des >SalonDas verstümmelte<br />

Buchiner großen Umwandlung befindet, da die Menschheit einer gefä<br />

hrlichen Krise zutreibt, ist es der Dichter, der ausersehen wurde,<br />

den Sinn dieses Geschehens zu deuten, den Willen des Geistes zu<br />

v rkünden. Diesem höheren Auftrag ordnete sich bei George alles<br />

unter. Durch ihn erhielt das gesamte Leben und Schaffen sein be­<br />

/'ltimmtes Gepräge. Das trifft auch zu für das Verhältnis des Dicht<br />

rs zu seiner rheinischen Heimat. Der Rhein mit seiner Landschaft,<br />

)i n n Städten, seiner Vergangenheit erschien George mehr und<br />

m ' hr im Lichte jener Weltwende. Bei dem Untergang eines alten<br />

und dem Heraufdämmern eines neuen Äons würde - so schien es<br />

27


ihm - gerade der Rhein eine entscheidende Rolle spielen. Nicht<br />

nur sah er die Rheinlandschaft als Schauplatz künftiger Katastrophen,<br />

er sah sie zugleich als den eigentlichen Ursprungsort neuer<br />

geistiger Impulses. Dadurch veränderte sich das Bild: für George<br />

war der Rhein <strong>nicht</strong> mehr eine romantische, sondern eine heroische<br />

Landschaft.<br />

Eine heroische Landschaft - versuchen wir, uns klarzumachen,<br />

was das für den Dichter bedeutete. Die rheinische Heimat war für<br />

George kein leichtes Erbe mehr, kein selbstverständlich zufallendes<br />

Eigentum. Der Dichter war vielmehr, wie er selbst sagt, sein<br />

ganzes Leben lang auf der Suche nach dem Rhein. Ein Lied aus<br />

dem SIEBENTEN RING, das den Titel RHEIN trägt, redet in diesem Sinne<br />

den Strom an (VI-VII 169):<br />

Warst es du <strong>nicht</strong> mein gefährte<br />

Den ich suche seit ich lebe?<br />

Dasselbe Lied spricht des weiteren da<strong>von</strong>, dass der Dichter ein<br />

Leben des Opfers und der Entsagung führte im Dienste der 'fernen<br />

Hoffnung', die sich für ihn mit dem Rhein verband:<br />

) Dich zu ehren dir zu dienen<br />

Seid geopfert frühere prächte<br />

Seid vergessen tag und nächte!<<br />

So hat es auch eine tiefe Bedeutung, wenn das Gedicht mit dem<br />

Blick auf einen Märtyrer schließt - den Heiligen Rochus, der auf<br />

seine Wunde zeigt:<br />

Weite runde wo sich mische<br />

Ferne hoffnung glück der stunde!<br />

Nur noch droben in der nische<br />

Zeigt der Heilige alte wunde ...<br />

In diesem Sinne hat Georges Verhältnis zum Rhein eine lange Entwicklung<br />

durchlaufen, eine Entwicklung voller Wechsel und Spannungen.<br />

In seiner frühsten Jugend war der Rhein für ihn vor allem<br />

der Ort der musischen Begeisterung. Nicht zufällig beginnt schon<br />

28<br />

d<br />

r t G di ht, drAuf takt zu Georges eigentlichem Werk, das<br />

i ht W eIIIE aus den H YMNEN <strong>von</strong> 1890 mit einer Beschwörung<br />

Flusses der Heimat (11. 12):<br />

Hinaus zum strom! wo stolz die hohen rohre<br />

Jm linden winde ihre fahnen schwingen.<br />

Hier am Stromufer trifft den jungen Dichter die Herrin des Gesanges,<br />

die Muse. Wirklich ist der Rhein, was für Hesiod der Helikon<br />

war: Schauplatz der Musenbegegnung. Die AUFSCHRIFT der HYM­<br />

NEN deutet auf dasselbe, wenn es darin heißt, dass »im uferried«<br />

die erste Dichtung Georges »begann«. Noch im SIEBENTEN RING aber<br />

erinnert das Gedicht URSPRÜNGE an die Rolle, die der Rhein bereits<br />

gespielt hatte, als der Knabe Stefan George sich an einer eigenen<br />

dichterischen Sprache begeisterte, die nur ihm verständlich war -<br />

auch dies geschah »an dem flusse im schilfpalaste«.<br />

Es folgt dann aber eine ganze Reihe <strong>von</strong> Werken, in denen der<br />

junge George des Rheines so gut wie gar <strong>nicht</strong> gedenkt. Das hat<br />

sehr bestimmte Gründe. Damals war der Dichter Deutschland für<br />

lange Zeit innerlich entfremdet. Immer wieder zog es ihn ins Ausland,<br />

vor allem nach Frankreich, Spanien und Belgien. Erstmals<br />

beginnt Das JAHR DER SEELE <strong>von</strong> 1897 die heimatliche Landschaft in<br />

grandiosen Versen zu besingen. Hier zeigt sich vor allem die Kunst<br />

Georges, die Natur sinnenhaft wahrzunehmen, das Allernächste<br />

- '<br />

Elementare, Essentielle,schöner Wirklichkeit zu erfassen im Spracherlebnis,<br />

es wiederzugeben in Sprachmelodien <strong>von</strong> bis dahin <strong>nicht</strong><br />

gekannter Schönheit und Einprägsamkeit. Auf dieser Fähigkeit<br />

beruht es, wenn George überhaupt Landschaften in so unvergleichlicher<br />

Weise darstellen konnte. Auch das Meer, auch das Hochgebirge<br />

oder der Zauber des Südens sind niemals zuvor - jedenfalls<br />

<strong>nicht</strong> im deutschen Bereich - mit solch magischer Wortkunst besungen<br />

worden wie <strong>von</strong> George. Hier lauschte Dichtung der Natur<br />

ihre eigentlichsten Geheimnisse ab. Innerhalb <strong>von</strong> Georges<br />

Rheingesängen gibt es eine ganze Schicht, die <strong>von</strong> solch virtuoser<br />

Landschaftsdarstellung zeugt. Ein besonders eindringliches Beispiel<br />

sei angeführt: das Spruchgedicht BRÜCKE aus dem SIEBENTEN<br />

29


RING, das Robert Boehringer gewidmet war. Hier wird nämlich eine<br />

Hauptphase vom Lauf des Rheins, der Übergang vom reissenden<br />

Dahinschnellen des Gebirgsflusses zu breitem, ruhigem Strömen<br />

dargestellt in ganzen vier Versen (VI-VII. 194):<br />

Unterm nächtigen holz der brückenfirst<br />

Brause woge wild im felsigen strudel!<br />

Nicht mehr lang dass du zum sanften sprudel<br />

Meines königlichen stromes wirst.<br />

Einen durchaus neuen Akzent bringt in Georges Rheingesänge das<br />

VORSPIEL zu DER TEPPICH DES LEBENS <strong>von</strong> 1899. Hier verbindet der<br />

Dichter erstmals deutlich mit der Rheinlandschaft und gerade mit<br />

ihr das, was er später 'die hoffnung verwandelten lebens' nannte.<br />

Der Engel, der ihm göttliche Weisungen bringt, fordert ihn auf,<br />

sich der eigentlichen Bedeutung der Rheinlandschaft bewußt zu<br />

werden, in ihr das »geheimnis ewiger runen« zu finden. Hierauf<br />

antwortet der Dichter, er entsage gern dem Zauber des Südens,<br />

Venedigs und Roms, um jenes Geheimnis des Rheins zu ergründen<br />

(v. 16):<br />

>Schon lockt <strong>nicht</strong> mehr das Wunder der lagunen<br />

Das allumworbene trümmergrosse Rom<br />

Wie herber eichen duft und rebenblüten<br />

Wie sie die Deines volkes hort behüten-<br />

Wie Deine wogen -lebengrüner Strom! (<br />

Entscheidend sind die letzten Worte. Am Rhein sieht Stefan George<br />

Zeichen eines neuerwachenden menschlichen Lebens. Der Beginn<br />

einer geistigen Revolution wirft auch auf den Rhein ein neues Licht:<br />

darum - »lebengrüner strom«. Von diesem Leben wußte George<br />

bis dahin <strong>nicht</strong> mit Sicherheit, wo in der Welt, wenn überhaupt, es<br />

sich manifestieren könnte. Jetzt zweifelt er <strong>nicht</strong> mehr, dass es in<br />

Deutschland zu suchen ist - genauer gesagt aber: in einem Deutschland,<br />

dessen geistige Mitte der Rhein ist. Hier am Rhein entdeckt<br />

der Dichter nun sogar in der Natur Formen, die auf die Beschaffenheit<br />

eines künftigen höheren Menschentums hinzuweisen vermögen.<br />

Damit nimmt Georges Rheinverherrlichung die Wendung<br />

30<br />

ins ganz Einzigartige. Wo wäre eine Landschaft, <strong>von</strong> der große<br />

Dichtung jemals ähnliches gesungen hätte?<br />

An diesem Punkt unserer Betrachtungen wird es nötig sein, einen<br />

Augenblick zu verweilen, um zu fragen, was es auf sich hat<br />

mit jener Erneuerung, jener geistigen Revolution, die nun immer<br />

entschiedener Georges Dichten und Trachten beherrscht. Allzuoft<br />

wird diese Seite seines Schaffens mißverstanden, allzugern glaubt<br />

man sie abtun zu können mit bequemem Darüberhinwegsehen.<br />

Diese geistige Revolution stammt in ihren Ursprüngen <strong>nicht</strong> <strong>von</strong><br />

George selbst. Es handelt sich vielmehr um eine Bewegung, die<br />

erstmals in den Jahren nach dem großen französischen Umsturz<br />

auf den Plan trat, zu Ende des 18. Jahrhunderts also. Diese Revolution<br />

ist folglich ebenso alt wie die große andere Revolutionsbewegung,<br />

mit der wir alle vertraut sind: die politische, gesellschaftliche<br />

Revolution, die noch bis in die sozialistischen Strebungen<br />

unserer Tage hineinwirkt, unser Leben mehr oder weniger<br />

beherrscht, die auch in der Literatur aller Länder sich stärker geltend<br />

machte als irgendeine andere Denkrichtung.<br />

Während nun aber diese letztgenannte breite revolutionäre Bewegung<br />

aus der Notwendigkeit entsprang, die Menschenrechte<br />

neu zu konstituieren, während sie Verhältnisse, Zustände, Einrichtungen<br />

des menschlichen Lebens zu bessern suchte, richtete sich<br />

j ne geistige Revolution - die Revolution einer kleinen Schar, die<br />

I die Ahnen Georges anzusehen sind - auf etwas ganz anderes:<br />

nämlich auf die Neukonstituierung des Menschen selbst. Weit mehr<br />

I Zustände und Einrichtungen schien ihr der Mensch als solcher<br />

)in r Erneuerung bedürftig, der gesamte seelische Status und Haltu<br />

des Wesens, das sich Mensch nennt. Hier rückte die Frage ins<br />

ntrum: ist der Mensch der neueren Zeit überhaupt noch Mensch,<br />

In d m Sinne, wie er es jahrtausendelang gewesen war. Ein großes<br />

Er hr cken trat da ein. Denn mit dem Erwachen des historischen<br />

WI s ns und Denkens war erstmals die Vergleichsmöglichkeit ge­<br />

I n - man konnte den modernen Menschen bemessen an dem<br />

rü h 'r r großer Blütezeiten: der Antike, des Mittelalters, der Reinl<br />

n ,d s Orients. Und hier entdeckte man, dass der moderne<br />

M '1'\ h m hr und mehr wichtigste Eigenschaften zu verlieren im<br />

31


Begriff war, die eigentlich erst wahrhaft den Menschen zum Menschen<br />

machen und die dem Menschen früherer Zeiten selbstverständlicher<br />

Besitz waren.<br />

Derjenige, der zuerst aufs tiefste <strong>von</strong> solcher Einsicht erschüttert<br />

wurde, war Hölderlin. Andere sahen ähnliches, <strong>von</strong> Goethe,<br />

Jean Paul, Schiller angefangen bis zu Nietzsehe. Doch wurden sehr<br />

bald weit über Deutschlands Grenzen hinaus die besten Geister<br />

<strong>von</strong> dieser Er<strong>kennt</strong>nis ergriffen. Im 19. Jahrhundert wurde es vor<br />

allem den Künstlern deutlich, welcher Umbruch sich im menschlich-seelischen<br />

Bereich vollzog. Die bis ins Unglaubliche gehende<br />

Verhäßlichung des Lebens, die in der Welt zutage trat - kennbar<br />

an jedem Gerät, das der Mensch schuf, jedem Kleid, das er anzog,<br />

jedem Haus, das er baute - war für diese Künstler ein alarmierendes<br />

Zeichen. Hand in Hand hiermit ging das, was Baudelaire mit<br />

einer berühmt gewordenen Formel das "avilissement des cceurs"<br />

nannte - das Häßlich-, das Niedrigwerden auch der Herzen, der<br />

Seelen.<br />

Heute läßt es sich sagen: was hier an Symptomen, an Phänomenen<br />

gesehen wurde - es resultierte letzten Endes aus der Hinwendung<br />

des Menschen zu völlig neuen Aufgaben: zur Ausschöpfung<br />

der Natur durch die Kräfte des menschlichen Verstandes, durch<br />

Rechnen und Kombination. Das beginnende Zeitalter der Technik<br />

verlangte vom Menschen Ungeh<strong>eure</strong>s. Es forderte aber damit die<br />

einseitigeAusbildung <strong>von</strong> intellektuellen Kräften, die jahrtausendelang<br />

vorher, ja solange die Menschheit bisher bestand, kaum oder<br />

doch nur ganz nebenher in Anspruch genommen waren. Dabei<br />

konnte es gar <strong>nicht</strong> ausbleiben, dass andere geistige Fähigkeiten,<br />

die der Mensch bisher vorzugsweise betätigt hatte, verkümmern<br />

mußten. Denn niemals - das lehrt die Geschichte - vermag der<br />

Mensch alles auf einmal, alles zugleich. So begann aber jetzt zu<br />

schwinden: der große Glaube, der große Gedanke, das große Herz,<br />

der Sinn fürs echt Erhabene und Schöne, der Sinn für hohe Kunst<br />

und für menschliche Größe überhaupt, soweit diese sich <strong>nicht</strong> im<br />

stofflichen Bereich manifestiert.<br />

Wenn es vor allem die Künstler waren, die <strong>von</strong> diesem Verkümmern,<br />

Hinschwinden menschlicher Kräfte erschreckt wurden, so<br />

32<br />

i t das k in Zufall. <strong>Ihr</strong>e Welt war es ja vor allem, die damit in Trümmer<br />

ging. Sie, die Künstler, setzten sich denn auch am entschiedensten<br />

zur Wehr. Sie bildeten nun ihre, die geheime zweite Revolution,<br />

eine Bewegung, die der großen sozialen Revolution an Macht<br />

und Geltung <strong>nicht</strong> vergleichbar war, die aber ihr eigenes Gewicht<br />

erhielt durch die Bedeutung der ihr verpflichteten Geister. Es war<br />

die geistige Elite Europas, die in dieser Bewegung zusammentrat.<br />

Stefan George kam mit dieser anderen Revolution in persönliche<br />

Berührung, als er in seiner Jugend den französischen Dichtem,<br />

besonders Mallarme und seinem Kreis, nähertrat. Hier wurden<br />

Wege gesucht, durch eine Erneuerung der Sprache, insbesondere<br />

des Verses, die geistige Dekadenz aufzuhalten, die man ringsum<br />

wahrnahm. Mallarme glaubte an eine Errettung der Welt durch<br />

die Veredelung der Dichtung. Das wurde für George wegweisend.<br />

Auch er begann mit einer Erneuerung der Dichtersprache <strong>von</strong><br />

Grund auf. Zugleich aber hielt er Ausschau nach Menschen, die<br />

<strong>von</strong> dem neuen Leben, das in seiner Dichtung pulsierte, berührt,<br />

geleitet, geformt wurden. Diese Menschen sollten - das war seine<br />

Hoffnung - den Kern einer geistigen Erneuerung überhaupt bilden,<br />

und so der allgemeinen Aushöhlung und Verstofflichung des<br />

Lebens entgegenwirken.<br />

Alles dies spiegelt sich in Georges Rheingesängen. Als George<br />

jene Wendung vom »lebengrünen Strom« in DER TEPPICH DES LEBENS<br />

niedergeschrieben hatte, konnte er bereits auf Folgendes zurückblicken:<br />

entgegen seinem eigenen Erwarten war es die deutsche<br />

Sprache gewesen, die in größerem Maaß als jede andere heutige<br />

die Fähigkeit bewies, das Pulsieren neuen geistigen Lebens spürbar<br />

zu machen. Diese Erfahrung, und nur sie, führte den Dichter<br />

jetzt zurück nach Deutschland, zurück aus den schöneren romanischen<br />

Ländern. Dabei gab den Ausschlag die Hoffnung, dort wo<br />

diese deutsche Sprache beheimatet war, auch Menschen zu finden,<br />

die ihre geistigen Impulse aufnehmen konnten. Endgültig befestigte<br />

sich bei George solche Hoffnung erst, nachdem ihm in Deutschland<br />

der Mensch begegnet war, an dem er ganz das Gepräge jenes<br />

Geistes wahrnahm, dem er sich verpflichtet fühlte, und der dies<br />

gleichfalls in dichterischem Wort bekundete - Maximin.<br />

33


In den Jahren nach dem TEPPICH DES LEBENS ging George mit dem<br />

Gedanken um, den Rhein überhaupt in einem größeren Gedicht<br />

oder Gedichtzyklus zu feiern. Dieses Projekt wurde <strong>nicht</strong> ausgeführt.<br />

Das nächstfolgende Werk aber, DER SIEBENTE RING, veröffentlicht<br />

1907, nahm Bruchstücke des geplanten Werks in sich auf. Jedenfalls<br />

enthält DER SIEBENTE RING die wichtigsten Rheingedichte<br />

Georges. Für sämtliche gilt, dass sie im Zeichen der Wende, der<br />

geistigen Revolution stehen, deren Verkündung George nun mehr<br />

und mehr als sein Amt betrachtete. Die sechs Spruchgedichte, die<br />

hier in den TAFELN unter der Überschrift RHEIN stehen, sprechen <strong>von</strong><br />

gar <strong>nicht</strong>s anderem als <strong>von</strong> dieser Revolution. <strong>Ihr</strong>e Auslegung ist<br />

z.T. schwierig. Das dichterische Vorbild für'Georges TAFELN sind -<br />

was man bisher <strong>nicht</strong> beachtet hat - die gereimten Vierzeiler des<br />

Nostradamus, des 1566 gestorbenen französischen Propheten, auf<br />

den auch Goethe im FAUST Bezug nimmt. Nicht so sehr der Inhalt<br />

der Nostradamischen Weissagungen, wohl aber ihre sprachliche<br />

Form hat George inspiriert, als er selbst erstmals in seinen TAFELN<br />

prophetische Dichtung schuf. Und so beruht vielfach die Dunkelheit<br />

prophetischen Sprechens, die gerade in den RHEIN-TAFELN besonders<br />

groß ist, darauf, dass George beispielsweise nach Art des<br />

Nostradamus Antonomasien, Decknamen, Umschreibungen verwendet,<br />

deren Deutung manchmal <strong>nicht</strong> leicht ist.<br />

Soviel indessen steht fest: in Georges Dichtung sprechen erstmals<br />

die RHEIN-TAFELN mit aller Bestimmtheit die Erwartung aus,<br />

dass eine künftige Weltveränderung <strong>von</strong> Deutschland, vom Rhein<br />

ausgehen soll. Der Hort des Rheins, das Rheingold wird zum Sinnbild<br />

für die Hoffnungen, die der Dichter hegt in Bezug auf das<br />

Wiedererwachen eines neuen Lebens. Mit Anspielung auf die bei<br />

Nostradamus wiederholt vorkommende Erwähnung des Meergottes,<br />

des "großen Neptun" und seines Attributs, des Tridentes, deutet<br />

George auf die Wirkungen, die <strong>von</strong> seinem dichterischen Wort<br />

ausgehen werden (VI-VII. 198):<br />

34<br />

Einer steht auf und schlägt mit mächtiger gabel<br />

Und sprizt die wasser güldenrot vom horte ..<br />

Aus ödem tag erwachen fels und borte<br />

Und pracht die lebt wird aus der toten fabel.<br />

»pracht die lebt« - mit diesen Worten ist auf das nämliche gedeutet<br />

wie mit der früheren Wendung vom »lebengrünen strom« in<br />

DER TEPPICH DES LEBENS. Sehr bezeichnend aber ist etwas anderes:<br />

gemäß der Prophezeihung des Dichters wird unmittelbar folgen<br />

auf die Freilegung des Hortes im Rhein <strong>nicht</strong> etwa sogleich der<br />

Beginn eines schöneren Zeitalters. Es folgen vielmehr zunächst:<br />

Umsturz, Zusammenbruch, Untergang der bestehenden Welt. Da<strong>von</strong><br />

handelt die nächste TAFEL (VI-VII. 198):<br />

Dann fährt der wirbel aus den tiefsten höllen<br />

Worin du donnerst bis zur Ersten Stadt<br />

Drängt <strong>von</strong> der Silberstadt zur Goldnen Stadt<br />

Soweit die türme schaun vom heiligen Köllen.<br />

Wieder ist, wie in dem Spruchgedicht Brücke, der ganze Lauf des<br />

Rheines in wenigen Worten versinnlicht - hier ist es die Nennung<br />

der Städte Basel, Straßburg, Mainz, Köln, die die Anschauung<br />

schafft. Allerdings dient nun das Gesamtbild des Stroms als Hintergrund<br />

für düstere Prophetie. Wenn George die Städte bezeichnet<br />

als Erste Stadt, Silberstadt, Goldne Stadt, so beruht das, wie<br />

man weiß, auf historischen Benennungen. Zugleich sind es aber<br />

Antonomasien bzw. Metonomasien im Stile des Nostradamus.Auch<br />

Nostradamus spricht etwa <strong>von</strong> Rom als der 'Sonnenstadt' oder <strong>von</strong><br />

Paris als der 'Großen Stadt'.<br />

Die folgende TAFEL (VI-VII. 199) setzt die Prophezeiung des<br />

Umsturzes fort, der hier ein "furchtbares gereut" genannt wird.<br />

Das bedeutet: ein radikales Roden, Ausmerzen alles Bestehenden -<br />

Nun fragt nur bei dem furchtbaren gereut<br />

Ob sich das land vor solchem dung <strong>nicht</strong> scheut!<br />

Den eklen schutt <strong>von</strong> rötel kalk und teer<br />

Spei ich hinaus ins reinigende meer.<br />

Aus den Worten »rötel kalk und teer« klingt leidenschaftliche Verachtung.<br />

Sie bezeichnen die Hässlichkeit alles dessen, was <strong>von</strong> der<br />

n ueren Menschheit gebaut wurde, gebaut auch in übertragenem<br />

Sinne. Man hat diesen Worten aber noch eine spezielle Auslegung<br />

g ben. In »rötel kalk und teer« sah man Hinweise auf die Far-<br />

35


en der Reichsfahne Schwarz-Weiß-Rot. Diese Auslegung stieß auf<br />

Widerspruch, wie zu erwarten war, obgleich sie vom Dichter bestätigt<br />

wurde. Es läßt sich aber auch noch auf andere Weise zeigen,<br />

dass sie ihre Richtigkeit hat. Ganz ohne Zweifel lehnt sich George<br />

nämlich gerade hier an die Sprache des Nostradamus an. Nostradamus<br />

bezeichnet sehr oft politische Parteien durch Nennung und<br />

Aufzählung verschiedener Farben, wobei die Farben auch umschrieben<br />

werden können, Z.B.: weiße und schwarze Kohle, oder<br />

Asche und Kalk (für grau und weiß). Daraus ergibt sich, dass aus<br />

der Wendung »rötel kalk und teer« bei George tatsächlich ein politischer<br />

Beiklang <strong>nicht</strong> wegzuleugnen ist. Der Dichter war, das ist<br />

bekannt, ein Gegner Preussens und des Bismarckschen Reichs. Er<br />

hatte also etwas gegen die Fahne Schwarz-Weiß-Rot. Man darf allerdings<br />

im allgemeineren Sinne deuten: nach Georges Auffassung<br />

mußten vor allem verschwinden, bevor ein neues Leben beginnen<br />

könnte: die Götzen der nationalen Eitelkeit, die jeder höheren Kultur<br />

feindlich waren. George war ja auch, wie viele seiner Dichtungen<br />

bezeugen, ein dezidierter Gegner des modernen Krieges. Schon<br />

im Jahre 1896 hatte er in den BLÄTTERN FÜR DIE KUNST polemisiert<br />

gegen die "ausschließliche erziehung eines geschlechtes zu wechselseitigem<br />

hartem kampfe", gegen den Militarismus also. Dadurch<br />

ginge Wichtigstes verloren, ja, die Menschheit liefe damit "einer<br />

allmählichen verflachung und vertrocknung entgegen". Es hat also<br />

seine tiefe Bedeutung, wenn der Rhein auch mit diesem Übel, dem<br />

übersteigerten Nationalgefühl der modernen Menschheit, aufräumt.<br />

Der Sinn der <strong>von</strong> George prophezeiten Katastrophen wäre im<br />

übrigen <strong>nicht</strong> damit erschöpfend gedeutet, dass man etwa an die<br />

Ereignisse der letzten beiden Kriege denkt. Es sind Untergänge noch<br />

ganz anderer Art, die dem Dichter vor Augen stehen.<br />

Über das, was nach dem »furchtbaren gereut« noch zählt, noch<br />

Geltung hat, deuten die beiden letzten RHEIN: V und RHEIN: VI überschriebenen<br />

TAFELN nur soviel an: vor allem die Schönheit der rheinischen<br />

Landschaft wird noch wesenhaft und fruchtbar sein, sowie<br />

das Erbe großer geschichtlicher Vergangenheit - die Reste romanischer<br />

und gotischer Bauten am Rhein und das, was George<br />

36<br />

den römischen Hauch des Rheines nennt. Vom »neuen wein im<br />

neuen schlauch« dürfe erst dann gesprochen werden, so ruft hier<br />

der Rhein den Deutschen zu (VI-VII. 199):<br />

Sprecht <strong>von</strong> des Festes <strong>von</strong> des Reiches nähe­<br />

Sprecht erst vom neuen wein im neuen schlauch:<br />

Wenn ganz durch <strong>eure</strong> seelen dumpf und zähe<br />

Mein feurig blut sich regt, mein römischer hauch!<br />

Was hiermit gemeint ist, verdeutlicht sich aus anderen Gedichten<br />

des SIEBENTEN RINGES. Die Zeit, als die Römer im Rhein- und<br />

Moselland lebten, gilt George als die glanzvollste Epoche seiner<br />

Heimat. Damals war das Land einbezogen in das geist- und gottrfüllte<br />

Leben der Antike, <strong>von</strong> dem das Gedicht URSPRÜNGE sagt<br />

(VI-VII. 127):<br />

Nie lag die welt so bezwungen<br />

Eines geistes durchdrungen<br />

Wie im jugend-traum.<br />

er Rhein hat <strong>von</strong> diesem antiken Leben ein Erbe bewahrt, das<br />

noch für künftige Zeiten fruchtbar werden kann. Darin liegt auch<br />

as letzte Geheimnis des Hortes und der Freilegung des Rhein­<br />

Ids durch die Macht der Dichtung.<br />

Die spätesten Werke Georges, DER STERN DES BUNDES und DAS<br />

NRUE REICH sprechen <strong>von</strong> der Zeit nach den grossen Weltkatastroph<br />

n positiver, mit mehr seherischer Hoffnung. Hier bildet der<br />

Rh in geographisch und geistig die Mitte des Wandlungsgescheh<br />

ns (VIII. 82):<br />

Verändert sieht der alten berge form<br />

Und wie im kindheit-garten schaukeln blüten ..<br />

Der strom besprengt die ufer und es schlang<br />

Sein zi tternd silber allen staub der jahre<br />

Die schöpfung schauert wie im stand der gnade.<br />

, ) wird im STERN DES BUND ES der Beginn der neuen Weltzeit ange­<br />

I 'ut t. Ganz besonders die Binger Landschaft, den Rheingau sieht<br />

I 'r ht r jetzt im Lichte intensiver Verklärung. Diese Landschaft<br />

37


N ostradamus-Anklänge<br />

in Stefan Georges TAFELN<br />

Dem in Vorstehendem gegebenen Hinweis auf Nostradamus-Anklänge<br />

in Georges TAFELN sei einiges Erläuternde hinzugefügt. Der<br />

1503 in der Provence geborene französische Prophet, der einer ehemals<br />

jüdischen Familie entstammte, hinterließ in seinen CENTURI ES<br />

ein höchst seltsames Werk. Es handelt sich um eine Sammlung prophetischer<br />

Spruchgedichte, vergleichbar den vielen Orakelsammlungen,<br />

welche die Antike besaß. Durch seinen abstrus dunklen<br />

Gehalt gehört das Werk in den Bereich jenes mystischen-astrologischen<br />

Schrifttums, das gewöhnlich mehr die Okkultisten interessierte<br />

als die wahrhaft Gebildeten. Wenn trotzdem Dichter wie<br />

Goethe und George durch Nostradamus beeindruckt wurden, so<br />

liegt das an der sprachlichen Höhe, an der Eigenart des Tons der<br />

Nostradamischen Verse. Wirklich eignet den Quatrains, den Vierzeilern<br />

des Nostradamus ein dichterisches Element, das sie<br />

literargeschichtlich wertvoll macht.<br />

Dass George durch sie inspiriert wurde, zeigt zunächst schon<br />

die formale Übereinstimmung seiner TAFELN mit den N ostradamus­<br />

Sprüchen. 1 Die überwiegende Mehrzahl der TAFELN besteht aus gereimten<br />

Vierzeilern mit fünf jambischen Hebungen. Das aber ist<br />

auch die den Quatrains des Nostradamus zugrunde liegende Form.<br />

Die bei Nostradamus übliche Reimstellung (ab ab) findet sich in<br />

den TAFELN <strong>nicht</strong> durchweg, aber doch sehr häufig. Innerhalb die-<br />

40<br />

Nostradamus wird im Folgenden zitiert nach derAusgabe <strong>von</strong>Anatole le Pelletier:<br />

LES ORACLES OE MICHEL OE NOSTREOAMEAstrologue, Medecin et Conseiller Ordinaire<br />

des Rois Henri H, Franr;:ois H et Carles IX, Edition ne varietur comprenant: 1° Le<br />

Texte-type de Pierre Rigaud (Lyon, 1558-1566), d' apres I' edition-princeps conservee<br />

a la Bibliotheque de Paris, Avec les Variantes de Benoist Rigaud (Lyon, 1568) et les<br />

Supplements de la reooition de M. DCV; 2°Un Glossaire de la languede Nostredame,<br />

avec Clef des Noms enigmatiques; 3° Une Scholie historique des principaux Quatrains.<br />

Tome H. Reimpression de I' edition de Paris, 1867. Geneve: Slatkine Reprints,<br />

1969. - Kursivdruck-Hervorhebungen innerhalb der Zitate stammen <strong>von</strong> M. M.<br />

r äuß r n Üb r in timmun n z igt i h nun in Y, rw ndthaft<br />

d Ton hö hst auffällig da, wo di TAFELN b inn n, üb rp<br />

r önlich Inhalte au zusprechen, wo si zu Orak I prü h n<br />

w · rden. Dieser Ton setzt bei den RHEIN-Gedicht n in und i t d< nl1<br />

durchgehalten bis zu den Versen ZUM ABSCHWSS DES Vll. RlNc. i ·<br />

vor den RHEIN-Sprüchen stehende Gruppe <strong>von</strong> 27 G dicht n bild t<br />

- so sieht es auch Morwitz als Kommentator - eine besond<br />

P rsonen gerichtete Abteilung. Der Ton ist hier um viel<br />

schmeidiger. Es tritt hier noch <strong>nicht</strong> die volle Wucht, der h rn<br />

Klang auf, der für die eigentlichen Orakel sprüche so charakt ritisch<br />

ist. Wo dies aber einsetzt, mit den RHEIN-TAFELN, wird di<br />

Ähnlichkeit mit dem Ton des Nostradamus so groß, dass man<br />

gen darf: es ließe sich schwerlich in der Weltliteratur ein dicht risches<br />

CEuvre finden, das mit der Besonderheit dieser Georg h n<br />

TAFELN soviel Gemeinsames hat. Von den sechs RHEIN überschri -<br />

benen TAFELN an - <strong>nicht</strong> vorher - zeigen sich denn auch vi Ifa h<br />

inhaltlich Wendungen, die an Nostradamus erinnern.<br />

Was George an Nostradamus anzog, läßt sich unschwer erk nnen.<br />

Als es dem Dichter darum ging, Prophetien auszusprech n,<br />

eine Art Orakelsammlung zu schaffen, mochte natürlicherw i<br />

das Bedürfnis entstehen, eine durch Tradition schon gültig gewordene<br />

Form zu finden, so wie die Antike sie besaß. Aber der H xameter<br />

- im Altertum der herkömmliche Orakelvers - kam für<br />

George <strong>nicht</strong> in Betracht. Noch Goethe mochte für seine W EISS A­<br />

GUNGEN DES BAKIS Hexameter und Pentameter (Distichen) verwenden.<br />

Für klassizistisches Empfinden waren es reizvolle Maaß .<br />

Dabei ist aber bezeichnend, dass sämtliche Bakis-Sprüche Vierz iler<br />

sind - hier wirkte sich vermutlich auch bei Goethe die Kenntni<br />

des Nostradamus aus. Auch er suchte offenbar für seine Orak 1sammlung<br />

Anlehnung an das Traditionsvorbild der C ENTURI E .<br />

Jedenfalls tritt mit den WEISSAGUNGEN DES BAKIS in Goethes Spruchdichtung<br />

der Vierzeiler als Form einer ganzen Sammlung auf -<br />

dies Phänomen erklärt sich am ehesten durch die imitatio d<br />

Nostradamus.<br />

Für George war der Hexameter wie jedes andere antike M -<br />

trum unbrauchbar geworden, da sich in ihm neues Fühlen <strong>nicht</strong><br />

41


Endlich kann die Farbe - wie bei George - gegenständlich angedeutet<br />

werden (Cent. IV 85; p. 93):<br />

Le charbon blanc du noir sera chasse,<br />

Prisonnier faict mene au tombereau,<br />

More Chameau sur pieds entrelassez,<br />

Lors le puisne sillera l' aubereau.<br />

Besonders nahe Georges TAFEL RHEIN: IV steht der folgende Vierzeiler,<br />

in dem es heißt, dass "Asche, Kalk und Staub" vom Nordwind<br />

"über die Mauem geworfen" werden (Cent. IX 99; p. 200):<br />

Vent Aquilon fera parir le siege,<br />

Par meurs ietter cendres, chauls, & poussiere:<br />

Par pluye apres, qui leur fera bien piege,<br />

Dernier secours encontre leur fron tiere.<br />

Wenn in Georges vierter RHEIN-TAFEL der »ekle schutt <strong>von</strong> rötel kalk<br />

und teer« hinaus ins Meer geworfen wird, so stimmt damit merkwürdig<br />

zusammen ein gleichfalls vom Rhein handelnder Vierzeiler<br />

des Nostradamus. Dort wird "der große Verband" (?) in den<br />

Rhein geworfen (Cent. VI 40; p. 123):<br />

Grand de Magonce pour grande soif esteindre,<br />

Sera priue de sa grande dignite:<br />

Ceux de Cologne si fort le viendront plaindre,<br />

Que la grand groppe5 au Rhin sera iette.<br />

Was die Umschreibungen <strong>von</strong> Städtenamen betrifft, die in der<br />

TAFEL RHEIN: III anzutreffen sind, so bietet Nostradamus dergleichen<br />

die Fülle. Da lesen wir <strong>von</strong> 'eite solaire', 'ville rouge', 'ei te<br />

franche', 'cite neuve', 'cite antique' (auch 'vieille' ), 'grande eite',<br />

Port Selyn etc. Die Ausleger haben zu tun, diese Umschreibungen<br />

zu deuten, ihre Ergebnisse differieren. Indem George, weniger<br />

dunkel, aus der Geschichte genommene Bezeichnungen der rheinischen<br />

Städte heranzieht, trifft er doch zugleich den Ton der<br />

Nostradamischen Orakelsammlung.<br />

5 Pelletier merkt hierzu an: Lisez: groupe.<br />

44<br />

In dem TAFEL-Spruch RHEIN: II steht das Bild <strong>von</strong> dem Einen, der<br />

mit mächtiger Gabel schlägt und die Wasser vom Horte spritzt, in<br />

Korrespondenz mit den vielen Erwähnungen Neptuns bei Nostradamus,<br />

wobei auch des Tridents wiederholt gedacht ist. Eine dieser<br />

Stellen sei näher betrachtet, weil sich darin eine auffällige Übereinstimmung<br />

mit Georges Text findet. Es ist der Spruch (Cent. IV<br />

33; p. 84):<br />

Iupiter ioinct plus Venus qu'a la Lune,<br />

Apparoissant de plenitude blanche :<br />

Venus cachee sous la blancheur Neptune<br />

De Mars trappe par la grauee branche.<br />

Hier ist es der Meergott, der <strong>von</strong> einem "schweren Zweig" getroffen<br />

wird, als schlüge ihn sein eigener Trident. Wieder können wir<br />

absehen <strong>von</strong> einer Deutung des Spruchs. Wie so oft ist die Sprache<br />

ist die der Astrologie; dabei fällt jedoch die Erwähnung des damals<br />

noch unentdeckten Planeten Neptun auf. Uns muß interessieren,<br />

dass die Wendung "frappe par la gravee branche" durch<br />

Sinn und Klang an Georges Wendung: »schlägt mit mächtiger<br />

gabel« erinnert. Durch den Umstand, dass sowohl bei Nostradamus<br />

als auch bei George die betreffenden Worte am Versende stehen,<br />

intensiviert sich der Eindruck einer <strong>nicht</strong> auf Zufall beruhenden<br />

Übereinstimmung. Es eröffnet sich nun eine Möglichkeit,<br />

Georges Wendung <strong>von</strong> der 'mächtigen Gabel' genauer zu versteh<br />

n, wenn wir einen weiteren Spruch des Nostradamus hinzuzieh<br />

n, in dem uns das Bild vom schlagenden Zweig anders gefaßt<br />

b gegnet. Das Werk des Nostradamus beginnt mit zwei Vierzei­<br />

I rn, die eine Selbstdarstellung enthalten. Einsam sitzt der Prophet<br />

d s Nachts bei geheimen Studien, so heißt es in der Einleitungs­<br />

Hlrophe (worauf Goethe zu Anfang des FAUST anspielt). Der zweite<br />

Vi rz iler zeigt dann die Attitüde des Sehers und das Nahen der<br />

göltli hen Inspiration (Cent. I 2; p. 21):<br />

La verge en mai" mise au milieu de Branches,<br />

, /' onde il moulle & le timbe & le pied:<br />

Vn p ' ur & voix fr mi sent par les manches:<br />

pi nd ur dluin . L diuin pr s 'a sied.<br />

45


Der Seher bewegt die 'Rute' in der Hand, er 'modelliert' damit die<br />

Welle, ihren 'Saum' und 'Fuß'. 6 Betont ist, dass die Szene sich gleichsam<br />

in mystischem Bereich abspielt, im 'Milieu' des Branchus, jenes<br />

berühmten Sohns desApollon, dem der Gott die Gabe der Weissagung<br />

verlieh. Die Rute, verge, ist hier virga, virgula divina, die<br />

Wünschelrute. Goethe sagt: das »magische Reis«; er nämlich spielt<br />

bereits auf diesen Vierzeiler des Nostradamus an in seinen WEISSA­<br />

GUNGEN DES BAKIS (v. 9 ff.):<br />

Nicht Zukünftiges nur verkündet Bakis; auch jetzt noch<br />

Still Verborgenes zeigt er, als ein Kundiger, an.<br />

Wünschelruten sind hier, sie zeigen am Stamm <strong>nicht</strong> die Schätze;<br />

Nur in der fühlenden Hand regt sich das magische Reis.<br />

Die Verse stehen - wie bei Nostradamus - in der Exposition der<br />

Goetheschen Orakelsammlung. Mit der Wendung: "in der fühlenden<br />

Hand regt sich das magische Reis" wird offensichtlich Nostradamus<br />

zitiert: "La verge en main[ ... ] il moulle[ ... ]" Hier erscheint<br />

nun die Übereinstimmung mit Georges RHEIN: 11 höchst<br />

merkwürdig: Der Vers »Einer steht auf und schlägt mit mächtiger<br />

gabel« steht auch innerhalb des Orakelteils der TAFELN am Anfang,<br />

er hat sogar genau denselben Platz wie bei Nostradamus: im ersten<br />

Vers des zweiten Vierzeilers! Somit deutet die »mächtige Gabel«<br />

doch wohl auf die 'verge', die Wünschelrute des Sehers. Der<br />

mit prophetischer Kraft begabte Dichter vermag mittels seines 'magischen<br />

Reises' dem Wasser Formen zu entlocken. Bei Nostradamus<br />

ist nur allgemein <strong>von</strong> 'onde' die Rede. George spricht konkret<br />

<strong>von</strong> den 'Wassern' des Rheins, die seine mächtige Gabel trifft. Dabei<br />

klingt in dem Vers: »Einer steht auf und schlägt. mit mächtiger<br />

gabel« noch jene andere Nostradamuszeile mit: "frappe par la<br />

gravee branche", möglicherweise in Erinnerung gebracht durch<br />

den Namen 'Branches' am Versende in I 2.7 Ein weiterer seltsamer<br />

6 So der Sinn' wenn man 'moulle' liest, was noch moderne Interpreten beibehielten.<br />

Ändert man mit Le Pelletier (1867) 'moulle' in 'mouille", so ergibt sich eine wohl<br />

richtigere Deutung.<br />

7 Pelletier p. 21 vermerkt zu BRANCHES: Variante Branches (en lettres capitales). -<br />

Allusion a Branchus, celebre orade de l'antiquite paienne.<br />

46<br />

Anklang: wenn George sagt, es »erwachen fels und borte« des <strong>von</strong><br />

der Gabel getroffenen Rheins, so entspricht »borte« dem Wort<br />

'limbe' bei Nostradamus. Limbe ist der Saum, die Borte eines Kleides;<br />

und auch Nostradamus sagt ja: "limbe & pied" - Borte und<br />

Fuß der Welle werden vom Wünschelrute-haltenden Seher geformt.<br />

- Wir sehen: auf beide, Goethe und George, hat das kurze PROÖMIUM<br />

der CENTURIES stark gewirkt. Beiden erschienen dessen Metaphern<br />

geeignet, den Charakter ihrer eigenen Orakelsammlung am Eingang<br />

anzudeuten.<br />

Auch für den Spruch RHEIN: I lassen sich Anregungen durch Nostradamus<br />

feststellen (VI-VIII. 198):<br />

Ein fürstlich paar geschwister hielt in frone<br />

Bisher des weiten Innenreiches mitte.<br />

Bald wacht aus dem jahrhundertschlaf das dritte<br />

Auch echte kind und habt im Rhein die krone.<br />

Wie sehr das Einsetzen dieses Spruches Nostradamischen Tonfall<br />

aufgreift, zeigen Strophenanfänge wie (Cent. III 98; p. 76):<br />

Deux royals freres si fort guerroyeront[ ... ]<br />

(Cent. IV 94; p. 95):<br />

Deux grands [reres seront chassez d'Espaignel .. . ]<br />

In einem anderen Vierzeiler wird <strong>von</strong> drei Brüdern gesprochen<br />

(Cent. VIII 17; p. 166):<br />

Par les trais [reres le monde mis en troublel ... ]<br />

Da bei prophezeit N ostradamus aber auch dasAuftreten dreier Ri va­<br />

I n, <strong>von</strong> deneneiner zu Ruhm und Ansehn gelangt (Cent. 150; p. 30):<br />

De ]' aquatique tripliciti naistra,<br />

D' Un qui fera le Ieudy pour sa feste:<br />

Son brui t, loz, regne, sa puissance croistra,<br />

Pa r terre & mer aux Oriens tempeste.<br />

47


(PRESAGES LXX; p. 264):<br />

De LoIN viendra susciter pour mouvoir.<br />

Immer wieder stößt man in den Versen des Nostradamus auf Stellen,<br />

die mit Worten der Georgeschen TAFELN auffallende Ähnlichkeit<br />

haben. So gibt es für die Wendung <strong>von</strong> der kleinen Schar im<br />

viertenJAHRHUNDERTSPRUCH Parallelen. »Ich sah die kleine schar ums<br />

banner stehn ... «, so heißt es bei George. Nostradamus prophezeit,<br />

dass die "schwache Schar" den Erdkreis beherrschen wird: "La<br />

bande foible le terre occupera" (VIII 56). An anderer Stelle ähnlich:<br />

"La partie foible tiendra par bon augure" (I 34). Zu dem anschließenden<br />

Vers bei George »Und alle andren haben <strong>nicht</strong>s gesehn«<br />

wäre zu vergleichen PRESAGES 70: "Oe nul cognu le mal pour devoir".<br />

Selbst eine so charakteristisch Georgesche Wendung wie »wahre<br />

gluten« im fünften JAHRHUNDERTSPRUCH hat bei Nostradamus eine<br />

Entsprechung: "La vraye flamme engloutira la dame", heißt es dort<br />

(Cent. VI 19). In einem andern Fall erinnert die Nostradamische<br />

Wendung "payer le vray disme" (den wahren Zehnten bezahlen)<br />

durch den gedanklichen Zusammenhang an den »zins«, den EINER<br />

DER 3 KOENIGE in den TAFELN dem neuen »Heiland« bringt. Das betreffende<br />

Nostradamus-Gedicht lautet (III 76):<br />

En Germanie naistront diverses sectes,<br />

Sapprochant fort de l'h<strong>eure</strong>ux paganisme,<br />

Le creur captif & petites receptes,<br />

Feront retour cl payer le vray disme. 1O<br />

Bei Nostradamus ist der Gedankengang: in Germanien werden verschiedene<br />

Sekten entstehen, die sich dem "glücklichen Heidentum"<br />

weit annähern; doch wird man schließlich zurückkehren und Christus<br />

den" wahren Zehnten" zahlen. In Georges Bild: EIN ER DER 3<br />

KOENIGE erscheinen ähnliche Gedanken in anmutig umgekehrter<br />

10 Übersetzungsversuch <strong>von</strong> M . M : 'In Germanien werden verschiedene Ketzersekten<br />

entstehen'/Sich stark annähern dem glücklichen Heidentum, I Gefangenes Herz<br />

und schmale Einnahmen,/Werden bewirken Rückkehr zum wahren "Zehnten"<br />

(Christentum).'<br />

50<br />

Reihenfolge: dem 'neuen Heiland' wird erst der Zins gebracht, dann<br />

kehrt der morgenländische König zurück in die Heimat seines frohen<br />

Glaubens (VI-VII. 200):<br />

Dir neuer Heiland! bracht ich meinen zins.<br />

Nun lass mich wieder nach dem heimatplatze!<br />

Noch bin ich jung und lebe frohen sinns<br />

Der süssen krone und dem schönen schatze.<br />

Bezüglich der Tafel ZUM ABSCHLUSS DES VII. RINGS wäre nur anzumerken,<br />

dass das zugrunde liegende Thema der Sintflut bei Nostradamus<br />

nach Weise eines Topos häufig wiederkehrt. Dagegen<br />

sei als letztes noch genauer betrachtet, wie die Georgesche Wendung<br />

vom »reinen Haus« in der ABSCHLUSS-TAFEL KEHRAUS bei Nostradamus<br />

ein merkwürdiges Vorbild hat.<br />

Die hexen und beschwörer die noch spuken­<br />

Hinaus! Die dämmrung bricht durch alle luken.<br />

Dass der nur rück ins reine haus sich wage<br />

Der hüllenlos sich zeigen darf im tage!<br />

Auch bei Nostradamus findet sich das Bild <strong>von</strong> einem Spukhaus<br />

mit ganz ähnlichem Kontur und Sinnzusamrnenhang (Cent.VII 41;<br />

p. 142):<br />

Les os des pieds & des mains enserrez,<br />

Par bruit maison lang temps inhabitee,<br />

Seront par songes concauant deterrez,<br />

Maisan salubre & sans bruit habitee. 1I<br />

Gebeine <strong>von</strong> Toten sind in dem Haus eingeschlossen, wegen<br />

espensterspuks (bruit) steht das Haus für lange unbewohnt. Durch<br />

Träume werden die Totengebeine ausgegraben: nun ist es ein "gesu<br />

ndes Haus" (maison salubre) und es wird wieder ohne Spuk bewohnt.<br />

Bei allen Unterschieden fällt doch auf, wie das Grundbild<br />

11 Übersetzu ngsversuch <strong>von</strong> M . M.: 'Die Gebeine <strong>von</strong> Füßen & Händen sind eingeschlossen,/(in<br />

dem nächste Zeile genannten Haus) I Wegen Spuks (bruit) steht das<br />

Haus lange unbewohnt, IDurch Trä ume, tiefgrabend I höhlend, werden die Gebeine<br />

ausgegraben,/Das Haus ist jetzt "gesund", wird ohne Spuk bewohnt:<br />

51


in Georges TAFEL gleich ist und vor allem auch das nämliche bezeichnet.<br />

Sowohl Nostradamus wie George veranschaulichen mit<br />

der Metapher <strong>von</strong> dem zu reinigenden Spukhaus ihre Prophetie:<br />

den Wechsel <strong>von</strong> schlimmer zu besserer Zeit. Durch das Übereinstimmende<br />

der Wendung vom »maison salubre« mit »ins reine<br />

haus« wird der Zusammenhang evident. Dass es bei Nostradamus<br />

'Träume' (songes) sind, die das Reinigungswerk vollbringen, steht<br />

Georges Denkart ganz nahe. Nach Georges Überzeugung sind es<br />

ja die Träume des Dichters, die eine Reinigung der Welt bewirken<br />

und damit - GEHEIMES DEUTSCHLAND v. 26 - »Neuen raum in den<br />

raum« schaffen, eine Heimstatt für die Wiederkehr des Menschlichen,<br />

der Seele.<br />

In dem verwirrenden Labyrinth der Nostradamischen CENTURIES<br />

- das zeigen die besprochenen Anklänge zur Genüge - findet sich<br />

manche mit Georges Vorstellungen zusammenstimmende gedankliche<br />

Wendung. Auch dies mag es erklären, dass in DER SIEBENTE<br />

RING soviel <strong>von</strong> Form und Ton des Nostradamus in die TAFELN eingehen<br />

konnte. Als George im STERN DES BUNDES sein prophetisches<br />

Dichten fortsetzte, verzichtete er auf die Nostradamische Form des<br />

Quatrains. Es darf aber gesagt werden, dass zumindest ein formales<br />

Merkmal doch auch hier an Nostradamus erinnert. Der STERN<br />

DES BUNDES besteht aus insgesamt hundert Gedichten. Die Hundertzahl<br />

aber ist kennzeichnend für das Nostradamische Werk, wie<br />

schon der Titel erkennen läßt. Die 10 Bücher der CENTURIES bestehen<br />

aus je 100 Quatrains mit Ausnahme eines unvollendeten, des<br />

7. Buches. Bekanntlich liebte auch George, den Aufbau seiner Werke<br />

nach bestimmten Zahlenverhältnissen zu gestalten. In jener<br />

Regelmäßigkeit bei Nostradamus mußte ihm somit wiederum ein<br />

verwandtes Element entgegentreten. Wenn für den STERN DES BUN­<br />

DES nun die Hundertzahl maßgeblich wurde, so mag man dies noch<br />

als eine Hindeutung ansehen darauf, wie sehr auch dies Werk im<br />

Zeichen der prophetischen Sprache steht. Bestimmte doch die Zahl<br />

Hundert dasjenige Buch der Weltliteratur, das als dichterische<br />

Orakelsammlung eine Art kanonischer Geltung beanspruchen<br />

konnte: die <strong>von</strong> Goethe und George gleich geschätzte Sammlung<br />

der CENTURIES des Nostradamus.<br />

52<br />

Hölderlins Lösung <strong>von</strong> Schiller<br />

Zu Hölderlins Gedichten AN HERKULES und<br />

DIE EICHBÄUME und den Übersetzungen aus Ovid,<br />

Vergil und Euripides<br />

Die Gründe, die Hölderlin veranlaßt haben könnnen, seinen Jenaer<br />

Aufenthalt Ende Mai 1795 plötzlich abzubrechen und in die<br />

Heimatstadt Nürtingen zurückzukehren, sind oft diskutiert worden.<br />

Viele Anzeichen schienen darauf hinzuweisen, dass auf jeden<br />

Fall eine krisenhafte Zuspitzung in dem persönlichen Verhältnis<br />

zu Schiller hierbei eine große Rolle spielte. Es schien dies, wenn<br />

auch <strong>nicht</strong> das einzige, so doch ein besonders gewichtiges Motiv<br />

gewesen zu sein für das, was man die "Flucht aus Jena" genannt<br />

hat. Jene Krise, so nahm man an, sei entstanden aus einem bei<br />

Hölderlin immer stärker werdenden Gefühl der Unterlegenheit,<br />

der Minderwertigkeit im Umgang mit Schiller. Grundsätzliche<br />

Meinungsdifferenzen zwischen beiden Dichtern ließen sich gleichfalls<br />

leicht aufzeigen. Man weiß, mit welcher Leidenschaft Hölderlin<br />

sich dagegen auflehnte, wenn im Zusammenhang mit Kunst,<br />

mit Dichtung <strong>von</strong> "Spiel" gesprochen wurde, wie Schiller das getan<br />

hatte in seinen BRIEFEN ÜJlER DIE ÄSTHETISCHE ERZIEHUNG DES MEN­<br />

SCHEN (1795). Doch glaubte man vor allem aus vielen Hölderlinschen<br />

Äußerungen - brieflichen und auch dichterischen - schließen<br />

zu können, dass eben jenes intensive Gefühl des Größenunterschiedes<br />

zwischen dem älteren berühmten Mann und dem jüngeren,<br />

noch ruhmlosen, die Lage für Hölderlin unerträglich gemacht hat. 1<br />

Eine ganz andere Auffassung indessen vertritt einer der besten<br />

Kenner Hölderlinscher Lebensverhältnisse, Adolf Beck. Ihm zufolge<br />

wäre in einem frühen Hervortreten der Krankheit, einem "er-<br />

Vgl. Hans Heinrich Borcherdt, Schiller und die Romantiker, Stuttgart 1948, 5.114 H.<br />

Pau l Raabe, Die Briefe HölderIins. Stuttgart 1963. S. 112 f.<br />

53


sten pathologischen Schub" die wesentliche Ursache zu sehen, dass<br />

es bei Hölderlin zu einem "Zusammenbruch seines ursprünglich<br />

guten und anregenden Verhältnisses zu seiner Umwelt in Jena"<br />

kam, zum "schizothymen Gefühl der Isolierung, und schließlich<br />

zu der überstürzten Flucht ... in die Geborgenheit des mütterlichen<br />

Hauses". Beck verweist dabei vor allem auf die Berichte über<br />

Hölderlins Erziehertätigkeit in Waltershausen, die Charlotte v. Kalb<br />

an Schiller sandte, und in denen sich ein Passus wie folgender findet:<br />

"mann meynt würklich das eine Verworrenheit des Verstandes<br />

diesen Betragen [Hölderlins, des Lehrers] zu grunde liegt".<br />

Hiernach wären also etwaige Spannungen in dem Verhältnis<br />

zwischen Hölderlin und Schiller zu Erscheinungen <strong>von</strong> sekundärer<br />

Bedeutung geworden. Was das Bestehen solcher Spannungen betrifft,<br />

so leugnet Beck diese <strong>nicht</strong>, gibt aber auch ihnen einen anderen<br />

ursächlichen Hintergrund. Entscheidend sei <strong>nicht</strong> das "Gefühl<br />

eines ver<strong>nicht</strong>enden Größenunterschiedes" gewesen, sondern vielmehr<br />

ein anderes: in seiner Eigenschaft als "gescheiterter Erzieher"<br />

im Hause Kalb sei Hölderlin gegenüber Schiller in einer unangenehmen<br />

Lage gewesen. Gerade die Tatsache, dass Schiller über<br />

jenes Scheitern, über die "peinliche Sache", bestens informiert war,<br />

habe sich bei Hölderlins "argwöhnischer Empfindlichkeit" unheilvoll<br />

ausgewirkt. Ob zwischen beiden Männern darüber gesprochen<br />

wurde oder <strong>nicht</strong>-Hölderlin mußte nach BecksAnsicht "doch<br />

das Gefühl haben, dass er letztlich auch Schiller enttäuscht und<br />

sich durchaus <strong>nicht</strong> als der 'Mann' bewährt habe, der zu werden<br />

er in seinem ersten Brief an diesen so sehnlich gewünscht hatte".2<br />

Es erhebt sich die Frage; ob diese Umdeutung der Spannungen<br />

mit Schiller noch mit dem urkundlichen Material in Einklang zu<br />

bringen ist. Aus Hölderlins Briefen an Schiller ist doch mit aller<br />

Klarheit zu ersehen, dass der Weggang <strong>von</strong> Jena wesentlich eine<br />

Lösung <strong>von</strong> Schiller bedeutete, und dass hierbei das Gefühl des<br />

drückenden Größenunterschiedes ein ausschlaggebendes Moment<br />

darstellte. Es geht aus den Briefen aber des weiteren etwas hervor,<br />

das man nie genügend in Rechnung gestellt hat: nämlich dass Höl-<br />

2 Hölderlin-Jahrbuch, 1950, 5.154-162.<br />

54<br />

derlin vor allem sein Schaffen, sein Dichtertum durch Schillers Nähe<br />

und Gegenwart gefährdet sah. In Gefahr war sein Werk - und darum<br />

mußte er vor Schiller fliehen.<br />

Die Flucht aus Jena gehört zu den wichtigsten Wendungen in<br />

Hölderlins Leben, und ihre Erklärung kann uns <strong>nicht</strong> gleichgültig<br />

sein. Es sei darum hier nochmals auf diejenigen Sätze in Hölderlins<br />

Briefen an Schiller aus den Jahren 1795 bis 1798 hingewiesen,<br />

die am klarsten bezeugen, dass es Spannungen mit Schiller waren,<br />

die den Hauptgrund für das Scheiden aus Jena bildeten, und dass<br />

es sich hierbei um Spannungen im Bereich des Geistigen handelte,<br />

<strong>nicht</strong> des Persönlichen, Privaten. Des weiteren werden wir gewisse<br />

Spiegelungen jener geistigen Spannungen in Hölderlins damaligem<br />

Schaffen zu betrachten haben, und zwar besonders innerhalb<br />

eines dichterischen Komplexes, den man bisher noch <strong>nicht</strong> in<br />

solchem Zusammenhang gesehen hat.<br />

I.<br />

Bereits im ersten Brief, den Hölderlin aus Nürtingen am 23. Juli<br />

1795 an Schiller richtet, gibt er, wie er ausdrücklich betont, geradezu<br />

eine "Apologie" seines plötzlichen Weggangs aus Jena. Am Anfang<br />

steht die Klage - die sich in den späteren Briefen so oft wiederholt<br />

-, dass Hölderlin nun <strong>nicht</strong> mehr Schillers persönlichen<br />

Umgang, <strong>nicht</strong> mehr seIne "Nähe" genieße, verbunden mit dem<br />

Eingeständnis, wieviel er damit entbehre. Der dann folgende Passus<br />

ist aber bereits geeignet, jegliche Zweifel zu beheben, dass es<br />

sich in erster Linie um eine Flucht vor Schiller gehandelt habe. "Ich<br />

hätt' es auch schwerlich mit all' meinen Motiven über mich gewonnen,<br />

zu gehen, wenn <strong>nicht</strong> eben diese Nähe mich <strong>von</strong> der andern<br />

Seite so oft beunruhiget hätte." Klar und deutlich wird hier ausgesprochen:<br />

die" Beunruhigung" durch Schillers "Nähe" gab denAusschlag<br />

bei dem Fluchtentschluß. Andere "Motive" - die es also gegeben<br />

haben mag - spielten demgegenüber eine zweitrangige Rolle.<br />

Bezeichnend ist aber weiter die Art und Weise, wie Hölderlin<br />

es erklärt, dass Schillers Nähe ihn so "beunruhigte". Er habe dar-<br />

55


unter gelitten, spüren zu müssen, dass er ihm, dem "grossen Mann",<br />

so wenig bedeutete. "Ich [ ... ] sah Sie immer nur, um zu fühlen,<br />

dass ich Ihnen <strong>nicht</strong>s seyn konnte." Hier erscheint in aller wünschbaren<br />

Deutlichkeit das Motiv <strong>von</strong> dem schmerzlich empfundenen<br />

Größenunterschied, und dieses Motiv wird nun in aller Ausführlichkeit<br />

beleuchtet. Auf der einen Seite waren es "stolze Forderungen",<br />

mit denen Hölderlin sich dem "grossen Mann" näherte -<br />

Forderungen, die er dann "nothwendiger weise [. .. ] büsste". Andererseits<br />

quälte das unüberwindliche Gefühl der "eignen Armseeligkeit":<br />

"weil ich Ihnen so viel seyn wollte, musst' ich mir sagen,<br />

dass ich Ihnen <strong>nicht</strong>s wäre".<br />

Wir erhalten hier genauen Einblick in die innere Situation Hölderlins<br />

zur damaligen Zeit. Ein bestimmtes Gefühl der Armseligkeit<br />

resultierte natürlicherweise aus den bisherigen Mißerfolgen<br />

im Dichten und im Beruf. Insbesondere war es der Fehlschlag der<br />

ersten großen Anstrengung, die Hölderlin als Schaffender mit der<br />

langen Folge der Tübinger Reimhymnen unternommen hatte, der<br />

sich hier auswirkte. Während es sonst die Regel zu sein pflegt, dass<br />

große Dichter sich mit einem ersten grandiosen Wurf und Gelingen<br />

die Welt auf einen Schlag erobern, war Hölderlin, wie in so<br />

vielem anderen, auch darin glücklos, dass ihm gerade dieser Erfolg<br />

versagt blieb. Jene Hymnen hatten allzuwenig Anklang gefunden,<br />

Hölderlin selbst betrachtete sie sehr bald als verfehlt und<br />

sah sich zu einem totalen Neuanfang genötigt: dieser ist bezeichnet<br />

durch die Arbeit am HYPERION. Andererseits war in Hölderlin<br />

genau zu der Zeit, in der wir uns befinden, gerade durch die Hy­<br />

PERlON-Arbeit ein unbezweifelbares Ahnen seines eigentlichen Wertes<br />

und Ranges erwacht: der einzigartige Zauber einer halbrhythmischen<br />

Prosa hatte ihm dasjenige beschert, was ihm bislang in<br />

seinem lyrischen Schaffen versagt geblieben war - den Durchbruch<br />

zur eigenen, originellen Sageweise, den eigenen Ton. So hatte Hölderlin<br />

in Jena bereits durchaus ein Bewußtsein seiner eigenen Größe,<br />

nur dass dies <strong>von</strong> außen noch kaum bestätigt worden war. Gerade<br />

das aber machte ihm das Zusammensein mit Schiller so<br />

unerträglich. Zwar stand das Phänomen des Größenunterschiedes<br />

immer wieder unabweisbar vor seinen Augen, doch protestierte<br />

56<br />

dagegen in Wahrheit längst das innere Empfinden. Die "eigneArmseeligkeit"<br />

wurde aufs intensivste gespürt, da sie der äußern, realen<br />

Situation entsprach. Aus dem Innern aber erwuchsen bereits<br />

jene "stolzen Forderungen", die der Dichter an die Umwelt, die er<br />

an Schiller stellen, dabei nach Lage der Dinge "büssen" mußte.<br />

Diese zwiespältige Situation gilt es zu berücksichtigen, wenn man<br />

Hölderlins damaliges Verhalten wie auch die Spiegelungen in der<br />

gleichzeitigen Dichtung begreifen will. Den Minderwertigkeitsgefühlen,<br />

die aus so vielen brieflichen und dichterischen Äußerungen<br />

erkennbar werden, steht im Geheimen bereits ein starkes Wertbewußtsein<br />

zur Seite.<br />

Es liegt im übrigen in der zutiefst bescheidenen Natur Hölderlins<br />

begründet, dass er in der privaten Äußerung der Korrespondenz<br />

eher die negative als die positive Seite seiner inneren Verfassung<br />

mitteilt. So findet sich auch in dem zweiten Brief, der aus<br />

Nürtingen am 4. September 1795 an Schiller gerichtet ist, wiederum<br />

eine charakteristische Wendung, wenn es heißt, er sei eben <strong>nicht</strong><br />

wie Schiller ein "seltner Mensch".3 Auch damit ist auf das Minderwertigkeitsgefühl<br />

im Zusammenhang mit dem des Größenunterschieds<br />

hingedeutet, auf die Hauptursachen also, die Hölderlin <strong>von</strong><br />

Schiller wegtrieben. Weiter fällt in diesem Brief das gewichtige Wort,<br />

es sei ihm jetzt oft" wie einem Exulanten" zumute. Der Gedanke,<br />

ins Exil gehen zu müssen oder sich im Exil zu befinden, kehrt damals<br />

vielfach in Hölderlins Dichtungen und Briefen wieder. Im Exil<br />

Lebende, ins Exil Flüchtende sind Hyperion und Empedokles, aber<br />

auch die meisten anderen Hauptgestalten in diesen Werken; das<br />

3 Im Vorhergehenden hieß es (StA VI 181: "Ich glaube, daß diß das Eigentum der<br />

seltnen Menschen ist, daß sie geben können, ohne zu empfangen, daß sie sich auch<br />

>am Eise wärmen< können." Adolf Beck wies im Kommentar (StA VI 757) darauf<br />

hin, dass Hölderlin hier Worte Philines aus WILHELM MEISTERS LEHRJAHRE, Buch 2,<br />

Kap. 4, zitiert. Aber auch der Passus vom uneigennützigen "Gebenkönnen, ohne<br />

zu empfangen" ist im Sinne Philines gedacht. Er erinnert an jenes Philine-Wort aus<br />

Buch 4, Kap. 9, das Goethe in DICHTUNG UND WAHRHEIT als Ausdruck spinozistischer<br />

" Uneigennützigkeit" und darum als "ihm recht aus dem Herzen gesprochen" bez<br />

ichnete:" Wenn ich dich lieb habe, was geht's dich an?" War Hölderlin, der noch<br />

in Waltershausen Spi noza studiert hatte, hier ein tiefverstehender Goetheleser?<br />

57


so vertraut wird, dass er ihr Übergewicht vergißt. Und fühlt er diß,<br />

so muß er eigensinnig oder unterwürfig werden."<br />

Aus all diesen Be<strong>kennt</strong>nissen geht eindeutig hervor: wenn für<br />

Hölderlin das Gefühl des Größenunterschieds zwischen Schiller<br />

und ihm so unerträglich wurde, so liegen die Gründe <strong>nicht</strong> in der<br />

Sphäre des Privaten, Persönlichen. Ein Kampf der Geister spielt<br />

sich ab, als solcher beispielhaft instruktiv und erregend. In der<br />

scheinbaren Überlegenheit des andern sah Hölderlin Gefahr für<br />

sein Werk, Gefahr für seine dichterische Entwicklung. Die "Ängstigkeit",<br />

die "Befangenheit", <strong>von</strong> der Hölderlin spricht, resultieren<br />

in Wahrheit aus einer Scheu vor dem "Unterjocht"-werden -<br />

darum bedeuten sie den "Tod der Kunst", den Tod auch für Hölderlins<br />

Kunst, für sein Dichten. Hölderlin konnte mit Schiller <strong>nicht</strong><br />

"vertraut" werden, weil ihm der eigene Genius verbot, hier, wo es<br />

um sein Schaffen ging, "unterwürfig" zu sein. So blieb nur der<br />

Ausweg des "Eigensinns": die Loslösung, die Flucht. Auf sich selbst<br />

gestellt, fand Hölderlin nun die ihm so nötige" Unabhängigkeit"<br />

<strong>von</strong> "andern Kunstrichtern und Meistern", deren Vorbild ihm auf<br />

seinem "Gang" nimmer nützlich sein konnte.<br />

Letzten Endes war also doch das Entweichen aus Jena ein Schritt<br />

<strong>von</strong> tiefster innerer Notwendigkeit. Hölderlins Weg als Dichter<br />

nahm eine Richtung, die Schiller <strong>nicht</strong> verständlich und akzeptabel<br />

sein konnte. Die Endfassung des HYPERION war bereits der Beweis<br />

hierfür, und Hölderlin befand sich damals auf dem schwierigen<br />

Weg hin zu dieser Endfassung, die etwas vollständig Neuartiges<br />

bringen sollte. Nicht zufällig tauchen alle jene Formulierungen der<br />

Abwehr gerade in dem Brief auf, der die Sendung des ersten Bandes<br />

des HYPERION an Schiller begleitete. In dieser Stunde war sich<br />

Hölderlin bewußt geworden, wie notwendig für ihn die Befreiung<br />

<strong>von</strong> Schiller und seinen Einflüssen war, mochte auch in anderem,<br />

in menschlichem Bereich die alte "Anhänglichkeit" fortbestehen.<br />

Denn man darf hier daran erinnern: gerade auf die Arbeit am Hy­<br />

PERlON hatte Schiller in Jena mit voller Absichtlichkeit einzuwirken<br />

versucht. Das ist bezeugt durch sein Empfehlungsschreiben an<br />

Cotta, in dem Schiller ausdrücklich erklärt, er hoffe auf Hölderlins<br />

Roman "noch einigen Einfluß zu haben" (9. März 1795). Man wird<br />

60<br />

<strong>nicht</strong> fehlgehen in der Annahme, dass es wesentlich diese Entwicklung<br />

war, der Hölderlin schließlich gewaltsam entwich. Bezeichnend<br />

ist es im übrigen, dass Hölderlin nach dem Erscheinen des<br />

HYPER ION-Bandes zwei volle Monate verstreichen ließ, bis er das<br />

Buch, auf das er doch stolz war, an Schiller sandte!<br />

Schillers Ratschläge waren also für Hölderlin mehr irritierend<br />

als nützlich. Dies wird auch ersichtlich aus folgender Briefäußerung<br />

vom August 1797: "Sie sagen, ich sollte Ihnen näher seyn, so<br />

würden Sie mir sich ganz verständlich machen können." (Das bedeutet:<br />

Schiller hatte - in einem <strong>nicht</strong> erhaltenen Schreiben - den<br />

Wunsch ausgesprochen, Hölderlin wieder in literarischen Dingen<br />

zu beraten.) "Aber glauben Sie", so fährt Hölderlin fort, "daß ich<br />

denn doch mir sagen muß, daß <strong>Ihr</strong>e Nähe mir <strong>nicht</strong> erlaubt ist?<br />

Wirklich, Sie beleben mich zu sehr, wenn ich um Sie bin. Ich weiß<br />

es noch ganz gut, wie <strong>Ihr</strong>e Gegenwart mich immer entzündet,<br />

daß ich den ganzen andern Tag zu keinem Gedanken kommen<br />

konnte. So lang ich vor Ihnen war, war mir das Herz fast zu klein,<br />

und wenn ich weg war, konnt' ich es gar <strong>nicht</strong> mehr zusammenhalten.<br />

Ich bin vor Ihnen, wie eine Pflanze, die man erst in den<br />

Boden gesetzt hat. Man muß sie zudeken um Mittag. Sie mögen<br />

über mich lachen; aber ich spreche Wahrheit."<br />

Hier haben wir nun in aller Schlichtheit das Be<strong>kennt</strong>nis: Hö]derlin<br />

sieht es als <strong>nicht</strong> erlaubt an, in Schillers Nähe zu verw ilen,<br />

er verbietet sich diese Nähe. Die höfliche Formulierung d r<br />

Begründung läßt doch genau erkennen, worum es sich hand It.<br />

Hölderlin kann, sobald Schiller unmittelbar auf ihn einwirkt, "zu<br />

keinem Gedanken kommen" - gemeint ist natürlich: er wird in<br />

seinem schöpferischen Denken und Arbeiten gehemmt, irriti rt.<br />

Das Wachstum seines Werkes ist gefährdet. Darauf deutet auch da<br />

Gleichnis <strong>von</strong> der jungen Pflanze, die man zudecken müss : di<br />

grelle Einstrahlung einer zu hoch stehenden Sonne hemmt ihr<br />

E n tfa I tung.<br />

Eine womöglich noch deutlichere Geste der Abwehr enthält da<br />

nächste Schreiben vom 30. Juni 1798. Hier gesteht Höld rlin, da<br />

hillers "Macht" ihm "längst vieleicht den Muth g nomm n h··tt<br />

, w nn es <strong>nicht</strong> eben so große Lust wäre, als es Schm rz i t, Si<br />

61


zu kennen". Im folgenden heißt es: "Sie wissen es selbst, dass jeder<br />

große Mann den andern, die es <strong>nicht</strong> sind, die Ruhe nimmt, und<br />

dass nur unter Menschen, die sich gleichen, Gleichgewicht und<br />

Unbefangenheit besteht. Deßwegen darf ich Ihnen wohl gestehen,<br />

dass ich zuweilen in geheimem Kampfe mit <strong>Ihr</strong>em Genius bin, um<br />

meine Freiheit gegen ihn zu retten, und dass die Furcht, <strong>von</strong> Ihnen<br />

durch und durch beherrscht zu werden, mich schon oft verhindert<br />

hat, mit Heiterkeit mich Ihnen zu nähern. Aber nie kann ich mich<br />

ganz aus <strong>Ihr</strong>er Sphäre entfernen; ich würde mir solch einen Abfall<br />

schwerlich vergeben." Wieder einmal wird hier der Ton demütiger<br />

Ängstlichkeit, den Hölderlin sonst in den Briefen an Schiller<br />

möglichst zu bewahren strebt, unwillkürlich durchbrochen - durch<br />

die bedeutungsschwere Wendung, dass der Hölderlinsche und der<br />

Schillersche Genius "in geheimem Kampf" stehen. Es ist klar, dass<br />

es bei diesem Kampf <strong>nicht</strong> sowohl um Persönliches geht, als um<br />

das Größte und Letzte: das Werk.<br />

Wie distanziert Hölderlins Verhältnis zu Schiller in dieser Zeit<br />

eigentlich war, das verrät noch besser als die an Schiller adressierten<br />

Briefe, die immer mit kunstvoller Rücksicht formuliert sind,<br />

eine ganz nüchterne Stelle in einem Schreiben an den Freund<br />

Neuffer vom März 1796. Hier sagt Hölderlin: "Übrigens ist es<br />

ziemlich unbedeutend, ob ein Gedicht mehr oder weniger <strong>von</strong> uns<br />

in Schillers Allmanache steht. Wir werden doch, was wir werden<br />

sollen." Der Passus spielt darauf an, dass Schiller Hölderlins Gedicht<br />

AN DIE NATUR zu drucken abgelehnt hatte. Ähnliche Zurückweisungen<br />

erfolgten später noch öfter, und zwar gerade, als Hölderlin<br />

in seiner dichterischen Eigenart sich wirklich befestigt, als<br />

er auch auf dem Gebiet der Lyrik seinen eigenen Ton gefunden<br />

hatte. Auf dem Wege hin zu dieser Eigenart aber, so sehen wir,<br />

will Hölderlin sich schon jetzt durch Schiller <strong>nicht</strong> mehr stören lassen.<br />

Das bedeutet ja der kurze Satz: "Wir werden doch, was wir<br />

werden sollen."<br />

Es scheint nach all diesem gar kein Zweifel mehr möglich zu<br />

sein, dass die Flucht aus Jena tatsächlich eine Flucht vor Schiller<br />

war. Ein echtes und enges Zusammengehen mit Schiller war Hölderlin<br />

<strong>nicht</strong> möglich, es war, mit seinen eigenen Worten zu reden,<br />

62<br />

ihm "<strong>nicht</strong> erlaubt". Trennungen dieser Art sind unvermeidlich und<br />

haben in der Geistesgeschichte manche Parallele. Aus ähnlicher<br />

innerer Notwendigkeit haben sich z. B. Nietzsche und Wagner oder<br />

George und Hofmannsthai getrennt. Hier wird man sich der Worte<br />

aus Hölderlins Spätdichtung erinnern dürfen (DER EINZIGE):<br />

Oft aber scheint<br />

Ein Großer <strong>nicht</strong> zusammenzutaugen<br />

Zu Großem. Alle Tage stehn die aber, als an einem Abgrund einer<br />

Neben dem andern ...<br />

Nicht <strong>von</strong> ungefähr finden sich diese Worte in der Dichtung eines<br />

Großen, der selbst mit dem Genius eines andern Großen in "geheimen<br />

Kampf" geraten war, einen Kampf, dem nur völlige Trennung<br />

ein Ende setzen konnte. In derartigen Fällen bleiben die Getrennten<br />

nur noch in einer Abhängigkeit ganz anderer Art verbunden,<br />

es entsteht nun eine Freundschaft aus der Feme. Bekanntlich fand<br />

Nietzsche für sein Verhältnis zu Wagner nach der Trennung das<br />

schöne Wort: "Sternenfreundschaft". In gleicher Sternenfreundschaft<br />

blieb Hölderlin auch Schiller zeitlebens verbunden.<br />

II.<br />

Es ist <strong>nicht</strong> zu verwundern, dass das schmerzliche Erlebnis der<br />

Loslösung <strong>von</strong> Schiller in Hölderlins Dichtung der Jahre 1795 und<br />

1796 vielfach Ausdruck fand. In der Hölderlinforschung ist auch<br />

das viel erörtert worden. Nicht immer läßt sich dabei die Bezugnahme<br />

auf das Verhältnis zu Schiller wirklich nachweisen. Man<br />

hat z. B. <strong>von</strong> den Gestalten des Adamas und des Alabanda im Hy­<br />

PERlON behauptet, dass sie auf die Schiller-Begegnung hindeuten.<br />

Auch die Gestalt des gereiften Hyperion, der einem jungen Besucher<br />

Rat erteilt (Metrische Fassung, HYPERIONS JUGEND), wurde mit<br />

Schiller in Zusammenhang gebracht. Das kann aber nur in ein m<br />

sehr begrenzten Maß als möglich gelten. Allenfalls kommen hi r<br />

in Betracht die Situationen als solche: Freundschaft und pädag -<br />

gisches Verhältnis, vielleicht noch der Umstand, dass regelmäßig<br />

63


äußerlich einen Zusammenhang aufweisen: nämlich durch die gemeinsame<br />

handschriftliche Überlieferung. Gerade das Wesen dieses<br />

Zusammenhangs bemerklich zu machen, ist eine Hauptabsicht<br />

unserer Ausführungen. Das Gedicht, das erst 1893 gedruckt wurde,<br />

lautet mit seinem <strong>von</strong> den Herausgebern geprägten Titel:<br />

66<br />

AN HERKULES<br />

In der Kindheit Schlaf begraben<br />

Lag ich, wie das Erz im Schacht;<br />

Dank, mein Herkules! den Knaben<br />

Hast zum Manne du gemacht,<br />

Reif bin ich zum Königssitze<br />

Und mir brechen stark und groß<br />

Thaten, wie Kronions Blize,<br />

Aus der Jugend Wolke los.<br />

Wie der Adler seine Jungen,<br />

Wenn der Funk' im Auge klimmt,<br />

Auf die kühnen Wanderungen<br />

In den frohen Aether nimmt,<br />

Nimmst du aus der Kinderwiege,<br />

Von der Mutter TIsch' und Haus<br />

In die Flamme deiner Kriege,<br />

Hoher Halbgott mich hinaus.<br />

Wähntest du, dein Kämpferwagen<br />

Rolle mir umsonst ins Ohr?<br />

Jede Last, die du getragen,<br />

Hub die Seele mir empor,<br />

Zwar der Schüler mußte zahlen;<br />

Schmerzlich brannten, stolzes Licht<br />

Mir im Busen deine Strahlen,<br />

Aber sie verzehrten <strong>nicht</strong>.<br />

Wenn für deines Schiksaals Woogen<br />

Hohe Götterkräfte dich,<br />

Kühner Schwimmer! auferzogen,<br />

Was erzog dem Siege mich?<br />

Was berief den Vaterlosen,<br />

Der in dunkler Halle saß,<br />

Zu dem Göttlichen und Großen,<br />

Daß er kühn an dir sich maß?<br />

5<br />

10<br />

15<br />

20<br />

25<br />

30<br />

Was ergriff und zog vom Schwarme<br />

Der Gespielen mich hervor?<br />

Was bewog des Bäumchens Arme<br />

Nach des Aethers Tag empor?<br />

Freundlich nahm des jungen Lebens<br />

Keines Gärtners Hand sich an,<br />

Aber kraft des eignen Strebens<br />

Blikt und wuchs ich himmelan.<br />

Sohn Kronions! an die Seite<br />

Tref ich nun erröthend dir,<br />

Der Olymp ist deine Beute;<br />

Komm und theile sie mit mir!<br />

Sterblich bin ich zwar geboren,<br />

Dennoch hat Unsterblichkeit<br />

Meine Seele sich geschworen,<br />

Und sie hält, was sie gebeut.<br />

Das Gedicht ist, wie man annimmt, am 24. Juli 1796 an Schiller<br />

gesandt worden, der jedoch Hölderlins Bitte, es zu drucken, <strong>nicht</strong><br />

erfüllte. Was seine Form betrifft, so gehört AN HERKULES zu den<br />

wenigen Nachzüglern der Tübinger Reimhymnen, die eine dichterische<br />

Schönheit besonderer Art aufweisen. Es ist geschrieben im<br />

Versmaß <strong>von</strong> Schillers LIED AN DIE FREUDE, das auch einer Reihe anderer<br />

Reimhymnen zugrunde lag.<br />

Wilhelm Böhm sah das Gedicht vor allem als Ausdruck eines<br />

neuen gesteigerten Selbstgefühls an, gerade im Hinblick auf das<br />

Verhältnis zu Schiller. Gewiß ist das richtig. Was jedoch ebenfalls<br />

darin, und zwar in allen Teilen des Gedichts, zur Darstellung<br />

kommt, das scheint doch jenes intensive Erlebnis des Größenunterschieds<br />

zu sein - des vermeintlichen Größenunterschieds -, <strong>von</strong><br />

dem wir in den Briefen an Schiller so viele Spuren fanden. Auf<br />

diesen Größenunterschied spielt hier natürlich die mythologische<br />

inkleidung an, allerdings mit Betonung eines stolzen Gefühls des<br />

ignen Werts. Herkules ist der Sohn des Zeus und einer Sterblih<br />

n, der Dichter dagegen sieht sich als »vaterlos«, als <strong>nicht</strong> gött-<br />

Ii h geboren. Aber zu den »Kriegern«, die Herkules führt, nahm er<br />

n Dichter »mit hinaus«, wie der Adler seine Jungen zum Höhen-<br />

35<br />

40<br />

45<br />

67


flug. Das hat ihn, den Dichter, aus dem Schlaf der Kindheit geweckt<br />

und »zum Manne gemacht«, er fühlt sich nun seinerseits<br />

»reif zum Königssize«. Bei dem Bild der gemeinsam unternommenen<br />

Kriege dürfen wir uns daran erinnern, dass gegen Ende des<br />

Jahres 1794 ein Heft der Schillerschen THALlA erschienen war, in<br />

welchem einzig Hölderlin und Schiller als Autoren auftraten, und<br />

zwar Hölderlin mit dem umfangreichen Fragment aus Hyperion<br />

und dem Gedicht DAS SCHICKSAL. Eine Bundes-, eine Kampfgenossenschaft<br />

dieser Art mit Schiller hatte Hölderlin sich weiterhin erträumt.<br />

Sie war <strong>nicht</strong> möglich gewesen.<br />

Der Dichter be<strong>kennt</strong>, durch Herkules »zum Manne« gemacht<br />

worden zu sein. Er betont aber zugleich, dass er <strong>von</strong> niemandem -<br />

also auch <strong>nicht</strong> <strong>von</strong> Herkules - »erzogen« ward. Kein »Gärtner«<br />

hat sich seines jungen Lebens angenommen. Auf diese Pointe leiten<br />

die rhetorischen Fragen der Verse 28 bis 36 sehr wirkungsvoll<br />

hin. Ein Vorwurf gegen Schiller ist hier wohl <strong>nicht</strong> zu verkennen.<br />

Dessen Pflege und Erziehung ward also <strong>von</strong> Hölderlin <strong>nicht</strong> als<br />

entscheidend und eigentlich fruchtbar angesehen. Gerade darin<br />

aber: dass den einen »Götterkräfte« auferzogen, der andre aber<br />

einzig und allein aufs »eigne Streben« angewiesen war, gerade<br />

darin wird jetzt der Größenunterschied in neuer Weise empfunden.<br />

In der Schlußstrophe äußert sich dann ein geradezu promethischer<br />

Trotz. Der Dichter zeigt sich willens, den begonnenen Kampf<br />

auch ohne Hilfe des Bundesgenossen allein weiterzuführen. Er fühlt<br />

die Kraft in sich, mit dem Sohn des Zeus zu wetteifern und die<br />

»Unsterblichkeit«, die ihm die Geburt versagte, auf eigne Weise zu<br />

erringen. Eine deutlich agonale Haltung tritt damit zutage: der<br />

unbedingte Wille zum Wettstreit mit dem Größeren. Der Göttersohn<br />

soll die Beute mit ihm teilen.<br />

Alles das sind wirklich Bekundungen einer neuen Selbstsicherheit.<br />

Die Empfindung des Größenunterschieds verleiht jetzt<br />

Schwung und Kraft zum eigenen Wagen. Es erscheint so, als ob<br />

das bisherige Leiden an diesem Größenunterschied als etwas Überwundenes,<br />

auch als eine überstandene Gefahr hinter dem Dichter<br />

liegt. Hierauf weist besonders der Schluß der 3. Strophe, den schon<br />

68<br />

Wilhelm Böhm als "durchaus erlebt" empfand, erlebt im Zusammenhang<br />

mit Schiller:<br />

Zwar der Schüler mußte zahlen;<br />

Schmerzlich brannten, stolzes Licht<br />

Mir im Busen deine Strahlen,<br />

Aber sie verzehrten <strong>nicht</strong>.<br />

Es verdient Beachtung, dass diese Verse auf die Mythen <strong>von</strong> Phaethon<br />

und Ikarus anspielen. In beiden Mythen gibt ja dies den Ausschlag,<br />

dass die Strahlen der Sonne <strong>nicht</strong> nur schmerzlich brennen,<br />

sondern unheilbringend verzehren: Phaethon, der in stolzem<br />

Leichtsinn den Sonnenwagen seines Vaters Helios lenkt, verursacht<br />

dadurch einen Weltbrand, bis ihn der Blitz des Zeus trifft; Ikarus,<br />

der mit den <strong>von</strong> seinem Vater Dädalus gefertigten Flügeln ehrgeizig<br />

allzu hoch stieg, ging dadurch unter, dass die Sonne ("rapidus<br />

sol" bei Ovid) das Wachs, das die Federn zusammenhielt, schmelzen<br />

machte. Wenn Hölderlin diese Mythen heranzieht, so ist das<br />

<strong>nicht</strong> Zufall. Schiller hatte ihm noch in der letzten Jenaer Zeit den<br />

Auftrag gegeben, die Phaethon-Episode aus Ovids Metamorphosen<br />

zu übersetzen für seinen MUSENALMANACH. Hölderlin hatte den<br />

Auftrag ausgeführt, Schiller aber nalun dann die Übersetzung doch<br />

<strong>nicht</strong> auf. So liegt also auch in dieser Partie der HERKuLEs-Hymne<br />

eine direkte Schiller-Anspielung vor.<br />

Zweifellos verband Schiller mit seinem Auftrag einen pädagogisch<br />

wohlgemeinten Gedanken. Mit dem Hinweis auf den Phaethon-Mythos<br />

wurde Hölderlin veranlaßt, über die Gefahren eines<br />

das Maß übersteigenden geistigen Höhenflugs zu reflektieren. Diese<br />

Gefahren mag Schiller in Hölderlins Persönlichkeit gesehen haben<br />

wie auch in seinem Di


"In seinen Höhn den Geist emporzuhalten, im stillen Reiche der<br />

Unvergänglichkeit, und heiter doch hinab in's wechselnde Leben<br />

der Menschen ... zu bliken, ... Diß ist das Beste!" (1. Kapitel); oder:<br />

"Siehe das Licht des Himmels an! Bedarf es fremden Feuers, um<br />

zu leuchten und zu wärmen? ... So sei auch du!" (3. Kapitel). Schiller<br />

kannte diese Stellen, und eine Strophe aus DIE IDEALE (erschienen<br />

Januar 1796 im Musenalmanach für das Jahr 1796) weist auf<br />

dieses Motiv des Höhenflugs hin, wiederum mit einem Anklang<br />

an den Ikarus-Mythos:<br />

So sprang, <strong>von</strong> kühnem Muth beflügelt,<br />

Ein reißend bergab rollend Rad,<br />

Von keiner Sorge noch gezügelt,<br />

Der Jüngling in des Lebens Pfad.<br />

Bis an des Äthers bleichste Sterne<br />

Erhub ihn der Entwürfe Flug,<br />

Nichts war so hoch, und <strong>nicht</strong>s so ferne,<br />

Wohin ihr Flügel ihn <strong>nicht</strong> trug.<br />

Die ersten beiden Verse dieser Strophe klingen wie ein Nachhall<br />

einer Charakteristik Hölderlins, die Charlotte v. Kalb in ihrem Brief<br />

an Schiller vom 14. Januar 1795 gab: "Er [Hölderlin] ist ein Rad<br />

welches schnell läuft!!"7 Die Anspielung auf den Ikarus-Mythos<br />

in DIE IDEALE scheint Hölderlin übrigens als auch einen Bezug auf<br />

sich selbst einschließend empfunden zu haben. Denn sein Hymnus<br />

AN HERKULES enthält gleichfalls eine Reminiszenz an diesen<br />

Mythos, und zwar unmittelbar an die Hauptquelle, die Ikarus­<br />

Episode in Ovids METAMORPHOSEN. Wenn Herkules den »Knaben«<br />

in die »Flamme seiner Kriege« mitnimmt, so wird das illustriert<br />

durch dasselbe Gleichnis, das bei Ovid schildert, wie Dädalus den<br />

Sohn Ikarus zum Begleiter seines Höhenflugs macht. Bei Hölderlin<br />

heißt es (v. 9 ff.):<br />

7 Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft 12 (1926), S. 139. Hölderlin-Jahrbuch 1950, S. 158.<br />

70<br />

Wie der Adler seine Jungen,<br />

Wenn der Funk' im Auge klimmt,<br />

Auf die kühnen Wanderungen<br />

In den frohen Aether nimmt ...<br />

(Es folgt dann die Stelle <strong>von</strong> den brennenden, aber <strong>nicht</strong> verzehrenden<br />

Strahlen.) Bei Ovid lesen wir über Dädalus:<br />

pennisque levatus<br />

Ante volat comitique timet, v e 1 u tal es, ab alto<br />

Quae teneram prolern prod uxit in aera nid o.<br />

und hoch <strong>von</strong> den Schwingen getragen<br />

Fliegt er voraus, besorgt um seinen Gefährten, dem Vogel<br />

Ähnlich, der hoch vom Nest in die Luft die Jungen hinausführt.8<br />

Die wörtlichen Übereinstimmungen zwischen Ovids und Hölderlins<br />

Text liegen offen am Tage. Bemerkt sei noch, dass Hölderlin<br />

bei der ersten Konzeption dieser Verse zunächst geschrieben hatte:<br />

"Wie der Adler seine Jungen ... aus dem Neste jagt."9 So findet<br />

also auch das flab alto ... nido" Ovids seine Entsprechung. Das<br />

Wort Adler begann Hölderlin zuerst versehentlich "Ale" zu schreiben:<br />

hier klang das Ovidsche "ales" dem Dichter noch lebhaft<br />

nach. lO Dass Hölderlin sich bei der Arbeit an der HERKuLEs-Hymne<br />

so intensiv mit Ovids Ikarus-Erzählung befaßte, wird erklärlich,<br />

wenn man berücksichtigt, welche Rolle das Motiv des Höhenflugs<br />

im Gespräch zwischen Schiller und ihm spielte; in dem Gespräch,<br />

<strong>von</strong> dem uns Kunde ward durch den Auftrag der Phaeton-Übersetzung<br />

und durch die Ikarus-Stelle der Ideale. Mit Bestimmtheit<br />

konnte Hölderlin damit rechnen, dass Schiller beim Lesen der HER­<br />

KULEs-Hymne erkannte, wie hier insgeheim angespielt war auf sei-<br />

8 Ovid met., VII 212 H. Deutsch: Thassilo v. Scheffer.<br />

9 StA 1498.<br />

10 In der römischen Dichtung bedeutet ales in gewissen Zusammensetzungen auch<br />

ovi I wie Schwan = Sänger. (Vgl. Horaz carm. I 6; 11 20.) Diese Vorstellung wirkte<br />

b i Höld din mit, wenn auch nur während der Konzeption.<br />

71


ne eigenen Verse, die er nur wenige Monate zuvor veröffentlicht<br />

hatte. Wir werden sehen, dass auch weitere Anklänge an neueste<br />

Schillersehe Gedichte in der HERKuLEs-Hymne den genauen Bezug<br />

der letzteren auf Schiller verdeutlichen.<br />

Bereits Wilhelm Böhm sprach die Vermutung aus, dass Hölderlin<br />

zu der Behandlung des Herkules-Mythos überhaupt angeregt<br />

worden sei durch die beiden Schlußstrophen <strong>von</strong> Schillers Gedicht<br />

DAS REICH DER SCHATTEN, in denen Leben, Tod und Apotheose des<br />

Heros gefeiert werden. (Das Reich der Schatten lag Oktober 1795<br />

in den Horen gedruckt vor.) Eine Bestätigung für Böhms Annahme<br />

mag man noch darin erkennen, dass auch das Wort »Kämpferwagen«<br />

in Hölderlins HERKuLEs-Hymne einen Anklang an das Schi 1lersche<br />

Gedicht darstellt (v. 17 f.):<br />

Wähntest du, dein Kämpferwagen<br />

Rolle mir umsonst ins Ohr?<br />

In Schillers DAS REICH DER SCHArrEN heißt es (v. 81 ff.):<br />

Wenn es gilt, zu herrschen und zu schirmen,<br />

Kämpfer gegen Kämpfer stürmen<br />

Auf des Glückes, auf des Ruhmes Bahn,<br />

Da mag Kühnheit sich an Kraft zerschlagen,<br />

Und mit krachendem Getös die Wagen<br />

Sich vermengen auf bestäubtem Plan.<br />

Muth allein kann hier den Dank erringen,<br />

Der am Ziel des Hippodromes winkt,<br />

Nur der Starke wird das Schicksal zwingen,<br />

Wenn der Schwächling untersinkt.<br />

Von dem Wort »Kämpferwagen« bietet diese Strophe die Bestandteile,<br />

nur gleichsam durch Tmesis geschieden. Die Strophe war im<br />

übrigen besonders geeignet, HölderlinsAufmerksamkeit zu erwekken,<br />

weil in ihr die Worte »Kühnheit« und »das Schicksal« die Erinnerung<br />

hervorriefen an zwei Hölderlinsche Hymnen, die Schiller<br />

kurz zuvor beide in seiner THALlA zum Druck gebracht hatte:<br />

DEM GENIUS DER KÜHNHEIT und DAS SCHICKSAL (erschienen Anfang 1795<br />

und November 1794). Beide Gedichte stehen inhaltlich - was auch<br />

immer beachtet worden ist - der HERKuLEs-Hymne besonders nahe;<br />

72<br />

DEM GENIUS DER KÜHNHEIT enthält bereits eine Erwähnung der Herkules-Gestalt.<br />

Die seltsam auffällige Wendung in der HERKULES­<br />

Hymne, dass der »Kämpferwagen« dem Dichter <strong>nicht</strong> »umsonst<br />

ins Ohr« »rolle«, mag hervorgerufen sein durch das Auftreten eines<br />

fast gewaltsam akustischen Elements in Schillers Strophe aus<br />

dem REICH DER SCHATTEN.<br />

Wenn da<strong>von</strong> die Rede ist, dass Hölderlin durch Schillersch<br />

Dichtung zu seinemHERKuLEs-Hymnus angeregt wurde, so darf ein<br />

weiterer Zusammenhang <strong>nicht</strong> übersehen werden. Im MUSENAL­<br />

MANACH für das Jahr 1796 (erschienen Januar 1796) findet sich fol ­<br />

gendes Epigramm Schillers:<br />

ZEU S z u HERKULE S<br />

Nicht aus meinem Nektar hast du dir Gottheit getrunken.<br />

Deine G ö tt e r k r a f t wars, die dir den Nektar errang.<br />

Es erscheinen hier zwei Gedankengänge, die uns sogleich an H ölderlins<br />

Gedicht erinnern: 1. Ins Blickfeld gerückt wird das Verhältnis<br />

des Herkules zu seinem göttlichen Vater. Durch dies Verhältnis<br />

ist er grundsätzlich bevorzugt. 2. Die Unsterblichkeit fällt ihm de -<br />

wegen jedoch <strong>nicht</strong> als Geschenk - durch die Gunst des Vaters _<br />

zu, er muß sie sich vielmehr erringen auf Grund der ihm innewohnenden<br />

»Götterkraft«. (Das Trinken des Nektars bedeutet hi r<br />

soviel wie Erlangung der Unsterblichkeit. Die Teilnahme am Göttermahl,<br />

die Bewirtung durch Hebe ist Teil der Apotheosis des H rkules,<br />

wie es auch am Schluß vom REICH DER SCHATTEN geschild rt<br />

wird.)l1 Es sind diese Gedankengänge, die auch bei Hölderlin di<br />

Basis für die Darstellung des Größenunterschieds geben. Von d n<br />

»Götterkräften« des Herkules spricht Hölderlins Gedicht v. 25 ff.:<br />

Wenn für deines Schicksaals Woogen<br />

HoheGötterkräfte dich,<br />

Kühner Schwimmer! auferzogen ...<br />

11 Ent pr h 'ndc Darstellung bei Horaz, cnrm . 111 3 und IV 8.<br />

7


Im weiteren Verlauf handelt das Gedicht da<strong>von</strong>, welches Äquivalent<br />

der mit Herkules Wetteifernde, aber <strong>nicht</strong> Göttlichgeborene<br />

für die »Götterkräfte« des Herkules finden kann, so dass er sich<br />

die »Unsterblichkeit« erringt, die er sich »geschworen« hat. Die<br />

Frage wird am Schluß mit selbstbewußt großartigem Akzent beantwortet.<br />

Gerade darin besteht der Fortschritt in der Auseinandersetzung<br />

mit Schiller - der Ausgleich des Größenunterschieds.<br />

Es kann hiernach <strong>nicht</strong> mehr zweifelhaft sein, dass vor allem Schillers<br />

Verse - <strong>nicht</strong> nur die im Reich der Schatten, sondern auch das<br />

zitierte Epigramm - Hölderlin zu dem Herkules-Stoff führten.<br />

Ein Satz aus HYPER/ONS JUGEND sei hier angeführt, in welchem<br />

gleichfalls <strong>von</strong> der »Götterkraft« gesprochen wird: "Wohl dem, der<br />

das Gefühl seines Mangels versteht! wer in ihm den Beruf zu unendlichem<br />

Fortschritt er<strong>kennt</strong>, zu unsterblicher (!) Wirksamkeit,<br />

wer im Schmerze der Erniedrigung den kleinen Trost verachten<br />

kann, unter den Kleinen groß zu seyn, ohne an sich zu verzweifeln,<br />

und den Glauben an die Götterkraft des Geistes aufzugeben<br />

... " (Kapitel 4). Die Gedanken sind ganz ähnlich wie diejenigen,<br />

die in der HERKuLEs-Hymne Ausdruck fanden. Nur ist in<br />

HYPERIONS JUGEND der Gesamtton noch schmerzlicher, während sich<br />

in dem späteren Gedicht die Wendung ins Positive zeigt. Schiller<br />

kannte HYPER/ONS JUGEND. War auch sein <strong>von</strong> den »Götterkräften«<br />

sprechendes Epigramm durch Hölderlin angeregt?<br />

Von Interesse in unserm Zusammenhang ist endlich noch eine<br />

Entwurffassung <strong>von</strong> Vers 17 bis 24 der HERKuLEs-Hymne, die sich<br />

in der Handschrift findet. Die Verse, mit den ursprünglich der<br />

erste Entwurf endete, lauten:<br />

74<br />

Höre was ich nun beginne<br />

Wie der Pfeil im Köcher liegt<br />

Mir ein stolzer Rath im Sinne,<br />

Der mich tödtet oder siegt,<br />

Was du, glücklicher geschaffen,<br />

Als der Göttersohn vollbracht,<br />

Führ' ich aus mit eignen Waffen,<br />

[Mit des Menschen Muthl<br />

Mit des Herzens Lust und Macht.<br />

Bin ich gleich, wie du, in Freude<br />

Nicht <strong>von</strong> Jupiter erzeugt,<br />

Dennoch krönt ein Sinn uns heide,<br />

[Den der Himmel selbst <strong>nicht</strong> beugt]<br />

Den kein Atlas niederbeugt. 12<br />

In diesen Entwurfsversen erscheint besonders deutlich gefaßt der<br />

Grundgedanke, der das Gedicht beherrscht: Herkules-Schilller ist<br />

der glückhaft begnadete Halbgott, der Dichter dagegen ist Mensch,<br />

»<strong>nicht</strong> <strong>von</strong> Jupiter erzeugt«. Doch damit verbindet sich der Entschluß<br />

zum Wettstreit, zum Agon, der Wille, mit »eignen Waffen«<br />

Gleiches zu vollbringen wie der andre, der nun <strong>nicht</strong> mehr als ein<br />

völlig Überlegener gesehen wird: das Gefühl des Größenunterschieds<br />

weicht damit einer stolz prometheischen Gesinnung,<br />

wird zum Trotz dessen, den »der Himmel selbst <strong>nicht</strong> beugt«. Da<br />

kommt hier im Entwurf noch unvermittelter zum Ausdruck als in<br />

der Endfassung. (So stehen auch diese Entwurfsverse - schon durch<br />

die Betonung der Jupiter-Sohnschaft - dem Schillerschen Epigramm<br />

Zws AN HERKULES besonders nahe.)<br />

Beherrschend wird also jetzt das Wissen um die eigene Kraft,<br />

die der »Götterkraft« des anderen ebenbürtig ist. Die HERKULES­<br />

Hymne läßt erkennen - in den Entwurfsversen ganz besonders - ,<br />

dass Hölderlin Wille und Macht in sich verspürt, auch ohne ein<br />

Kampfgenossenschaft, wenn es sein muß, allein seinen Weg zur<br />

Höhe zu gehen. Darin liegt das Titanenhafte, das Prometheisch<br />

des Gedichts. Auch ohne Hilfe des großen Freundes wird Höld rlin<br />

seinen Kampf zu Ende kämpfen »kraft des eignen Strebens«. r<br />

wird die Kelter allein treten. Dieser nämlichen Gesinnung entspricht<br />

es, wenn Hölderlin in Briefen <strong>von</strong> Anfang des Jahres 1796 s t:<br />

"Ich werde mich auch ... daran gewöhnen ... mein Herz mehr darauf<br />

zu richten, dass ich der ewigen Schönheit mehr durch eign<br />

Streben (!) und Wirken mich zu nähern suche, als dass ich etw ,<br />

was ihr gliche, vorn Schiksaal erwartete." Oder: "Übrigens ist<br />

12 Das Bild des niederbeugenden Berges begegnet bei Qvid, met. IX 56 (Kampf cl<br />

H rkules und Achelous).<br />

7


ziemlich unbedeutend, ob ein Gedicht mehr oder weniger <strong>von</strong> uns<br />

in Schillers Allmanache steht. Wir werden doch, was wir werden<br />

sollen." Die gleiche prometheische Gesinnung spricht aus jener<br />

Partie in HYPERIONS JUGEND, wo es heißt - wir zitierten es schon -:<br />

"Sagen würd ich [ ... ] in brüderlichem Zusammenwirken bestehe<br />

das Beste, doch sei es auch herrlich, allein zu stehn, und sich hindurchzuarbeiten<br />

durch die Nacht, wenn es an Kampfgenossen gebreche."<br />

IV.<br />

"Allein zu stehn", das ist die Situation, die Hölderlin jetzt als Problem<br />

und Aufgabe auf sich zukommen sieht, nachdem eine<br />

"Kampfgenossenschaft", ein heroisches Freundschaftsbündnis mit<br />

Schiller, so wie er es sich erträumt hatte, unmöglich geworden war.<br />

Das Motiv des Alleinstehens nun hat Hölderlin noch einmal gesondert<br />

behandelt in einem Gedicht, das der handschriftlichen<br />

Überlieferung nach aufs engste mit dem HERKuLEs-Hymnus zusammengehört.<br />

Es ist das Gedicht DIE EICHBÄUME. Eine erste Fassung<br />

diese Gedichts, der noch die abschließenden fünfeinhalb Hexameter<br />

fehlen - Hölderlin schreibt erstmals nach längerer Pause wieder<br />

Hexameter -, schließt in der Handschrift unmittelbar an die<br />

letzte Strophe des HERKuLEs-Hymnus an. Erst geraume Zeit später<br />

verfaßte Hölderlin die ergänzenden Schlußverse. Das gesamte<br />

Gedicht erschien dann Februar 1798 in Schillers HOREN (Jahrgang<br />

1797). Es lautet (die später entstandene Schlußpartie ist hier in<br />

Klammem gesetzt):<br />

76<br />

DIE EICHBÄUME<br />

Aus den Gärten komm' ich zu euch, ihr Söhne des Berges!<br />

Aus den Gärten, da lebt die Natur geduldig und häuslich,<br />

Pflegend und wieder gepflegt mit dem fleißigen Menschen zusammen.<br />

Aber ihr, ihr Herrlichen! steht, wie ein Volk <strong>von</strong> Titanen<br />

In der zahmeren Welt und gehört nur euch und dem Himmel,<br />

Der euch nährt' und erzog und der Erde, die euch geboren.<br />

Keiner <strong>von</strong> euch ist noch in die Schule der Menschen gegangen,<br />

Und ihr drängt euch fröhlich und frei, aus der kräftigen Wurzel,<br />

Unter einander herauf und ergreift, wie der Adler die Beute,<br />

Mit gewaltigem Arme den Raum, und gegen die Wolken<br />

Ist euch heiter und groß die sonnige Krone gerichtet.<br />

Eine Welt ist jeder <strong>von</strong> euch, (wie die Sterne des Himmels<br />

Lebt ihr, jeder ein Gott, in freiem Bunde zusammen.<br />

Könnt' ich die Knechtschaft nur erdulden, ich neidete nimmer<br />

Diesen Wald und schmiegte mich gern ans gesellige Leben.<br />

Fesselte nur <strong>nicht</strong> mehr ans gesellige Leben das Herz mich,<br />

Das <strong>von</strong> Liebe <strong>nicht</strong> läßt, wie gern würd' ich unter euch wohnen!)<br />

In diesem Gedicht werden nun die Eichen, das »Volk <strong>von</strong> Titanen«,<br />

zum Symbol des prometheischen Trotzes, des titanenhaften Alleinstehens.<br />

Den Gegensatz zu dieser heroischen WeIt bildet die der<br />

Gärten, in der die Natur <strong>von</strong> Menschen gepflegt wird, wo sie mit<br />

dem Menschen zusammen, dadurch aber auch in Abhängigkeit<br />

<strong>von</strong> ihm lebt. Motivisch steht das der HERKULEs-Hymne ganz nahe.<br />

Im titanenhaften Alleinstehen wird ja auch dort die Konsequenz<br />

gezogen aus der Lebenssituation:<br />

Freundlich nahm des jungen Lebens<br />

Keines Gärtners Hand sich an,<br />

Aber kraft des eignen Strebens<br />

Blikt und wuchs ich himmelan.<br />

Das Motiv der Gärten, der Pflege durch den Gärtner, klang schon<br />

dort auf, in DIE EICHBÄUME wird es nun modifiziert weitergeführt.<br />

Auch jetzt aber bezieht sich das Motiv vor allem auf das Verhältnis<br />

zu Schiller. Der Eichbaum wächst aus eigener Kraft, selbständig,<br />

ohne Pflege der Menschen. Nahrung, Erziehung verdankt er einzig<br />

der Natur. All das deutet auf die neugewonnene Unabhängigkeit<br />

Hölderlins: in dem zu Anfang des Jahres 1796 geschriebenen<br />

Hauptteil des Gedichts kommt noch durchweg die Stimmung zum<br />

Ausdruck, die den Dichter nach der Lösung <strong>von</strong> Schiller beherrschte.<br />

Die erst ein Jahr später hinzugefügten Schlußverse spiegeln<br />

andere Erlebnisse, bringen mit ihrer pointierten Gedankenfolge ein<br />

neues Element in das Gedicht. Dies bedarf einer besonderen Betrachtung.<br />

Wir kommen später darauf zu sprechen.<br />

77


Seitens der Forschung ist der in DIE EICHBÄUME zutage tretende<br />

Bezug auf Schiller ebensowenig allgemein anerkannt worden wie<br />

im Falle des HERKuLEs-Gedichts. Das mag sich erklären durch die<br />

Veränderung des Tenors, die der nachträglich hinzugefügte Schluß<br />

in das Gedicht bringt. Es muß aber doch auf den Zusammenhang<br />

mit Schiller in den Hauptpartien geachtet werden - ohne das wären<br />

DIE EICHBÄUME in ihrem Eigentlichen <strong>nicht</strong> genügend verstanden.<br />

Hinzu kommen aber auch unmittelbare Zusammenhänge zwischen<br />

Hölderlins und Schillers Texten. Wiederum hat Wilhelm<br />

Böhm gerade im Falle der EICHBÄUME nachgewiesen, dass darin ein<br />

ganz spezieller Anklang an ein Schillersches Gedicht auftaucht,<br />

und zwar an die berühmte ELEGIE (später betitelt: DER SPAZIERGANG),<br />

die im November 1795 in den HOREN erschienen war - zeitlich also<br />

durchaus in Nähe der Konzeption DER EICHBÄUMEY Im Erstentwurf<br />

schrieb Hölderlin nämlich die Verse 9 und 10 zunächst so nieder:14<br />

und des Gärtners Linie scheidet<br />

Und gesellet euch <strong>nicht</strong> in [den] allzufriedlichen Reihen.<br />

Böhm erkannte, dass hier ein Anklang vorliegt an Schillers ELEGIE<br />

(v. 41):<br />

Jene Linien, die des Landmanns Eigenthum scheiden ...<br />

Böhm wies auch darauf hin, dass in Hölderlins DIE EICHBÄUME und<br />

in Schillers ELEGIE die Hauptsituation die gleiche ist. Der Dichter<br />

steigt hinauf aus dem Tal ins Gebirge und erlebt so den Unterschied<br />

zwischen der gezähmten, kultivierten und der ursprünglichen,<br />

freien Natur - bei Hölderlin wird nur der "Akzent gelegt<br />

auf den Gegensatz: Zusammenleben in Abhängigkeit und Alleinstehen<br />

in titanenhafter Freiheit.<br />

Motivische Zusammenhänge zwischen Schillers Elegie und<br />

Hölderlins Die Eichbäume ließen sich noch mehr zeigen. Zunächst<br />

13 Böhm (1928) 1, 218.<br />

14 StA I 501.<br />

78<br />

sei aber die Aufmerksamkeit noch auf etwas anderes gelenkt. Es<br />

gibt weitere Anspielungen auf ein Schillersches Gedicht aus jener<br />

Zeit, und zwar in beiden Gedichten Hölderlins, sowohl in dem<br />

Hymnus AN HERKULES als auch in DIE EICHBÄUME. In den HOREN erschien<br />

Oktober 1795 das Schillers ehe Gedicht DER PHILOSOPHISCHE<br />

EGOIST. Auch dieses Gedicht handelt vom Thema des Alleinstehns,<br />

der selbstbewußten Isolierung. An sich wird das Thema allgemein<br />

gefaßt: der Weisheitsliebende wird gemahnt, sich <strong>nicht</strong> <strong>von</strong> der<br />

Natur zu trennen. Aber dies bereits ist ein Gedanke, den gerade<br />

Hölderlin in den zu Jena geschriebenen Fassungen des HYPERION,<br />

der sogenannten Metrischen Fassung und HYPERIONS JUGEND, mit<br />

starken Akzenten ausgesprochen hat. Wie man weiß, wandte Hölderlin<br />

sich damit gegen Fichte. Es scheint nun, dass Schiller diesen<br />

Gedanken Hölderlins, den er ja kannte, benutzt hat, um, <strong>von</strong> ihm<br />

ausgehend und Hölderlin dadurch anredend, diesem einen deutlich<br />

vernehmbaren Rat zu erteilen, eine Warnung an den abtrünnigen<br />

Schützling zu richten. Die letzten Verse <strong>von</strong> DER PHILOSOPHISCHE<br />

EGOIST treffen nämlich in höchst merkwürdiger Weise auf Hölder­<br />

!ins damalige Situation zu, nachdem er sich <strong>von</strong> Schiller entfernt<br />

hatte. Dies ist so auffällig, dass Hölderlin hierin sehr wohl eine<br />

Anspielung auf sich selbst sehen konnte, ja sehen mußte. Schillers<br />

Gedicht lautet:<br />

DER PHILOSOPHISCHE EGOIST<br />

Hast du den Säugling gesehn, der, unbewußt noch der Liebe,<br />

Die ihn wärmet und wiegt, schlafend <strong>von</strong> Arme zu Arm<br />

Wandert, biß bey der Leidenschaft Ruf der Jüngling erwachet,<br />

Und des Bewußtseyns Blitz dämmernd die Welt ihm erhellt?<br />

Hast du eine Mutter gesehn, wenn sie Schlummer dem Kinde 5<br />

Kauft mit dem eigenen Schlaf, und für das Sorglose sorgt,<br />

Nährt mit ihrem eigenen Leben die zitternde Flamme,<br />

Und mit der Sorge selbst sich für die Sorge belohnt?<br />

Und du lästerst die grosse Natur, die bald Kind und bald Mutter<br />

Jetzt empfänget, jetzt giebt, nur durch Bedürfniß besteht? 10<br />

Selbstgenügsam willst du dem schönen Ring dich entziehen,<br />

Der Geschöpf an Geschöpf reyht in vertraulichem Bund,<br />

Willst, du Armer, stehen all ein und allein durch dich selber,<br />

Wenn durch der Kräfte Tausch selbst das Unendliche steht?<br />

79


Mir scheint, dass besonders der Passus: »Willst, du Armer, stehen<br />

allein und allein durch dich selber« - mit der durch Schiller veranlaßten<br />

Betonung des Wortes »allein« durch Sperrdruck - Hölderlins<br />

Lage <strong>von</strong> damals seltsam genau bezeichnet. Über sein AIleinstehn<br />

und seine "Armseligkeit" hatte Hölderlin ja auch gerade<br />

geklagt in dem ersten Brief an Schiller aus Nürtingen, der seinen<br />

Weggang aus Jena entschuldigen, als "Apologie" begründen sollte.<br />

Wobei er allerdings zugleich bekannte: "Ich lebe sehr einsam<br />

und glaube, dass es mir gut ist."<br />

Offenbar besteht doch nun auch ein Zusammenhang zwischen<br />

diesen Schillerschen Versen und den sehr bald nach ihrem Erscheinen<br />

verfaßten Hölderlinschen Gedichten, die das Thema der titanischen<br />

Selbstisolierung behandelten. Eine ganze Reihe <strong>von</strong> Anklängen<br />

tritt hier zutage:<br />

1. Sowohl bei Schillers DER PHILOSOPHISCHE EGOIST als auch bei<br />

Hölderlins HERKuLEs-Hymnus steht am Anfang das Bild des schlafenden<br />

Kindes, des Kindes, das dann gepflegt und aufgezogen wird.<br />

Bei Schiller ist es die Natur, die das Kind aufzieht, bei Hölderlin ist<br />

es der Halbgott Herkules:<br />

In der Kindheit Schlaf begraben<br />

Lag ich, wie das Erz im Schacht;<br />

Dank, mein Herkules! den Knaben<br />

Hast zum Manne du gemacht [ ... ]<br />

Von der »Kindheit Schlaf« spricht das Hölderlinsche, vom schlafenden<br />

Säugling das Schillersche Gedicht. In letzterem wiederholen<br />

sich sogar die Wendungen, die auf Schlummer und Schlaf deuten,<br />

in den Versen 5 f.:<br />

Hast du eine Mutter gesehn, wenn sie Schlummer dem Kinde<br />

Kauft mit dem eigenen Schlaf [ ... ]?<br />

Der für eine HERKuLEs-Hymne merkwürdige Beginn würde sich<br />

erklären, wenn man ihn als Replik auf Schillers DER PHILOSOPHISCHE<br />

EGOIST auffaßt, mit besonderem Bezug auf dessen Eingangsverse.<br />

2. Im zweiten Vers <strong>von</strong> Schillers DER PHILOSOPHISCHE EGOIST heißt<br />

es, dass die Mutter das Kind »wiegt«: »Die ihn wärmet und wiegt«.<br />

80<br />

Das Bild <strong>von</strong> der Wiege taucht auch, seltsam genug, in Hölderlins<br />

HERKULEs-Hymne auf (v. 13 ff.):<br />

[ ... ]<br />

Nimmst du aus der Kinderwiege,<br />

Von der Mutter Tisch' und Haus<br />

In die Flamme deiner Kriege,<br />

Hoher Halbgott mich hinaus.<br />

Bei Schiller wird das Bild der wiegenden Mutter weiterhin in<br />

Parallele gesetzt zu der »großen Natur«, als »Mutter«. Hier ist daran<br />

zu erinnern, dass Hölderlin bereits früher, in dem Gedicht DAS<br />

SCHICKSAL, erschienen in Schillers THALlA 1794, ein entsprechendes<br />

Bild gebracht hatte. Hier ist gleichfalls <strong>von</strong> der »Wiege« der »Mutter«<br />

Natur die Rede, die als »heilige Natur« bezeichnet wird:<br />

Da sprang er aus der Mutter Wiege,<br />

Da fand er sie, die schöne Spur<br />

Zu seiner Tugend schwerem Siege,<br />

Der Sohn der heiligen Natur;<br />

Der hohen Geister höchste Gaabe,<br />

Der Tugend Löwenkraft begann<br />

Im Siege, den ein Götterknabe<br />

Den Ungeheuern abgewann.<br />

Der »Sohn«, der hier aus der Wiege der Mutter Natur hervorgeht,<br />

ist natürlich Herkules. Hatte Schiller diese Hölderlinschen Verse im<br />

Sinne, als er das Gedicht DER PHILOSOPHISCHE EGOIST schrieb? Für<br />

Hölderlin selbst mußte dieser Zusammenhang als wahrscheinlich<br />

gelten. Eine Einwirkung der Herkules-Partie aus Hölderlins DAS<br />

SCHICKSAL auf Schiller hat die Forschung auch sonst feststellen zu<br />

können geglaubt. Man rechnet mit der Möglichkeit, dass die auf<br />

Herkules bezüglichen Schlußstrophen <strong>von</strong> DAS REICH DER SCHATTEN<br />

angeregt wurden durch die soeben zitierte Strophe der HERKULES­<br />

Hymne.15 Alles das waren jedenfalls weitere Anlässe für Hölderlin,<br />

15 Vgl. Ulrich Hötzer, Die Gestalt des Herakles in Hälderlins Dichtung, Stuttgart 1956,<br />

S. 150.<br />

81


das Herkules-Thema als Dichter ins Auge zu fassen - wir erinnern<br />

uns, dass wir schon in andern Schillerschen Gedichten Anregungen<br />

zur Abfassung der Hymne AN HERKULES sehen konnten.<br />

3. Ein Anklang an Schillers DER PHILOSOPHISCHE EGOIST findet sich<br />

aber auch in Hölderlins Gedicht DIE EICHBÄUME. Von der Mutter,<br />

und zwar der Mutter Natur, wird bei Schiller gesagt, dass sie das<br />

Kind »nährt mit ihrem eigenen Leben« (v. 7). Nun findet sich aber<br />

auch im Entwurf zu Hölderlins DIE EICHBÄUME die Wendung, und<br />

zwar gleichfalls auf die Natur bezüglich: »nährend und wieder<br />

genährt«.<br />

Aus den Gärten komm ich herauf, ihr Söhne des Berges<br />

Aus den Gärten, da lebt die Natur gefällig und häuslich<br />

Nährend und wieder genährt, mit den fleißigen Menschen<br />

[zusammen.<br />

So schrieb Hölderlin den Gedichtanfang zunächst nieder. In beiden<br />

Gedichten also das Bild <strong>von</strong> der 'nährenden' Mutter Natur.<br />

Offenbar stand Hölderlin das Bild durch Schillers Vers, den er frisch<br />

im Gedächtnis hatte, vor Augen. Später änderte er den Passus ab<br />

in: »pflegend und wieder gepflegt«, was dem Klang wie dem Inhalt<br />

nach ähnlich ist der Wendung »und für das Sorglose sorgt« in<br />

Schillers Gedicht. In beiden Fassungen: »nährend und wieder genährt«<br />

sowie »pflegend und wieder gepflegt« findet sich ferner<br />

auch der Schillersche Gedanke wieder, dass die Natur »jetzt empfänget,<br />

jetzt giebt«. Dem »jetzt - jetzt« bei Schiller entspricht das<br />

»und wieder« bei Hölderlin: es ist das der Gedanke <strong>von</strong> »der Kräfte<br />

Tausch«, der Schillers Gedicht auch beschließt.16 Das Wort »nährt«<br />

16 »Der Kräfte Tausch« (DER PHILOSOPHISCHE EGOIST v. 14) erinnert an die schöne Wendung<br />

vom »heiligen Tausch«, die sich im THALlA-Fragment des HYPERION wie auch<br />

in HYPERIONS JUGEND findet (StA III 164; 211). Gemeint ist beidemal der heilige Tausch<br />

der Freundschaft, »wo einer des andern Gott seynsollte«-dasfreundschaftliche<br />

Zusammenstehn bei der »Verbrüderung mit Menschen«, die Hyperion sucht,<br />

dann aber enttäuscht aufgibt um eines würdigeren Alleinstehens willen! Bezeichnend<br />

ist es, dass nun andererseits jenes All ei ns te hn in DIE EICHBÄUME gekennzeichnet<br />

wird durch die Worte: »Lebt ihr, j ed e r ein Go t t , in freiem Bunde zusammen.«<br />

82<br />

taucht dann in Hölderlins Gedicht nochmals auf. In v. 6 heißt es<br />

<strong>von</strong> den Eichbäumen, dass sie <strong>von</strong> der Erde geboren, vom Himmel<br />

»genährt und erzogen« worden seien. Gerade hier knüpft die<br />

Replik auf Schillers Gedicht an. Die titanischen Eichen gehören einzig<br />

»nur« jenen Naturrnächten: Himmel, Erde - und sich selbst<br />

(»nur euch«). Mit der Natur also sind sie verbunden, sofern diese<br />

göttlich lebenspendend ist. Sie trennen sich aber <strong>von</strong> dem Bereich,<br />

wo die Natur »geduldig und häuslich« lebt (v. 2), <strong>von</strong> dem Bereich<br />

der Gärten, der »Schule der Menschen«. Auf den Dichter selbst<br />

bezogen bedeutet das: <strong>von</strong> den Menschen wurde er weder genährt,<br />

noch gepflegt, noch erzogen. Darum darf, darum muß er sich, wie<br />

die titanenhaften Eichen, ihrem Bereich entziehen, muß alleinstehn.<br />

Jedenfalls zeigen nun beide Gedichte, sowohl Schillers DER PHILO­<br />

SOPHISCHE EGOIST als auch Hölderlins DIE EICHBÄUME - deutlich in ihrem<br />

Urbestandteil bis v. 12 - den gleichen inhaltlichen Verlauf: auf<br />

das Bild <strong>von</strong> der nährenden Mutter Natur folgt das der titanischnen<br />

Isolierung. Nur ist die Isolierung bei Schiller negativ warnend<br />

dargestellt, bei Hölderlin schicksalsfreudig bejahend. Auf diese<br />

Weise endigt die ursprüngliche Partie der EICHBÄUME derart, dass<br />

in dem angedeuteten Sinne eine Replik auf Schillers Gedicht vorliegt.<br />

4. Ein weiterer Anklang: bei Schiller heißt es <strong>von</strong> dem 'Philosophischen<br />

Egoisten' (v. 11 f.), er entziehe sich dem »vertraulichen<br />

Bund«, dem »schönen Ring«, der »Geschöpf an Geschöpf reyht« -<br />

mit, wie mir scheint, deutlichem Vorwurf auf Hölderlin bezüglich.<br />

Hölderlin sagt nun in v. 13, dass die Eichbäume 'in freiem Bunde<br />

zusammenleben', jeder »eine Welt«, jeder »ein Gott«. Auch hier<br />

wird - sogar noch in der nachträglich verfaßten Ergänzung der<br />

EICHBÄUME - der replizierende Charakter durch den Wortlaut erkennbar.<br />

Wenn Schiller ferner sagt, dass »in vertraulichem Bund«<br />

sich »Geschöpf an Geschöpf reyht«, so liegt in den letzten Worten<br />

schon jenes Bild vom »geselligen Leben« beschlossen, wie es Hölderlin<br />

entwickelt. In diesem Zusammenhang sei jedoch auch noch<br />

auf einige Verse aus Schillers Elegie hingewiesen, die zusätzlich<br />

zu der <strong>von</strong> Wilhelm Böhm schon gezeigten Übereinstimmung in<br />

pürbarer Parallele stehen zu Hölderlins Bild <strong>von</strong> den »Gärten«.<br />

83


»Und das gleiche nur ist's, was an das Gleiche sich reyht.« So charakterisiert<br />

Schiller die Welt des zivilisierten Lebens im Tal, in der<br />

Ebene, im Gegensatz zur Welt der Berge, der freien Natur. Auf das<br />

Nämliche deutet bei Schiller das Bild: »der Pappeln stolze Geschlechter<br />

I Ziehn in geordnetem Pomp vornehm und prächtig<br />

daher«. Oder: »Näher gerückt ist der Mensch an den Menschen.<br />

Enger wird um ihn ... die Welt.« Mit diesen letzten Worten<br />

stimmt auffällig überein ein Vers Hölderlins, der sich im Entwurf<br />

zu der nachgetragenen Schluß partie der EICHBÄUME findet: »E n ger<br />

vereint ist unten im ThaI das gesellige Leben.«17 So bestätigt es sich,<br />

wie sehr Wilhelm Böhm im Recht war, als er auf einen Zusammenhang<br />

der EICHBÄUME mit der ELEGIE hinwies. Übrigens wird in Schillers<br />

Gedicht der Übergang <strong>von</strong> der Welt des Tals zu der der freien<br />

Berge gekennzeichnet durch die Worte: »Hinter mir blieb der Gärten<br />

.. . vertraute Begleitung«. An diese Wendung scheint das Einleitungsbild<br />

<strong>von</strong> den Gärten in Hölderlins DIE EICHBÄUME unmittelbar<br />

anzuknüpfen.<br />

Das Gedicht DIE EICHBÄUME ist nun aber noch in anderer Weise<br />

bemerkenswert. In ihm nämlich vollzieht sich eine hochbedeutsame<br />

Wende in Hölderlins gesamtem lyrischem Schaffen, eine der<br />

wichtigsten überhaupt. Wie schon erwähnt, bediente sich Hölderlin,<br />

als er 1796 die Hauptpartie des Gedichts niederschrieb, erstmals<br />

nach längerer Pause wieder des Hexameters. Jetzt aber bedeutet<br />

der Gebrauch dieses Versmaßes, dass der Dichter endlich<br />

beginnt, sich loszulösen <strong>von</strong> der problematischen Form der Reimhymne,<br />

der Form, in der es ihm nie gelang, seine dichterische Eigenart<br />

voll zur Geltung zu bringen, die ihm infolgedessen niemals<br />

Glück gebracht hat. Von jetzt ab geht Hölderlin generell dazu über,<br />

wieder die antiken, reimlosen Versmaße zu benutzen, zunächst<br />

weiter Hexameter und Distichen, späterhin dann auch die komplizierteren<br />

Versmaße der griechisch-römischen Dichtung. Von diesem<br />

Augenblick aber datiert der Beginn derjenigen lyrischen Dichtung,<br />

die wir eigentlich meinen, wenn wir <strong>von</strong> Hölderlin sprechen.<br />

17 StA I 501.<br />

84<br />

Von diesem Augenblick an weisen Hölderlins Gedichte wirklich<br />

und unverkennbar seine Eigenart auf. Von diesem Augenblick ist<br />

zu sagen, dass nach der Wende, die sich in ihm vollzieht, Hölderlin<br />

überhaupt keinen schwachen Vers mehr geschaffen hat. In DIE<br />

EICHBÄUME hören wir somit - und hörte auch Hölderlin selbst zweifellos<br />

- zum erstenmal seinen eigenen, so nur ihm möglichen Ton<br />

als Lyriker. In den Reimhymnen konnte noch immer, auch in den<br />

späteren, reiferen, sein Ton mit dem anderer Dichter verglichen<br />

werden. Der eigentlich Hölderlinsche Sprachklang, Sprachgriff<br />

wird unvergleichbar, unverwechselbar bemerklich nach jener gekennzeichneten<br />

Wende.<br />

Zieht man dies in Betracht, so darf es als ein besonderes merkwürdiges<br />

Zusammentreffen gelten, dass es gerade das Gedicht DIE<br />

EICHBÄUME WAR , in welchem Hölderlin auch <strong>von</strong> dem ersten Erwachen<br />

seiner Selbständigkeit Kunde gibt, <strong>von</strong> der Er<strong>kennt</strong>nis der<br />

Notwendigkeit, alleinzustehen, auch ohne Schiller "zu werden, was<br />

er werden soll". Wie man annimmt, war Hölderlin ja gerade durch<br />

zwei Gedichte Schillers - DIE KÜNSTLER und DIE GÖTTER GRIECHEN­<br />

LANDS - zu der Form der Reimhymne verführt worden. Als die innere<br />

Lösung sich vollzog, ging diese also zusammen mit einer Befreiung<br />

<strong>von</strong> der Form seines bisherigen Vorbilds - auch darin liegt<br />

etwas seltsam Symbolisches. Aus all diesen Gründen ist das Gedicht<br />

DIE EICHBÄUME so wichtig. In seiner wahren und umfänglichen<br />

Bedeutung ist es bisher <strong>von</strong> der Forschung noch zu wenig<br />

gewürdigt worden.<br />

Was die Einwirkung <strong>von</strong> Schillers DER PHILOSOPHISCHE EGOIST auf<br />

Hölderlin betrifft, so ist noch etwas anderes bemerkenswert. Anderthalb<br />

Monate nach der Veröffentlichung dieses Gedichts erscheint<br />

in einem Brief Hölderlins merkwürdigerweise einmal das<br />

Wort 'Egoist' - das sonst <strong>nicht</strong> zu des Dichters Sprachschatz gehört.<br />

Und zwar ist es gebraucht in einem Sinne, der wieder an Schillers<br />

Gedicht denken läßt, diesmal an seinen Titel. Hölderlin schreibt<br />

an Hegel (25. November 1795): "Wenn ich <strong>nicht</strong> bald eine gelegene<br />

HofmeistersteIle finde, so mache ich wieder den Egoisten, suche<br />

für jezt keine öffentliche Beschäftigung, und lege mich aufs Hung<br />

rleiden." Dass Hölderlin <strong>von</strong> sich selbst sagt, er mache den Egoi-<br />

85


sten, mache wieder den Egoisten, ist etwas ziemlich Ungewöhnliches.<br />

Der Egoismus liegt nun ganz offensichtlich darin, dass er eben<br />

allein leben, allein stehen möchte - <strong>nicht</strong> in einer menschlichen<br />

Gemeinschaft, die für ihn unangemessen, die nur drückend und<br />

einschränkend ist. Es sieht doch aber ganz so aus, als ob diese Wendung<br />

vom Egoisten dem Dichter in die Feder geflossen ist, weil er<br />

sich zu dieser Zeit gerade mit Schillers Gedicht DER PHILOSOPHISCHE<br />

EGOIST auseinandersetzte und mit dem stillen Vorwurf, der darin<br />

gegen ihn erhoben wurde. Wenig später entstanden dann die Gedichte<br />

AN HERKULES und DIE EICHBÄUME.<br />

Mit den letzten fünfeinhalb Versen der EICHBÄUME hat es - wir deuteten<br />

schon darauf hin - eine eigene Bewandnis. Sie wurden erst<br />

etwa ein Jahr nach der Entstehung des Vorhergehenden verfaßt.<br />

In dieser ergänzenden Partie finden sich Gedanken, die mit den<br />

Urbestandteilen des Gedichts inhaltlich <strong>nicht</strong> ganz in Harmonie<br />

stehen. (Zu der Ergänzung benutzte Hölderlin auch <strong>nicht</strong> mehr<br />

die ursprüngliche Handschrift, sondern eine neue.) Der nachgetragene<br />

Schluß läßt erkennen, dass die Spannung, unter der Hölderlin<br />

lebte unmittelbar nach der Trennung <strong>von</strong> Schiller, jetzt gewichen<br />

ist und andere Stimmungen herandrängen. Zunächst wird<br />

- in Vers 12 und 13 - noch der letzte Satz der ursprünglichen Partie<br />

ergänzt:<br />

wie die Sterne des Himmels<br />

Lebt ihr, jeder ein Gott, in freiem Bunde zusammen.<br />

Dies ist noch ganz im Sinne des Vorhergehenden konzipiert. Ein<br />

Bezug auf das Verhältnis zu Schiller ist noch deutlich spürbar, wie<br />

denn auch dieser Passus - vgl. oben - auf Schillers DER PHILOSOPHI­<br />

SCHE EGOIST im replizierenden Sinne anzuspielen scheint. Angeredet<br />

sind immer noch die Eichbäume. Wenn sie untereinander in<br />

Gemeinschaft stehen, so ist diese Gemeinschaft ein »freier Bund«<br />

der in ihrer Höhenwelt einzeln Stehenden und Entfernten. »Wie<br />

die Sterne .. . jeder ein Gott« - die Bildsprache weist hier hin auf<br />

86<br />

das "Götterpaar Kastor und Pollux"18, auf die Dioskuren also, für<br />

deren Freundschaft das Sternbild der Zwillinge ewiges Symbol ist<br />

seit der Antike. Die Dioskuren hat Hölderlin schon in den Tübinger<br />

Hymnen und auch später vielfach besungen. Hier dient der<br />

Mythos, um zu versinnbildlichen, was Hölderlin nach der Trennung<br />

weiter mit Schiller verbindet: Verehrung und Freundschaft<br />

auch aus der Ferne. Das Nietzschesche Bild <strong>von</strong> der "Sternenfreundschaft",<br />

das natürlich gleichfalls den Dioskuren-Mythos zum Hintergrund<br />

hat, findet sich also tatsächlich - seltsame Fügung - schon<br />

bei Hölderlin. Gleiches Erleben führt auf die gleiche Metapher: das<br />

Auseinandergehen zweier Großen, bei dem Liebe und Verehrung<br />

auf anderer, höherer Ebene fortbestehen.<br />

Im weiteren bringt der nachgetragene Schluß der EICHBÄUME eine<br />

neue motivische Wendung. Wie schon früher angedeutet, spiegeln<br />

sich darin andere, neue Erlebnisse. Um diese Verse recht zu verstehen,<br />

muß man sich ins Bewußtsein rufen, dass Hölderlin mit ihnen<br />

auch einem bestimmten Formprinzip Rechnung tragen will, das<br />

ihm inzwischen bedeutungsvoll wurde. Die Zeit ist nämlich gekommen,<br />

wo er beginnt, seinen Gedichten jenen bekannten dreitaktigen<br />

Rhythmus zu geben: These - Antithese - Synthese. In der<br />

nachträglichen Ergänzung der EICHBÄUME zeigt sich ein frühes Beispiel<br />

für die Anwendung dieser Form: offensichtlich gestaltet Hölderlin<br />

diese Ergänzung derart, dass sie wie die Synthese zu dem<br />

Vorhergehenden wirkt, das nun als These und Antithese betrachtet<br />

wird. So ergibt sich folgender Aufbau: Welt der Gärten, des Tals<br />

(These) - Welt des Berges, der Eichen (Antithese) - pointierte Deutung<br />

beider Welten, bzw. des Verhältnisses zu ihnen (Synthese). In<br />

der handschriftlichen Überlieferung findet sich ein Versuch, diese<br />

Synthese zunächst so zu gestalten (Entwurf der Verse 14 ff.):19<br />

Enger vereint ist unten im ThaI das gesellige Leben,<br />

[Stolzer steht es und]<br />

Vester bestehet es hier und sorgenfreier und stolzer,<br />

Denn so will es der ewige Geist.<br />

18 HölderJin an Neuffer, 28. November 1791. (StA VI 71.)<br />

19 StA 1501 f.<br />

87


Nochmals sind die beiden Sphären gegenübergestellt: Welt des<br />

Tales, der Gärten (»unten«) und Welt des Berges, der Eichbäume<br />

(»hier«). Bei der Charakterisierung ihrer jeweiligen Vorzüge wird<br />

der Höhensphäre mit Emphase der Vorrang gegeben - hier ist die<br />

Welt heroischer Existenz großer Einzelner, eine Welt, die darum<br />

»stolzer« ist als die des Tals mit ihren geselligen Freuden. Das bekräftigt<br />

der schöne Satz: »Denn so will es der ewige Geist« - ein<br />

Amen gleichsam, wie es Hölderlins tiefster Seelenartung entspricht.<br />

Diese Verse hat der Dichter <strong>nicht</strong> bestehen lassen. Die endgültige<br />

Fassung erhielt den Wortlaut:<br />

Könnt' ich die Knechtschaft nur erdulden, ich neidete nimmer<br />

Diesen Wald und schmiegte mich gern ans gesellige Leben.<br />

Fesselte nur <strong>nicht</strong> mehr ans gesellige Leben das Herz mich,<br />

Das <strong>von</strong> Liebe <strong>nicht</strong> läßt, wie gern würd' ich unter euch wohnen!<br />

In seiner Struktur zeigt dieser Abschluß noch Verwandschaft mit<br />

den Entwurfsversen. Auch hier werden die beiden Sphären<br />

»Wald« (der Eichbäume) und »geselliges Leben« (Tal, Gärten) konfrontiert.<br />

Merklich entfernt sich aber der Inhalt des endgültigen<br />

Schlusses sowohl <strong>von</strong> den Entwurfsversen wie auch <strong>von</strong> den ursprünglichen<br />

Bestandteilen des Gedichts. Während Hölderlin früher<br />

keinen Zweifel ließ, welcher Welt er zugehört: der der heroischen,<br />

titanenhaften Existenz/ erscheint jetzt neu die Aussage: dem<br />

»geselligen Leben« sich »anzuschmiegen«, daran hindert den<br />

Dichter sein Freiheitsbedürfnis; in der Welt der freien Eichbäume<br />

zu »wohnen«, verbietet ihm in ähnlicher Weise ein anderes Gefühl:<br />

das der Liebe. So steht er jetzt sehnend zwischen beiden Welten.<br />

Zweifellos entspricht dieser Schluß jetzt mehr dem Begriff der<br />

Synthese in einem dreitaktig gebauten Gedicht. In geistvoller Pointierung<br />

zwei voraufgegangene Aussagen zusammenzufassen, darin<br />

sah Hölderlin damals das Wesen solcher Synthese, wie die Frankfurter<br />

epigrammatischen Oden zeigen. Andererseits ist stets in<br />

Betracht zu ziehen die Aufrichtigkeit, die Gewissenhaftigkeit, die<br />

Hölderlin bei jeglicher Aussage leitet. Was er spricht, ist nie ohne<br />

Wahrheit. Und so spiegelt sich Realität auch in dem Schluß der<br />

88<br />

EICHBÄUME: es spiegelt sich darin die Situation des liebenden Hölderlin<br />

der späteren Frankfurter Zeit. Niemals wieder lebte der Dichter<br />

so lange und so intensiv im Bereich des 'geselligen Lebens' wie<br />

in jener Epoche. Darüber findet sich mancher Seufzer auch in seinen<br />

Briefen. 20 Was ihn an diese Welt fesselte, war die Liebe zu Diotima.<br />

Aus dieser völlig veränderten Situation resultiert es, wenn<br />

der Dichter am Schluß der EICHBÄUME als ein zwischen den Welten<br />

Stehender erscheint, wenn hier, fast im Sinne der Palinodie, ein<br />

Schwanken sichtbar wird, wo ehemals im selben Gedicht eine feste,<br />

ausgeprägte Position bezogen ward.<br />

Die Schlußverse <strong>von</strong> DIE EICHBÄUME und die in ihnen enthaltene<br />

Pointe sind somit in gewisser Hinsicht als ein Komplex für sich zu<br />

betrachten. Sie entstanden aus veränderter Sicht und Zeit. Nicht<br />

mehr die Lösung <strong>von</strong> Schiller, sondern die Begegnung mit Diotima<br />

bestimmt hier Hölderlins Fühlen und Denken. Das darf uns<br />

aber <strong>nicht</strong> zu der Auffassung verleiten, dass jenes Preisen der heroischen<br />

Existenz, <strong>von</strong> dem die Hauptbestandteile des Gedichts<br />

erfüllt sind, durch den Abschluß grundsätzlich und endgültig widerrufen<br />

wird. Auch die Schlußverse enthalten, wenn man mit<br />

genügender Aufmerksamkeit liest, gleichsam zwischen den Zeilen<br />

die Andeutung, welcher <strong>von</strong> den beiden Welten Hölderlin sich<br />

eigentlich zugehörig weiß, wenn es sich darum handelt, die Lebenssphäre<br />

zu bestimmen. Letzten Endes war die heroische Existenz<br />

für ihn die einzig gemäße. Zu ihr hin führte sein Weg, als das<br />

Schicksal eingriff und ihn <strong>von</strong> Frankfurt entfernte.<br />

20 Vgl. Hölderlin an seine Mutter, November 1797: "Dieses ganze Jahr haben wir fast<br />

beständig Besuche, Feste und Gott weiß! was alles gehabt" etc. (StA VI 257).<br />

89


folgen. Viel richtiger scheint mir der Hinweis Wilhelm Böhms zu<br />

sein, <strong>von</strong> dem wir schon sprachen: dass der Anstoß, den Herkules­<br />

Mythos in einem Hymnus zu behandeln, <strong>von</strong> Schillers DAS RE/CH<br />

DER SCHArrEN ausging. Wir konnten noch andere ähnliche Anregungen<br />

durch Schillersche Gedichte zusätzlich aufweisen, und stets<br />

handelte es sich dabei um Gedichte, deren Veröffentlichung nur<br />

kurze Zeit der Abfassung des HERKuLEs-Gedichts vorauslag. Hölderlin<br />

hatte sie folglich soeben gelesen.<br />

Allerdings dürfte der Verlauf dann so gewesen sein: aufmerksam<br />

geworden auf den Herkules-Mythos durch Schiller, faßte Hölderlin<br />

den Entschluß, eben diesen Mythos zur Grundlage zu<br />

nehmen für ein Gedicht, das seine Situation gegenüber Schiller<br />

zur Darstellung brachte. Dabei lag es freilich nahe, sich über<br />

diesen Mythos noch weiter zu informieren und antike Bearbeitungen<br />

desselben zu betrachten. Hölderlin war ein guter Kenner<br />

des Ovid, und er liebte ihn, wie das die meisten großen Dichter<br />

tun. (Das Abwerten Ovids ist mehr Sache der Theoretiker gewesen,<br />

nach dem Beispiel Herders.) Aus Ovids HEROIDEN hatte Hölderlin<br />

schon in seiner Maulbronner Zeit eine Partie bearbeitet in<br />

dem melodramatischen Gedicht HERO. So mag er sich auch des<br />

Briefgedichts DE/AN/RA AN HERKULES in Ovids HEROIDEN erinnert<br />

haben, wo gerade das ihn so sehr beschäftigende Thema des<br />

Größenunterschiedes dichterisch behandelt worden war. Er übersetzte<br />

die betreffende Stelle aus dem Ovid-Gedicht und schrieb<br />

dann weiter - inspiriert auch durch die Übersetzung und immer<br />

im Hinblick auf Schiller - die HERKuLEs-Hymne nieder, die sich ja<br />

in der Handschrift unmittelbar in Nähe der HEROIDEN-Übersetzung<br />

findet.<br />

Wenn wir annehmen möchten, dass die ganze Beschäftigung<br />

mit dem Thema Herkules damals durch Schiller angeregt wurde,<br />

und dass diese Beschäftigung schließlich insgesamt dem Gedicht<br />

AN HERKULES zugute kam und der Darstellung des Verhältnisses zu<br />

Schiller, so wird diese Annahme durch ein weiteres Indiz bestätigt.<br />

Es läßt sich nämlich erkennen, dass Hölderlin zumindest noch<br />

ein anderes Werk aus der antiken Literatur, das den Herkules­<br />

Mythos behandelt, studiert hat, und zwar eine griechische Tragö-<br />

92<br />

die. An zwei Stellen des Hymnus AN HERKULES finden sich Anklänge<br />

an diese Tragödie. Beide Stellen sind enthalten in der 4. Strophe<br />

des Hölderlinschen Gedichts. Hier heißt es, mit Bezug auf<br />

Herkules:<br />

Wenn für deines Schiksaals W oogen<br />

Hohe Götterkräfte dich,<br />

Kühner Schwimmer! auferzogen,<br />

Was erzog dem Siege mich?<br />

Was berief den Va terlosen,<br />

Der in dunkler Halle saß,<br />

Zu dem Göttlichen und Großen,<br />

Daß er kühn an dir sich maß?<br />

Auffällig sind in dieser Strophe zwei Bilder. Erstens ist es merkwürdig,<br />

dass Herkules hier als »Schwimmer« im Kampf mit den<br />

Wogen, mit des »Schicksaals Woogen«, gesehen wird. Das Bild<br />

würde ohne weiteres passen etwa zu Odysseus. Wo gäbe es aber in<br />

den Herkules-Mythen eine entsprechende Situation? Zweitens ist<br />

auffällig das Bild <strong>von</strong> dem »Vaterlosen«. Auf sich selbst bezieht<br />

Hölderlin das Bild. Und so dient es, den Gegensatz auszudrücken:<br />

Herkules ist <strong>von</strong> göttlicher Geburt, er ist Sohn Kronions, der Dichter<br />

dagegen sieht sich selbst - wie es wörtlich an anderer Stelle<br />

heißt - als sterblich geboren an. So weit ist alles verständlich. Dennoch<br />

bleibt es merkwürdig, dass der Dichter sich in diesem Sinnzusammenhang<br />

geradezu als »Vaterlosen« bezeichnet, und zwar<br />

als Vaterlosen in »dunkler Halle«. Derartig prägnante, spezifische,<br />

zunächst auch befremdende Wendungen legen die Vermutung<br />

nahe, dass hier Anspielungen, Zitate vorliegen. Und so ist es auch.<br />

Die beiden Bilder finden sich nämlich in derjenigen Tragödie des<br />

ophokles, die ebenfalls den Herkules-Mythos behandelt, und zwar<br />

n Tod des Herkules: in des Sophokles TRACHINIERINNEN. Gleich<br />

im ersten Chorlied, das den Herkules feiert, wird hier in aller Breit<br />

ausgeführt, wie der Heros sich durch sein mühevolles Leben<br />

hindurchgearbeitet habe, nämlich so wie durch die wild aufgeregt<br />

'11 Wogen des Meeres.<br />

93


Allerdings ist hier noch ein anderer Aspekt zu berücksichtigen.<br />

Wenn Hölderlin sich damals der Übersetzung römischer Dichtung<br />

zuwandte, so könnte das noch einen weiteren Grund gehabt haben.<br />

Wir sprachen <strong>von</strong> der Übersetzung der PHAETHoN-Erzählung<br />

aus Ovid, die, im Frühjahr 1795 auf Wunsch Schillers angefertigt,<br />

mißglückte. Nicht nur, dass Schiller den Druck ablehnte, Hölderlin<br />

selbst betrachtete seine Übersetzung sehr bald als verfehlt. Die<br />

Ursache dieses Fehlschlagens lag aber hierin: Schiller hatte verlangt,<br />

Hölderlin solle die Hexameter des Ovid in Stanzen umgießen.<br />

Die Vorstellung, man könne antike Verse in solchen modernen<br />

Formen wiedergeben, ist grundsätzlich verfehlt. Goethe sprach<br />

in derartigen Fällen <strong>von</strong>" parodistischen" Übersetzungen. Das<br />

Unmögliche in Schillers AufgabensteIlung wurde Hölderlin hinterdrein<br />

klar. In einem Brief an Neuffer vom März 1796 spricht er<br />

in diesem Zusammenhang <strong>von</strong> einern "albernen Problem", mit dem<br />

Schiller ihn besser "nie geplagt hätte". Da mag es ihn gereizt haben,<br />

nun einmal lateinische Dichtung so zu übersetzen, wie es einzig<br />

richtig und angängig ist: in den originalen Silbenmaßen. Der<br />

Wunsch, auch Schiller zu zeigen, dass er durchaus imstande war,<br />

gut zu übersetzen, wenn in der Form <strong>nicht</strong>s Unmögliches verlangt<br />

wurde, mag daher sehr wesentlich mitgespielt haben. Freilich wählte<br />

er sich dann Vorlagen, die ihn auch innerlich etwas angingen.<br />

Dies also wäre noch zu berücksichtigen bei den Übersetzungen<br />

aus Ovid und Vergil.<br />

VI.<br />

Die Handschrift, <strong>von</strong> der wir sprachen, weist nun am Schluß noch,<br />

wie erwähnt, die Übersetzung einer Partie aus der HEKABE des Euripides<br />

auf. Da diese Partie anscheinend später als das Übrige eingetreten<br />

ist - Hölderlin schrieb sie in das Heft <strong>von</strong> hinten nach<br />

vorn, sie steht also auf den Blättern 17 bis 14 -, so wäre es an sich<br />

denkbar, dass diese Übersetzung keinen inneren Zusammenhang<br />

hat mit dem sonstigen Inhalt der Handschrift. Dennoch liegt m .<br />

E. ein solcher Zusammenhang vor. Auch in diesem Fall dürfte die<br />

98<br />

herkömmliche, <strong>von</strong> der Hölderlinforschung gegebene Deutung<br />

sich als ungenügend erweisen: man behauptet, die Übersetzung<br />

aus der Hekabe sei erfolgt "im Hinblick auf das frühere Kolleg<br />

über Euripides, das der Dichter bei Conz in Tübingen gehört"<br />

habe. 24 Damit ist <strong>nicht</strong> viel erklärt. Jenes Kolleg lag viele Jahre zurück,<br />

und Hölderlin war dem StadÜlm des Schülers längst entwachsen.<br />

Grundsätzlich wird man sich zu der Einsicht bequem n<br />

müssen, dass, wenn ein Dichter vom Range Hölderlins sich mit<br />

irgend etwas befaßt, er sehr wahrscheinlich auch durch inn r<br />

Gründe zu der betreffenden Tätigkeit getrieben wird. Im Falle d r<br />

Hekabe-Übersetzung aber lassen sich solche Gründe durchaus r·<br />

kennen.<br />

Blicken wir noch einmal zurück. In den bei den Übersetzung n<br />

aus dem Lateinischen waren bemerklich geworden die Them n:<br />

tragischer Größenunterschied zwischen Nächstverbundenen und<br />

heroische Freundschaft. Beide Themen stimmen mit den zw I<br />

Hölderlinschen Gedichten überein, die sich in der Handschrift finden,<br />

<strong>von</strong> der wir sprechen. Ein Thema fehlt bisher noch in d n<br />

Übersetzungen, das wir in den Gedichten ebenfalls gefunden h tten:<br />

das des tragischen Alleinstehens. Wir erinnern uns, wi d<br />

Thema besonders in dem Gedicht DIE EICHBÄUME eine groß R 11<br />

spielte. Gerade dieses Thema zeigt sich nun auch in der Parti d r<br />

HEKABE, die Hölderlin übersetzte, und der Dichter hätte sehw rlieh<br />

eine andere anfike Dichtung finden können, die dieses Th m<br />

mit größerer Eindrücklichkeit behandelte.<br />

In folgendem nämlich besteht der Inhalt der <strong>von</strong> HölderHn tlb rtragenen<br />

Szene der Euripideischen Tragödie: Hekabe, die Köni In<br />

<strong>von</strong> Troja, Gattin des Priamos, ist nach der Eroberung Troja un<br />

dem Tode des Priamos Sklavin geworden im Heere der Gri eh n.<br />

Sie bittet nun Agamemnon, als den griechischen Oberfeldh rrn, r<br />

möge ein ihr angetanes schweres Leid rächen, ein Verbrech n hn·<br />

den: nämlich den Mörder ihres Sohnes Polydoros bestraf n. Ag •<br />

memnon sieht zwar ein, dass er durchaus eigentlich die Y, rpfll h·<br />

24 Böhm (1 928) 1, 106.


Übersetzungen darstellt. So stammt der Gedanke, DIE EICHBÄUME<br />

als Proömium einer Sammlung zu verwenden, wahrscheinlich noch<br />

aus der Zeit der Entstehung des Gedichts.<br />

Was die Frage der Entstehungszeit des Heftes mit den besprochenen<br />

Gedichten und Übersetzungen betrifft, so stimmen die Ergebnisse<br />

unserer Betrachtungen überein mit der bisherigen Ansicht<br />

der Forschung, dass die Handschrift ins Jahr 1796 gehöre. Genauer<br />

würde man jetzt dahingehend datieren können, dass der Inhalt<br />

der Handschrift zu Anfang des Jahres 1796, etwa Januar und Februar,<br />

entstanden sein wird. Den Ausschlag gibt, dass Hölderlin<br />

hier mit unverkennbarer Spontaneität auf eine ganze Reihe <strong>von</strong><br />

Schillerschen Gedichten reagiert, die soeben erschienen waren: DAS<br />

REICH DER SCHATTEN und DER PHILOSOPHISCHE EGOIST im Oktober 1795,<br />

die ELEGIE im November 1795, Zws zu HERKULES und DIE IDEALE im<br />

Januar 1796. Als Terminus a quo mag daher der Januar 1796 zu<br />

betrachten sein. Zu dieser Zeit war Hölderlin soeben nach Frankfurt<br />

übergesiedelt. Die Arbeit am HYPER ION war unterbrochen, nachdem<br />

das Manuskript der sogenannten "Vorletzten Fassung", wie<br />

man annimmt, im Dezember noch <strong>von</strong> Nürtingen aus an Cotta<br />

gesandt ward. Der Dichter hatte also die Möglichkeit, andere Arbeiten<br />

in Angriff zu nehmen, während er auf Rückäußerung <strong>von</strong><br />

Cotta wartete (die ihn im Mai 1796 wieder an die HYPERION-Arbeit<br />

zurückführte). Durch einen Brief des Dichters an Niethammer ist<br />

bezeugt, dass Hölderlin im Februar 1796 mit philosophischen Aufsätzen<br />

beschäftigt war, denen er den Titel NEUE BRIEFE ÜBER DIE ÄS­<br />

THETISCHE ERZIEHUNG DES MENSCHEN geben wollte. Auch darin drückt<br />

sich seine damalige Beschäftigung mit Schiller aus, spielt der doch<br />

auf den der Schillerschen ästhetischen Briefe an. Zu dieser Zeit, so<br />

darf man annehmen, sind auch die Dichtungen, die uns beschäftigten,<br />

entstanden. Das in ihnen zu verspürende neue Selbstgefühl<br />

stimmt zusammen mit der allgemeinen Verfassung Hölderlins um<br />

diese Zeit. Die positiven Eindrücke der neuen Umgebung im Hause<br />

Gontard dürften jene ruhig feste Stimmung vermittelt haben,<br />

die aus der HERKULEs-Hymne und dem Gedicht DIE EICHBÄUME<br />

spricht. Zusammenfassend ist zu sagen; in jenen ersten Frankfurter<br />

Monaten des Jahres 1796 kam Hölderlins Jugend recht eigent-<br />

102<br />

lich zum Abschluß. Von da ab haben wir es mit einem andern, mit<br />

dem gereiften Hölderlin zu tun. Man sollte im Auge behalten, wie<br />

die Dichtungen jener Tage, insbesondere das Gedicht DIE EICHBÄU­<br />

ME, diese Wende bezeichnen. Damit käme es zu einer Verdeutlichung<br />

des Hölderlin-Bilds.<br />

VII.<br />

Vielleicht mag es in mancher Hinsicht überraschen und verwundern,<br />

dass Hölderlin aus Schillerschen Gedichten so vielfach Anspielungen<br />

auf sich selbst heraushörte. Hier mag aber eine briefliche<br />

Äußerung des Dichters klärend wirken. Als Hölderlin den<br />

ersten HYPERION-Band an Schiller sandte (20. Juni 1797), sprach er<br />

in dem Begleitschreiben die Bitte aus, Schiller möge das Buch durchlesen<br />

und ihn dann "durch irgendein Vehikel sein Urteil wissen<br />

lassen". "Irgend ein Vehikel" - das bedeutet also: es mußte <strong>nicht</strong><br />

notwendig eine briefliche Rückäußerung sein, Hölderlin war auch<br />

gefaßt auf eine andere Form. Da mündliche Benachrichtigung durch<br />

Dritte <strong>nicht</strong> in Frage kommt - das Wort" Vehikel" schließt das wohl<br />

aus -, so bleibt kaum eine andere Möglichkeit, als an eine Rückäußerung<br />

in dichterischer Form zu denken. Offenbar waren Hölderlin<br />

dann aber bereits Äußerungen Schillers in solcher Form zu Gesicht<br />

gekommen: im IJ Vehikel" der Dichtung, in der Form des<br />

dichterischen Gesprächs. Teil eines solchen dichterischen Gesprächs<br />

ist auch der Komplex <strong>von</strong> Gedichten und Übersetzungen, der uns<br />

beschäftigte.<br />

Es sei hier wenigstens noch auf zwei Fälle hingewiesen, wo Schiller<br />

damals vermutlich Gedichte zu 'Vehikeln' der Mitteilung an<br />

Hölderlin gemacht hat. DAS VERSCHLEIERTE BILD ZU SAIS, erschienen<br />

Oktober 1795 in den HOREN erinnert in auffälliger Weise an Beginn<br />

und Schluß des THALIA-Fragments vom HYPERION. Ein Jüngling nähert<br />

sich dem verschleierten Bild der Wahrheit und sucht leidenschaftlich<br />

dessen Geheimnis zu ergründen. Hölderlins HYPERION­<br />

Fragment aber beginnt mit den Worten: "umsonst hab' ich [ ... ]<br />

W a hrheit gesucht. [Im Original gesperrt.] [. .. ] Worte fand' ich<br />

103


überall; Wolken, und keine Juno." Zum Schluß der Dichtung wiederholt<br />

sich das Motiv mit ähnlicher Betonung: "Ich verlies mein<br />

Vaterland, um jenseits des Meeres Wahrheit zu finden." Hier gegen<br />

Ende des Fragments kommt es zu einer entscheidenden Wendung<br />

dadurch, dass die "unergründliche Natur" den Jüngling<br />

Hyperion auffordert, sie zu lieben, und hier wird die Natur bezeichnet<br />

- als die" verschleierte Geliebte"! " ... es sind heilige seelige<br />

Thränen, die ich weine vor der verschleierten Geliebten." Hyperion<br />

aber be<strong>kennt</strong>, dass er <strong>nicht</strong> ablassen könne <strong>von</strong> der" verwegenen<br />

Neugier", <strong>von</strong> dem Fragen nach dem "großen Geheimniß, das<br />

mir das Leben giebt oder den Tod". Damit endet das Fragment.<br />

Es gibt mehr Übereinstimmungen. In Schillers Gedicht ruft der<br />

Jüngling vor dem verschleierten Bild aus:<br />

Was hab ich<br />

Wenn ich <strong>nicht</strong> Alles habe ...<br />

Giebtsetwahierein Weniger und Mehr? ...<br />

Und alles was dir bleibt ist Nichts, solang<br />

Das schöne All der Töne fehlt und Farben.<br />

In Hölderlins THALIA-Fragment lesen wir zu Anfang, im Zusammenhang<br />

mit dem Thema der Suche nach Wahrheit: "Ich hasse sie,<br />

wie den Tod, alle die armseeligen Mitteldinge <strong>von</strong> E t was und<br />

Ni c h t s. Meine ganze Seele sträubt sich gegen das Wesenlose. Was<br />

mir <strong>nicht</strong> Alles, und ewig Alles ist, ist mir Nichts." Ähnlich<br />

heißt es, wiederum gegen Ende der Dichtung: "Wir sind <strong>nicht</strong>s;<br />

was wir suchen, ist alles."<br />

Es würde <strong>nicht</strong> wundernehmen, wenn Hölderlin in DAS VER­<br />

SCHLEIERTE BILD zu SAIS eine Äußerung Schillers i,iber seine Hyperion-Dichtung<br />

gesehen hätte, eine Äußerung damit auch zu den ihn<br />

selbst bedrängenden Problemen. Gewiß sah Schiller in Hölderlin<br />

den typischen Fall eines jungen Dichters, der durch übermäßige<br />

Hingabe an die Philosophie gefährdet war. "Sein Zustand ist gefährlich"<br />

- dieser Satz in der bekannten Charakteristik Hölderlins<br />

im Brief an Goethe vom 30. Juni 1797 bezieht sich hierauf. Schiller<br />

suchte Hölderlin zurückzuführen <strong>von</strong> einem - wie ihm schien -<br />

übermäßigen Hang zur Abstraktion. In diesem Sinn mag in DAS<br />

104<br />

VERSCHLEIERTE BILD ZU SAIS eine Warnung ausgesprochen sein. In der<br />

"Vorletzten Fassung" des HYPERION steht ein recht schwer zu deutender<br />

Satz, der in diesem Zusammenhang vielleicht seine Erklärung<br />

findet: "Die Fabel sagt <strong>von</strong> Menschen, sie hätte die gegenwärtige<br />

Gottheit getödtet."25 Als »gegenwärtiger Gott« aber wird<br />

in DAS VERSCHLEIERTE BILD ZU SAIS die Gestalt der Wahrheit geschildert:<br />

Und furchtbar wie ein ge gen w ä rt iger Go tt<br />

Erglänzt durch des Gewölbes Finsternisse<br />

In ihrem langen Schleier die Gestalt.<br />

In ähnlicher Weise wie DAS VERSCHLEIERTE BILD ZU SAIS warnt auch<br />

das Gedicht EINEM JUNGEN FREUND, ALS ER SICH DER WELTWEISSHEIT WID­<br />

METE. Hier lassen die Schlußzeilen wieder an das THALIA-Fragment<br />

des HYPERION denken:<br />

Manche giengen nach Licht, und stürzten in tiefere Nacht nur;<br />

Sicher im D ä m m e r s ehe i n wandelt die Kindheit dahin.<br />

Wie hier das durch Sperrdruck ungewöhnlich betonte Wort »Dämmerschein«<br />

in Verbindung mit dem Bild der Kindheit auftritt, das<br />

erweckt den Eindruck, als sei damit an den Lobgesang auf die<br />

» Dämmerung« erinnert, der den letzten Brief im THALIA-Fragment<br />

erfüllt: "Meinem Herzen ist oft wohl in dieser Dämmerung. Ich<br />

weis <strong>nicht</strong>, wie mir geschieht, wenn ich sie ansehe, diese unergründliche<br />

Natur; aber es sind heilige seelige Thränen, die ich<br />

weine vor der verschleierten Geliebten [. .. ] Meinem Herzen ist<br />

wohl in dieser Dämmerung. Ist sie unser Element, diese Dämmerung?<br />

Warum kann ich <strong>nicht</strong> ruhen darinnen?" Es folgt dann die<br />

Erzählung <strong>von</strong> dem "Knaben am Wege", den die Mutter zugedeckt<br />

hat, damit ihn "die Sonne <strong>nicht</strong> blende". Der Knabe reißt<br />

aber die Decke weg und versucht immer wieder, "das freundliche<br />

Licht anzusehn", solange, "bis ihm das Auge schmerzte und<br />

er weinend sein Gesicht zur Erde kehrte". Das THALIA-Fragment<br />

25 StA III 249.<br />

105


schließt dann mit der Erwägung Hyperions, das Beispiel des Knaben<br />

als Mahnung zu nehmen und "<strong>von</strong> dieser verwegnen Neugier"<br />

abzulassen. Es ist die Neugier nach dem Wahrheitslicht, vor<br />

welcher beide Gedichte Schillers, DAS VERSCHLEIERTE BILD ZU SAIS und<br />

EINEM JUNGEN FREUND, DER SICH DER WELTWEISSHEIT WIDMETE, warnen. In<br />

dem letztgenannten Gedicht wird diese Warnung übrigens wiederum<br />

in Verbindung mit dem Herkules-Mythos ausgesprochen:<br />

Der Jüngling wird gefragt, ob er Mut genug habe, »der Kämpfe<br />

schwersten zu kämpfen« und mit des »Zweifels unsterblicher Hydra<br />

zu ringen«.<br />

Auch dies Schillersehe Gedicht erschien unmittelbar vor der<br />

Entstehung <strong>von</strong> Hölderlins AN HERKULES, im Dezember 1795. Immer<br />

wieder bestätigt sich der Zusammenhang des HERKULEs-Hymnus<br />

mit Schiller, mit dem "geheimen Kampf", den hier ein Genius<br />

mit dem andern führt. Noch lebendiger wird uns jetzt der<br />

Gehalt der Phaethon-Ikarus-Verse in Hölderlins Gedicht erscheinen,<br />

wo die Gefahren des Weges zum Licht souverän verachtet<br />

werden:<br />

Zwar der Schüler mußte zahlen;<br />

Schmerzlich brannten, stolzes Licht<br />

Mir im Busen deine Strahlen,<br />

Aber sie verzehrten <strong>nicht</strong>.<br />

Die Problematik des Priestertums<br />

bei Hölderlin<br />

Die Verbindung <strong>von</strong> Dichter- und Priestertum ist so alt wie die<br />

Poesie selbst. Im magischen Wort, im Zauberspruch werden die<br />

Mächte beschworen. Das gilt, wie man heute annimmt, seit der<br />

jüngeren Steinzeit 1 • Bei Novalis heißt es: "Eine magische Gewalt<br />

üben die Sprüche des Dichters aus"; die ältesten Dichter seien<br />

"Wahrsager und Priester, Gesetzgeber und Ärzte gewesen", so<br />

dass "selbst die höheren Wesen durch ihre zauberische Kunst herabgezogen<br />

worden sind"2. Die griechische Kultur, Grundlage der<br />

abendländischen, beruht auf solcher Vereinigung <strong>von</strong> Dichter- und<br />

Priestertum. Der Dichter - Homer voran - schuf den Griechen ihre<br />

Götter, deren Feste das Leben bestimmten, deren Gestalten der<br />

Bildhauer meißelte, für die der Architekt Tempel baute. Pindar<br />

zeigt beispielhaft, wie der Dichter fortfährt, Künder der Götter zu<br />

sein. Für die Römer bedeutet das Wort 'vates' dasselbe wie Dichter,<br />

sofern dieser gottbegeisterter Seher ist: eine Steigerung <strong>von</strong><br />

'poeta'. Horaz fühlt sich als 'vates', als Priester der Musen (Musarum<br />

sacerdos). Vergil wird als 'maximus vates' bezeichnet. So gelten<br />

den Römern aber auch Homer und die großen griechischen<br />

Lyriker als 'vates'. Sogar Sappho wird 'vates', 'vates Lesbia' genannt<br />

(Ovid).<br />

Von griechischen Weisen, Platon und Demokrit, stammen die<br />

Definitionen, die das Wesen des Dichter-Priestertums für die<br />

abendländische Menschheit bestimmten. In Platons PHAIDROS und<br />

ION vor allem finden sich die maßgeblichen Sätze. Da wird aus-<br />

Vgl. Arnold Hauser, Sozialgeschichte der Kunst und Literatur. München 1967. S. 56;<br />

Werner Krauss, Grundprobleme der Literatunvissenschaft. Hamburg 1968. S. 42.<br />

2 Novalis, HEINRICH VON OFTERDINGEN. in: Das dichterische Werk. Hg. <strong>von</strong> P. Kluckhohn<br />

u. R. Samuel. 3. Auf!. unter Mitarb. <strong>von</strong> Heinz Ritter u. Gerhard Schulz. Bel. 1. Stuttgart<br />

]977. S. 210 f.<br />

106 107


gesprochen, dass die Dichter "Künder" ('hermeneis') der Götter<br />

sind, dass ihre Schöpfungen "<strong>nicht</strong>s Menschliches und <strong>von</strong> den<br />

Menschen sind, sondern Göttliches und <strong>von</strong> den Göttern". Durch<br />

die Dichter "spricht der Gott zu uns". So sind denn auch die Dichter<br />

"<strong>von</strong> Gott Begeisterte" ('entheoi'). Nicht sowohl durch "Techne"<br />

werden ihre Werke möglich, als durch "göttliche Schickung",<br />

"göttliche Kraft" ('theia miora', 'theia dynamis'). Dichtung entsteht<br />

durch "gottgesandten Wahn", Mania, "Wahnsinn der Musen"'. Im<br />

ION sagt Platon: "Nicht bei vernünftigem Bewußtsein" schaffen die<br />

Dichter, sondern: "wenn sie <strong>von</strong> Harmonie und vom Rhythmus<br />

erfüllt sind, dann werden sie den Bakchen ähnlich und begeistert<br />

wie sie". Hier wird bei Platon - durch die Worte "Bakchen" und<br />

"bakcheuein" - auf den Bereich des Dionysos hingewiesen, der<br />

dann noch für Horaz wie für Hölderlin der Gott der Dichter ist.<br />

(»Aber sie sind [ ... ] wie des Weingotts heilige Priester« - so heißt<br />

es <strong>von</strong> den Dichtern in BROD UND WEIN.) Im PHAIDROS spricht Platon<br />

aus: "Wer aber ohne den Wahnsinn der Musen sich den Pforten<br />

der Dichtkunst naht, in der Überzeugung, schon durch gute<br />

Technik ein fähiger Dichter zu werden, der bleibt selbst erfolglos<br />

und die Dichtung des Vernünftlers verschwindet vor der Dichtung<br />

der in Wahn Verzückten ins Nichts."<br />

Wie in diesen beiden platonischen Dialogen der Dichter als<br />

gottbegeisterter Priester geschildert wird, das bestimmte - zusammen<br />

mit berühmten Worten Demokrits - weiterhin die Auffassung<br />

<strong>von</strong> Dichtung im Altertum. Noch die Renaissance orientierte sich<br />

hieran 3 • Als der junge Goethe einer Art Spätrenaissance in Deutschland<br />

zum Durchbruch verhalf, sah er der Kunst - und mit ihr der<br />

Dichtung - wiederum als Aufgabenbereich zufallen: das Vermitteln<br />

des Göttlichen. Seine Schrift über das Straßburger Münster<br />

enthält hierüber bündige Aussagen, beruhend auf uralter Tradition.<br />

Da ist der Künstler der "gottgleiche Genius", in dem "selige<br />

Melodien" erklingen, er wird als der "Gesalbte Gottes" bezeich-<br />

3 Vgl. Jean Bollak in: Platon. Phaidros. Deutsch <strong>von</strong> Edgar Salin. Mit Erläuterungen<br />

<strong>von</strong> Jean Bollack, Frankfurt und Hamburg 1963. 5.123.<br />

108<br />

net, vor dem wir "tiefgebeugt dastehen". Wie Prometheus leitet<br />

der Künstler "die Seligkeit der Götter auf die Erde". Die "himmlische<br />

Schönheit" der Kunst gilt nun als "Mittlerin zwischen Göttern<br />

und Menschen".<br />

Grundsätzlich blieb Goethe dieser Auffassung treu. Der Abschnitt<br />

über die Dichter im 2. Buch <strong>von</strong> WILHELM MEISTERS LEHR­<br />

JAHRE (Kap. 2) enthält Äußerungen wie diese: "Und so ist der Dichter<br />

zugleich Lehrer, Wahrsager, Freund der Götter und der<br />

Menschen." Der Dichter, "vom Himmel innerlich auf das köstlichste<br />

begabt", hat die "Götter gebildet, uns zu ihnen erhoben, sie<br />

zu uns herniedergebracht". Auch für Goethe steht fest, dass Dichtung<br />

aus Rausch, dionysischer Begeisterung geboren wird. Der<br />

Dichter gilt ihm als einer, "der sich ganz den Göttern, der Begeist'rung<br />

übergab" (CLAUDINE VON VILLA BELLA v. 800). Das Schenkenbuch<br />

des WEST-ÖSTLICHEN DIVAN spricht <strong>von</strong> "göttlichster Betrunkenheit"<br />

des Dichters, <strong>von</strong> der" Trunkenheit der Lieder" usw. Im<br />

16. Buch <strong>von</strong> DICHTUNG UND WAHRHEIT äußert sich Goethe über den<br />

Zusammenhang seines dichterischen Schaffens mit dem Unbewußten<br />

in besonders aufschlußreicher Weise. Unmittelbar nachdem er<br />

dort sein Be<strong>kennt</strong>nis zu den Anschauungen Spinozas ablegt, folgen<br />

Geständnisse über die Eigenart seines Dichtens. Hier wird gesagt,<br />

das ihm "inwohnende dichterische Talent" habe Goethe<br />

"ganz als Natur" betrachtet. "Unwillkürlich, ja wider Willen" seien<br />

ihm seine Gedichte geboren. Goethe nennt es geradezu: "mein<br />

nachtwandlerisches Dichten". Entscheidend ist, dass diese Auffassung<br />

vom "Dichtertalent als Natur" (wie es in den Entwürfen<br />

heißt) durch den vorhergehenden Spinoza-Abschnitt ihren Hintergrund<br />

bekommt. Dort wird Spinozas Formel "deus sive natura"<br />

interpretiert und der Satz geprägt: "Die Natur wirkt nach ewigen,<br />

notwendigen, dergestalt göttlichen Gesetzen, dass die Gottheit<br />

selbst daran <strong>nicht</strong>s ändern könnte." Im Zusammenhang hiermit<br />

rhalten Goethes Worte über sein Dichten den Sinn: wenn sein produktives<br />

Talent "ganz als Natur" betrachtet wird, so bedeutet das<br />

ein und dasselbe, als wenn gesagt würde: es ist ganz göttliche<br />

Gabe. Gerade das Rätsel der Unwillkürlichkeit, des Unbewußten,<br />

Nachtwandlerischen erklärt sich als Wirkung der "ewigen, not-<br />

109


wendigen, göttlichen Gesetze", die unabänderlich sind und in ihrer<br />

Unbegreiflichkeit hingenommen werden müssen. Mit den Gedankengängen<br />

seines Lieblingsphilosophen drückt Goethe hier das<br />

nämliche aus, was Platon sagt, wenn er den Dichter "entheos"<br />

nennt, ihn als Künder der Götter bezeichnet.<br />

Ein Goethescher Aphorismus aus dem Jahre 1826 bringt dies<br />

alles allgemeiner auf die Formel: "Die Kunst ist eine Vermittlerin<br />

des Unaussprechlichen." Diese Anschauung liegt dem Shaffen unserer<br />

großen Dichter zugrunde, insbesondere dem des bedeutsamen<br />

Dreigestirns: Goethe, Klopstock, Hölderlin. Allerdings zeigen<br />

sich dabei Unterschiede, insofern als die Dichter - um mit Hölderlin<br />

zu sprechen - teils mehr "weltlich", teils mehr "geistlich"<br />

waren. Bei Goethe, der in diesem Sinne q.ls der" weltlichste" gelten<br />

darf, wird an das Unaussprechliche nur mit großer Zurückhaltung,<br />

mehr mittelbar, selten direkt gerührt. Goethes Blick ist<br />

auf die Realität, die Natur gerichtet, in ihnen wird das Göttliche<br />

erkannt. Hölderlin, der ganz geistig ist, steht vor allem in seiner<br />

Reifezeit eigentlich immer dem Unaussprechlichen gegenüber, mit<br />

unheimlicher Direktheit. Die Wirklichkeit - das glaubte ja Goethe<br />

bemängeln zu müssen - ist ihm verhältnismäßig fern. Er hat es<br />

stets mit dem Geist zu tun und sieht auch die Welt vor allem vom<br />

Geist her. Das Wort Hyperions: "Nichts, auch das kleinste, das alltäglichste<br />

<strong>nicht</strong> ohne den Geist und die Götter!" - dies Wort gilt<br />

auch für das Dichten Hölderlins. So ist es denn kein Zufall, dass<br />

<strong>nicht</strong> Goethe, sondern Hölderlin die Aufgabe des Dichters: Künder,<br />

Vermittler des Unaussprechlichen zu sein, immer wieder mit<br />

dem Wort 'Priester' bezeichnet hat. Diesem Priestertum Hölderlins<br />

sollen unsere Betrachtungen gelten.<br />

Neben dem häufigen Vorkommen des Worts 'Priester' - das<br />

<strong>nicht</strong> einmal bei Klopstock seinesgleichen hat - gibt es die Fülle<br />

der Äußerungen in Werken und Briefen, die inhaltlich dasselbe<br />

bezeichnen. Um nur an einige Briefstellen zu erinnern: Dichtung<br />

ist für Hölderlin "ein heiterer Gottesdienst", er betrachtet seine<br />

"Poesie" als eine "Panacee", die "die Deutschen wohl brauchen<br />

[könnten], auch nach der politisch philosophischen Kur". So ist<br />

aber auch Hölderlins Leben ein stetes Wandeln "zwischen Him-<br />

110<br />

mel und Erde"; er atmet in jener reinen Bergesluft, "wo man zum<br />

Gefühle der Gottheit sich erhoben hat, und aus diesem alles betrachtet,<br />

was da war und ist und seyn wird". In der Zeit der späten<br />

Hymnendichtung heißt es: "Aber so wahrhaft und vom Himmel<br />

herab verbunden, sieht man auch mit Augen eines Höhern<br />

und handelt in dem klaren Elemente, das der Geist empfängt und<br />

schaffet [ ... ] und die noch ungeboren sind, die fühlen es künftig<br />

auch!"4<br />

Im Hinblick auf die sich in solchen Äußerungen bekundende<br />

Wesensart galt es uns bisher als etwas Selbstverständliches, dass<br />

vor allem Hölderlin als Schaffender eine Haltung einnahm, die<br />

man als priesterlich bezeichnen darf. Es war dies eine uns seit langem<br />

vertraute Vorstellung, die für alles Begreifen des Dichters die<br />

Basis bildete. In neuerer Zeit aber zeichnet sich in der Hölderlin­<br />

Forschung ein Wandel der Auffassung ab. Hölderlins Priestertum,<br />

es wird auch angezweifelt. Eine weitverbreitete Skepsis gegenüber<br />

allem Irrationalen, in vielfacher Hinsicht nützlich und heilsam,<br />

möchte nun generell auch jenen ganzen Bereich in Frage stellen,<br />

wo die Kunst es mit dem "Vermitteln des Unaussprechlichen" zu<br />

tun hat. Mit Begriffen wie Priestertum, Mittlertum weiß solche<br />

Skepsis wenig anzufangen. Dass im Spätwerk Hölderlins Metaphysisches<br />

rätselhaft durchbricht, dass seine Hymnen "das Ertönen<br />

anhaltender Weihe, beständigen Verkehrs mit den Göttern"<br />

sind - wie einst Friedrich Gundolf sagte 5 -, derartiges wird vielfach<br />

<strong>nicht</strong> mehr empfunden, <strong>nicht</strong> mehr zugestanden. Man wäre<br />

gern der Verpflichtung überhoben, Hölderlins Dichten in dieser<br />

Hinsicht ernst nehmen zu müssen.<br />

Wenn dabei nach Möglichkeiten gesucht wurde, die Position<br />

Hölderlins anzuzweifeln, so fand sich hierfür ein scheinbar ergiebiger<br />

Ansatz. Man ward mehr und mehr aufmerksam auf betimmte<br />

Äußerungen in Hölderlins Werk, die bekunden, wie der<br />

Dichter selbst gerade sein Priestertum in gewisser Weise auch als<br />

4 Aus Briefen der Jahre 1798 bis 1801. Vgl. StA VI 297, 306, 382, 408, 420 f.<br />

S Friedrich Gundolf, George. 3. Auf!. Berlin 1930. S. 62.<br />

111


Um dies zu erkennen: wie das Verantwortungsgefühl Hölderlins<br />

in den Schlußstrophen der Hymne WIE WENN AM FEIERTAGE,<br />

nun sein Priesteramt prüfend einbezieht, müssen wir die Stelle genauer<br />

betrachten. Die betreffenden Verse, ganz fragmentarisch und<br />

schon deshalb schwierig zu erklären, lauten: »Doch weh mir! wenn<br />

<strong>von</strong> [ ... ] « Nach großem Zwischenraum folgt in der Handschrift<br />

(neue Seite): »Weh mir!« Dann abermals nach beträchtlichem<br />

Spatium:<br />

Und sag ich gleich,<br />

Ich sei genaht, die Himmlischen zu schauen,<br />

Sie selbst, sie werfen mich tief unter die Lebenden<br />

Den falschen Priester, ins Dunkel, daß ich<br />

Das warnende Lied den Gelehrigen singe.<br />

Wesentlich ist zunächst, dass man beachtet: Hölderlin sagt <strong>nicht</strong><br />

ohne weiteres, er sei ein falscher Priester. Das konditionale »wenn«<br />

(»Doch weh mir! wenn [ ... ] «) beherrscht die gesamte Aussage.<br />

Und weiter - es heißt <strong>nicht</strong>: "Ich sage, ich sei genaht, die Himmlischen<br />

zu schauen", sondern: »Und sag ich gleich, ich sei genaht«.<br />

Das Wort »gleich« deutet hier auf einen hypothetischen Fall, der<br />

eintreten könnte, aber <strong>nicht</strong> eintreten möge. Bestätigt wird das Hypothetische<br />

der Aussage durch die Entwurfsfassung dieser Stelle.<br />

Da heißt es zunächst: »weh mir! 0 daß ich dann <strong>nicht</strong> sage,« - Hölderlin<br />

streicht das und fährt fort: »und sag ich gleich, ich wäre genaht,<br />

die himmlischen zu schauen«. Nur <strong>von</strong> einer Gefahr, einer<br />

Möglichkeit ist die Rede. Die Gefahr besteht darin, dass der Dichter-Priester,<br />

der <strong>von</strong> den Göttern die »himmlische Gaabe« empfängt,<br />

der also Göttervertrauen mehr als gewöhnliche Sterbliche<br />

genießt, in dieser bevorzugten Situation <strong>nicht</strong> maßlos wird. Die<br />

»himmlische Gaabe« muß »reinen Herzens«, mit »schuldlosen<br />

Händen« entgegengenommen werden, so heißt es im Vorhergehenden.<br />

Damit er rein und schuldlos bleibe, muß der Dichter sich<br />

jedoch hüten, <strong>nicht</strong> in Hybris zu verfallen, <strong>nicht</strong> mehr <strong>von</strong> den<br />

Göttern zu verlangen, als sie ihm freiwillig geben. Er darf sie <strong>nicht</strong><br />

auch noch »schauen« wollen.<br />

116<br />

Von dem Begehren, die Götter zu sehen und damit verbundener<br />

Hybris handeln viele griechische Mythen. Hölderlin denkt<br />

wohl vor allem an des Euripides Bakchen-Tragödie, das Werk, dem<br />

er die Hauptanregung zur Hymne WIE WENN AM FEIERTAGE verdankt.<br />

SemeIe begehrt Zeus zu schauen, das führte zu ihrem Untergang.<br />

Pentheus will die Feiern der Bakchen neugierig anschauen, darum<br />

wird er auf Geheiß des Dionysos getötet, <strong>von</strong> den Mänaden<br />

in Stücke zerrissen. Auch andere bekannte Gestalten des griechischen<br />

Mythos wurden gestraft, wenn sie unerlaubt die Götter sahen.<br />

So Aktäon, so aber auch der Seher Teiresias, dem Athene das<br />

Augenlicht nahm aus entsprechendem Anlaß.<br />

Das Begehren, die Götter schauen zu wollen, stellt also ein<br />

Gleichnis dar für unfrommes, hybrides Verhalten, besonders eines<br />

Götterlieblings. Hölderlin verbindet nun - immer im Hinblick auf<br />

eine mögliche Gefahr für den Dichter - dies Gleichnis in den<br />

Schlußversen der Hymne WIE WENN AM FEIERTAGE mit dem Mythos<br />

<strong>von</strong> Tantalos, wie man längst gesehen hatB. Wenn es in der 9. Strophe<br />

heißt, die Himmlischen »werfen mich tief unter die Lebenden«,<br />

so ist hiermit auf das Schicksal des Tantalos gewiesen, der<br />

<strong>von</strong> den Göttern in die Unterwelt gestoßen wurde. Deswegen nämlich,<br />

weil er erst zur Tafel der Götter zugelassen worden war, dann<br />

aber gewisse Freveltaten beging, Akte der Hybris, die Götterzorn<br />

hervorriefen. Vollkommen deutlich wird die Beziehung auf den<br />

Tantalos-Mythos durch die Entwurfsfassung, wo die Anspielung<br />

ausführlicher ist. Mit Recht hat man verwiesen auf den Satz eines<br />

späten Hölderlinschen Briefes, in dem der Dichter sich selbst<br />

mit Tantalos vergleicht: ,,Jetzt fürcht' ich, daß es mir <strong>nicht</strong> geh' am<br />

Ende, wie dem alten Tantalus, dem mehr <strong>von</strong> Göttern ward, als<br />

er verdauen konnte."9<br />

Soweit hat die Forschung alles richtig erkannt. Es bleibt aber<br />

zu fragen, warum gerade der Tantalos-Mythos <strong>von</strong> Hölderlin in<br />

H Vgl. Wolfgil ng Schadewaldt, Hellas und Hesperien. Zürich und Stuttgart 1960. S. 677.<br />

'I An Böh lend orff 4. Dezember 1801. StA VI 427.<br />

117


der Hymne herangezogen wurde. Tantalos war ja <strong>nicht</strong> einer, der<br />

die Götter neugierig und unerlaubt zu 'schauen' begehrte, ihm<br />

wurde vielmehr <strong>von</strong> den Göttern selbst der Platz an ihrer Tafel<br />

freiwillig eingeräumt. Von ausschlaggebender Bedeutung ist, wie<br />

ich glaube, dass man sich vergegenwärtigt, welcher Art die Vergehen<br />

waren, die zum Sturz des Tantalos in die Unterwelt führten.<br />

Von den verschiedenen Versionen der Sage, die sämtlich auf<br />

hybriden Mißbrauch der Götterfreundschaft deuten, kann die eine<br />

als für Hölderlin <strong>nicht</strong> relevant beiseite gelassen werden. Hiernach<br />

habe Tantalos den Göttern seinen Sohn Pelops zerstückelt als Speise<br />

vorgesetzt, um mutwillig die göttliche Allwissenheit auf die<br />

Probe zu stellen. Wichtiger sind die anderen Formen des Mythos:<br />

Tantalos entwendete <strong>von</strong> den Mahlen der Götter Nektar und Ambrosia,<br />

um sie den Menschen zu bringen. Hierüber berichtet Pindar<br />

10 • Dann aber die wichtigste Version, die der vorigen sehr ähnlich<br />

ist: Tantalos verriet den Menschen die Geheimnisse der Götter;<br />

was Zeus ihm anvertraut hatte, schwatz te er aus. Wir haben hier<br />

die Form der Sage, die Hölderlin vor allem beeindruckte. Dass sie<br />

ihm bekannt war aus Euripides, Ovid, Lukian usw., steht außer<br />

Zweifepi. Der Tantalos-Mythos nimmt in dieser Version die ganze<br />

Problematik des religiösen Geheimnisverrats in sich auf. Diese<br />

Problematik aber war für Hölderlin immer bedeutungsvoller geworden,<br />

je mehr seine Dichtung in das Gebiet religiöser Prophetie<br />

vorstieß. Schon im HYPERION, dies mußte der Dichter gespürt<br />

haben, berührte seine Sprache gelegentlich die Grenze des im religiösen<br />

Bereich Sagbaren. So ist es denn kein Zufall, dass auch<br />

innerhalb der HYPER ION-Dichtung der Ausspruch sich findet, der,<br />

wie mir scheint, richtungweisend ist für Hölderlins gesamte Einstellung<br />

zum Problem des Bewahrens religiöser Geheimnisse. Die<br />

Vorstufe der endgültigen Fassung des Romans enthält folgenden<br />

Satz: "Ich möcht' es an den Himmel schreiben, als des Lebens er-<br />

10 Pindar Olymp. I 65.<br />

11 VgJ. Euripides' ORESTES v. 10; Ovid Am . II 2, 44; Lukian Oe sacr. 533; Oiodor IV<br />

74, 2.<br />

118<br />

stes Gesetz: Das Heilige muß Geheimniß seyn, und wer es offenbaret,<br />

er töd tet es. "12<br />

In diesem Satz ist ein Thema fixiert, das <strong>von</strong> nun ab den Dichter<br />

wieder und wieder beschäftigt bis hin zu seinen spätesten Gesängen.<br />

Bereits in der Empedokles-Tragödie gelangt das Thema<br />

zu zentraler Bedeutung. Besonders in der zweiten Fassung, wo ja<br />

der Verrat religiöser Geheimnisse das eigentliche Sakrileg ist, das<br />

dem Empedokles zur Last gelegt wird. Zahlreich sind hier die<br />

Stellen, die auf solchen Verrat hinweisen; es sei nur einiges in Erinnerung<br />

gebracht. Empedokles »verrieth / Der Götter Gunst gutmüthig<br />

den Gemeinen«, so lautet die Anklage des Priesters Hermokrates<br />

(v. 74). Das wird dann weiter konkretisiert (v. 167 ff.):<br />

Verderblicher denn Schwerd und Feuer ist<br />

Der Menschengeist, der götterähnliche,<br />

Wenn er <strong>nicht</strong> schweigen kan, und sein Geheimniß<br />

Unaufgedekt bewahren .. .<br />

Hinweg mit ihm, der seine Seele blos<br />

Und ihre Götter giebt, verwegen<br />

Aussprechen will Unauszusprechendes ...<br />

[Vergehen soll wie er] in Weh und Thorheit jeder,<br />

Der Göttliches verräth, und allverkehrend<br />

Verborgenherrschendes<br />

In Menschenhände liefert!<br />

Er muß hinab!<br />

Von Empedokles wird dann geradezu gesagt, er habe »den Gott<br />

aus sich hinweggeschwätzt«; darum solle er verflucht und ausgestoßen<br />

werden in die Wildnis (v. 226 ff.):<br />

Und nimmer wiederkehrend soll er dort<br />

Mirs büßen, daß er mehr, wie sich gebührt,<br />

Verkündiget den Sterblichen.<br />

12 StA 1Il 276 f.<br />

119


licher: »eingehüllet und gemildert im Liede«. Der gesamte Gedankengang<br />

ist für Hölderlin höchst charakteristisch. Gemeint ist nämlich:<br />

nur wenn des Dichters Lied die himmlische Gabe in behutsamer<br />

Weise einhüllt, deren Geheimnisse <strong>nicht</strong> zu sehr preisgibt,<br />

sie damit zugleich 'mildert', nur dann entgeht er der mit dem 'Fassen'<br />

des Göttlichen verbundenen Gefahr. Dann wird ihn des Vaters<br />

Strahl <strong>nicht</strong> versengen, sein Herz wird rein, seine Hände<br />

schuldlos bleiben (Entwurf: »gereinigt <strong>von</strong> Freveln«). Anders jedoch,<br />

wenn er zuviel verrät, wenn das Lied <strong>nicht</strong> genügend einhüllt<br />

und verbirgt: dann begeht er den Frevel des Tantalos, dann<br />

droht ihm ein entsprechend verderbliches Schicksal.<br />

Die Einbeziehung der Tantalos-Sage überhaupt, so zeigt sich<br />

jetzt, erklärt sich erst in der rechten Weise, wenn man den Bezug<br />

auf das Vorhergehende beachtet. Der Mythos vom Verräter göttlicher<br />

Geheimnisse steht im Gegensatz zum Bild des geheimnisbewahrenden<br />

Dichters. Alles zusammen läuft hinaus auf die Forderung<br />

nach Maß, nach Beachtung der <strong>von</strong> den Göttern bestimmten<br />

Grenzen. Damit erklärt sich die gesamte Überleitung. Was mit den<br />

gewichtigen Worten: »Weh mir! wenn [. .. ] « beginnt, deutet auf<br />

die Folgen etwaigen Nicht-Maßhaltens. Läßt sich der Dichter dazu<br />

hinreißen, das Göttliche zu sehr zu enthüllen, so wird er zum »falschen<br />

Priester«.<br />

Der große Prosaentwurf zur Hymne WIE WENN AM FEIERTAGE bietet<br />

die Aussage der Schlußstrophen in ähnlich fragmentarischer<br />

Form wie die metrische Fassung. Dabei tritt <strong>nicht</strong> nur der Tantalos-Mythos<br />

in noch deutlicheren Konturen hervor. Es findet sich<br />

hier außerdem ein wertvolles gedankliches Zwischenglied, das in<br />

die metrische Fassung <strong>nicht</strong> aufgenommen wurde. Wir erfahren,<br />

dass ganz bestimmt benannte Ursachen den Dichter an jene bedenkliche<br />

Grenze hinzutreiben drohen, wo er - Tantalos ähnlich<br />

- zuviel <strong>von</strong> den Göttern schauen und verraten könnte. Zwischen<br />

die Worte: »Aber [weh mir!] wenn <strong>von</strong>[ ... ] « und den Satz: »Und<br />

sag ich gleich, ich wäre genaht, die Himmlischen zu schauen« ist<br />

hier eingeschoben: »Aber wenn <strong>von</strong> selbgeschlagener Wunde das<br />

Herz mir blutet, und tiefverloren der Frieden ist, u. freibescheidenes<br />

Genügen, Und die Unruh, und der Mangel mich treibt zum<br />

122<br />

Überflusse des Göttertisches [ ... ] « Danach folgt der Passus vom<br />

falschen Priester: »0 daß ich dann <strong>nicht</strong> sage« usw.<br />

Das Entscheidende innerhalb des hier Eingeschobenen ist ausgesprochen<br />

durch die Worte: Unruh und Mangel. Damit tritt ein<br />

weiterer Aspekt zutage. Die Empfindung <strong>von</strong> Unruh und Mangel<br />

ist ja in besonderer Weise charakteristisch für das schwierige<br />

Leben des Dichters in dürftiger, götterloser Zeit; für den Zustand,<br />

den Hölderlins Dichtung viele Male darstellt als bezeichnend für<br />

eine persönliche Situation. Denken wh: an das Elend Hyperions<br />

oder die Not des Empedokles, an das Schicksal des »armen Sehers«<br />

Rousseau oder an das der in dürftiger Zeitnacht trauernden<br />

Dichter in BROD UND WEIN - alle Schichten des Werks enthalten Klag<br />

n über jenes eigentlich Hölderlinsche Leiden am Zeitalter.<br />

Dabei müssen wir uns stets vergegenwärtigen, worin ganz<br />

konkret der Mangel, die Dürftigkeit und Gottferne der Zeit beteht.<br />

Gemeint ist damit der den Dichter als Realität umgebende<br />

Menschheitszustand. In den heute Lebenden erscheint das Gött­<br />

Ii he <strong>nicht</strong> mehr so, wie es in begnadeteren Zeiten - besonders der<br />

Antike - der Fall war. Dem Manne ist <strong>nicht</strong> der Stempel der Gotthitaufgedrückt,<br />

wie es in BROD UND WEIN heißt. Zwar sieht der<br />

ichter schon einen Umschwung voraus, aber die Wiederkunft ein<br />

r anderen, <strong>von</strong> der Gottheit gezeichneten Menschheit steht erst<br />

. vor. Noch sind sie <strong>nicht</strong> da, die Hölderlin in der Spätdichtung<br />

I die »Künftigen«, die »Neuen«, die »Verheißenen« bezeichnet,<br />

I die »Göttlichgeborenen«, die »Göttermenschen«, die »heilige<br />

haar«. Solange aber diese Ankunft sich noch <strong>nicht</strong> vollzogen hat,<br />

I nur als bevorstehend geahnt wird, empfindet der Dichter den<br />

harakteristischen Zustand des Mangels. Ihm fehlt die adäquate<br />

m nschliche Umwelt. Womit er es de facto zu tun hat, ist die morne<br />

Welt derer, die er die »Rastlosen«, »Unsteten« nennt, die<br />

)) Wi lden«, »Irrenden«, »Götterlosen«. Wie Hölderlin mit solchen<br />

W ndungen immer wieder die Menschen der neueren Zeit be-<br />

7. i hnet, das erklärt es, wenn zur Empfindung des Mangels die<br />

gl i hfalls typische der »Unruh« tritt, <strong>von</strong> der im Prosaentwurf der<br />

Iymn gesprochen wird, sowie auch der dort beklagte Verlust des<br />

Fr! d ns, des freibescheidenen Genügens.<br />

123


Wir dürfen nun dies nie außer acht lassen: jene tragische Einsamkeit<br />

des nach adäquater Umwelt dürstenden Hölderlin mit ihren<br />

Kennzeichen Mangel und Unruh, Friedensverlust, sie bildet<br />

bei dem Dichter die unbedingte Lebenskonstante. Bis in späteste<br />

Zeit bleibt für den Menschen wie auch für den Dichter und Priester<br />

Hölderlin diese Lebenskonstante eine Realität. Es ist aber zu<br />

wenig beachtet worden: <strong>von</strong> ebendieser tragischen Lebenskonstante<br />

her wirken zweierlei entgegengesetzte Impulse, durchaus <strong>nicht</strong><br />

nur negative, sondern auch positive. Die nega tiven Impulse wirken<br />

in gefährlicher Weise hemmend. Aus Mangel und Unruh resultiert<br />

die Fülle menschlicher Leiden, die dann sogar das Schaffen<br />

ernstlich bedrohen können. Die <strong>von</strong> der tragischen Einsamkeit<br />

herrührenden pos i t i v e n Impulse beflügeln den Dichter. Der<br />

Dichter Hölderlin wird gerade durch das Erlebnis des Mangels in<br />

dürftiger Zeit auch aktiviert, es führt ihn <strong>nicht</strong> zuletzt dies zu seinen<br />

beglückenden Empfindungen der Gottnähe, zu den Visionen<br />

des Kommenden, der Wiederkunft <strong>von</strong> »Göttermenschen« und<br />

damit der »Einkehr der Götter« selbst. Beides aber findet Ausdruck<br />

in seinem Werk: das Leid des Menschen mit der Gefahr des dichterischen<br />

Verstummens, das Glück des Priesters und Sehers mit<br />

der Freude schöpferischer Inspiration. Wenn, wie es in BROD UND<br />

WEIN heißt, frohlockender Wahnsinn »in heiliger Nacht [. .. ] die<br />

Sänger ergreift« (v. 48), so ist auf diesen Zusammenhang hingedeutet.<br />

Gerade die Menschheitsnacht, Mangel und Unruh dieser<br />

Nacht, inspirieren den Sänger zu freudigem Ahnen und Verkünden<br />

des »kommenden Gottes«. Das Werden wird im Vergehen gespürt.<br />

Im Prosa entwurf zur Hymne WIE WENN AM FEIERTAGE, der uns<br />

jetzt beschäftigt, ist nun der ZusaI?menhang zwischen priesterlicher<br />

Aufgabe und der tragischen Lebenskonstante Gegenstand der<br />

Gewissenserforschung, des Verantwortlichkeitsgefühls. Wenn<br />

Mangel und Unruh, Erlebnis der Zeitnot Hölderlin weitgehende,<br />

so nur ihm gewährte Annäherungen an den Bereich des Transzendenten<br />

vermitteln, so besteht die Gefahr, dass in dieser Ausnahmeposition<br />

das Maß des Schauens und Verkündens überschritten<br />

wird. Dann droht mit dem Geheimnisverrat das Tantalos-Schick-<br />

124<br />

sal. Damit erklärt sich der Sinn des Satzes: »Weh mir! Aber wenn<br />

<strong>von</strong> selbgeschlagenerWunde das Herz mir blutet, und tiefverloren<br />

der Frieden ist, u. freibescheidenes Genügen, Und die Unruh,<br />

und der Mangel mich treibt zum Überflusse des Göttertisches« -<br />

woran sich dann anschließt - alles hypothetisch - der Gedanke<br />

vom unerlaubten Schauen der Himmlischen und vom gefürchteten<br />

Abgleiten in falsches Priestertum.<br />

Zu Mißverständnissen hat hier der Passus geführt: »wenn <strong>von</strong><br />

selbgeschlagener Wunde das Herz mir blutet«. Man sah darin -<br />

was zunächst naheliegt - das Be<strong>kennt</strong>nis einer realen Versündigung:<br />

Hölderlin betrachte es als Vergehen, dass eigener Mangel,<br />

Ungenügen des Menschen ihn zum Überflusse des Göttertisches<br />

treiben 14 • Verkannt ist dabei: Mangel, Unruh, Friedensverlust, all<br />

das, was zur Lebenskonstante des Dichters gehört, erleidet Hölderlin<br />

<strong>nicht</strong> als privates Schicksal, sondern als überpersönliches<br />

Verhängnis. Die Not der Zeit, die solches Leiden hervorruft, hat<br />

er <strong>nicht</strong> geschaffen, sondern die göttliche Natur. Folglich kann<br />

weder dieses Leiden Gegenstand der Selbstbezichtigung, eines<br />

Sündenbe<strong>kennt</strong>nisses sein, noch die Fügung, dass gerade Mangel<br />

und Unruh ihm speziell die Erfahrung des Transzendenten vermitteln.<br />

Wohl aber fühlt Hölderlins Gewissenhaftigkeit sich verantwortlich<br />

gegenüber einem Zuviel an Gotteserfahrung. Immer<br />

besteht die Möglichkeit der Maßüberschreitung, auch und gerade<br />

dann, wenn die aus, dem Mangelerlebnis resultierenden positiven<br />

Impulse den Dichter mehr beglücken als erlaubt, ihn mehr<br />

<strong>von</strong> göttlichen Geheimnissen schauen und sagen lassen, als dem<br />

Sterblichen gestattet ist. Träte diese Maßüberschreitung ein, so hätte<br />

der Dichter sich selbst die Wunde geschlagen, an der sein Herz<br />

blutet. Dann würde er zum geheimnisverratenden Tantalos, zum<br />

falschen Priester. Der Gedanke der Selbstverwundung, er ist auf<br />

diesen Gesamtzusammenhang zu beziehen, wobei aber zu beachten<br />

bleibt, dass auch dieser Gedanke nur als bedrohliche Möglichkeit<br />

gegenübergestellt ist dem positiven Bild, das sich im Text un-<br />

14 Vgl. Szondi (1967) S. 50.<br />

125


handschriftlichen Entwurf eher als die zweite in der Reihenfolge,<br />

sie ist auf jeden Fall später entstanden. Wenn Hölderlin schließlich<br />

bei der Zusammenfügung der Skizzen zu einem Gedicht die<br />

Winterstrophe an den zweiten Platz stellte, so geschah das <strong>nicht</strong><br />

zuletzt auch deshalb, weil er durch den Titel HÄLFTE DES LEBENS den<br />

Versen eine Möglichkeit exoterischen Verständnisses sichern wollte<br />

bei einem Publikum, das den esoterischen Sinn doch <strong>nicht</strong> hätte<br />

erfassen können.<br />

Durchweg finden wir in den besprochenen Partien des' Ausgangs<br />

der Hymne diese Situation - und damit kommen wir auf<br />

das Wesentliche -: es stehen sich Gegenbilder kontrastierend und<br />

bedeutungsvoll gegenüber: Winter und Sommer, Mangel und Fülle,<br />

Götternähe und Götterferne, festes und blutendes Herz des<br />

Priesters. Es hebt aber <strong>nicht</strong> ein Bild das andere auf, das negative<br />

etwa das positive. Sondern im Nebeneinander der Bilder selbst<br />

liegt der Sinn, ist die Klärung und Lösung gegeben. Extreme Möglichkeiten,<br />

resultierend aus den bei den konträren Lebensimpulsen,<br />

werden erwogen - damit aber zugleich der rechte Weg. Der rechte<br />

Weg besteht im Vermeiden möglichen Übermaßes. Er ist ein<br />

Drittes, das sich als Synthese aus These und Antithese der Gegenbilder<br />

ergibt. Die Synthese bleibt unausgesprochen, sie deutet sich<br />

nur an. Gerade das beweist gereiftes Wissen um das Wesen des<br />

Dichterischen.<br />

Der echte Dichter stellt Gebilde hin, Symbole, Gleichnisse. Solche<br />

Gebilde liebt er zu konfrontieren, damit sie sich - wie Goethe sagt­<br />

"gleichsam ineinander abspiegeln" und so "den geheimeren Sinn<br />

dem Aufmerkenden offenbaren"17. Ein Gedicht ist aber kein wissenschaftlicher<br />

Aufsatz, der Gedanken in streng logischer Folge<br />

abhandelt und zur Konklusion führt. Dies besonders wird in unserer<br />

<strong>von</strong> mathematisch-philosophischem Denken beherrschten<br />

Zeit allzuleicht verkannt. Somit gibt also auch die Reihenfolge, in<br />

der die sich abspiegelnden Gebilde des Dichters auftreten, keine<br />

17 Goethe an earl Jakob Ludwig Iken 27. Sept. 1827 (WA IV 43,83)<br />

128<br />

schlüssigen Anhalte für die Deutung. Späteres hebt <strong>nicht</strong> notwendig<br />

das Vorhergegangene auf. Eins wie das andere hält Erfahrenes,<br />

Durchlittenes als Spracherlebnis fest. Wenn in der Hymne WIE<br />

WENN AM FEIERTAGE und in HÄLFTE DES LEBENS die dunkleren Bilder<br />

den helleren nachgestellt sind, so liegt darin <strong>nicht</strong> eine Negation<br />

der helleren. In anderen Gesängen findet sich die nämliche Thematik<br />

auch in umgekehrter Reihenfolge. Wirklich sprechen ja noch<br />

viele Gedichte in Hölderlins Spätwerk <strong>von</strong> der Gefahr des Erstarrens,<br />

des dichterischen Verstummens. Das geschieht jedoch zumeist<br />

so, dass das positive Gegenbild: Neuerwachen des götterbeschwörenden<br />

Lieds, daneben erscheint; wobei dieses in vielen<br />

Fällen auch durch Aufbau und Reihenfolge der Bilder als das bevorzugte<br />

gekennzeichnet ist. So enden positiv Gedichte wie<br />

ROUSSEAU, DIE LIEBE, ERMUNTERUNG, eHIRON, GERMANIEN usw. Die Reihenfolge<br />

<strong>von</strong> positiv und negativ ist also wechselnd. Das bestätigt<br />

aufs neue: es gibt bei Hölderlin, wenn er über sein Seher- und<br />

Priestertum spricht, keine Aufhebung der positiven Sicht, nirgends<br />

und niemals. Auch im Tod des Empedokles vermag alles Negative,<br />

jede Beschuldigung, jeder Selbstvorwurf dem Helden letztlich<br />

seine Hoheit und Integrität <strong>nicht</strong> zu nehmen. Mit ganz anderem<br />

haben wir es zu tun: mit steter gewissenhafter Selbstprüfung,<br />

mit der Suche nach dem rechten Weg, der die Klippen des Übermaßes<br />

vermeiden läßt.<br />

Wir könnten das auch anders definieren: der Dichter, nie wird er<br />

müde, sich der Gefahren des Priestertums, seines Mittleramts bewußt<br />

zu bleiben. Besonders eindringlich zeigt sich das in der Hymne<br />

WIE WENN AM FEIERTAGE, wo ja die vier letzten Strophen mit<br />

ihren Anspielungen auf den Semele- und Tantalos-Mythos <strong>von</strong><br />

<strong>nicht</strong>s anderem handeln als <strong>von</strong> der Gefährlichkeit des Mittleramts.<br />

Hier wird auch im Zusammenhang mit dem Mythos <strong>von</strong><br />

der blitzgetroffenen Semeie das Wort Gefahr selbst prägnant ausgesprochen.<br />

Das himmlische Feuer trinken die Erdensöhne nur<br />

d shalb »ohne Gefahr«, weil es der Dichter ihnen im Lied darr<br />

icht. Dem Dichter andererseits - wir sprachen da<strong>von</strong> - droht<br />

ur h das 'Fassen' des göttlichen 'Strahls' Verderben, sofern sein<br />

129


Lied <strong>nicht</strong> die himmlische Gabe in der gebotenen Weise einhüllen<br />

und mildern würde.<br />

Auf die Notwendigkeit, einzuhüllen, zu verschweigen, vom Göttlichen<br />

<strong>nicht</strong> zuviel schauen und mitteilen zu wollen, auf diese<br />

Notwendigkeit kommt Hölderlin immer wieder zurück. Seine gesamte<br />

Spätdichtung steht im Zeichen des Verhüllens, Bewahrens.<br />

Nicht zuletzt das macht diese Dichtung so dunkel. Eine der großartigen<br />

Hindeutungen auf dies Schweigegebot stellt die PATMOS­<br />

Hymne in ihrer Gesamtheit dar. Schon die Exposition lenkt auf das<br />

Hauptthema hin, indem sie bezeichnenderweise mit den nämlichen<br />

Worten wie die Hymne WIE WENN AM FEIERTAGE wieder <strong>von</strong> der<br />

Gefahr spricht, die mit dem schwierigen Fassen verbunden ist,<br />

dem Fassen der vom Dichter als übernah empfundenen Gottheit.<br />

Zugleich wird das Gegenbild aufgezeigt: es gibt aus dieser Gefahr<br />

eine mögliche Rettung. Dies ist der Sinn der Verse:<br />

Nah ist<br />

Und schwer zu fassen der Gott.<br />

Wo aber Gefahr ist, wächst<br />

Das Rettende auch.<br />

Den Dichter führt nun seine Imagination über Zeiten und Länder<br />

hinweg in noch immer größere Nähe zum Göttlichen, hier zu dem<br />

in antiker Sphäre gesehenen Christus. Kurz vor dem Höhepunkt<br />

des Gedichts, am Ende der vierten Trias, kommt es dann wieder<br />

zu einer eindrucksvollen Selbstwarnung, einer Mahnung an die<br />

Problematik des Priestertums. Hölderlin spricht aus: er hätte den<br />

»Reichtum, / Ein Bild zu bilden, und ähnlich / Zu schaun, wie<br />

er gewesen, den Christ«. Aber gerade das ist <strong>nicht</strong> erlaubt, es wäre<br />

nefas, gottverhaßter Frevel. Die Unsterblichen wollen <strong>nicht</strong> unmittelbar<br />

'geschaut' und im zuviel verratenden Bild 'nachgeahmt'<br />

werden, schon gar <strong>nicht</strong> heut und jetzt. Noch ist es <strong>nicht</strong> so weit,<br />

dass »Starke«18, göttlichgeborene Menschen kommen, die <strong>von</strong> den<br />

18 Vers 181. VgJ. BROD UND W EIN v. 135, dazu Friedrich Beißner StA 11 619 Z. 10 f.<br />

130<br />

Himmlischen mehr wissen und sagen dürfen, denen Christus<br />

gleich dem Sonnengott gelten wird. Für den jetzigen Dichter aber,<br />

der noch vor dieser Wende lebt, lautet das Gebot: schweigen, einer<br />

unvorbereiteten Menschheit <strong>nicht</strong>s mitteilen, was sie <strong>nicht</strong> aufnehmen<br />

kann. In diesem Sinn heißt es da, wo die PATMos-Hymne<br />

ihren Höhepunkt erreicht: »und hier ist der Stab / Des Gesanges,<br />

niederwinkend, / Denn <strong>nicht</strong>s ist gemein«. »Nichts ist gemein«,<br />

anspielend auf das Paulinische ouötv XOlVOV bedeutet: der Allgemeinheit<br />

ist heute vom wahren Wesen der Götter <strong>nicht</strong> alles mitteilbar,<br />

darum muß der Gesang es verhüllen.<br />

Die letzte Trias der Hymne läuft nun aus in ein breites Lob des<br />

schonenden Bewahrens. Die Himmlischen fordern vom Dichter<br />

»Ehre« und »Opfer«, priesterlichen Dienst; sie müssen ihm aber,<br />

unsicher wie er ist, »fast die Finger führen«. So wird er sein Mitteilen<br />

maßvoll beschränken auf das Erlaubte, Gesicherte, auf den<br />

»festen Buchstab«, auf das, was die Griechen den f3tf3moc;; A6yoC;;<br />

nennen. In solchem MaßhaIten besteht nämlich das »Rettende«,<br />

das den Dichter schützt vor der mit dem 'Fassen' der Gottheit verbundenen<br />

»Gefahr«.<br />

In ihrem Aufbau zeigt die PATMos-Hymne beispielhaft, dass auch,<br />

wenn Hölderlins Spätdichtung das Thema vom Geheimnisbewahren<br />

wiederaufgreift, durchaus <strong>nicht</strong> notwendig wie in der Hymne<br />

WIE WENN AM FEIERTAGE am Ende warnend der düstere Ausblick<br />

auf die Gefahr des Tantalos-Schicksals, des falschen Priestertums<br />

stehen muß. Das Gedicht endet positiv, die Warnungen sind vorher<br />

ausgesprochen. Wir sehen also auch hier wieder einen Wechsel<br />

der Reihenfolge, wie er uns bei den Gesängen begegnete, die<br />

das Thema vom dohenden Verstummen variieren.<br />

Mit dem Beispiel <strong>von</strong> PATMOS sind wir in recht später Zeit. Zum<br />

Abschluß, gleichsam als Epilog, sei noch eine Hölderlinische Nied<br />

rschrift zur Sprache gebracht, die zeigt, dass der Dichter sich<br />

bis in allerspäteste Zeit mit der Problematik seines Priestertums<br />

ilu seina ndersetzte. Im Homburger Folioheft findet sich, mitten<br />

unt r G dichtfragmenten, die kurz vor der Umnachtung entstan-<br />

131


den sein mögen, eine seltsame Aufzeichnung. Sie wird in der Stuttgarter<br />

Ausgabe als Bruchstück Nr. 68 bezeichnet und hat folgenden<br />

Wortlaut:<br />

Das soll er alles<br />

Hinausführen<br />

Außer den Langen<br />

An eine reine Stätte<br />

Da man die Asche<br />

Hinschüttet, und solls<br />

Verbrennen auf dem Holz mit Feuer.<br />

Diese sieben Zeilen würde man, wie sie hier und ähnlich in der<br />

Hellingrathschen Ausgabe abgedruckt sind, als etwas schwierigen<br />

Entwurf einer Gedichtstrophe ansehen, vergleichbar anderen dichterischen<br />

Fragmenten auf derselben Handschriftseite. In Wahrheit<br />

aber stellen die Zeilen ein <strong>Bibel</strong>zitat dar. Hölderlin schrieb sich<br />

aus dem PENTATEUCH, und zwar aus dem 3. Buch Mosis, Kapitel 4,<br />

den 12. Vers heraus, der so lautet: "Das soll er alles hinaus führen<br />

außer dem Lager, an eine reine Stätte, da man die Asche hinschüttet<br />

und soll's verbrennen auf dem Holz mit Feuer." Hiernach wäre<br />

zunächst der Wortlaut in der Stuttgarter Ausgabe zu berichtigen,<br />

wobei aber bemerkt sei, dass dort die Entzifferung genaustens die<br />

Schriftzüge Hölderlins wiedergibt. Erst der Vergleich mit der Vorlage,<br />

dem <strong>Bibel</strong>text, läßt aus gewissen Flüchtigkeiten der Handschrift<br />

das Gemeinte erkennen.<br />

Das Wissen um die Quelle vermittelt uns indessen noch Wichtigeres.<br />

Es läßt uns einigermaßen verstehen, in welchen gedanklichen<br />

Zusammenhang die Hölderlinsche Niederschrift gehört.<br />

Schon dass der Dichter sich gerade mit dem dritten Buch des PEN­<br />

TATEUCH beschäftigte, ist aufschlußreich genug. Denn dieses Buch,<br />

der sogenannte Leviticus, handelt ja in seiner Gesamtheit vom<br />

Priestertum. Es enthält <strong>nicht</strong>s anderes als Gesetze, Verordnungen,<br />

Bußvorschriften für jüdische Priester. Das vierte Kapitel aber, aus<br />

dem Hölderlin zitiert, handelt vom Priester in sehr spezieller Weise,<br />

nämlich da<strong>von</strong>, wie ein Priester, der gesündigt hat, <strong>von</strong> seiner<br />

Sünde gereinigt werden könne. Wir sehen: das steht thematisch<br />

132<br />

nahe all jenen Partien in Hölderlins Dichtung, die <strong>von</strong> möglichen<br />

Verfehlungen des Priesters sprechen.<br />

Aus dem Textzusammenhang ergibt sich nun für den <strong>von</strong> Hölderlin<br />

abgeschriebenen Vers jenes Kapitels folgender Sinn: es ist di<br />

Rede <strong>von</strong> dem "Sündopfer", das der Priester zu seiner Reinigung<br />

vollbringen muß. Das Sündopfer aber besteht in der Verbrennun<br />

eines Farrens, eines jungen Stiers. Dabei gilt für diese Verbrennun<br />

des Farrens u. a. die Vorschrift, die Hölderlin exzerpiert: Hinau -<br />

führen aus dem Lager an eine reine Stätte, Verbrennung auf inem<br />

Holzfeuer usw.<br />

Im einzelnen würde es immer noch schwierig sein, zu sagen, W 1che<br />

Gedanken Hölderlin bei der Abschrift jener Stelle bewegt n.<br />

Allgemein aber ist zu erkennen: das Problem der möglichen Y, rfehlung<br />

des Priesters, des Sichbewahrens davor und der Reinigung,<br />

es beschäftigt den Dichter noch jetzt, noch in spätester Z It.<br />

Offenbar hat das stets rege Verantwortlichkeitsgefühl Hölderlin<br />

diese Bedenken nie schwinden lassen: womöglich auf dem schmc -<br />

len Pfade des dichterischen Priestertums Schritte zu tun, die zum<br />

nefas, zur Verschuldung führen könnten.<br />

Von den beiden Möglichkeiten der Verfehlung: zuviel oder zuwenig<br />

sagen, hat die erste den Dichter am meisten beschäftigt.<br />

Dies vor allem gab seinem Spätwerk das eigentliche Gepräge. B -<br />

trachtet man Hölderlins Dichtung mit einiger Objektivität, so wird<br />

man zugeben müssen: allzuviel Aufhebens ist gemacht word n<br />

<strong>von</strong> ihrem positiven Gehalt an religiöser Aussage. Jenes Künd n,<br />

agen, Nennen des Göttlichen, jenes Offenbaren, Stiften des 5 in<br />

usw., wie begrenzt ist es letztlich in seinem Ausmaß! Wie sehr wird<br />

s eingeschränkt durch Tendenzen ganz entgegengesetzter Art -<br />

durch die überall vorherrschende Neigung zum Verhüllen, B w hr<br />

n, Schweigen! Das gewichtige Diktum Stefan Georg s: »K in r<br />

d r wahre weisheit sah verriet«19, es gilt für Hölderlin wi für j -<br />

!9 t (an orge, DER SrnRN DES ßUNDr:sS. l03.<br />

1


den der großen religiösen Dichter. Und so liegt <strong>nicht</strong> im Aussprechen,<br />

sondern im Bewahren des Geheimnisses das Eigentliche <strong>von</strong><br />

Hölderlins Werk. Mit der Ehrfurcht gegenüber dem Nichtauszusprechenden<br />

wahrt Hölderlin zugleich die Integrität, die Echtheit<br />

seines Priestertums. Eingangs führte ich Friedrich Gundolfs Wort<br />

an: das Spätwerk dieses Dichters sei das Ertönen beständigen Verkehrs<br />

mit den Göttern. Diese Definition mag gelten. Zum Abschluß<br />

sei aber noch der schöne Satz angefügt, mit dem Gundolf seine<br />

Charakteristik weise ergänzt: Hölderlins Hymnen "sind nur die<br />

dichterische Stimme eines dichterischen Schweigens".<br />

134<br />

Dionysos in der Dichtung Hölderlins<br />

mit besonderer Berücksichtigung der FRIEDENSFEIER<br />

I.<br />

In der Dichtung Hölderlins spielt Dionysos eine außerordentliche<br />

Rolle. Von den Göttern des Altertums, zu denen Hölderlin in einem<br />

innigeren Verhältnis stand als irgend ein Dichter neuerer Zeit,<br />

ist Dionysos derjenige Gott, den er weitaus am meisten besungen<br />

hat. Dennoch fehlt bis heute in der Hölderlinliteratur eine umfassende<br />

Untersuchung über das Verhältnis des Dichters zu dieser<br />

Gottheit. Die folgenden Betrachtungen wollen <strong>nicht</strong> den Anspruch<br />

erheben, diesen Mangel zu ersetzen. Sie haben ein begrenzteres<br />

Ziel. Ich möchte lediglich einige der wichtigsten Züge in Erinnerung<br />

bringen, die an Hölderlins Dionysosbild zutage treten, um<br />

mich dann einem Gedicht zuzuwenden, in dem, wie mir scheint,<br />

Dionysos gleichfalls eine entscheidende Rolle spielt, ohne dass man<br />

dies jedoch bisher erkannt hat. Was ich also recht summarisch zunächst<br />

über Hölderlins Verhältnis zu Dionysos überhaupt vorzubringen<br />

gedenke, soll im wesentlichen dienen als Grundlage zur<br />

Interpretation jenes Gedichts.<br />

Wenn Hölderlin <strong>von</strong> Göttern sprach, so stellte er sich in bewußten<br />

Gegensatz zu Gepflogenheiten seiner Zeit. Er sprach <strong>von</strong> den<br />

Göttern nur mit heiligstem Ernst, er rief eine Gottheit nur an, wenn<br />

ihn inneres Erleben in ihren eigensten Wirkungsbereich geführt<br />

hatte. Den Dichtern seiner Zeit dagegen warf er vor, sie trieben mit<br />

ihren freigebigen, aber unverpflichteten Bezugnahmen auf die antiken<br />

Götter nur ein frevles, ein, wie er sagte, »scheinheiliges« Spiel. 1<br />

Eine zutiefst in seinem Wesen begründete Gewissenhaftigkeit bestimmte<br />

Hölderlin auch auf diesem Gebiet. Es ist jene Gewissen-<br />

Vgl. DIE SCHEINHEILIGEN DICHTER; DICHTER BERUF v. 39.<br />

135


haftigkeit, die uns noch in seinen Briefen, seinen philosophischen<br />

Schriften mit ihren oft quälend skrupelhaften Wendungen entgegentritt.<br />

Wirklich sprach Hölderlin <strong>von</strong> und mit den Göttern erstmals<br />

wieder nach der Antike mit einer ähnlichen inneren Anteilnahme<br />

wie die Antike. Was bei andern Spiel gewesen, bei ihm<br />

wurde es feierlicher Ernst.<br />

Es konnte nun sehr leicht geschehen, dass Hölderlin sich in den<br />

Wirkungsbereich einer Gottheit versetzt sah. Er lebte nach dem<br />

ganz griechischer Frömmigkeit gemäßen Wahlspruch: "Nichts,<br />

auch das kleinste, das alltäglichste <strong>nicht</strong> ohne den Geist und die<br />

Götter!" Dieser Satz - er steht im HYPERION 2 - erklärt es, dass für<br />

Hölderlin unzählige Momente und Situationen eintraten, in denen<br />

er sich den Göttern zu huldigen gedrängt sah. Besonders erweckt<br />

fast jedes Erlebnis, das irgendwie den Charakter einer Feier<br />

hat, in ihm das Bedürfnis, eine Gottheit anzurufen, die der Feier<br />

rechte Heiligung und Weihe gibt.<br />

Die allernächstliegende Situation, in der ihm Dionysos zu dem<br />

Gott wird, den es zu feiern, dem es zu opfern gilt, ist natürlicherweise<br />

das Symposion. In diesem Fall ist Dionysos ganz einfach der<br />

Gott der Freude und des Weins. Er ist zugegen und er wird geehrt,<br />

wenn Freunde in festlicher Stunde zusammenkommen und den<br />

Becher leeren. Besonders in dieser Situation hat ihn auch das Altertum<br />

gefeiert - die antike Dichtung bietet zahllose Beispiele für<br />

solche Ehrungen des Dionysos.<br />

Wir kennen eine ganze Anzahl <strong>von</strong> Gedichten Hölderlins, die<br />

derartige Freundschaftsfeiern besingen. Aus ihnen ist zu ersehen,<br />

wie er es liebte, diese Feiern mit reichem Zeremoniell auszustatten.<br />

Eine »Halle« wird dann festlich geschmückt, die Tische werden<br />

»mit Rosen bestreut«3, Weihrauch »dampft am Fenster«, Musik<br />

erklingt, Chöre verschönern das Fest - so zu lesen beispielsweise<br />

in dem Jugendgedicht AM T ACE DER FREUNDSCHAFTSFEIER.<br />

2 StA III 111.<br />

3 Die Rose war bei den Griechen dem Dionysos ebenso heilig wie der Aphrodite.<br />

136<br />

Aus den Berichten über die Aldermannstage der Tübinger Zeit<br />

erfahren wir, welchen Wert der Dichter auf die Einhaltung feierlicher<br />

Handlungen, eines der Antike abgesehenen Rituals bei solchen<br />

Symposien legte. Er drang vor Absingung einer Götterhymne<br />

auf entsühnende Waschung am Kastalischen Quell, er rief mit<br />

Worten des Schillerschen Lieds AN DIE FREUDE den Agathos Daimon,<br />

den Guten Geist an. Wer der Agathos Daimon war, den die Griechen<br />

zu Beginn des Symposions anzurufen pflegten, darüber gibt<br />

es verschiedene Auslegungen. Eine Auffa.ssung geht dahin, dass er<br />

identisch sei mit Dionysos. Hier<strong>von</strong> berichtet Athenaios. 4<br />

Charakteristisch für viele Gedichte, in denen Hölderlin die Symposion-Situation<br />

besingt, ist es, dass er den Namen des gefeierten<br />

Gottes <strong>nicht</strong> gern nennt. Dies hängt überhaupt mit seiner Scheu<br />

zusammen, in die Bahnen der Konvention zu geraten und die Götternamen<br />

phrasenhaft zu gebrauchen. Gerade für Trinklieder, für<br />

Verherrlichungen der Symposion-Situation machte die damalige<br />

Poesie ausgiebig Gebrauch <strong>von</strong> Zitationen des Dionysos, des Bacchus,<br />

wie es gewöhnlich hieß. Die Tage der Anakreontik lagen ja<br />

<strong>nicht</strong> weit zurück. Hölderlin sucht in solchen Fällen oft andere<br />

Wege, den Gott zu feiern. Er erinnert an ihn etwa durch andeutend<br />

umschreibende Wendungen wie: »heilige Rebe«, »heiliger Trank«,<br />

»heiliges Laub«, »bacchantisches Laub«, »heiliger Wein«, »Göttertrank«,<br />

»des Gottes freundliche Gaben«. Die gern gebrauchte Wendung<br />

»heilige Rebe« stammt natürlich <strong>von</strong> Horaz. »Nullam, Vare,<br />

sacra vi te prius« - so beginnt eins der großen Bacchus-Gedichte in<br />

den Oden des Horaz. Bevorzugtes Mittel der Beschwörung des<br />

Dionysos ist aber für Hölderlin stets die charakteristische Schilderung<br />

des Zeremoniells beim Symposion. Besonders eben die festliche<br />

Ausschmückung des Raumes wird in so feierlich religiösen<br />

Tönen besungen, dass die Gegenwart und Ehrung des Weingotts<br />

allein dadurch zum Faktum wird.<br />

4 Philonides bei Athen. XV 675 b. c. Vgl. Philochoros bei Athen. II 38 d; Diodor BibI.<br />

IV 3, 4. - Dass Hölderlin Athenaios kannte, ist durch seine Übersetzungen bezeugt.<br />

Vgl. StA V 31. 359.<br />

137


Dionysos galt nun im Altertum zugleich als Gott der Dichter,<br />

neben Apollo.5 Wahre Dichtung erwächst nach antiker Auffassung<br />

nur aus Begeisterung, Mania, göttlichem Wahnsinn. Dionysos aber<br />

ist der Gott, der in Begeisterung versetzt, <strong>nicht</strong> nur in die des Weins,<br />

sondern auch in die musische. Diese Eigenschaft des Dionysos ließ<br />

ihn eigentlich zum Lieblingsgott Hölderlins werden.<br />

Als Gott der Dichter wurde Dionysos im Altertum besonders<br />

eindrucksvoll <strong>von</strong> Horaz gefeiert. Seine Oden enthalten hierüber<br />

berühmte Zeugnisse,6 aber auch die Episteln, wo der Dichter ausdrücklich<br />

als »cliens Bacchi« gekennzeichnet wird. 7 Es ist daher<br />

gewiß kein Zufall, dass in einer Handschrift, auf der Hölderlin<br />

Übersetzungsversuche zu Horazischen Oden niedergeschrieben<br />

hatte, zugleich der Entwurf zu seinem ersten bedeutenden Dionysos-Gedicht<br />

zu lesen ist. Die kurze Ode AN UNSRE GROSSEN DICHTER<br />

<strong>von</strong> 1797/98, um die es sich hier handelts, besingt Bacchus wirklich<br />

als den Gott der Dichter:<br />

5 Bei den Griechen wurden Dionysos und Apollo oft nebeneinander verehrt. Beide<br />

Götter hatten vielfach gemeinsame Heiligtümer. In Athen war die Verbindung zu<br />

Dionysos durch Tragödie und Komödie gegeben. Hier hatte auch Dionysos<br />

Melpomenos als Gott der Schauspielvereine ein Heiligtum: Pausanias I 2, 5; 31, 6.<br />

Dionysos als Führer der Musen: Sophokles Antigone 965. Diodor IV 5, 4 (Begründer<br />

des Theaters etc.). Der Beiname Musagetes für Dionysos ist vielfach<br />

inschriftlich bezeugt. Die römische Dichtung nennt oft Apollo und Bacchus nebeneinander<br />

als Götter der Dichtung: TIbull (Lygdamis) III 4, 44. Properz III 2, 7. Ovid<br />

am. l. 3, 11 und öfter.<br />

6 Horaz carm. II 19. III 25. IV 8.<br />

7 Horaz epist. II 2, 78. VgJ. auch epist. I 19,4. Besonders Ovid trist. V 3 über die als<br />

Kultgemeinschaft des Liber gegründete sodalitas poetarum, der auch Horaz angehörte.<br />

VgJ. Ovid am. III 15, 17. Als cJiens Bacchi trägt der römische Dichter Kränze<br />

<strong>von</strong> Efeu oder Weinlaub (statt <strong>von</strong> Lorbeer): vgJ. Vergil ecJ. 7, 25. 8, 13. Horaz<br />

carm. I 1,29. III 25, 20. Properz II 5, 26. IV 1, 62. Ovid trist. I 7, 2.<br />

8 StA I 261. 575. 559. Das Gedicht gehört zu einer Gruppe <strong>von</strong> epigrammatischen<br />

Oden, die doch wohl das formale Kennzeichen der Kürze jenem Rat verdanken,<br />

den Goethe am 22. Aug. 1797 gelegentlich eines Zusammentreffens mit Hölderlin<br />

in Frankfurt erteilte; "kleine Gedichte zu machen". (Goethe an Schiller 23. Aug.<br />

1797.) Am 30. Juni 1798 wurde das Druckmanuskript an Schiller gesandt.<br />

138<br />

Des Ganges Ufer hörten des Freudengotts<br />

Triumph, als allerobernd vom Indus her<br />

Der junge Bacchus kam, mit heilgern<br />

Weine vom Schlafe die Völker wekend.<br />

o wekt, ihr Dichter! wekt sie vom Schlummer auch,<br />

Die jetzt noch schlafen, gebt die Geseze, gebt<br />

Uns Leben, siegt, Heroen! ihr nur<br />

Habt der Eroberung Recht, wie Bacchus.<br />

Das Gedicht enthält, so kurz wie es ist, im Grunde nahezu alle<br />

Elemente, die <strong>von</strong> jetzt ab in Hölderlins Dichtung das Bild des Dionysos<br />

bestimmen. Dabei wird zunächst die antike, horazische Vorstellung<br />

<strong>von</strong> Bacchus als dem Gott der Dichter bedeutsam erweitert:<br />

der Dichter selbst soll - so will es Hölderlin - »wie Bacchus«<br />

werden; er soll Eroberer und Gesetzgeber, der Erwecker einer<br />

schlummernden Menschheit sein. Die kühne Identifikation des<br />

Dichters mit Dionysos bleibt fernerhin kennzeichnend für Hölderlins<br />

Stellung zu dem Gott.<br />

Bedeutsam ist an dem Gedicht aber vor allem die Bezugnahme<br />

auf den Indienzug des Dionysos. Hölderlin las hier<strong>von</strong> genug bei<br />

Horaz, Ovid 9 , Diodor, doch mag er auch Nonnos gekannt haben.<br />

Es ist natürlich stets in Betracht zu ziehen, dass Hölderlin im Schrifttum<br />

der Antike außerordentlich gut belesen war. Diodors Historische<br />

Bibliothek, eine der wichtigsten Quellen für unsere Kenntnis<br />

<strong>von</strong> Dionysos, gab sicherlich die Hauptanregung. Wenn Hölderlin<br />

<strong>von</strong> dem »Triumph« des Bacchus spricht, so wird das darauf zurückzuführen<br />

sein, dass Diodor an zwei Stellen hervorhebt: Dionysos<br />

sei der erste gewesen, der einen Triumph gefeiert habe.lO Bei<br />

Diodor werden ferner auch der Grenzfluß Indus und der Ganges<br />

ausführlich beschrieben. 11 Endlich erzählt Diodor wörtlich, Diony-<br />

9 Vgl. Horaz carm. II 19, 17. Der Ganges wird in diesem Zusammenhang erwähnt:<br />

Ovid met. IV 21. am. I 2, 47. trist. V 3, 23 f. VgJ. ferner Ovid met. XV 413. ars a. I<br />

190. ex Ponto IV 8, 61.<br />

10 Diodor III 65, 8. IV 3, l.<br />

11 Diodor 11 35. 37. Auch hier wird zugleich vom Indienzug des Dionysos gesprochen.<br />

139


sos habe in Indien Gesetze und Gerichte eingeführt sowie die Verehrung<br />

der Gottheit gelehrt. 12 Solche Überlieferung spiegelt sich<br />

wider in Hölderlins Gedicht: »Gebt die Gesetze [ ... 1 ihr nur/Habt<br />

der Eroberung Recht, wie Bacchus.«<br />

Der Eroberungszug des Dionysos,13 der den Gott in fernste<br />

Länder führte, wurde für Hölderlin <strong>von</strong> nun ab das bevorzugte<br />

Sinnbild überhaupt für das Wesen entscheidender geistiger Revolutionen.<br />

Wenn eine Weltzeit sich erneuert - und auf eine solche<br />

Erneuerung ist ja Hölderlins ganzes Dichten und Prophezeien gerichtet<br />

-, wenn eine Weltzeit sich erneuert, so geschieht das durch<br />

Wanderung des Geistes und der Götter. Die Wanderung führt dann<br />

in fernes Ausland, oder <strong>von</strong> dort, <strong>von</strong> der Kolonie, in die Heimat<br />

zurück. In vielen Abwandlungen kehrt dies Bild beim späten Hölderlin<br />

wieder. Seinen Ursprung, dies ist für uns wichtig zu wissen,<br />

nimmt es <strong>von</strong> dem Indienzug des Dionysos.<br />

Die große Hymne, entstanden um die Jahrhundertwende, bringt<br />

abermals eine Gleichsetzung des Dichters mit Bacchus. Auch hier<br />

ist dem Dichter die entscheidende Rolle zugedacht in dem Augenblick,<br />

wo eine neue Weltzeit anbricht, wo die Völker aus langem<br />

Schlaf erwachen. Seine Aufgabe ist es dann nämlich, »dem Volk<br />

ins Lied gehüllt die himmlische Gabe zu reichen« (v. 59 f.). Dichtung<br />

ist dann das »himmlische Feuer, das die Erdensöhne ohne<br />

Gefahr trinken«. Und zwar trinken sie es deswegen ohne Schaden<br />

zu nehmen, weil sich der Dichter bereits der Gefahr unterzogen<br />

hat, die mit der Entgegennahme der himmlischen Gabe verbunden<br />

ist. Um das Wesen dieser Gefahr zu verdeutlichen, vergleicht<br />

Hölderlin die dichterische Empfängnis mit der Geburt des Dionysos.<br />

Semeie, die Mutter des Gottes, wurde bei der Geburt des Dionysos<br />

vom Blitz getroffen. Sie, die sterbliche Geliebte des Zeus,<br />

erbat sich <strong>von</strong> diesem auf Anstiften der eifersüchtigen Hera, er möge<br />

ihr in seiner ganzen Hoheit erscheinen. Als Zeus ihr nun in seiner<br />

12 Diodor II 38: Tllläv Tf xmaödl;m TC> =:dov xai vOIlOUC; d


in Hölderlins Dichtung an vielen Stellen zu spüren. Als Beispiel<br />

führe ich nur an: wenn es in der Ode CHIRON heißt: »Ein waiches<br />

Wild« (v. 6), so stammt diese ungewöhnliche Wendung wörtlich<br />

aus den Bakchen. Dort wird Dionysos in einer bestimmten Situation<br />

geschildert als 6 9i)p npäo


Das Ziel, zu dem der Dichter uns einlädt, ist also die Heimat des<br />

Dionysos: Theben, die Geburtsstadt des Gottes, der Kithairon und<br />

der Parnaß18, die Orte, wo er seine Feiern hielt. Die Erwähnung<br />

der Fichten, der Trauben, des Ismenos und Kadmos, alles das steht<br />

im Zusammenhang mit der Welt des Dionysos, wie wir sie auch<br />

aus den Euripideischen BAKcHEN kennen. Im übrigen spielt der Vers:<br />

»Dorther kommt und zurück deutet der kommende Gott« speziell<br />

an auf die Wanderungen des Dionysos. Der Gott geht <strong>von</strong> Theben<br />

aus auf seine weiten Wanderungen und er kehrt - wie in Euripides'<br />

BAKCHEN geschildert wird - nach Theben zurück <strong>von</strong> seinen<br />

Asienzügen, um dort gegen ihm feindliche Mächte seinen Kult<br />

einzusetzen.<br />

In einer späten Variante lautet der Vers übrigens: »Dorther<br />

kommt und da lachet verpflanzet, der Gott«.19 Die Rückkehr nach<br />

Theben ist hier als "Verpflanzung" aufgefaßt. Das Bild der Pflanzstadt,<br />

der aJtoLXtU, der Kolonie steht nahe. Gleichzeitig mit dieser<br />

Variante entwarf Hölderlin eine Änderung der Schlußstrophe des<br />

Gedichts, die in gleichem Sinne <strong>von</strong> Wanderung und Kolonie<br />

spricht. Es ist die merkwürdige Stelle, die ans Licht gezogen zu<br />

haben Friedrich Beißners Verdienst ist:20<br />

nemlich zu Hauß ist der Geist<br />

Nicht im Anfang, <strong>nicht</strong> an der Quell. Ihn zehret die Heimath<br />

Kolonie liebt, und tapfer Vergessen der Geist.<br />

Unsere Blumen erfreun und die Schatten unserer Wälder<br />

Den Verschmachteten. Fast wär der Beseeler verbrandt.<br />

Bei der Interpretation dieser Verse hat man vor allem in Betracht<br />

zu ziehen, dass Hölderlin in der Spätzeit, aus der die Variante<br />

stammt, oftmals »der Geist« sagt, wo er früher <strong>von</strong> »der Gott« gesprochen<br />

hätte.21 Es ergibt sich dann aus dem ganzen inhaltlichen<br />

und handschriftlichen Zusammenhang, dass gemeint ist mit dem<br />

18 Über den Pamaß als Kultort des Dionysos vgl. unten 5.170, Fußnote 147.<br />

19 StA II 599 Z. 5.<br />

20 StA II 608. Vgl. Fr. Beißner Hölderlins Übersetzungen aus dem Griechischen . 1. Aufl.<br />

Stuttgart 1933. 2. Auf!. 1961. S. 147 H.<br />

21 Nicht nur in den Übersetzungen. Vgl. StA II 60 v. 1; 68 v. 19; 527; 551 Z. 13 und 19;<br />

557 Z.18.<br />

144<br />

»Geist, der Kolonie liebt« usw.: der Gott Dionysos. Dies scheint<br />

mir durch folgendes bewiesen zu werden: 22<br />

1. Die Verse wollen eine Variante bringen zu der letzten Strophe<br />

des Gedichts. Wie aber die ganze Elegie ja vorn Weingott handelt,<br />

so insbesondere die letzte Strophe, wo in aller Ausführlichkeit<br />

<strong>von</strong> der Hadesfahrt des Dionysos erzählt wird. Es ist also nur<br />

natürlich, dass die Variante - vorn »Geist, der Kolonie liebt« - ebenfalls<br />

gedichtet wurde im Hinblick auf den Weingott. Es kommt aber<br />

noch etwas hinzu: auch in der früheren Fassung dieser letzten Strophe<br />

hatte Hölderlin bereits Dionysos als »Geist« bezeichnet, und<br />

zwar: als »des Weines göttlichgesandter Geist«!23<br />

2. Prüft man in der spätesten Handschrift <strong>von</strong> BROD UND WEIN<br />

die Schicht der Varianten, zu der die in Frage stehenden Verse vorn<br />

»Geist der Kolonie liebt«, gehören, so findet man auch hier, und<br />

zwar an drei Stellen, dass Hölderlin »Geist« sagt statt »Gott«. An<br />

einer <strong>von</strong> diesen Stellen änderte er ebenfalls die Bezeichnung<br />

»Weingott« um in »des Weins Geist«F4<br />

3. Aufschlußreich ist ferner die Gleichzeitigkeit der Variante<br />

»Dorther kommt und da lachet verpflanzet, der Gott«, die eindeutig<br />

auf die Züge, die Wanderungen, das Koloniebilden des Dionysos<br />

anspielt, wie wir sahen.<br />

4. Dass das Wort »Geist« hier <strong>nicht</strong> im allgemeinen Sinn zu verstehen<br />

ist, sondern tatsächlich als »Gott«, bezeugen die Schlußworte<br />

der Variante; »Fast wär der Beseeler verbrandt«. Das Wort »Beseeler«<br />

läßt ja ganz deutlich erkennen, dass der Geist hier personal<br />

gedacht ist, <strong>nicht</strong> begrifflich. Nun kann aber des weiteren <strong>nicht</strong><br />

übersehen werden, dass der Satz »Fast wär der Beseeler verbrandt«<br />

doch ganz offenkundig eine Anspielung auf den Mythos <strong>von</strong> der<br />

Geburt des Dionysos enthält. Gerade der Zug an diesem Mythos,<br />

dass der Gott durch den Blitz des Zeus ni c h t verbrannte, während<br />

seine sterbliche Mutter Semeie daran zugrunde ging, dieser<br />

22 Das Folgende stimmt grundsätzlich überein mit den Ausführungen Beda Allemanns<br />

in: Hölderlin und Heidegger. 2. Auf!. Zürich u. Freiburg i. Br. 1965. S. 167 H.<br />

Ergänzungen zu Allemanns Argumentation enthalten hier Punkt 3 bis 5.<br />

23 StA II 607 Z. 19 f.<br />

24 StA 1I 603 Z. 35; 604 Z. 1 f.; 605 Z. 13 f.; 606 Z. 29 f.<br />

145


III.<br />

Hiermit sei der Überblick über die wichtigsten Dionysos-Stellen in<br />

Hölderlins Dichtung abgeschlossen, um nun alle Aufmerksamkeit<br />

dem Gedicht DIE FRIEDENSFEIER zuzuwenden, das eine der allerbedeutendsten<br />

Erwähnungen des Gottes enthält. Dies Gedicht hat<br />

seit seiner Entdeckung im Jahre 1954 mehr als irgendein anderes<br />

der Forschung Probleme geboten und die Geister bewegt. Hier muß<br />

berührt werden, was man seither den Streit um DIE FRIEDENSFEIER<br />

genannt hat.<br />

Wie man weiß, handelt es sich bei dem Streit um die Frage, wer<br />

zu verstehen sei unter dem sogenannten »Fürsten des Fests«. Bekanntlich<br />

feiert Hölderlin in dem Gedicht den Frieden <strong>von</strong> Lunevi<br />

lle, und zwar als ein Ereignis, das ihn den Anbruch einer neue<br />

Welt-Ära erhoffen läßt, wie er sie erträumte. Wirklich wird eine<br />

F ier geschildert, Menschen und Götter nahmen gemeinsam an ihr<br />

t il. Der Dichter stellt hier aber zwei erhabene Gäste besonders<br />

vor: Christus und eben den »Fürsten des Fests«, wobei auch dieser<br />

I tztere ausdrücklich als »ein Gott« bezeichnet, jedoch mit Namen<br />

<strong>nicht</strong> genannt wird. Man hat nun die verschiedensten Versuche<br />

u nternommen, diesen ungenannten Gott zu identifizieren. Der<br />

Fürst des Fests sollte etwa sein: gleichfalls Christus, dann Napo­<br />

I on, dann der personifizierte Friede, der Genius unseres Volkes<br />

oder der des griechischen, Herakles oder auch der Vatergott. Wirklich<br />

d urchschlagende Gründe ließen sich für keine der Hypothesen<br />

rbringen, und so blieb die ganze Frage praktisch in der Schwebe.<br />

Die betreffenden Partien der FRIEDENSFEIER seien hier mit all dem<br />

v rglichen, was bisher über Hölderlins Auffassung <strong>von</strong> Dionysos<br />

in Erinnerung gebracht wurde, woraus sich m. E. unausweichlich<br />

die Schlußfolgerung ergibt, dass Dionysos der unbekannte Gott ist<br />

u nd dass wir hier den dritten Fall vor uns haben, wo Hölderlin<br />

hristus und Dionysos in einem seiner großen Spätgesänge zua<br />

mmenführt.<br />

ie Einladung an den Fürsten des Fests, die so große Rätsel<br />

aufgibt, wird bereits in der 2. Strophe ausgesprochen. Die 1. Stroph<br />

schildert zunächst expositioneIl die Gesamtsituation, das Mi-<br />

148<br />

lieu. Zu einem Fest außergewöhnlicher Art ist ein auch sonst schon<br />

für Feierzwecke benutzter Saal auf das prächtigste ausgeschmückt.<br />

Der himmlischen, still wieder klingenden,<br />

Der ruhigwandelnden Töne voll,<br />

Und gelüftet ist der altgebaute,<br />

Seeliggewohnte Saal; um grüne Teppiche duftet<br />

Die Freudenwolk' und weithinglänzend stehn,<br />

Gereiftester Früchte voll und goldbekränzter Kelche,<br />

Wohlangeordnet, eine prächtige Reihe,<br />

Zur Seite da und dort aufsteigend über dem<br />

Geebneten Boden die Tische.<br />

Denn ferne kommend haben<br />

Hieher, zur Abendstunde,<br />

Sich liebende Gäste beschieden.<br />

Was hier die Exposition schildert, ist, wenn wir es recht überlegen,<br />

<strong>nicht</strong>s anderes als die Symposion-Situation; die Symposion-Situation,<br />

so wie Hölderlin sie oftmals dichterisch dargestellt hat. Wir<br />

haben da<strong>von</strong> gesprochen, dass Hölderlin die festliche Zurichtung<br />

eines Raumes für das Symposion mit Vorliebe schildert und dass<br />

die zeremonielle Schmückung, wie überhaupt das Ritual beim Symposion<br />

<strong>von</strong> ihm durchaus religiös feierlich empfunden wird im Sinne<br />

einer Ehrung der Gottheit des Weins und des Symposions, des<br />

Dionysos. All das kehrt auch hier in der FRIEDENSFEIER wieder. Goldbekränzte<br />

Kelche, prächtig zubereitete Tische, himmlische Musik,<br />

endlich - Weihrauch als Zeichen des Götteropfers. Nämlich das<br />

Wort »Freudenwolke«, an dem die Ausleger so viel herumgerätselt<br />

haben, bedeutet natürlich Weihrauch, so wie auch das Jugendgedicht<br />

AM T ACE DER FREUNDSCHAFTSFEIER in gleichem Zusammenhang<br />

<strong>von</strong> Weihrauch sprach. 30 »Syrischer Weihrauch« ist notabene<br />

in Euripides' BAKcHEN ein selbstverständliches Zubehör zum Dionysoskult.<br />

31<br />

30 Verwandte Züge zwischen AM TAGE DER FREUNDSCHAFTSFEI ER und der FRIEDENS FEIER<br />

stellt auch Kar! Kerenyi fest in: Vergil und Hölderlin. Zürich 1957. S. 12 H.<br />

31 Euripides BAKcHEN 144. Weihrauch bei Opferhandlungen auch: Troades 1064. Ion<br />

89. Wei hrauch, goldene Becher, Musik: Ion 1174 H.<br />

149


Wenn wir seegnen das Mahl, wen darf ich nennen und wenn wir<br />

Ruhn vorn Leben des Tags, saget, wie bring' ich den Dank?<br />

Nenn' ich den Hohen dabei? Unschikliches liebet ein Gott <strong>nicht</strong>,<br />

Ihn zu fassen, ist fast unsere Freude zu klein.<br />

Schweigen müssen wir oft; es fehlen heilige Nahmen ...<br />

Interessant ist, dass Hölderlin die Wendung »Unschikliches liebet<br />

ein Gott <strong>nicht</strong>« später änderte in »Unfürstliches liebet ein Gott<br />

<strong>nicht</strong>«. Nachweislich erfolgte diese Änderung nach Ausführung<br />

der FRIEDENSFEIER. Hier mag die Erinnerung an den Fürsten des Fests<br />

mitgespielt haben.<br />

Die für Hölderlin so bezeichnende Scheu, Götternamen auszusprechen,<br />

wird in den angeführten Versen Gegenstand der Betrachtung.<br />

Man hat berechtigterweise an die ähnliche Scheu beim alttestamentarischen<br />

Judentum erinnert. Lehrreich ist für uns im<br />

Hinblick auf die FRIEDENSFEIER: gerade vor der Nennung des Weingotts<br />

in der Symposion-Situation scheut der Dichter zurück, auch<br />

in der Elegie HEIMKUNFT. Offenbar fürchtet er den Rückfall in die<br />

Konvention der Anakreontik, fürchtet jenen spielenden, scheinheiligen<br />

Umgang mit Götternamen, den er sich gerade verbietet. Den<br />

Gott, der das "Gastmahl segnet", namentlich zu nennen, ist vor<br />

allem deswegen <strong>nicht</strong> nötig, weil ohnehin jeder weiß, um wen es<br />

sich handelt - die Anakreontik hatte es bis zum Überdruß oft gesagt.<br />

Hierauf deutet nun auch die FRIEDENSFEIER, wenn sie Dionysos<br />

- den »Fürsten des Fests« - einfach den »Allbekannten« nennt, wo<br />

er als Gott des Symposions auftritt. In ähnlicher Weise verschweigt<br />

die Ode CHIRON den Namen des Zeus und spricht <strong>von</strong> ihm einfach<br />

als <strong>von</strong> dem »Bekanntesten«, wo es nämlich durch sein Erscheinen<br />

als Gewittergott ganz klar ist, um wen es sich handelt. 52 Wenn also<br />

bereits Situation und Umstände eine Gottheit erkennbar machen,<br />

dann verzichtet Hölderlin gern auf die Nennung ihres Namens.<br />

Übrigens wird in der FRIEDENSFEIER auch Christus nirgends bei Namen<br />

genannt, obwohl <strong>von</strong> ihm noch ausführlicher als vom Fürsten<br />

des Fests die Rede ist. Auch seine Gestalt wird nur durch Umschrei-<br />

52 »Doch keiner wird den Donnerer nennen«, heißt es in ähnlichem Zusammenhang<br />

auch im Entwurf zu AM QUELL DER DONAU ( StA Il690 Z. 30).<br />

160<br />

bungen verdeutlicht. Bewirkt ist damit auch, dass die beiden göttlichen<br />

Gestalten sich in größtmöglicher Freizügigkeit darstellen.<br />

v.<br />

Besondere Schwierigkeiten in dichterischen Werken klären sich<br />

gewöhnlich erst dann in wirklich befriedigender Weise, wenn wir<br />

einzusehen vermögen, warum der Dichter darauf geführt wurde,<br />

den betreffenden seltsamen Zug gerade so und <strong>nicht</strong> anders zu<br />

gestalten. Es läßt sich nun glücklicherweise auch recht gut erkennen,<br />

wie Hölderlin im Laufe der Entstehung der FRIEDENSFEIER dazu<br />

kam, gerade Dionysos als Fürsten des Fests einzuladen. In den<br />

Entwürfen zu dem Gedicht, die wir schon viel länger kennen als<br />

die FRIEDENSFEIER selber, finden sich nämlich eine ganze Reihe <strong>von</strong><br />

gedanklichen Ansätzen, die der Dichter nur seiner Gesinnung gemäß<br />

konsequent weiterzudenken brauchte, um dann mit Notwendigkeit<br />

auf die Gestalt des Dionysos zu kommen. Vorgegeben ist<br />

dort im Entwurf schon die Symposion-Situation, in den folgenden<br />

Versen, die abgewandelt auch in die FRIEDENSFEIER übernommen<br />

wurden: 53<br />

Drum hab ich heute das Fest, und abendlich in der Stille<br />

Blüht rings der Geist \lnd wär auch silbergrau mir die Loke,<br />

Doch würd ich rathen, dass wir sorgten ihr Freunde<br />

Für Gastmahl und Gesang, und Kränze genug und Töne<br />

Bei solcher Zeit unsterblichen Jünglingen gleich.<br />

Zu Gastmahlen dieser Art lädt der Dichter auch sonst Dionysos<br />

ein - als den eigentlichen Gott der Feste. Ich erinnere besonders an<br />

das oben über DIE HERBSTFEIER Gesagte. Es ist durchaus einleuchtend,<br />

dass dies bei der weiteren Ausführung des Entwurfs auch in<br />

der FRIEDENSFEIER geschah. - In den Entwürfen finden wir vorerst<br />

nur Christus eingeladen, der ja in der FRIEDENSFEIER gemeinsam mit<br />

dem Fürsten des Fests als Gast erscheint. Doch findet sich auch in<br />

53 VERSÖ HNENDER DER DU NIMMER GEGLAUBT (StA II 131, v. 34 H.).<br />

161


den Entwürfen schon deutlich der Gedanke ausgesprochen, und<br />

zwar in verschiedenster Weise, dass Hölderlin neben Christus noch<br />

andere Gottheiten einladen möchte. Zum Beleg seien die folgenden<br />

Verse angeführt: »Sei versöhnt« - Christus ist angeredet-<br />

dass wir des Abends<br />

Mit den Freunden dich nennen, und singen<br />

Von den Hohen, und neben dir noch andere sein.<br />

Weiter bittet der Dichter in diesem Sinne um die Erlaubnis, alle<br />

Götter feiern zu dürfen, sie <strong>nicht</strong> »zählen« zu müssen. Auch der<br />

Satz »Und manchen möcht' ich laden« - d. h. manchen Gott möcht'<br />

ich laden -, dieser Satz aus der FRIEDENSFEIER steht schon im Entwurf<br />

und bezeugt hier, dass der Dichter schon ursprünglich eine<br />

Erweiterung der Einladung über Christus hinaus in Betracht gezogen<br />

hatte. An anderer Stelle heißt es:<br />

Und der Vater thront nun nimmer oben allein.<br />

Und andere sind noch bei ihm.<br />

Vielnat erfahren der Mensch. Der Himmlischen viele genannt,<br />

Seit ein Gespräch wir sind<br />

Und hören können <strong>von</strong>einander.<br />

Was in solchen Versen zur Sprache kommt, sind polytheistische<br />

Vorstellungen und Visionen ganz der Art, wie sie der späte Hölderlin<br />

liebte. Die Entwürfe lassen nun aber erkennen, dass dem<br />

Dichter selbst bei dem Aussprechen der Einladung an Christus<br />

ganz besondere Schwierigkeiten erwuchsen, obgleich diese Einladung<br />

offensichtlich <strong>von</strong> Anfang an ein Hauptanliegen war. Wenn<br />

er immer wieder, <strong>nicht</strong> weniger als sechsmal, die Formulierung<br />

versuchsweise niederschreibt - die dann in der·FRIEDENSFEIER selbst<br />

wegfiel-: »Sei gegenwärtig, Jüngling«, »Darum, 0 Göttlicher, sei<br />

gegenwärtig« etc.,54 wenn er dabei immer wieder diese Einladung<br />

an Christus begründet - auf fünf verschiedene Weisen -, dann aber<br />

54 Vgl. Hölderlin, Friedensfeier. Hsg. <strong>von</strong> Wolfgang Binder und Alfred Kelletat. Umschrift-Beilage:<br />

12r Z. 1, 18; 9r Z. 5 f.; 10r Z. 19; 10v Z. 1, 12. (= StA II 131 v. 39,56;<br />

II 702 Z. 7 f.; 706 Z. 27; 700 Z. 1;'699 Z. 19.)<br />

162<br />

schließlich gerade bei diesen Versuchen abbricht, so erhellt daraus:<br />

etwas Entscheidendes hinderte ihn, gerade diesen Gedanken<br />

auszusprechen. Die Ursache ist <strong>nicht</strong> schwer zu finden und sie<br />

wird auch aus dem Wortlaut der Entwürfe ersichtlich: Hölderlin<br />

schreckte zunächst noch davor zurück, Christus 'mit' und 'neben'<br />

anderen Göttern einzuladen. Er hätte ihn dadurch jenen gleichgestellt;<br />

dies aber weckte all die Skrupel, die mit seiner Gewissenhaftigkeit<br />

im Umgang mit göttlichen Dingen zusammenhing.<br />

So bricht der Entwurf an dieser Stelle ab. Der Dichter wartet, bis<br />

ihm neues Erleben weiter hilft.<br />

Er wartet <strong>nicht</strong> vergebens. Im Gesang DER EINZIGE findet eine<br />

neue Vision dichterischen Ausdruck. Hier nehmen Vorstellungen<br />

konkrete Gestalt an, <strong>von</strong> denen der Dichter im Stillen wohl längst<br />

geträumt haben mag: <strong>von</strong> der Zugehörigkeit Christi zum Kreis der<br />

antiken Götter. Da wird nun wirklich Christus als Bruder des Herakles<br />

und insbesondere des Dionysos gefeiert. Dieses Gedicht Der<br />

Einzige aber steht' zeitlich auch genau zwischen den Entwürfen<br />

zur FRIEDENSFEIER mit ihren noch zögernden, tastenden polytheistischen<br />

Versen und der Ausführung des ganzen Gedichts. Nachdem<br />

DER EINZIGE geschrieben war, hatte Hölderlin die innere Freiheit<br />

gewonnen, die ihm erlaubte, neben Christus noch einen anderen<br />

Gott zur FRIEDENSFEIER zu laden. Und zwar den Gott, der die Eigenschaften<br />

besaß, die dem feierlichen Gastmahl nach des Dichters<br />

Sinn erst die eigentliche/Weihe zu geben vermochten: Freudigkeit,<br />

Festlichkeit, befeuernden »Gemeingeist«. All das eignet ja Christus<br />

<strong>nicht</strong>. Er ist der »freundlich ernste« Lehrer der Versöhnung<br />

und Liebe, aber kein Gott der Feste.<br />

So dann noch etwas ganz Entscheidendes. In der zeitlich letzten<br />

Stufe der Entwürfe wird in aller Klarheit ausgesprochen: der festliche<br />

Augenblick, der gefeiert werden soll, hat säkulare Bedeutung,<br />

denn er bringt das, was in Hölderlins Hoffnungen eine so große<br />

Rolle spielte: die Einkehr der Götter.<br />

Denn sieh! es ist der Abend der Zeit, die Stunde<br />

Wo die Wanderer lenken zu der Ruhstatt. Es kehrt bald<br />

Ein Gott um den anderen ein ...<br />

163


des nennt Dionysos: JtOAqUXOC;; TE xai dpTJvaToc;; - zum Kriege ebenso<br />

geschickt wie zum Frieden. 59<br />

Im Entwurf zur F RIEDENSFEIER riefen die ersten Verse: »Versöhnender<br />

der du nimmergeglaubt / Nun da bist« etc. noch den »seeligen<br />

Frieden« als Gottheit an. Wenn Hölderlin diese Gestalt später aufgab<br />

zugunsten der des Dionysos, so hing das natürlich damit zusammen,<br />

dass Dionysos ebenfalls in so ausgeprägter Weise eine<br />

Friedensgottheit war. Da er zugleich Gott der Feste und der Dichtung<br />

war, vereinigte er all die Eigenschaften, die dem Gesang vom<br />

Göttermahl an der Zeitenwende entsprachen, Eigenschaften, die<br />

dem Friedensgott ebenso fehlen wie Christus. Die Gestalt des »seeligen<br />

Friedens« aufzugeben ließen aber noch speziellere Gründe<br />

geraten erscheinen: sie war der Gestalt Christi allzu ähnlich, bedeutete<br />

insofern fast eine Verdoppelung. Das zeigt sich vor allem<br />

auch darin, wie im Entwurf der »seelige Friede« als »Versöhnender«<br />

angeredet wird. Die Wendung mußte sogleich an Christus<br />

denken lassen: den Ausdruck »Versöhner« hatte ja Klopstock im<br />

Messias als stehendes Beiwort für Christus gebraucht und damit<br />

popularisiert (in Anlehnung an das Neue Testament). Nachdem<br />

Hölderlin im Entwurf weiter dann auch Christus selbst ausdrücklich<br />

als »Versöhnender« bezeichnet hatte (v. 57): »0 sei Versöhnender<br />

nun versöhnt«), trat die übermäßige Gleichartigkeit der Gestalten<br />

vollends zutage. Durch die Konzeption des Fürsten des Fests<br />

beseitigte der Dichter die Unklarheit und gab den Hauptgestalten<br />

des Gedichts ein unterschiedlicheres, damit zugleich ausdrucksvolleres<br />

Gepräge. Wie Dionysos nun als Friedensgott auftritt, schafft<br />

er das ihm obliegende Friedenswerk gerade durch die entgegengesetzte<br />

- ihm so gemäße - Handlungsweise: er tritt <strong>nicht</strong> als » Versöhnender«,<br />

sondern als Feldherr auf. Aus dieser extremen Umkehr<br />

in der Bildsprache mag man Hölderlins Gedankengang bei<br />

der Gestaltung des Gedichts erahnen.<br />

59 Aristides Dionysos 5. Vgl. auch Plutarch Demetrius 2. Bei Nonnos entschließt sich<br />

Zeus zur Erzeugung des Dionysos, um die Kriegswut auf Erden einzudämmen.<br />

Dionys. VII 30 ff. Vgl. VIII 90. IX 212.<br />

166<br />

Wie sich das Verhältnis zwischen Christus und Dionysos dem späten<br />

Hölderlin darstellt, darüber gibt neben dem Gesang DER EINZI­<br />

GE Aufschluß eine fragmentarische Aufzeichnung, die in unserem<br />

Zusammenhang Beachtung verdient. Hier zeigt sich besonders, bis<br />

zu welchem Grad, aber auch bis zu welcher Grenze die beiden<br />

göttlichen Gestalten schließlich dem Dichter verwandt erschienen.<br />

Das Fragment lautet:60<br />

Seines jedem und ein Ende der Wanderschaft<br />

Einen Orden oder<br />

Feierlichkeit geben oder Geseze<br />

Die Geister des Gemeingeists<br />

Die Geister Jesu<br />

Christi.<br />

Drei wesentliche Züge, die für Hölderlin das Bild des Dionysos<br />

bestimmen - der Gott erscheint hier wieder unter der Benennung<br />

»Gemeingeist« -, findet er also auch in Christus wieder: 1. Das<br />

Ordenstiften: bei Dionysos ist hier an den Thiasos61 , die Kultgemeinschaft<br />

des Gottes gedacht, bei Christus jedenfalls an Kloster<br />

und Orden. 2. Das Spenden <strong>von</strong> Feierlichkeiten: Dionysos ist als<br />

der Weingott Herr, Exarchos der Symposien und Feste. Christus ist<br />

gegenwärtig beispielsweise im Abendmahl, dessen schon BROD UND<br />

W EIN im Zusammenhang mit Dionysos gedenkt. 3. Dionysos führt<br />

als Gesetzgeber - wie wir sahen - die Verehrung der Gottheit ein<br />

sowie Recht, Ordnung und Frieden. Inwiefern auch Christus ähnlicherweise<br />

Gesetzgeber ist, braucht <strong>nicht</strong> ausgeführt zu werden.<br />

Hier aber hat die Gleichsetzung der beiden Gestalten auch ihre<br />

deutliche Grenze. Wenn Dionysos 'Gesetzgeber' ist, so übt er in<br />

Hölderlins Sicht damit dasselbe Amt wie der Dichter aus, er wird<br />

gerade durch diese Eigenschaft zum Gott der Dichtung. Dergleichen<br />

gilt <strong>nicht</strong> mehr für Christus. Hölderlin konnte <strong>nicht</strong> sagen:<br />

6(l StA 11 334.<br />

(, I Vgl. oben 5. 152 Fußnote 37.<br />

167


eide geben »Gesang« - das Fragment spricht mit genauer Begrenzung<br />

<strong>von</strong> »Gesetzen«.62<br />

DIE FRIEDENSFEIER aber - dies gilt es immer wieder ins Auge zu fassen<br />

- leitet eine Zeit ein, die vom »Gesang«, <strong>von</strong> der Dichtung her<br />

bestimmt wird. Hierauf deutet vor allem das Auftreten des Dionysos<br />

in dem Gedicht. Grundsätzlich ist zu sagen: wir werden DIE<br />

FRIEDENSFEIER erst in angemessener Weise verstehen, wenn wir berücksichtigen,<br />

welche Rolle Hölderlin gerade hier der Dichtung<br />

zuer<strong>kennt</strong>. Von dem Postulat, in das Hölderlins gesamtes Dichten<br />

und Denken immer wieder mündet: jetzt, wo die Menschheit ihrer<br />

größten Erneuerung seit der Antike entgegengeht, müßten die Dichter<br />

die Führung übernehmen - <strong>von</strong> diesem Postulat spricht die<br />

FRIEDENSFEIER hoffnungsvoller und konkreter als irgendein anderes<br />

Gedicht. Sollte da vom Dichter und seiner entscheidenden Rolle<br />

nirgends die Rede sein? Das wäre schlechthin undenkbar, weil es<br />

Hölderlins Sehweise ganz widerspräche. Es ist <strong>von</strong> ihm die Rede:<br />

er erscheint in der Gestalt des Dionysos, des Gottes der Dichter,<br />

um der Feier vorzustehen, welche die langgetrennten Götter und<br />

Menschen wieder zusammenführt.<br />

VI.<br />

Vom Fürsten des Fests handeln in der FRIEDENSFEIER noch ferner die<br />

3. und 9. Strophe. Es bleibt uns zu fragen, welche Aufschlüsse über<br />

diese Partien im Lichte der bisherigen Betrachtungen zu gewinnen<br />

sind. Zunächst die 3. Strophe. Sie steht, wie die beiden vorhergehenden,<br />

ganz im Zeichen des Dionysos - die folgenden drei Stro-<br />

62 Das Verhältnis des Dionysos zum »Gesang«, zum Dichter und zur Dichtung, dessen<br />

Kenntnis für das Verstehen der FRIEDENSFEIER ebenfalls so wichtig ist, erscheint<br />

nochmals in einem anderen, wohl sehr späten Fragment Hölderlins auf wundersame<br />

Weise bezeichnet. »Wenn zu baun anfangen die Himmlischen«, so heißt es<br />

hier, also wenn eine neue Zeit der Göttereinkehr anbricht, dann wird »dem Gesang«<br />

ein »gewaltiges Gut« zugetragen, und zwar mit Hilfe Aphrodites und - bezeichnenderweise<br />

- des »Weingotts«. (StA II 205.)<br />

168<br />

phen sind dann Christus gewidmet. DIE FRIEDENSFEIER ist ja so gebaut,<br />

dass jeweils drei Strophen inhaltlich eine Einheit bilden, das<br />

Ganze also aus vier Triaden besteht.<br />

III Von heute aber <strong>nicht</strong>, <strong>nicht</strong> unverkündet ist er; 25<br />

Und einer, der <strong>nicht</strong> Fluth noch Flamme gescheuet,<br />

Erstaunet, da es stille worden, umsonst <strong>nicht</strong>, jezt,<br />

Da Herrschaft nirgend ist zu sehn bei Geistern und Menschen.<br />

Das ist, sie hören das Werk,<br />

Längst vorbereitend, <strong>von</strong> Morgen nach A.bend, jezt erst, 30<br />

Denn unermeßlich braußt, in der Tiefe verhallend,<br />

Des Donnerers Echo, das tausendjährige Wetter,<br />

Zu schlafen, übertönt <strong>von</strong> Friedenslauten, hinunter.<br />

<strong>Ihr</strong> aber, theuergewordne, 0 ihr Tage der Unschuld,<br />

<strong>Ihr</strong> bringt auch heute das Fest, ihr Lieben! und es blüht 35<br />

Rings abendlich der Geist in dieser Stille;<br />

Und rathen muß ich, und wäre silbergrau<br />

Die Loke, 0 ihr Freunde!<br />

Für Kränze zu sorgen und Mahl, jezt ewigen Jünglingen ähnlich.<br />

Was das »ernste Tagwerk« war, das - nach den Worten der 2. Strophe<br />

- der Fürst des Fests auf seinem langen »Heldenzuge« vollbrachte,<br />

das erfahren wir nun hier. Es brachte den lange ersehnten<br />

und prophezeiten Frieden. Mit diesem Frieden geht allerdings weit<br />

mehr zu Ende als der augenblickliche, der Zweite Koalitionskrieg,<br />

nämlich ein »tausendjähriges Wetter«. Gekommen ist der friedliche<br />

Ausgleich einer aurea aetas, der die eigentliche Voraussetzung<br />

dafür ist, dass nun die »Himmlischen« zusammen mit den Menschen<br />

beim gemeinsamen »Gastmahl« erscheinen, »gastfreundlich<br />

untereinander«, wie es in der 9. Strophe heißt. Wie der Abzug des<br />

»tausendjährigen Wetters« durch das Bild des Einschlafens gekennzeichnet<br />

wird - es braust hinunter, »zu s chI a f e n, übertönt<br />

<strong>von</strong> Friedenslauten« - das läßt wieder an Dionysos denken. Damit<br />

rfährt das Motiv des Müdigkeitsbringens, das in der 2. Strophe so<br />

harakteristisch auftrat, hier eine Fortführung (der in der 9. Strophe<br />

eine weitere folgen wird).<br />

es Dionysos ist, der auch hier wie in BROD UND WEIN - Hölderlins<br />

Vorstellungen gemäß - das Erscheinen der Himmlischen her-<br />

169


chus und Apollo gesagt, dass diesen beiden Göttern - und nur ihnen<br />

- "ewige Jugend" zukomme (14,37):<br />

solis aeterna est Baccho Phoeboque iuventas.<br />

Es steht außer Frage, dass Hölderlin diese Stellen kannte. 68 Von<br />

Ovid hat er verschiedenes übersetzt, auch eine Partie aus den ME­<br />

TAMORPHOSEN. Die römischen Elegiker überhaupt aber waren ihm<br />

natürlich vertraut: ihr Studium war die selbstverständliche Voraussetzung<br />

für die eigene Elegiendichtung, <strong>nicht</strong> anders als bei<br />

Goethe. So wird man auch in der Hindeutung auf die "ewigen J ünglinge"<br />

in der FRIEDENSFEIER die Dionysoshuldigung <strong>nicht</strong> verkennen<br />

dürfen, die darin liegt. Wie so oft ist auch hier bei Hölderlin die<br />

Wahl der Worte <strong>von</strong> der antiken Dichtung her bestimmt.<br />

VII.<br />

In der 9. Strophe der FRIEDENSFEIER, die »den Fürsten des Fests« nochmals<br />

nennt, gewinnt endlich eine Vision Gestalt, die Hölderlins<br />

Träumen lange beschäftigt hatte: die eigentliche Zusammenführung<br />

Christi und der olympischen Götter. Vergeblich hatte der Dichter<br />

sich bis dahin gemüht, das schwierigste der hiermit sich auf tuenden<br />

Probleme zu lösen: welches bei einer solchen<br />

Zusammenführung - sie ist alter Traum der Renaissance - die Rolle<br />

des göttlichen Vaters, des Vaters Christi sein könnte. Der Entwurf<br />

VERSÖHNENDER DER DU NIMMER GEGLAUBT hatte bei dieser Frage<br />

gestockt. Ein Hauptansatz war gegeben in den Versen: 69<br />

Und der Vater thront nun nimmer oben allein.<br />

Und andere sind noch bei ihm.<br />

In DER EINZIGE wird der erste dieser Verse wiederholt:7°<br />

Denn nimmer herrscht er allein.<br />

68 Vgl. auch Ovid ars a. I 189: »qui puer es [ ... ] Bacche« etc.<br />

69 StA II 137 v. 47 f.<br />

70 StA II 155 v. 71.<br />

174<br />

Der Vers bezeichnet hier aber - wie schon Hellingrath richtig bemerkte<br />

- gerade diejenige Partie des Gesanges, die dem Dichter<br />

auszuführen <strong>nicht</strong> gelingen wollte. Er steht in der Handschrift ganz<br />

isoliert und fand, obgleich Hölderlin reichlich Raum für weitere<br />

Verse freiließ, keine Fortführung. In DER EINZIGE gelang dem Dichter<br />

doch nur soviel: die »Bruder«-Verwandtschaft zwischen Christus,<br />

Dionysos und Herakles in "kühnem Be<strong>kennt</strong>nis" zu proklamieren.<br />

Das Verhältnis des allmächtigen, herrschenden Vaters zu<br />

dieser Vision blieb noch unberührt, dies war eben das "schwerst<br />

Auszusprechende", mit Hellingrath zu reden.<br />

In der FRIEDENSFEIER ist die Lösung gefunden. Schon in der 3.<br />

Strophe wird, um die Größe der nunmehrigen Wende zu bezeichnen,<br />

verkündet, dass" jetzt Herrschaft nirgend zu sehen sei bei Geistern<br />

und Menschen" - was besagt, dass nun auch im Götterbereich<br />

keine Alleinherrschaft mehr stattfinde. 71 Damit ist derjenige<br />

Freiheitszustand eingetreten, der ja die Voraussetzung bildet für<br />

das nunmehr stattfindende Göttermahl. Die Herbeiführung dieses<br />

Zustands ist ein wesentlicher Bestandteil vorn »Werk« des Fürsten<br />

des Fests.<br />

Aber damit begnügt Hölderlin sich <strong>nicht</strong>. Der Ausgleich der<br />

Götter untereinander, vor allem auch unter Einbeziehung des" Vaters",<br />

ist etwas so Schwieriges und Gewaltiges, dass sogar der Fürst<br />

ges Fests dies <strong>nicht</strong> allein bewirken kann. Zu Hilfe kommt ihm der<br />

»stille Gott der Zeit«, <strong>von</strong> dem die 7. Strophe - die erste der jetzt<br />

<strong>von</strong> uns betrachteten Trias - meldet. Er bringt, ein Verwandter des<br />

'Genius der Zeit', <strong>von</strong> dem die damalige junge Generation viel redeten,<br />

das »schönausgleichende« Gesetz der Liebe, das »<strong>von</strong> hier<br />

an bis zum Himmel« gilt (v. 90).<br />

Es ist der »Vater«, der »hohe Geist der Welt«, der sich damit »zu<br />

Menschen geneigt hat« (v. 75 ff.). Da er selbst »zum Herrn der Zeit<br />

71 »Geister« bedeutet wiederum »Götter«, gemäß dem Sprachgebrauch des späten<br />

Hölderlin. Vgl. oben S. 144 Fußnote 105 und StA III 560: Beißner zu FRIEDENSFEIER<br />

v. 28. Zur Bedeutung des Worts »Herrschaft« vgl. Beißners Hinweis auf DER FRIE­<br />

DEN V. 30 in Friedrich Beißner, Hälderlins Friedensfeier. Stuttgart 1954. S. 27.<br />

72 Auf diesen 'Genius der Zeit' spielt auch Goethe an in PALÄOPHRON UND NEOTERPE<br />

(WA 113 1, 5 v. ll).<br />

175


ZU groß« ist (v. 79), muß ein anderer Gott, »Tagewerk erwählend«<br />

(v. 81), als Helfer die Wende herbeiführen - eben jener stille Zeitgott.<br />

Der »große Geist« - so drückt die 8. Strophe das nochmals<br />

aus - »entfaltet« auf diese Weise »das Zeitbild«, das nunmehr seinerseits<br />

ein »Zeichen« genannt wird dafür, "daß zwischen ihm und<br />

andern Mächten ein Bündnis ist". An diesem »Zeichen« erkennen<br />

sich jetzt »alle« Gottheiten. Damit ist die Lösung gefunden für das<br />

Problem des Entwurfs. Die Frage, wie es angängig sein könne, dass<br />

»andere noch bei ihm«, dem »Vater«, seien, fand so ihre Beantwortung.<br />

Von dem Erscheinen des 'Zeichens' sprechen am Schluß der<br />

7. und Zu Beginn der 8. Strophe die folgenden Verse:<br />

VII So dünkt mir jezt das Beste,<br />

Wenn nun vollendet sein Bild und fertig ist der Meister,<br />

Und selbst verklärt da<strong>von</strong> aus seiner Werkstatt tritt,<br />

Der stille Gott der Zeit und nur der Liebe Gesez,<br />

Das schönausgleichende gilt <strong>von</strong> hier an bis zum Himmel. 90<br />

VIII Viel hat <strong>von</strong> Morgen an,<br />

Seit ein Gespräch wir sind und hören <strong>von</strong>einander,<br />

Erfahren der Mensch; bald sind wir aber Gesang.<br />

Und, das Zeitbild, das der große Geist entfaltet,<br />

Ein Zeichen liegts vor uns, dass zwischen ihm und andern 95<br />

Ein Bündniß zwischen ihm und andern Mächten ist.<br />

Nicht er a'llein, die Unerzeugten, Ew' gen<br />

Sind kennbar alle daran, gleichwie auch an den Pflanzen<br />

Die Mutter Erde sich und Licht und Luft sich kennet.<br />

Zu entscheidender Bedeutung gelangt hier noch ein in den drei<br />

Anfangsversen der 8. Strophe hinzutretendes Motiv: es wird wiederum<br />

auf die welterneuernde, die Einkehr der Götter bewirkende<br />

Macht des dichterischen Worts hingewiesen. »Von Morgen an«,<br />

das will sagen: <strong>von</strong> Urzeiten her waren Götter und Menschen durch<br />

das Wort verbunden, hörten <strong>von</strong>einander, sie waren »ein Gespräch«.<br />

Dass dies der Sinn der ersten Verse ist, dass sie <strong>nicht</strong>, wie man<br />

auch gemeint hat, ' bedeuten: Menschen untereinander verständigen<br />

sich durch das Wort, erhellt aus den entsprechenden Versen<br />

des Entwurfs: 73<br />

73 StA II 137 v. 49 ff.<br />

176<br />

Viel hat erfahren der Mensch. Der Himmlischen viele genannt,<br />

Seit ein Gespräch wir sind<br />

Und hören können <strong>von</strong>einander.<br />

Der Mensch und die Himmlischen also sind »ein Gespräch«. In<br />

der FRIEDENSFEIER konnte der Hinweis auf die »Himmlischen« fortfallen,<br />

da im Vorhergehenden (dem Schluß der 7. Strophe) <strong>von</strong> ihnen<br />

die Rede ist - die Strophe endet ja mit dem Wort »Himmel«.<br />

»Wir« meint also natürlich auch hier wie im Entwurf; Götter und<br />

Menschen. Von solchen 'Gesprächen' zwischen Mensch und Gott<br />

berichtet auch AM QUELL DER DONAU. Das »Wort«, das aus dem Osten<br />

(Jonien, Arabien, Asien) belebend zu uns kommt, schließt außer<br />

der antiken Dichtung ein das alttestamentarische Wort der »Propheten«,<br />

<strong>von</strong> denen es ausdrücklich heißt, dass sie .<br />

Zuerst es verstanden,<br />

Allein zu reden<br />

Zu Gott.<br />

Die 8. Strophe der FRIEDENSFEIER spricht nun die Verkündung aus,<br />

dass aus dem »Gespräch« demnächst »Gesang« werde (v. 93). Hier<br />

deutet sich an, welchen ungeh<strong>eure</strong>n Zuwachs an Wert und Würde<br />

Hölderlin dem dichterischen Wort prophezeit. Durch den »Gesang«<br />

wird dem Menschen Kunde <strong>von</strong> dem neuen Zeitbild des großen<br />

Geistes, dem Bündnis zwischen den Göttern, <strong>von</strong> all dem, worüber<br />

im folgenden gesprdchen wird, eingeleitet durch die Partikel<br />

»Und« (v. 94).<br />

Mit dem Motiv der welterneuernden Dichtung sind wir aber<br />

mitten im Wirkungsbereich des Dionysos - er ist ja für Hölderlin<br />

der eigentliche Gott dieser Dichtung. So deutet die 8. Strophe schon<br />

auf sein Erscheinen als Fürst des Fests in der 9. hin, in der das<br />

Dichtungsmotiv dann beherrschend auftritt. Aber Dionysos' Ercheinen<br />

in der 9. Strophe wird auch noch in anderer Weise sehr<br />

wirkungsvoll vorbereitet. Wenn in den zitierten Versen der 8. Strohe<br />

<strong>von</strong> dem »Zeichen« gesprochen ward, das der »große Geist«<br />

ntfaltete, so erfährt dieser Gedankengang in den folgenden Vern<br />

noch eine bedeutsame Erweiterung. Denn dieses Zeichen -<br />

ölderlin nennt es jetzt noch genauer »Das Liebeszeichen«: Zei-<br />

177


chen des Bündnisses zwischen den »heiligen Mächten« (100 f.) -<br />

dieses Zeichen wird nun in aller Form i den t i f i z i e r t mit dem<br />

jetzt zu feiernden Fest, dem »Festtag« (102). Es ist dieser Festtag<br />

als solcher, der die eigentliche Verwirklichung des Wunders zustandebringt,<br />

die »Allversammlung« der »Himmlischen« und ihre<br />

Einkehr bei den Menschen, denen sie nun sichtbar erscheinen.<br />

Damit sind wir auch im zweiten Wirkungsbereich des Dionysos:<br />

er ist der Gott solcher Feste, Symposien, Göttermahle katexochen.<br />

Dadurch aber, dass jetzt die Bedeutung des Festtags eine unendliche<br />

Steigerung erfährt, wird auch Dionysos nur um so dringlicher<br />

beschworen; mit um so größerer Notwendigkeit ist er der Fürst<br />

gerade dieses Festes. Überdies war die Herbeiführung dieses Festes<br />

ja recht eigentlich sein »Werk«. Denn die »Tage der Unschuld«,<br />

die er heraufführte - da<strong>von</strong> berichtete die 3. Strophe - sie eben<br />

brachten ja »heute das Fest«.<br />

Betrachten wir nunmehr mit dem Schluß der 8. die 9. Strophe,<br />

die den feierlichen Hergang am »Festtag«, beim »Gastmahl« schildert:<br />

178<br />

VIII Zuletzt ist aber doch, ihr heiligen Mächte, für euch<br />

Das Liebeszeichen, das Zeugniß<br />

Dass ihrs noch seiet, der Festtag,<br />

IX Der Allversammelnde, wo Himmlische <strong>nicht</strong><br />

Im Wunder offenbar, noch ungesehn im Wetter,<br />

Wo aber bei Gesang gastfreundlich untereinander 105<br />

In Chören gegenwärtig, eine heilige Zahl<br />

Die Seeligen in jeglicher Weise<br />

Beisammen sind, und ihr Geliebtestes auch,<br />

An dem sie hängen, <strong>nicht</strong> fehlt; denn darum rief ich<br />

Zum Gastmahl, das bereitet ist, 110<br />

Dich, Unvergeßlicher, dich, zum Abend der Zeit,<br />

o Jüngling, dich zum Fürsten des Festes; und eher legt<br />

Sich schlafen unser Geschlecht <strong>nicht</strong>,<br />

Bis ihr Verheißenen all,<br />

All ihr Unsterblichen, uns 115<br />

Von <strong>eure</strong>m Himmel zu sagen,<br />

Da seid in unserem Hauße.<br />

100<br />

In den <strong>von</strong> uns kursiv gedruckten Versen tritt aufs neue, nun in<br />

großartiger Steigerung, das Motiv <strong>von</strong> der welterneuernden Dichtung<br />

auf. Was in der Formulierung zunächst dunkel erscheinen<br />

kann, klärt sich, wenn man die entsprechenden Sätze des Prosaentwurfs<br />

zum Vergleich heranzieht. Sie lauten: 74<br />

Ein Chor nun sind wir. Drum soll alles Himmlische was genannt war, eine<br />

Zahl, geschlossen, heilig, ausgehen rein aus unserem Munde. Denn sieh! es ist<br />

der Abend der Zeit, die Stunde wo die Wanderer lenken zu der Ruhstatt. Es<br />

kehrt bald Ein Gott um den anderen ein ...<br />

Hier wird es deutlich: es ist der Gesang des Menschen, nämlich<br />

der Dichter, der die Götter beschwört und ihre Einkehr herbeiruft.<br />

Der endgültige Wortlaut der FRIEDENSFEIER zeigt den des Vorentwurfs<br />

in souveräner Weise umgestaltet. Es ist vor allem berücksichtigt,<br />

dass die Götter selbst »gegenwärtig« sind, ihre Einkehr effektiv<br />

stattfindet. Die Feier selbst bedeutet den Beginn dieser Einkehr.<br />

Hier sind nun Götter und Menschen zu gemeinsamem »Gesang«<br />

vereinigt - doch sind Ziel und Aufgaben des Gesangs unverkennbar<br />

die gleichen wie im Entwurf: die Himmlischen »sagen« nunmehr<br />

in »Chören gegenwärtig« <strong>von</strong> »ihrem Himmel« (115 f.). Bildlich,<br />

mythisch ist damit genau so <strong>von</strong> der Mission der Dichtung<br />

gesprochen. Nur vermeidet der Dichter jetzt, <strong>von</strong> den Menschen<br />

und »unserem Munde« zu sprechen. Sein ausgeprägtes Gefühl für<br />

Pietät, für Schicklichkeit in religiösen Dingen gebot es ihm, bei solcher<br />

Zusammenkunft <strong>von</strong> Unsterblichen und Sterblichen des Menschen<br />

möglichst wenig zu gedenken. Auf die Anwesenheit und<br />

tätige Mitwirkung des Menschen deuten einzig die Worte, dass<br />

die Himmlischen »bei Gesang« gegenwärtig seien. In dieser absichtlich<br />

zurückhaltenden Formel darf, ja muß der Mensch als einbegriffen<br />

gelten.<br />

Wie die 9. Strophe der FRIEDENSFEIER und der Entwurf das Wesen<br />

der Dichtung <strong>von</strong> zwei verschiedenen Seiten her betrachten, einmal<br />

mehr die Aktivität des Menschen, des Dichters, das andere<br />

74 StA II 699.<br />

179


Mal mehr die der inspirierenden Götter in den Vordergrund rükken,<br />

das hat in einem früheren Gedicht Hölderlins eine aufschlußreiche<br />

Parallele. Die Ode ERMUNTERUNG kündet in der 4. Strophe<br />

zunächst da<strong>von</strong>, dass »bald aus der Menschen Munde der Götter<br />

Lob sich neu verkünde«. Dann aber heißt es in der Schlußstrophe:<br />

»der Gott, der Geist, nenne sich (selbst) mit Namen«, und zwarder<br />

Zusatz ist bezeichnend -: »im Menschenwort«!<br />

Letzlich ist zweifellos in der FRIEDENSFEIER der Gesang genau in<br />

dem gleichen Sinne »der Götter und Menschen« gemeinsames<br />

»Werk«, wie es in der Hymne WIE WENN AM FEIERTAGE so eindrucksvoll<br />

geschildert wird. Beda Allemann wies mit Recht auf diese Entsprechung<br />

hin.1 5 Hier aber dürfen wir uns daran erinnern, dass<br />

gerade diese <strong>von</strong> uns weiter oben zitierte Partie aus WIE WENN AM<br />

FEIERTAGE in engster Beziehung zu Dionysos stand. In jenen Versen<br />

vergleicht Hölderlin ja die dichterische Empfängnis mit der Geburt<br />

des Gottes, des »heiligen Bacchus«. Der Semele-Mythos bildete<br />

den Hintergrund. Es zeigt sich immer wieder, dass die letzten<br />

und höchsten Gedanken über das Wesen der Dichtung bei Hölderlin<br />

unauflöslich verbunden sind mit seinen Vorstellungen <strong>von</strong> Dionysos.<br />

In diesem Sinne dürfen wir auch in der FRIEDENSFEIER sehr bedeutungsvolle<br />

Einzelheiten verstehen. Wenn die 9. Strophe geheimnisvoll<br />

vom »Gastmahl, das bereitet ist«, singt, so knüpft das an<br />

die 3. Strophe an, wo das »Werk« des Gottes als »längst vorbereitend«<br />

bezeichnet wurde. Ebenso: wenn die Götter in der 9. Strophe<br />

mit den Worten »<strong>Ihr</strong> Verheißene« angeredet werden, so steht<br />

das in Korrespondenz mit der auf den Fürsten des Fests bezüglichen<br />

Wendung »<strong>nicht</strong> unverkündet ist er« in der 3. Strophe: Dichter<br />

und Weise - Hölderlin deutet hier vor allem auf sich selbst -<br />

haben längst das Erscheinen der Götter verkündet, und zwar aller<br />

Götter, <strong>nicht</strong> nur das des Dionysos. Dass mit dem »Werk« des Fürsten<br />

des Fests sich ein Friede <strong>von</strong> säkularer Bedeutung vorbereitet<br />

habe, wird ebendort in der 3. Strophe mit der seltsamen Wendung<br />

ausgedrückt, dass »Friedenslaute« jetzt das tausendjährige Wetter<br />

75 Beda Allemann, Hälderlins Friedens/eier. Pfullingen 1955. S. 95.<br />

180<br />

»übertönen«. Auch diese Formulierung deutet - wie uns jetzt durch<br />

die 9. Strophe begreiflich wird - in ihrer Eigenart auf die Rolle,<br />

welche die erneuernde Dichtung spielt.<br />

Zu beachten ist ferner: der Augenblick, an dem die Himmlischen<br />

einkehren und der neue Gesang beginnt, wird in der 9. Strophe<br />

bezeichnet als der »Abend der Zeit«. Nicht zu übersehen ist<br />

die Korrespondenz dieser Zeitbestimmung mit derjenigen, die sich<br />

zu Beginn der vorhergehenden Strophe findet: »<strong>von</strong> Morgen an«<br />

sind Götter und Menschen »ein Gespräch«. In der Zeit <strong>von</strong> »Morgen«<br />

bis »Abend« also vollzieht sich die Umwandlung des »Gesprächs«<br />

zum »Gesang«, an deren Ende die dichterische Neugeburt<br />

steht. Es scheint auch hier geboten, an die Richtung zu denken,<br />

die nach den Worten der 3. Strophe der Zug des Fürsten des Fests<br />

nahm: »<strong>von</strong> Morgen nach Abend«. Wir sahen, wie dies in Zusammenhang<br />

stand mit Hölderlins Vorstellungen <strong>von</strong> den Zügen des<br />

Dionysos als Sinnbild für den Weg des <strong>von</strong> Osten kommenden dichterischen<br />

Worts. Nun läßt sich <strong>von</strong> dem, was Hölderlin hier im<br />

Blick hat, tatsächlich sowohl geographisch wie zeitlich-historisch<br />

betrachtet sagen, dass es »<strong>von</strong> Morgen nach Abend« gehe. So besteht<br />

eine innere Korrespondenz zwischen der geographisch n<br />

Angabe Morgen - Abend in der 3. Strophe und derjenigen in d r<br />

8., die sicherlich empfunden werden soll bei diesem Dichter, d r<br />

geheime Bezüge und gelegentlich auch Mehrdeutigkeiten schätzte<br />

und gern als Kunstmittel verwendete.<br />

Endlich noch eine Korrespondenz zwischen der 9. Strophe und<br />

dem Anfang des Gedichts. Wir sahen, dass jenes der Antike abg<br />

sehene Motiv des Müdigkeit, Schlaf bringenden Dionysos in der 2.<br />

und 3. Strophe besonders charakteristisch den Fürsten des Fests<br />

bezeichnete. Es darf als einer der erstaunlichsten Züge in der Fm;­<br />

DENSFEIER bezeichnet werden, wie gerade dieses Motiv in den letzten<br />

fünf Versen der 9. Strophe zu monumentaler Steigerung g -<br />

führt wird. Hier ist es die Einkehr der Himmlischen, die d r<br />

Menschheit den Schlaf bringt - wobei nun Schlaf sinnbildlich b -<br />

zeichnet den beruhigten und durch die Dichtung göttlich gewei hten<br />

Friedenszustand einer aurea aetas. Wie aber der Fürst des Fests<br />

»zur Abendstunde« (v. 11) Müdigkeit verbreitend auftrat, so wer-<br />

181


einem Gesang, der ebenfalls <strong>von</strong> dem Heraufdämmern eines neuen<br />

Weltzeitalters kündet, ähnliches aussprach:<br />

Der an dem Baum des Heiles hing warf ab<br />

Die blässe blasser seelen· dem Zerstückten<br />

Im glut-rausch gleich ..<br />

Es ist heute bekannt, dass diese gleichfalls geheimnisvollen Verse<br />

Stefan Georges 77 durch Hölderlins Spätdichtung, übrigens auch<br />

durch Euripides' BAKcHEN mit inspiriert wurden. Sicherlich muß<br />

die Übereinstimmung zweier solcher Dichter vieles zu denken geben:<br />

scheinen sie doch ihr prophetisches Wort einander zuzuwerfen<br />

wie die Nornen an der Weltesche ihr schicksalwebendes Seil.<br />

77 In der Schlußstrophe <strong>von</strong> DER KRIEG (Stefan George, DAS NEUE REICH. Gesamt-Ausgabe<br />

der Werke. Endgültige Fassung. 18 Bde. Berlin: Georg Bondi. 1927-1934. Bd.<br />

9. S. 34).<br />

184<br />

Traditionsbezüge als Geheimschicht<br />

in Hölderlins Lyrik<br />

Zu den Gedichten: DIE WEISHEIT DES TRAURERS,<br />

DER WANDERER, FRIEDENSFEIER, BROD UND WEIN<br />

;<br />

Wenn"-man Hölderlins Verhältnis zur Tradition betrachtet, so wird<br />

zunächst mit Bezirken des echten Geheimnisses zu rechnen sein.<br />

Wie will man es etwa erklären, dass seine Sprache dem Griechischen<br />

auf so rätselhafte Weise nahekommt, auch da, wo er mißversteht,<br />

wie bei seiner Nachahmung griechischer Chorlyrik, oder<br />

wo ihm unbegreifliche Fehler unterlaufen, wie so oft in seinen<br />

Übersetzungen? Oder wie soll man jenes andere Phänomen erklären:<br />

wenn Hölderlin dasselbe tut, was <strong>von</strong> jeher, seit den Tagen<br />

Roms, Dichter zu tun liebten, wenn er griechische Namen verwendet<br />

- mythologische oder geographische -, um seinen Gesang mit<br />

echthellenischen Elementen zu schmücken, dann bleibt wohl<br />

kaum ein andrer so frei <strong>von</strong> dem Vorwurf wie er, dass dabei doch<br />

etwas wie Gelehrtendichtung herauskommt. Alles trägt bei ihm<br />

das Gepräge des Ursprünglichen. Es ließe sich allenfalls sagen:<br />

Hölderlins Spracherlebrris kommt offenbar dem der Griechen besonders<br />

nahe. Aber das ist mehr eine Feststellung als eine Erklärung.<br />

Denn gerade das Spracherlebnis, das den Kern aller Kunstdichtung<br />

bildet, ist-ja wiederum etwas Geheimnisvolles, etwas, das<br />

sich wissenschaftlicher Begründung beinahe gänzlich entzieht.<br />

Zudem steht das Spracherlebnis bei Hölderlin mit dem Erleben<br />

dessen, was er selbst etwa als die »gegenwärtige Gottheit« bezeichnen<br />

würde, in einem Zusammenhang, der wiederum undurchdringlich<br />

geheimnisvoll ist.<br />

Andere Bereiche aber si1).d erforschbar. Hölderlin liebte es, auf<br />

Sage, Dichtung, Geschichte anzuspielen - <strong>nicht</strong> nur der Antike -,<br />

und er setzt dabei voraus, verstanden zu werden, auch wenn es<br />

bei knappsten Andeutungen blieb. Für uns, denen das zu Ende<br />

185


des 18. Jahrhunderts die Geister beherrschende Bildungsgut kein<br />

selbstverständlicher Besitz mehr ist, blieb hier, auch heute noch,<br />

manches geheim, weil unser Wissen <strong>nicht</strong> mehr zureicht. Wir sind<br />

genötigt, nachzuforschen, Traditionsbezüge aufzuzeigen, damit<br />

wir das ursprünglich vom Dichter Gemeinte besser verstehen lernen.<br />

1.<br />

Es sei dies an einigen Beispielen verdeutlicht. Das erste stammt<br />

aus der Jugenddichtung Hölderlins, aus früher Tübinger Zeit. Es<br />

handelt sich um die Ode DIE WEISHEIT DES TRAURERS. Das Gedicht<br />

ist handschriftlich datiert: 1789. Seitens der Forschung ist die Vermutung<br />

ausgesprochen worden, DIE WEISHEIT DES TRAURERS stehe in<br />

Zusammenhang mit der Karzerstrafe, die Hölderlin im Herbst<br />

1789 verbüßen mußte, was für ihn zu einer ersten Krisensituation<br />

am Tübinger Stift führte. Er dachte damals an Austritt aus dem<br />

Stift, und sein Zorn richtete sich vor allem gegen den Herzog Karl<br />

Eugen <strong>von</strong> Württemberg, durch dessen verschärfte Strafbestimmungen<br />

jene Karzerstrafe verursacht worden war. Diese Deutung<br />

- sie stammt <strong>von</strong> Siegmund Schultze 1 - ist auch angezweifelt worden.<br />

Sie läßt sich aber bestätigen durch Beobachtungen, <strong>von</strong> denen<br />

nun zu sprechen sein wird. Es finden sich nämlich in dem<br />

Gedicht Anspielungen, die, wenn man sie ihrem Traditionsbezug<br />

nach richtig versteht, in außerordentlich krasser und unbezweifelbarer<br />

Weise auf das Despotenturn des Herzogs Karl Eugen deuten.<br />

Zunächst seien daraufhin die Einleitungsstrophen betrachtet:<br />

Hinweg, ihr Wünsche! Quäler des Unverstands!<br />

Hinweg <strong>von</strong> dieser Stätte Vergänglichkeit!<br />

Ernst, wie das Grab, sei meine Seele!<br />

Heilig mein Sang, wie die Todtenglocke!<br />

1 Friedrich Siegmund-Schultze, Der junge Hölderlin . Breslau 1939. (Sprache und Kultur<br />

der germanischen und romanischen Völker. B. Germanistische Reihe. Bd. 32)<br />

5. 109.<br />

186<br />

Du, stille Weisheit! öfne dein Heiligtum.<br />

Laß, wie den Greis am Grabe Cecilias<br />

Mich lauschen deinen Göttersprüchen,<br />

Ehe der Todten Gericht sie donnert.<br />

Da unbestochne Richterin richtest du<br />

Tirannenfeste, wo sich der Höflinge<br />

Entmanntes Heer zu Trug begeistert,<br />

Wo des geschändeten Römers Kehle<br />

Die schweiserrungne Haabe des Pflügers stiehlt,<br />

Wo tolle Lust in güldnen Pokalen schäumt,<br />

Und hat des Gräuels! an getürmten<br />

Silbergefäßen des Landes Mark klebt.<br />

Halt ein! Tyrann! Es fähret des Würgers Pfeil<br />

Daher. Halt ein! es nahet der Rache Tag ...<br />

Was bedeuten diese Verse, in denen man doch recht schwer einen<br />

Zusammenhang, überhaupt auch nur eine logische Folge sehen<br />

kann? Der Dichter lauscht der Stimme der Weisheit am Grabe einer<br />

Frau, die er Cäcilia nennt. Weiter ist da<strong>von</strong> die Rede, dass die<br />

Weisheit als unbestochne Richterin »Tyrannenfeste« verdammt, bei<br />

denen aus güldnen Pokalen und geraubten Silbergefäßen getrunken<br />

wird. Diejenigen, die solche Feste, offenbar angesichts des Grabes,<br />

feiern, werden aber »Römer« genannt, »geschändete Römer«.<br />

Der Tadel zielt darauf, dass diese Römer das Land ausgeraubt,<br />

dass sie den Bauern bestohlen haben etc. Für all das fehlt uns jedwede<br />

Erklärung. Darum aber ist das Gedicht schwer verständlich.<br />

Natürlich ist vor allem zu fragen: wer könnte jene Cäcilia sein,<br />

um deren Grab es sich hier handelt? Eine Möglichkeit der Deutung<br />

scheint sich zunächst aus den Handschriften zu ergeben. Ursprünglich<br />

stand nämlich da <strong>nicht</strong> der Name »Cecilia, sondern<br />

»Narzissa«. Mit diesem Namen ließ sich scheinbar eher etwas anfangen.<br />

Friedrich Beißners Kommentar gibt hierüber wertvolle<br />

Auskünfte 2 • Mit jener Narzissa ist gedeutet auf die Schwiegertoch-<br />

2 tA 1402 f.<br />

187


lungen auf die römische Geschichte leicht durchschaubar. Sie waren<br />

so leicht verständlich, dass Hölderlin als Student des Tübinger<br />

Stifts sicherlich besorgt sein mußte, Unannehmlichkeiten zu<br />

bekommen, falls diese seine Verse in unrechte Hände gerieten. So<br />

mag er aus Vorsicht, ganz einfach zu Zwecken der Tarnung, ein<br />

anderes Motiv, die Reminiszens an Youngs NACHTGEDANKEN, mit der<br />

Sulla-Episode verknüpft haben. Er stellte den Namen "Narzissa"<br />

voran - der war unverfänglich. Es wurde so eine gefährliche Überdeutlichkeit<br />

vermieden. Nachdem Hölderlin sich entschlossen hatte,<br />

die verschleiernde Überlagerung der Motive auch in der Endfassung<br />

zu belassen, konnte er es wagen, den Namen »Narzissa«<br />

mit dem der »Cecilia« zu vertauschen - Plutarchs Cäcilia Metalla<br />

war natürlich die Gestalt, auf die es ihm <strong>von</strong> vornherein wesentlich<br />

ankam.<br />

Tarnungen dieser Art sind in Zeiten der Despotie <strong>nicht</strong>s Seltenes.<br />

Als Beispiel sei angeführt: als ein jüdischer Dichter kurz vor<br />

dem Zweiten Weltkrieg aus Deutschland emigrieren mußte, ließ<br />

er in Freundeskreisen Abschriften eines Gedichts zirkulieren. Das<br />

Gedicht enthielt sein Abschiedswort an Deutschland - nämlich den<br />

Fluch auf das Land, das er geliebt hatte, und das nun einem verbrecherischen<br />

Despoten sklavisch huldigte. Dies Gedicht, das eigentlich<br />

Der Fluch betitelt war, trug aber in jenen zirkulierenden<br />

Kopien die Überschrift: An den Mond. Das war eine notwendige<br />

Tarnung, um gegebenenfalls die Aufmerksamkeit der Gestapo abzulenken.<br />

DIE WEISHEIT DES TRAURERS enthält noch an anderer Stelle eine<br />

Textänderung hinsichtlich eines Namens. Eine frühere Fassung der<br />

Verse 30-32 spricht <strong>von</strong> einer Elisa. Diesen Namen ließ Hölderlin<br />

jedoch später überhaupt weg. Auch hierfür dürfte den Anlaß gegeben<br />

haben die nämliche Sorge: dass man seinem Gedicht allzuleicht<br />

die Polemik gegen das despotische Regime Karl Eugens ansehen<br />

könnte. Mit jener Elisa war nämlich offenkundig die<br />

berühmte Heloisa gemeint, die Freundin des Scholastikers Abälard.<br />

Betrachten wir die Strophen 6-10 des Gedichtes genauer, so erweist<br />

es sich, dass die Einzelheiten sämtlich auf Ereignisse aus der<br />

190<br />

tragischen Lebens- und Leidensgeschichte Abälards anspielen.<br />

Dem Theologen Hölderlin war notwendig die Selbstbiographie<br />

Abälards bekannt wie auch der berühmte Briefwechsel zwischen<br />

Abälard und Heloisa. Seit der ersten Ausgabe <strong>von</strong> Abälards Werken<br />

(1616) war auch sein Leben wiederholt beschrieben worden.<br />

1787 veröffentlichte Joseph Berington in England eine umfangreiche<br />

Biographie, welcher der Briefwechsel Abälard-Heloisa beigefügt<br />

war. Das Buch erschien 1789 auch in deutscher Übersetzung 3 .<br />

Hier<strong>von</strong> mag noch eine aktuelle Anregung ausgegangen sein: Hölderlin<br />

schrieb ja DIE WEISHEIT DES TRAURERS 1789, wie man annehmen<br />

darf, im Spätherbst. Die auf Abälard bezügliche Partie - innerhalb<br />

derer früher der Name Elisa genannt ward - lautet:<br />

... In licht're Hallen, gute Göttin! -<br />

Wandle der Sturm sich in Haingeflüster!<br />

Da schlingst du liebevoll um die Jammernde<br />

Am Grabe des Erwälten den Mutterarm,<br />

Vor Menschentrost dein Kind zu schüzen,<br />

Schenkest ihr Tränen, und lispelst leise<br />

Vom Wiederseh'n vom seeligen Einst ins Herz­<br />

Da schläft in deiner Halle der Jammermann<br />

Dem Priesterhaß das Herz zerfleischet,<br />

Den ihr Gericht im Gewahrsam foltert,<br />

Der blaiche Jüngling, der in des Herzens Durst<br />

Nach Ehre rastlos klomm auf der Felsenbahn<br />

Und ach umsonst! wie wandelt er so<br />

Ruhig umher in der stillen Halle.<br />

Mit Brudersinn zu heitern den Kummerblik<br />

Der Kleinen Herz zu leiten am Gängelband,<br />

Sein Haus zu bau'n, sein Feld zu pflügen<br />

Wird ihm Beruf! und die Wünsche schweigen.<br />

3 Joseph Berington, The History of the Lives of Abeillard and Heloisa [ .. . ] with their genuine<br />

letters. Birmingham 1787. - Geschichte Abälards und der Heloise nebst beider ächter<br />

Briefe nach des d' Amboise Ausgabe aus dem Englischen des Herrn Joseph Berington.<br />

Übersetzt <strong>von</strong> D. Samuel Hahnemann. Leipzig 1789.<br />

25<br />

30<br />

35<br />

40<br />

191


Die am Grabe der Erwählten Jammernde wird <strong>von</strong> Hölderlin - in<br />

jener sogleich zu besprechenden Variante - als »Elisa« bezeichnet.<br />

Hieraus wie auch aus dem Gesamtzusammenhang erhellt, dass<br />

die um Abälard klagende Heloisa gemeint ist. Abälards Leichnam<br />

wurde bald nach seinem Tode auf Heloisas Wunsch in ihr Kloster<br />

Paraklet überführt und dort begraben. (Paraklet war eine Gründung<br />

Abälards, Heloisa lebte später dort als Priorin mit ihren Nonnen.)<br />

Die Verse 29 ff., die in der Endfassung <strong>von</strong> dem »Jammermann«,<br />

d.i. Abälard, sprechen, handeln im Entwurf noch weiter<br />

<strong>von</strong> der am Grabe Klagenden und lauteten dort: 4<br />

Wie in den Schlaf die Mutter den Säugling singt<br />

Vom Wiedersehn, vom seeligen Einst ins Herz,<br />

Bis ihr gestärktes Herz geneset,<br />

Und ihr geläuterter Geist sich aufraft.<br />

Die letzten drei Verse wollte Hölderlin ursprünglich ersetzen<br />

durch jenen Passus, der den Namen Heloisas auch wirklich nennt<br />

- angeredet ist, wie auch im vorigen, die Weisheit -:<br />

o Dank, du Gute! weinender heißer Dank!<br />

Genesen ist Elisas Seele!<br />

Ach! wie entsta [bricht ab.]<br />

Die Namenform Elisa entstand aus der früher <strong>nicht</strong> selten begegnenden<br />

Schreibung: Eloisa oder Eloise 5 • Gehen wir nun die ganze<br />

auf Abälard und Heloisa bezügliche Partie des Gedichtes durch,<br />

so lassen sich die Motive eins um das andere ihren historischen<br />

Bezügen nach erklären.<br />

Der Zug, dass Heloisa durch die Weisheit geschützt und getröstet<br />

wird, findet in ihrer Gesamtpersönlichkeit seine Entsprechung.<br />

Heloisa war die gelehrteste Frau ihrer Zeit und wurde als<br />

solche anerkannt. Als" prudens Heloisa" wurde sie noch in einer<br />

4 StA I 400, Z. 17-26.<br />

5 V gl. Alexander Pope: Eloisa 10 Abelard. So auch in dem 1787 zu Straßburg erschienenen<br />

Bel. 2 der deu tschen Übersetzung der Werke Popes (<strong>von</strong> Jos. Jak. Dusch): Eloise<br />

an den Abälard. Herder in der AORASTEA (kritisch über Pope und Berington): Eloise.<br />

192<br />

Grabinschrift bezeichnet 6 • Sie beherrschte die antiken Sprachen,<br />

kannte die Dichter, die Philosophen Griechenlands und Roms, die<br />

sie vielfach zitiere. <strong>Ihr</strong> eignete aber auch ein spezielles Verhältnis<br />

zur Weisheit, sie galt als deren "Jüngerin" (Petrus Venerabilis an<br />

Heloisa). Besonders eindrücklich manifestiert sich dies Verhältnis<br />

durch den Vorgang, dass Heloisa unter Berufung auf Philosophie<br />

und Weisheit (sapientia), hinweisend auf deren größte Vertreter<br />

<strong>von</strong> Pythagoras ab, den Abälard belehrte: er müsse um seiner Aufgabe<br />

willen ehelos bleiben, dürfe sie <strong>nicht</strong> heiraten. Hier<strong>von</strong> handelt<br />

ein ausführlicher Abschnitt in Abälards Autobiographie, der<br />

HISTORIA CALAMITATUM. Die Weisheit tröstet Heloisa besser als die<br />

Menschen - darin mag noch eine Anspielung auf den Namen Paraklet<br />

liegen, den Abälard seiner Klostergründung gab. Die bekannten<br />

Stellen vom "anderen Tröster" (Paraklet) im Johannes­<br />

Evangelium schweben vor - es ist der "Geist der Wahrheit,<br />

welchen die Welt <strong>nicht</strong> kann empfangen". (Johannes 14, 17.) Was<br />

das Motiv der Klage am Grabe Abälards und des Traums vom Jenseits,<br />

vom »seeligen Einst« betrifft, so sei Berington angeführt:<br />

"Wer Einbildungskraft besitzt, kann sich nun Heloisen [bei der<br />

Bestattung Abälardsl selbst mahlen mit den feinsten Zügen des<br />

gelassenen Grams, ihre Augen gen Himmel gerichtet, oft aber nach<br />

Abeillarden hingewandt, und auf den Gegenstand ds Jammers geheftet."<br />

(430) "Sie hieng über Abeillards Grabe, und war nur mit<br />

Mühe <strong>von</strong> dannen zu bri'ngen." (432) "Die ein und zwanzig Jahre<br />

hindurch, die sie noch zu leben hatte, hören wir <strong>nicht</strong>s mehr <strong>von</strong><br />

ihr, außer dass sie [ ... 1 mit Beibehaltung der zärtlichsten Zuneigung<br />

einer Frau, unablässig am Grabe ihres Mannes betete. Sicherlich<br />

ist wenigstens etwas menschliches in der Lehre, welche uns<br />

lehrt, eine Gemeinschaft mit der andern Welt zu unterhalten, und<br />

zu glauben, dass Freundschaft auch jenseits des Grabes dienlich<br />

sey!" (436)<br />

6 Berington (1789) S. 498.<br />

7 Berington (1789) 5. 498: "Der gelehrten Kenntnisse Heloisens eingedenk zu bleiben,<br />

sagt man, sollen viele Jahre nach ihrem Tode die Nonnen des Paraklets zu<br />

Pfingsten den Gottesdienst griechisch gehalten haben."<br />

193


In der Schilderung des Betrauerten Toten, DIE WEISHEIT DES TRAU­<br />

RERS v. 30 ff., steht am Anfang die Kennzeichnung dessen, was dem<br />

gesamten Leben Abälards sein Gepräge gab: der Verfolgung durch<br />

»Priesterhaß«. Das Wort »zerfleischen« v. 31 könnte auch an die<br />

Entmannung durch Fulbert, den Kanonikus <strong>von</strong> Notre-Dame zu<br />

Paris, den Oheim Heloisas denken lassen. Vers 32 (»Den ihr Gericht<br />

im Gewahrsam foltert«) hat zum Hintergrund die vielfachen<br />

Verurteilungen durch inquisitorische Kirchenversammlungen, Synoden,<br />

Konzile, wo Abälard als Häretiker angesehen und ihm<br />

schwere Haftstrafen, Schriftenverbrennung u.dgl. zudiktiert wurden.<br />

Ursprünglich lautete v. 32: »Den der Despot im Gewahrsam<br />

foltert«. Siegmund-Schultze schloß namentlich aus diesem Wort<br />

»Despot« auf eine Polemik gegen Karl Eugen - <strong>nicht</strong> zu Unrecht,<br />

wie sich jetzt zeigt. Despotengestalten begegnen in der Vita Abälards<br />

vielfach, u.a. der Abt <strong>von</strong> st. Denis, der Prior Gosvin, vor<br />

allem auch jener gewalttätige Landesfürst, der das Kloster St. Gildas<br />

in Ruys tyrannisierte - eine Gestalt, die an solche Züge erinnern<br />

konnte, wie Hölderlin sie damals an Karl Eugen zu bemängeln<br />

fand. Vgl. HISTORIA CALAMITATUM: "Ipsam etiam abbatiam<br />

tirannus quidam in terra illa potentissimus jam diu sibi subjugaverat<br />

[ ... ] me tyrannus ille et satellites sui assidue opprimebant."8<br />

Das Motiv vom Ehrgeiz bei dem »bleichen Jüngling«, das in<br />

den nächsten Versen erscheint (v. 33 ff.), hat seine Entsprechung<br />

in den frühsten Lebensabschnitten Abälards. Die HISTORIA CALAMI­<br />

TATUM schildert die schnell zu unglaublichen Erfolgen führende<br />

Laufbahn des jugendlich genialen Philosophie- und Theologielehrers,<br />

mit reuiger Selbstkritik: Abälard konnte sich bald für den<br />

"einzigen Philosophen in der Welt" halten - ("cum jam me solum<br />

in mundo superesse philosophum estimarem"); Gott aber habe ihn<br />

gedemütigt für solche superbia und sublimitas 9 • Dabei war Abälard<br />

körperlich zart. Er berichtet, wie Überarbeitung ihn gelegentlich<br />

zu längerer Unterbrechung seiner Tätigkeit zwang, bis zur<br />

Behebung seiner 'infirmitas'.<br />

8 Abelard, Historia calamitatum. Texte critique [ ... ] publie par J. Monfrin. Paris 1959.<br />

5.99.<br />

9 Ebd. 5. 70 f.<br />

194<br />

Wirklich war der so verheißungsvolle Beginn dann »umsonst«<br />

gewesen (v. 35) - nach dem schweren Schicksalsschlag, der ihn traf,<br />

gab Abälard sein Lehramt in Paris auf und zog sich ins Kloster<br />

zurück, wie überhaupt das Kloster nun immer mehr seine Zuflucht<br />

wurde, wenn neue Konzilssprüche ihn verdammten. Freilich blieb<br />

Abälard noch im Kloster ein Lehrender. Er hatte reichen Zustrom<br />

an Schülern. Später fielen ihm dann schwere Pflichten der Seelsorge<br />

zu - etwa als Abt <strong>von</strong> St. Gildas - inmitten <strong>von</strong> zuchtlosen,<br />

seelisch hilfsbedürftigen, aber schwer zu leitenden Mönchen. Darauf<br />

spielen die Verse 37 f. an:<br />

Mit Brudersinn zu heitern den Kummerblik<br />

Der Kleinen Herz zu leiten am Gängelband ...<br />

Die folgenden Verse erinnern an den größten Einschnitt im Leben<br />

Abälards: die Gründung der Einsiedelei ('solitudo'), die <strong>von</strong> ihm<br />

den Namen 'Paraklet' erhielt. Tatsächlich baute sich Abälard, zusammen<br />

mit einem befreundeten Kleriker, aus primitivstem Material<br />

('callis et culmo') ein 'oratorium' (v gl. auch v. 36: »in der stillen<br />

Halle«). Wieder fanden sich allerdings nach und nach junge<br />

Schüler bei ihm ein, die als 'Eremiten' mit ihm lebten und das taten,<br />

wozu er selbst zu schwach war: für ihre Gemeinschaft Häuser<br />

bauen und das Feld bestellen. "Scolares autem ultro mihi quelibet<br />

necessaria preparabant, tarn in victu scilicet quam in vestitu<br />

vel cultura agrorum seu in expensis edificiorum."lo All diese in<br />

der Selbstbiographie erzählten Einzelheiten spiegeln sich in den<br />

Versen, mit denen der Abälard-Teil des Gedichtes DIE WEISHEIT DES<br />

TRAURERS abschließt:<br />

Sein Haus zu bau'n, sein Feld zu pflügen<br />

Wird ihm Beruf! und die Wünsche schweigen.<br />

Dass der junge Hölderlin sich einmal so intensiv in die Persönlichkeit<br />

Abälards hineingedacht hat, ist leicht genug zu erklären.<br />

Parallelen mit seinem eigenen Leben fanden sich viele: der Ehr-<br />

10 Ebd .5.94.<br />

195


geiz - oft behandeltes Motiv in seiner Jugendlyrik; ebenso ein Streben<br />

nach Stille, Ruhe, Einsamkeit (nach der »stillen Halle«). Das<br />

Interesse für Philosophie und Theologie zugleich - es ist charakteristisch<br />

für Hölderlin wie für viele Schüler des Tübinger Stifts.<br />

Denken wir ferner an die Situation, die für Abälards Leben in späteren<br />

Jahren bezeichnend ist: das Versetztwerden <strong>von</strong> Kloster zu<br />

Kloster, so hatte der junge Hölderlin - auf den Stationen Denkendorf,<br />

Maulbronn, Tübinger Stift - ähnliches erlebt: überall klosterartige<br />

Zustände; auch das Stift war ja für die Studierenden das<br />

'Kloster'. Sogar die Ehelosigkeit um der großen Aufgabe willen,<br />

die Abälard in seiner Autobiographie so eingehend motiviert, hat<br />

ihre Entsprechung. Hölderlin erhob solche Ehelosigkeit gerade in<br />

der damaligen Zeit zum Programm (verbunden mit dem Eingeständnis<br />

seines Ehrgeizes). Das bezeugt der Abschiedsbrief an<br />

Louise Nast <strong>von</strong> Frühjahr 1790, ferner das Schreiben an die Mutter<br />

<strong>von</strong> Juni 1791: "Bei Gelegenheit muß ich Ihnen sagen, dass ich<br />

seit Jar und Tagen fest im Sinne habe, nie zu freien [ ... ] Mein sonderbarer<br />

Karakter, meine Launen, mein Hang zu Projekten, u. (um<br />

nur recht die Warheit zu sagen) mein Ehrgeiz [ ... ] lassen mich<br />

<strong>nicht</strong> hoffen, daß ich im ruhigen Ehestande [ ... ] glücklich sein werde."<br />

Seit "Jahr und Tagen" - zurückschauend kommt man doch<br />

gerade in die Zeit, da DIE WEISHEIT DES TRAURERS geschrieben ward,<br />

folglich Beschäftigung mit Abälard angenommen werden kann.<br />

Endlich kam hinzu die als ungerecht empfundene Freiheitsstrafe<br />

und das Aufbegehren gegen das Regiment im Stift-'Kloster', gegen<br />

Karl Eugen. Hierfür bot das Leben Abälards die vielfältigsten<br />

Parallelen. So dient der Abälard-Abschnitt in der Weisheit des<br />

Traurers ebenso wie die Cäcilia-Episode, der oppositionellen Stimmung<br />

Ausdruck zu verleihen, die Hölderlin damals erfaßt hatte.<br />

Allerdings ließ er in diesem Falle schließlich doch vorsichtshalber<br />

die beiden Worte weg, die den revolutionären Charakter jener Strophen<br />

in allzu gefährlicher Weise verraten konnten: das Wort »Despot«<br />

und den Namen »Elisa«Y<br />

11 Herman Meyer in Amsterdam verdanke ich den Hinweis darauf, dass Hölderlin<br />

das seltene Wort »Iraurer« im Titel des besprochenen Gedichts vermutlich <strong>von</strong> Hölty<br />

196<br />

H.<br />

Im Hinblick auf die Bedeutung <strong>von</strong> Traditionsbezügen und deren<br />

oft seltsames Verborgenbleiben kann ein weiteres Beispiel <strong>von</strong> Interesse<br />

sein: die Elegie DER WANDERER, auf die wir einen kurzen<br />

Blick werfen wollen. Die drei Teile, die das Gedicht in seinen beiden<br />

Fassungen aufweist, schildern die Klimazonen der Erde: extreme<br />

Hitze in der »Afrikanischen Ebene«, extreme Kälte am »Eispol«,<br />

gemäßigte Zone in der »glücklichen Heimat«. Bekanntlich<br />

fand die Art und Weise, wie Hölderlin die beiden ersten Zonen<br />

"durch Negationen" charakterisiert, den harten Tadel Goethes.<br />

"Freylich ist die Afrikanische Wüste und der Nordpol weder durch<br />

sinnliches noch durch inneres Anschauen gemahlt, vielmehr sind<br />

sie beyde durch Negationen dargestellt, da sie denn <strong>nicht</strong>, wie die<br />

Absicht doch ist, mit dem hinteren deutsch-lieblichen Bilde genugsam<br />

contrastiren", so schreibt Goethe am 28. Juni 1797 an Schiller<br />

(WA IV 12, 171).<br />

Es ist verwunderlich, dass Goethe hier <strong>nicht</strong> bemerkte, was es<br />

mit diesen Negationen auf sich hatte. Gerade mit ihnen lehnt Hölderlin<br />

sich an die antike Tradition an. In der römischen Dichtung<br />

sind derartige Negationen <strong>nicht</strong>s Seltenes. Sie begegnen aber in<br />

ganz ungewöhnlicher Weise gehäuft in einer berühmten Elegie,<br />

welche Hölderlin offensichtlich die stoffliche Anregung gab für das<br />

Schildern der drei Zonen. Es ist der PANEGYRICUS MESSALLAE, das<br />

große Gedicht, das in der Sammlung <strong>von</strong> Tibulls ELEGIEN steht<br />

(IV 1), obwohl es nach heutiger Ansicht das Werk eines anderen,<br />

unbekannten Verfassers ist. In dieser Elegie werden v. 151 bis 174<br />

gleichfalls die drei Hauptklimazonen de Erde geschildert, in der<br />

Reihenfolge: Eiszone (151-57), Hitzezone (158-64), gemäßigte -<br />

»unsre« - Zone (165-74). Die Detailschilderung weist viele Übereinstimmungen<br />

mit Hölderlin auf; wie im WANDERER ist die Hitze-<br />

entlehnte und damit HÖltyschen Odengeist evozieren wollte. Wirklich bringt<br />

Grimms Wörterbuch aus neuerer Zeit nur einen Beleg <strong>von</strong> Hölty erosen schließen<br />

sich zu, nahet dein traurer sich. Ged. 92 Halm"). H. Meyer fand das Wort "Iraurer"<br />

noch ferner in Höltys Ode A N DIE GRILLE (1774).<br />

197


zone der versengte, ausgetrocknete Raum der Wüste, <strong>nicht</strong> etwa<br />

der tropische feuchte Urwald. Charakterisiert werden aber die<br />

Zonen der extremen Kälte und Hitze durch eine Kette <strong>von</strong> Negationen:<br />

keine Bäche, niemals Sonne, keine Bearbeitung durch<br />

den Pflug, <strong>nicht</strong> Feldfrucht, <strong>nicht</strong> Futter, kein Gott, der die Fluren<br />

betreut, <strong>nicht</strong> Bacchus, <strong>nicht</strong> Ceres, kein lebendes Wesen<br />

wohnt dort. Auf diese Weise finden sich innerhalb <strong>von</strong> insgesamt<br />

14 Versen neun Negationen. Die Schilderung der gemäßigten Zone<br />

reiht dagegen nur positiv gefaßte Aussagen aneinander. Unter<br />

letzteren finden sich wie bei Hölderlin die Erwähnung des Weinstocks,<br />

des Stiers, des Pflugs, der Mahd, der menschlichen Siedlungen.<br />

In den <strong>von</strong> Goethe bemängelten Negationen liegt also ein beabsichtigtes<br />

Antikisieren. Hölderlin tat <strong>nicht</strong>s anderes als Goethe<br />

selbst und die anderen Dichter, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts<br />

die Elegie erneuerten: er lehnte sich and die römischen Elegiker<br />

an. Den PANEGYRICUS MESSALLAE, der ihm thematisch-stoffliche<br />

Anregung gab, nahm Hölderlin auch im formalen zum Vorbild.<br />

Das führte ihn auf die Darstellung durch Negationen. Im Hinblick<br />

hierauf verdient erwähnt zu werden, dass der PANEGYRICUS MES­<br />

SALLAE <strong>von</strong> diesem Stilmittel auch sonst reichlichen Gebrauch<br />

macht. In den dreißig Versen, die der Schilderung der Erdzonen<br />

unmittelbar vorausgehen (118-148), finden sich <strong>nicht</strong> weniger als<br />

11 Negationen. Mit Vorliebe werden im PANEGYRICUS MESSALLAE wie<br />

auch sonst, wo in der römischen Dichtung solche Negationsreihen<br />

vorkommen, die verneinenden Partikeln an den Versanfang gestellt.<br />

Auch darin schließt Hölderlin sich der antiken Tradition an.<br />

Nochmals: es bleibt rätselhaft, dass Goethe diesen Traditionszusammenhang<br />

<strong>nicht</strong> erkannte. War er doch gerade zur Zeit, als er<br />

Hölderlins DER WANDERER las, mit den römischen Elegikern durch<br />

vieles Studium bestens vertraut. Goethes Ausstellungen an Hölderlins<br />

Gedicht richten sich, ihm selbst unbewußt, gegen charakteristische<br />

Züge antiker Dichtung.<br />

Eine Übersetzung des PANEGYRICUS MESSALLAE hatte übrigens Joh.<br />

Heinr. Voß 1786 veröffentlicht; sie erschien nochmals im zweiten<br />

Band der Gedichte <strong>von</strong> Voß 1795 - bald darauf entstand Hölder-<br />

198<br />

lins DER WANDERER. Voß gab der Elegie den Titel: TIBULL AN MES­<br />

SALLA - er nahm Tibull als Verfasser an. Wie sehr Hölderlin sich<br />

bei Abfassung <strong>von</strong> DER WANDERER in die Situation eines römischen<br />

Dichters hineindachte, wird auch dadurch bemerkbar, dass ihm<br />

bei dem dritten Teil des Gedichtes ursprünglich <strong>nicht</strong> die rheinische,<br />

sondern die römisch-italische Landschaft vorschwebte. »Ausonien<br />

kehr ich zurük in die freundliche Heimath« - so lautet der<br />

Anfang dieses Teils im Entwurf.<br />

III.<br />

Die weiter zu betrachtenden Beispiele stammen aus Hölderlins<br />

Spätdichtung. In der FRIEDENSFEIER stellt die 3. Strophe eins der<br />

kunstvollsten Gebilde Hölderlinschen Schaffens dar. Wiederum<br />

spielen dabei Traditionsbezüge eine wesentliche Rolle. 12<br />

Von heute aber <strong>nicht</strong>, <strong>nicht</strong> unverkündet ist er; 25<br />

Und einer, der <strong>nicht</strong> Fluth noch Flamme gescheuet,<br />

Erstaunet, da es stille worden, umsonst <strong>nicht</strong>, jezt,<br />

Da Herrschaft nirgend ist zu sehn bei Geistern und Menschen.<br />

Das ist, sie hören das Werk,<br />

Längst vorbereitend, <strong>von</strong> Morgen nach Abend, jezt erst, 30<br />

Denn unermeßlich braußt, in der TIefe verhallend,<br />

Des Donnerers Echo, qas tausendjährige Wetter,<br />

Zu schlafen, übertönt <strong>von</strong> Friedenslauten, hinunter.<br />

<strong>Ihr</strong> aber, theuergewordne, 0 ihr Tage der Unschuld,<br />

<strong>Ihr</strong> bringt auch heute das Fest, ihr Lieben! und es blüht 35<br />

Rings abendlich der Geist in dieser Stille;<br />

Und rathen muß ich, und wäre silbergrau<br />

Die Loke, 0 ihr Freunde!<br />

Für Kränze zu sorgen und Mahl, jezt ewigen Jünglingen ähnlich.<br />

Mit einer nur geringen Anzahl <strong>von</strong> Versen vermag der Dichter den<br />

rieden, der jetzt gefeiert werden soll, so erscheinen zu lassen, wie<br />

12 Die folgenden Betrachtungen ergänzen die Interpretation der 3. FRIEDENSFEIER-Strophe<br />

(oben S. 168 ff.) im vorausgehenden Kapitel Dionysos in der Dichtung Hölder­<br />

/ins.<br />

199


er ihn sah: <strong>nicht</strong> als ein ephemeres politisches Ereignis, sondern<br />

als einen Wendepunkt <strong>von</strong> säkularer Bedeutung, als Zeichen für<br />

den Anbruch eines neuen Weltzeitalters. Um diese verklärende<br />

Deutung in aller Kürze geben zu können, bringt Hölderlin mehrere<br />

sehr wirksame Kunstmittel zur Anwendung.<br />

1. Bei der Charakterisierung des Friedens bedient er sich mythischer<br />

Sageweise. Er schildert ihn <strong>nicht</strong> direkt, sondern er berichtet<br />

<strong>von</strong> ihm als <strong>von</strong> dem »Werk« des Dionysos. In Dionysos<br />

sieht Hölderlin hier - nach antikem Vorbild - vor allem den Gott<br />

der Dichtung und den gesetzgebenden Eroberer. Wie auch in anderen<br />

Hölderlinschen Gedichten leitet der Gott in solcher Eigenschaft<br />

den Vorgang der Welterneuerung ein.<br />

2. Statuiert wird, dass alles, was die FRIEDENSFEIER in Anlehnung<br />

an den Mythos über den »Heldenzug« und die Ankunft des Gottes<br />

berichtet, längst Gegenstand <strong>von</strong> Prophezeiungen war. Auch<br />

dies trägt zur Verklärung des Friedensereignisses bei. Gerade hierdurch<br />

wird es aus der Sphäre des Ephemeren herausgenommen<br />

und in die des Wunderhaften gerückt. Das Ereignis ist »<strong>von</strong> heute<br />

[ ... ] <strong>nicht</strong>«, ist »<strong>nicht</strong> unverkündet« (v. 25). Verkündet ward es<br />

- so ist zu supplieren - <strong>von</strong> Dichtem und Weisen, wobei Hölderlin<br />

natürlich in erster Linie auf sich selbst deutet. Sein eigenes<br />

Dichten stellt ja in vielen und gerade den wichtigsten Partien solche<br />

Prophetie dar. In diesem Sinne spricht die Hymne ROUSSEAU<br />

vom »Vorausfliegen« des »kühnen Geistes«. Entwurfverse zu AM<br />

QUELL DER DONAU nennen Dichter, Propheten und Helden, die »zuerst«<br />

und »ganz allein« zu Gott reden, bevor ein »Frühlingsanfang«<br />

eintritt. Sehr deutlich drückt ein Distichon diesen Gedanken<br />

aus, das sich in der Vorstufe zur 3. Strophe <strong>von</strong> BROD UND WEIN<br />

findet:<br />

Vor der Zeit! ist Beruf der heiligen Sänger und also<br />

Dienen und wandeln sie großem Geschike voran. 13<br />

13 StA II 597 Z. 15 f. Bezeichnenderweise beginnt an dieser Stelle die 3. Strophe <strong>von</strong><br />

BROD UND WEIN auf das Dionysos-Thema überzugehen. »Frohlockender Wahnsinn«<br />

ergreift die "Sänger« - Aufforderung, in die Heimat des Dionysos zU ziehen (Theben,<br />

Kithairon) - Hinweis auf die Feldzüge des Dionysos (des »kommenden Got-<br />

200<br />

3. Besonders intensiv wirkt sich im gleichen verklärenden Sinne<br />

das Motiv aus: dass das Friedens-»Werk« des Gottes zu größtem<br />

»Staunen« Anlaß gibt (v. 27). Dies Staunen erfaßt alle diejenigen,<br />

die, unbekannt mit den Sprüchen der Propheten, bisher <strong>nicht</strong>s geahnt<br />

haben <strong>von</strong> dem Heldenzuge des Gottes und seinem »Werk«.<br />

Den Ohren der Ungeweihten ist dies »Werk« vernehmlich »jezt<br />

erst«, bei Eintritt der durch den Gott herbeigeführten Stille (v.<br />

27.30). Diesen Gedanken, der den größeren Teil der Strophe bestimmt,<br />

kennen wir auch sonst bei Hölderlin. Kunde <strong>von</strong> den Göttern<br />

und ihrem »Werk« erreicht nur wenige - nur solche, »die noch<br />

gefangen <strong>nicht</strong> /Vom Rohen sind«, wie es in PATMOS heißt (v. 185).<br />

Gerade in Zusammenhang mit den Erneuerungstaten des Weingotts<br />

begegnet uns dieses Motiv in BROD UND WEIN. Als der Weingott<br />

»die Spur der entflohenen Götter Götterlosen hinab unter das<br />

Finstere bringt« - letzte Strophe <strong>von</strong> BROD UND WEIN - heißt es ausdrücklich<br />

einschränkend: »Seelige Weise sehns«. Das bedeutet: nur<br />

die Weisen sehen es. In Der Rhein vermag der mit dem Weingott<br />

gleichgesetzte Rousseau mit seiner erneuernden Botschaft nur<br />

»den Guten« verständlich zu werden, während er »Die Achtungslosen<br />

mit Blindheit schlägt«. So Strophe 10 <strong>von</strong> DER RHEIN, wo alles<br />

in diesem Zusammenhang Gesagte das Wesen des prophetischen<br />

Dichters kennzeichnet, Rousseau nur ein anderer Name für<br />

Hölderlin ist, wie schon Hellingrath grundsätzlich feststellte. BROD<br />

UND WEIN betont mehrrhals den Unterschied zwischen den wenigen<br />

Weisen, den Dichtern und Propheten, und der vorerst noch<br />

blinden Menge. So v. 73 ff.: »die Himmlischen [ ... ] Unempfunden<br />

kommen sie erst, es streben entgegen Ihnen die Kinder [. .. ] kaum<br />

weiß zu sagen ein Halbgott [wie Rousseau-Dionysos], Wer mit<br />

Namen sie sind«. Bezeichnend sind die späten Varianten hierzu:<br />

»Darum siehet mit Augen / Kaum ein Halbgott; und ist Feuer um<br />

tes«). -Im Entwurf der FRIEDENSFEIER entspricht dem Gedanken des Vorherverkündetseins<br />

der Passus: ,>Zuvorbestimmt wars« (StA II 131). Auch in BROD UND WEIN<br />

heißt es <strong>von</strong> der »Einkehr der Himmlischen« in früherer Fassung: »so steiget in<br />

Nächten Vorbereitet herab unter die Menschen ihr Tag.« (StA II 600). Vgl. auch die<br />

späte Variante: ,>Lang und schwer ist das Wort <strong>von</strong> dieser Ankunft« (StA II 603).<br />

201


Des Göttlichen aber empfiengen wir<br />

Doch viel. Es ward die Flamm' uns<br />

In die Hände gegeben, und Ufer und Meersfluth.<br />

Viel mehr, denn menschlicher Weise<br />

Sind jene mit uns, die fremden Kräfte, vertrauet.<br />

Stehen etwa auch hier die Gedanken und Bilder jener Horazode<br />

im Hintergrund? Zunächst möchte man dies in Frage stellen, da<br />

eine Entsprechung zu dem »non timuit« fehlt und damit - wie es<br />

scheint - auch der Hybrisgedanke. Der Sieg über die Elemente ist<br />

vor allem göttliches Geschenk. Immerhin sind Flut und Flamme<br />

doch auch hier als 'fremde Kräfte' gekennzeichnet, und in der vorhergehenden<br />

Strophe ward <strong>von</strong> der Undankbarkeit der Menschen<br />

gegenüber Göttergeschenken gesprochen, was noch bis hierher<br />

hinüberwirkt. Sehr anders nimmt sich aber die Stelle im Entwurfsstadium<br />

aus.19 Da wird der Zusammenhang mit Horaz wieder<br />

vollkommen deutlich:<br />

Und menschlicher Wohlthat folget der Dank,<br />

Auf göttliche Gaabe aber jahrlang<br />

Die Mühe erst und das Irrsaal,<br />

Bis Eigentum geworden ist und verdient<br />

Und sein sie darf der Mensch dann auch<br />

Die menschlich göttliche nennen.<br />

So gewann er empfangend,<br />

Ein räthselhaft Geschenk,<br />

Und ringend dann als er das Gefährliche des<br />

Siegs das trunkenübermüthige mit göttlichem Verstand<br />

überwunden der Mensch, gewann er die Flamme und die Wooge<br />

des Meeres und den Boden der Erd und ihren Wald und das heiße Gebirg,<br />

und den finstern Teich ...<br />

. Unverkennbar tritt in diesen Formulierungen noch das Hybris­<br />

Motiv hervor. Zwar ist die Beherrschung der Elemente auch hier<br />

Göttergeschenk, aber der Mensch muß dies Geschenk erst 'ringend<br />

19 StA II 135. - Orig.-Umschrift in: Hölderlin Friedensfeier. Hsg. <strong>von</strong> W. Binder und A.<br />

Kelletat. Tübingen 1959. S. III.<br />

206<br />

gewinnen'. Bis es sein Eigentum geworden ist, hat er sich durch<br />

»Irrsaal« durchzuarbeiten. Überhaupt wird die Bändigung der Elemente<br />

hier zugleich als 'Sieg' aufgefaßt, an welchem etwas 'Gefährliches'<br />

ist, ein 'Trunkenübermütiges', das der Mensch erst 'mit<br />

göttlichem Verstand' überwinden muß. All das erinnert an die Beispiele<br />

der Hybris in der Horazode, insbesondere an die dortige<br />

Verwendung der Prometheus-Sage.<br />

Wie aber das Prometheus-Motiv aus diesen Versen <strong>nicht</strong> wegzudenken<br />

ist, so gibt es auch anderweitige Reminiszenzen ganz<br />

ähnlicher Art: an Heroen und Giganten. Außer Flamme und Flut<br />

»gewann« der Mensch hier ja noch mehr - unter anderem: »das<br />

heiße Gebirg und den finstern Teich«. Die letzten Worte wurden<br />

bisher <strong>nicht</strong> erklärt. Sie lassen sich aber durch Beachtung <strong>von</strong> Traditionsbezügen<br />

sehr wohl genauer deuten. Was den »finstern<br />

Teich« betrifft, so kann es wohl kaum fraglich sein, worauf der <strong>von</strong><br />

antiker Mythologie durchdrungene Dichter damit anspielte: es ist<br />

der Averner See, der wegen seines düstern Aussehens als Eingang<br />

der Unterwelt betrachtet wurde. In der römischen Dichtung trägt<br />

er die stehende Bezeichnung 'finster'. Vergil nennt ihn in berühmten<br />

Versen »lacus niger«20, spricht <strong>von</strong> ihm wie Hölderlin geradezu<br />

als »Teich«21 und schildert seine Lage inmitten unheimlichen,<br />

sagenumwobenen Waldes. 22 (Was daran denken läßt, dass auch in<br />

Hölderlins Bilderreihe der 'finstere Teich' nachbarlich neben dem<br />

»Wald« figuriert.) Damit wird sich auch für das »heiße Gebirg«<br />

die Deutung ergeben: hier ist an die vulkanische Gegend zu denken,<br />

innerhalb derer der Averner See liegt - die Vergil-Landschaft<br />

20 Vergil Aeneis VI 238. Properz III 18, 1: umbroso Averno. Diodor IV 22: das kristallklare<br />

Wasser des Averner Sees erscheint wgen seiner Tiefe völlig schwarz. Wenn<br />

Avemus, was bei römischen Dichtern oft geschah, überhaupt gleichgesetzt wurde<br />

mit "die Unterwelt" (Acheron), so wird er natürlich gern als "finster" bezeichnet.<br />

Vgl. OvidAm. III 9, 27: nigro [ ... ] Averno. Statius Theb. III 146: nigri [ ... ]Averni. VII<br />

823: lucemque exclusitAverno. Vgl. auch Schiller, DIE KÜNSTLER v. 247: »In des Avernus<br />

schwarzen Ozean«.<br />

21 Vergil Georg. IV 493: stagnis [ ... ] Avernis. Vgl.Aen. VI 107: palusAcheronte refuso.<br />

Plin. 1II 61: palus Acherusia.<br />

22 Vergil Aen. III 442. VI 118, 238, 564. Statius Silvae IV 3, 131 ff.<br />

207


der Campi Phlegraei, darüber hinaus allgemein an vulkanisches<br />

Gebirge.<br />

Mit beiden Lokalitäten verband die Phantasie der Römer Vorstellungen<br />

<strong>von</strong> Ereignissen sagenhafter Hybris, aber auch <strong>von</strong> Taten<br />

der Kultur. Die Campi Phlegraei galten - wie bei den Griechen<br />

das makedonische Phlegra - als Geburtsort der Giganten.<br />

Infolgedessen wurde auch der Schauplatz der Gigantomachie gern<br />

hierher verlegt. (Sonst aber stets in vulkanische Gegenden: unter<br />

feuerspeiende Berge begrub Zeus die besiegten Giganten, so den<br />

Enkelados unter den Ätna.) Den Averner See - der natürlich oft<br />

mit den Campi Phlegraei zusammengenannt wird 23 - erwähnt die<br />

lateinische Dichtung ähnlich wie den Acheron mit Vorliebe, wenn<br />

vom Eintritt in das Totenreich die Rede ist. Ihn mußten auch jene<br />

Heroen passieren, denen es gelang, lebend in die Unterwelt einzudringen<br />

und wiederzukehren, wie Orpheus,24 Äneas, Odysseus.<br />

25 Das ruft die Erinnerung wach an andere, denen ähnliches<br />

gelang: Dionysos, Herakles, Theseus.<br />

Hier mag daran erinnert werden: jene gleiche Horazode I 3,<br />

die uns beschäftigte, nennt innerhalb der Reihe <strong>von</strong> Beispielen<br />

menschlicher Hybris, die zum kulturellen Fortschritt führt, neben<br />

Schiffahrt und Feuerraub des Prometheus noch ferner: das Eindringen<br />

des Herkules in die Unterwelf 6 und die Kämpfe der Giganten<br />

sowie deren Besiegung durch Jupiter (v. 37 ff.). Auch das mag<br />

Hölderlins Vorstellungen beeinflußt haben. Übrigens war aber<br />

Herkules in jener Gigantomachie ein entscheidender Helfer der<br />

Götter. Wieder führt uns da in die Vergil-Landschaft der Campi<br />

Phlegraei zurück. Herkules nämlich - so wird bei Diodor erzählt<br />

- besiegte auf den Phlegräischen Feldern die Giganten und errichtete<br />

anschließend einen Damm, der den Averner und Lucriner See<br />

vom Meer abtrennte: die auch in der römischen Dichtung oft genannte<br />

Via Herculea.<br />

23 Diodor IV 21, 5; 22, 1. Strabo V 24. Statius Theb. XI 7 ff.<br />

24 Vergil Georg. IV 493. Ovid Met. X 51.<br />

25 Strabo V 24.<br />

26 Horaz carm. I 3, 36: Perrupit Acheronta Herculeus labor.<br />

208<br />

All dies zusammen gibt uns Aufschluß darüber, wie die Bilderreihe<br />

in der Entwurfskizze zur FRIEDENSFEIER aufzufassen ist. Offenbar<br />

dachte Hölderlin hier ursprünglich an eine Zusammenstellung<br />

<strong>von</strong> Beispielen für die Hybris, für das 'Gefährlich'e und<br />

'Trunkenübermütige' jener Siege, die in ihrer Gesamtheit die<br />

menschliche Kultur herbeiführten. Später bemerkte der Dichter die<br />

Unstimmigkeit, die darin bestand, dass in dieser Zusammenstellung<br />

die Kultursiege doch allzuwenig den Charakter <strong>von</strong> »göttlichen<br />

Gaben« hatten, dass das Hybris-Motiv zu stark hervortrat.<br />

Das Überwiegen der menschlichen Selbständigkeit vertrug sich<br />

schlecht mit dem Gedanken, dass die Besiegung der Elemente<br />

doch vor allem ein »rätselhaft Geschenk« der Götter sein sollte.<br />

Nun führte er durch Kürzung der Beispielreihe leicht die notwendige<br />

Änderung herbei. Wir werden aber, nachdem wir die Gedankengänge<br />

des Entwurfs genauer kennen, noch immer etwas vom<br />

Geist jener Horazode auch in der 6. Strophe der FRIEDENSFEIER verspüren;<br />

werden nun auch beispielsweise den Satz anders lesen:<br />

Viel mehr, denn menschlicher Weise [I]<br />

[Entwurf: Denn menschlicher Weise, nimmermehr 27 ]<br />

Sind jene mit uns, die fremden Kräfte, vertrauet [!].<br />

Diese Worte enthalten <strong>nicht</strong> nur den Hinweis auf die göttliche Hilfe,<br />

sondern gemahnen a?ch, mit der für Hölderlin so charakteristischen<br />

Mehrdeutigkeit, an das Hybris-Motiv, wie es im Vorentwurf<br />

sich herangedrängt hatte, doch wohl in Erinnerung an Horaz.<br />

Als der <strong>von</strong> Hölderlin nachweislich geschätzte Friedrich Wilhelm<br />

Zachariä jenes Horazische Propemptikon an Vergil zur<br />

Grundlage nahm für eine Ode, der er den Titel gab: AN DAS SCHIFF,<br />

WELCHES KLOPSTOCKEN NACH DÄNNEMARK FÜHRTE, formte er das lateinische<br />

»illi robur et aes triplex« folgendermaßen um28:<br />

27 StAll 705 Z. 28 ff. - Original-Umschrift der FRIEDENSFEIER <strong>von</strong> Binder-Kelletat (1959)<br />

S. VII Z.4.<br />

28 Poetische Schriften <strong>von</strong> Friedrich Wilhelm Zachariä. Th. 2. Braunschweig 1772. S.<br />

299. In anderen Zachariä-Ausgaben ist das Gedicht stets unter der Abteilung Oden<br />

und Lieder zu finden.<br />

209


Wir dürfen nun im Hinblick auf DIE WEISHEIT DES TRAURERS annehmen,<br />

dass derartige Motivüberlagerungen bei Hölderlin ein<br />

absichtlich und gern angewendetes Stilmittel sind, dass man in ihnen<br />

<strong>nicht</strong> unbedingt - der Gedanke läge nahe - ein Unsicherwerden<br />

des Bewußtseins im Zeichen zunehmender Erkrankung sehen<br />

muß. Das berechtigt uns, eines der schwierigsten Probleme der<br />

Hölderlininterpretation in neuem Lichte zu sehen: jene rätselhafte<br />

Stelle vom »Syrier« in der letzten Strophe <strong>von</strong> BROD UND WEIN.<br />

Man erinnert sich: in der Handschrift, die noch dem Gedicht den<br />

TItel DER WEINGOTT gab (H2a), war es bekanntlich auch Dionysos,<br />

der hier· am Schluß in den Hades hinabsteigt:<br />

Aber indessen kommt, als Freudenbote, des Weines<br />

Göttlichgesandter Geist unter die Schatten herab.<br />

Später änderte Hölderlin dies in:<br />

Aber indessen kommt als Fakelschwinger des Höchsten<br />

Sohn, der Syrier, unter die Schatten herab.<br />

Die Bezeichnung »Syrier« nötigt zunächst, an Christus zu denken,<br />

um so mehr als Hölderlin in einem anderen Gedicht mit dem Wort<br />

syrisch auf die Heimat Christi weist. Indessen blieb immer das Rätsel<br />

bestehen: wie das gesamte Gedicht vom »Weingott« handelt,<br />

so auch die letzte (9.) Strophe, und zwar diese mit besonders charakteristischen<br />

Akzenten. Als Hölderlin nun eine Reinschrift des<br />

Gedichtes anfertigte (H3a), die die Änderung »Syrier« aufnahm,<br />

blieben in der 9. Strophe alle diejenigen Sätze bestehen, in denen<br />

auf Wesenszüge des Dionysos angespielt ist, die infolgedessen auf<br />

Christus <strong>nicht</strong> passen wollen.31 In der geänderten Stelle aber trat<br />

31 Bezüglich des ersten Verses der Strophe wies Emil Petzold auf den Zusammenhang<br />

mit Demeterkult und eleusinischen Mysterien hin. Wenn in dem folgenden<br />

Vers (144) gesagt ist, der Weingott »Führe des Himmels Gestirn ewig hinunter, hinauf«,<br />

so beruht auch das auf antiker Tradition. In Sophokles' ANTIGONE wird Dionysos<br />

v. 1147 angeredet: xopay ä


vor Augen, die Hölderlin .zuerst sah. So entdeckten sie den gleichen<br />

Weg, den er eingeschlagen hatte - ihr Dichten stand im Zeichen<br />

schonsamen Bewahrens. <strong>Ihr</strong>e Wirkungsweise ist charakterisiert<br />

durch Georges Vers des Gedichts FRANKEN in DER SIEBENTE RING:<br />

»Da schirmten held und sänger das Geheimnis.«<br />

Spinoza und die deutsche Klassik<br />

Spinoza kam in Deutschland nur einmal seiner Bedeutung gemäß<br />

zur Geltung: während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.<br />

Damals wirkte er unverkennbar stark auf führende Geister wie<br />

Lessing, Herder, den jungen Schiller, auf Goethe, Hölderlin, Schelling,<br />

Friedrich Schlegel - um nur die wichtigsten zu nennen. Den<br />

vielgesichtigen Zeitraum <strong>von</strong> 1750 bis 1800 generalisierend als<br />

»Deutsche Klassik« zu bezeichnen, wie es oft geschieht, läßt sich<br />

kaum rechtfertigen. Wenn wir dennoch die Genannten mit dem<br />

Begriff »Klassik« in Verbindung bringen, so deshalb, weil jeder <strong>von</strong><br />

ihnen jenes besonders intensive Verhältnis zur Antike hatte, das,<br />

wofern es überhaupt Kennzeichen für Klassik gibt, eins der<br />

beachtenswertesten ist.<br />

Die Beziehungen zwischen der deutschen Klassik und Spinoza<br />

sind bisher nur unzureichend dargestellt worden. Richtunggebend<br />

hätten schon Heines Hinweise auf die Bedeutung Spinozas für<br />

Goethe sein müssen. 1 Wer jedoch in Schriften über Goethe oder die<br />

deutsche Klassik nachschlägt, wird feststellen, dass auch nur Erwähnungen<br />

des Namens Spinoza allezeit selten blieben, dass ihre<br />

Zahl oft gleich Null ist., Eigentlich nennenswert in früherer Zeit<br />

sind nur Korffs verdienstvolle Ausführungen über den Pantheismus<br />

der Klassik, innerhalb derer Spinoza wirklich berücksichtigt<br />

wird. Doch haben gerade diese Partien <strong>von</strong> Korffs Geist der Goethezeit<br />

sich wenig durchgesetzt. 2<br />

Herkömmliche Aversion gegen Spinoza führte zu diesem fast<br />

gänzlichen Verschweigen. So alt wie die Lehre Spinozas ist der Vor-<br />

1 Heinrich Heine, ZUR GESCHICHTE DER RELIGION UND PHILOSOPHIE IN DEUTSCHLAND. 3.<br />

Buch (HHA 8/1, 101): "Goethe war der Spinoza der Poesie. Alle Gedichte Goethes<br />

sind durchdrungen <strong>von</strong> demselben Geiste der uns auch in den Schriften des<br />

Spinoza anweht. Daß Goethe gänzlich der Lehre des Spinoza huldigte ist keinem<br />

Zweifel unterworfen. Wenigstens beschäftigte er sich damit während seiner ganzen<br />

Lebenszeit ... "<br />

2 Vgl. H. A. Korff, Geist der Goethezeit. T. I-IV. 2. durchges. Auf!. Leipzig 1927-1955.<br />

216 217


wurf, sie laufe auf Atheismus heraus. Offenes Be<strong>kennt</strong>nis zu seiner<br />

Philosophie war daher lange Zeit gefährlich. Noch im 18. Jahrhundert<br />

blieben Exemplare seiner Schriften schwer zugänglich. Soweit<br />

es damals Spinoza-Anhänger gab, entwickelte sich unter ihnen<br />

eine Art Chiffernsprache, mit der man sich verständlich machte.<br />

Zu ihr gehören Wendungen wie "Eins und Alles" - nachdem Lessing<br />

erregendes Wort bekannt geworden war: "Hen kai pan! Ich<br />

weiß <strong>nicht</strong>s anders." Oder man sagte: "Gott und die Natur", "die<br />

göttliche Natur" etc. Letzteres verdeutscht übrigens "divina natura",<br />

einen <strong>von</strong> Spinoza oft gebrauchten Terminus. 'Es erforderte<br />

viel Mut, so öffentlich für Spinoza einzutreten, wie es Herder am<br />

Ende des 'Pantheismusstreits' in seiner Schrift GOTT tat. 3 Nur im<br />

liberalen Weimar war dergleichen möglich. Doch kam Herder noch<br />

1799 in Bedrängnis, als Fichte, selbst wegen Atheismus behördlich<br />

verklagt, jene Schrift GOTT für atheistisch erklärte. Bezeichnenderweise<br />

galten Fichtes eigene gewagte Gottesbegriffe damals als<br />

'Spinozismus' katexochen. Den entscheidenden Schlag gegen<br />

Spinoza führte schließlich K a n t, als er mit seiner großen Autorität<br />

den Vorwurf des Atheismus erhärtete, mehr noch, indem er vom<br />

Standpunkt der alleinseligmachenden kritischen Philosophie die<br />

gesamte Lehre Spinozas diskreditierte. Dies lieferte den Spinozagegnern<br />

künftiger Generationen die erwünschten Argumente.<br />

Durch Kant wurde erreicht, dass man Spinoza <strong>nicht</strong> mehr las.<br />

Obwohl im 19. Jahrhundert Be<strong>kennt</strong>nisse zu Spinoza kein ernstliches<br />

Risiko mehr bedeuteten, blieb Antispinozismus doch in verschiedensten<br />

Formen bestehen. Ablehnend verhielt sich weiter das<br />

orthodoxe Christentum. Neue Gegenkräfte erwuchsen durch Antisemitismus<br />

und Deutschtümelei. Es kamen die Zeiten, in denen<br />

man sich sträubte, zugeben zu müssen, dass' deutscher' Geist wirklich<br />

beeinflußt gewesen sein sollte durch den 'jüdischen' Philosophen.<br />

Mit der 'Spinozalegende' meinte man aufräumen zu müssen.<br />

Haltlose Thesen wurden aufgestellt, eine nach der andern: was<br />

als Spinozismus bei Goethe oder Herder erscheine, beruhe in Wahr-<br />

3 Erstausgabe der Spinozaschrift GOlT. Av yv&e; ,,[l tun eroe;, 1')ölwv f01]. Einige Gespräche<br />

<strong>von</strong> J. G. Herder. Gotha 1787. (SWS 16, S. 401 ff; HFA 4, 679 ff.)<br />

218<br />

h it auf Einwirkung <strong>von</strong> Böhme, Giordano Bruno, Shaftesbury, Leibniz,<br />

Plotin usw. Das Dritte Reich fand dann den 'Philosophen', der<br />

mit dem Fall Spinoza endgültig aufzuräumen hatte. Da galt nun<br />

die Verknüpfung des Namens Spinoza mit der deutschen Klassik<br />

Is "grober Unfug"4.<br />

Nicht zuletzt stand seit dem 19. Jahrhundert der Anerkennung<br />

pinozas auch im Wege, dass man Wert und Rang seiner lateinischen<br />

Sprache <strong>nicht</strong> mehr begriff. Obwohl sie partiell der Mathematik<br />

nahesteht, eignet Spinozas Sprache im ganzen doch eine<br />

Großartigkeit, die <strong>von</strong> den Dichtern noch empfunden wurde. Dem<br />

jungen Herder erschien "das System des Spinoza" als "Dichtung"5.<br />

Goethes Liebe für das Latein Spinozas ist bezeugt; dass er in seiner<br />

FARBENLEHRE sich bewußt der Vortragsweise <strong>von</strong> Spinozas ETHIK<br />

nschloß, hat er selbst bekannt. Heine hob an Spinozas Sprache<br />

"Gedankengrandezza", "Ernst" und selbstbewußten "Stolz" hervor.<br />

6 Noch Nietzsche mit seinem ausgeprägten Sprachgefühl<br />

empfand ähnlich, als er <strong>von</strong> Spinozas Stil sagte: "Schlicht und er-<br />

4 Ernst Krieck: Mythologie des bürgerlichen Zeitalters. 1939.<br />

5 Vgl. Herders Rezension <strong>von</strong> James Beattie, Versuch über die Natur und Unveränderlichkeit<br />

der Wahrheit. A. d. Engl. FRANKFURTER GELEHRTE ANZEIGEN, Nr. LXXXV. Den 23.<br />

Oktober 1772. (SWS 5, 456-462)<br />

6 Heine, ZUR GESCHICHTE DER RELIGION UND PHILOSOPHIE IN DEUTSCHLAND. 2. Buch (HHA<br />

8/1, .54): "Die mathematische Form giebt dem Spinoza ein herbes Aeußere. Aber<br />

dieses ist wie die herbe Schale der Mandel; der Kern ist um so erfreulicher. Bey<br />

der Lektüre des Spinoza ergreift uns ein Gefühl wie beim Anblick der großen Natur<br />

in ihrer lebendigsten Ruhe. Ein Wald <strong>von</strong> himmelhohen Gedanken, deren blühende<br />

Wipfel in wogender Bewegung sind, während die unerschütterlichen Baumstämme<br />

in der ewigen Erde wurzeln. Es ist ein gewisser Hauch in den Schriften<br />

des Spinoza, der unerklärlich. Man wird angeweht wie <strong>von</strong> den Lüften der Zukunft.<br />

Der Geist der hebräischen Propheten ruhte vielleicht noch auf ihrem späten<br />

Enkel. Dabey ist ein Ernst in ihm, ein selbstbewußter Stolz, eine Gedankengrandezza,<br />

die ebenfalls ein Erbtheil zu seyn scheint; denn Spinoza gehörte zu<br />

jenen Märtyrerfamilien, die damals <strong>von</strong> den allerkatholischsten Königen aus Spanien<br />

vertrieben worden. Dazu kommt noch die Geduld des Holländers, die sich<br />

ebenfalls, wie im Leben, so auch in den Schriften des Mannes, niemals veriäugnet<br />

hat. I Constatirt ist es, daß der Lebenswandel des Spinoza frey <strong>von</strong> allem Tadel<br />

war, und rein und makellos wie das Leben seines göttlichen Vetters, Jesu Christi.<br />

Auch wie dieser litt er für seine Lehre, wie dieser trug er die Dornenkrone. Ueberall<br />

wo ein großer Geist seinen Gedanken ausspricht ist Golgatha."<br />

219


haben, wie es seine Art ist."7 Demgegenüber richten sich Vorwürfe<br />

der Literarhistoriker, Spinozas Sprache sei rationalistisch trocken<br />

und 'unbeholfen', <strong>von</strong> selbst. Auch urteilte man offenkundig nach<br />

mangelhaften Übersetzungen, während er im Originaltext <strong>nicht</strong><br />

mehr gelesen wurde.<br />

Ungebührlich zunutze machte man sich eine weitere Eigenheit<br />

Spinozas. Der Philosoph hatte die Fülle originaler Gedanken in<br />

lakonischer Kürze vorgetragen unter Verzicht auf effektvolle Ausweitungen.<br />

Dies hatte zur Folge, dass schon seit dem 17. Jahrhundert<br />

- <strong>nicht</strong> nur in Deutschland - volkstümliche Literaten und Philosophen<br />

Spinoza maßlos spoliierten, seine Ideen ausmünzten, sie<br />

in gemütvollerer Gewandung als eigene Schöpfung ausgaben. Unzählige<br />

Plagiate blieben unbemerkt, da das Original so schwer zugänglich<br />

war. Schon Lessing hatte aufgezeigt, wieviele Hauptlehren<br />

bei Leibniz <strong>von</strong> Spinoza stammten, (Monadenlehre, Prästabilierte<br />

Harmonie, Expansion und Kontraktion usw.) Herder wies darauf<br />

hin, dass in der <strong>Bibel</strong>kritik "manche manches als eine neue Entdeckung,<br />

dazu weit unvollkommener gesagt" hätten, "das in Spinoza<br />

bereits gründlicher stand."8 Schillers Jugendgedicht SPINO­<br />

ZA spricht höhnend da<strong>von</strong>, wie der »Eichbaum« Spinoza gefällt<br />

wurde, weil sein »schönes Holz« für die Bauten späterer unbedeutenderer<br />

Philosophen »<strong>von</strong>nöten« war 9 • Ähnlich empfand He i n e,<br />

als er feststellte, kein Philosoph hätte so vielIdeendiebstahl zu be-<br />

klagen gehabt wie Spinoza. <<br />

Schelling bezeichnete Spinozas Philosophie einmal als) ein<br />

"nur in äußersten Umrissen entworfenes Werk, in dem man, wenn<br />

es beseelt wäre, erst noch die vielen fehlenden oder unausgeführten<br />

Züge bemerken würde"; übrigens gleiche dies Werk in seiner<br />

Starrheit "den ältesten Bildern der Gottheiten, die, je weniger indi-<br />

7 Friedrich Nietzsche, DIE FRÖHLICHE WISSENSCHAFT. Buch 4, Aphor. 333.<br />

8 Herder, Gott. Erstes Gespräch (HFA 4, 686)<br />

9 Friedrich Schiller, ANTHOLOGIE AUF DAS JAHR 1782. Faksimileausgabe. Hrsg. <strong>von</strong> <strong>Katharina</strong><br />

<strong>Mommsen</strong>. Stuttgart: Metzler, 1973. S. 41: Spinoza I Hier ligt ein Eichbaum<br />

umgerissen, I Sein Wipfel thät die Wolken küssen. I Er ligt am Grund - warum? I Die<br />

Bauren hatten, hör ich reden, I Sein schönes Holz zum Bau'n <strong>von</strong>nöthen, I Und rissen<br />

ihn deßwegen um.<br />

220<br />

viduell-Iebendige Züge aus ihnen sprachen, desto geheimnisvoller<br />

erschienen".l0 Schelling selbst hat Spinoza auf solche Weise ausgiebig<br />

"beseelt", ähnliches gilt <strong>von</strong> Fichte, Schleiermacher, Hegel,<br />

Schopenhauer und vielen anderen. Die Forschung ging solchen<br />

verborgeneren Spinozabezügen nur ungern nach. Sie vermied es,<br />

Entsprechendes bei den Dichtern der deutschen Klassik klarzustellen.<br />

Denn auch diese, sämtlich Meister des Worts, drückten gelegentlich<br />

Gedanken Spinozas phantasievoller und mehr "individuell-lebendig"<br />

aus um einer dichterischen oder eingängigeren<br />

Sprache willen. Statt die wahre Herkunft solcher Formulierungen<br />

zuzugeben, folgerte man unredlich - insbesondere bei Goethe und<br />

Herder -: Spinoza sei 'selbständig' weitergedacht und verändert<br />

worden. Noch irreführender waren die Versuche, auf Grund bestimmter<br />

terminologischer Wendungen nachzuweisen, Goethe oder<br />

Herder seien primär <strong>von</strong> ganz anderen Philosophen abhängig gewesen,<br />

keineswegs <strong>von</strong> Spinoza.<br />

Ein Beispiel hierfür: wollte Goethe seine Stellung zur Unsterblichkeitsfrage<br />

erläutern, so sprach er gern <strong>von</strong> Monade oder "entelechischer<br />

Monade". Diese hielt er für unvergänglich, <strong>nicht</strong> die Person<br />

des MenschenY Monade weist auf Leibniz als Begründer der<br />

Monadenlehre, Entelechie ist aristotelischer Terminus. Dennoch war<br />

es irreführend, Goethe in dieser Frage Abhängigkeit <strong>von</strong> Aristoteies<br />

nachzusagen oder ihn gar als Leibnizianer hinzustellen. 12<br />

(Letzteres wurde besonders hartnäckig versucht.) Schon seit den<br />

Dokumenten des 'Pantheismusstreits' war es bekannt, dass Leibniz<br />

den Begriff der Monade aus Spinoza herausgesponnen hatte.<br />

Die Termini <strong>von</strong> Aristoteles und Leibniz dienten Goethe nur, in<br />

der Konversation faßlich darzulegen, was in Spinozas Sprache zu<br />

schwierig ausgedrückt war. 13 Wie in allen ähnlichen Fällen gilt auch<br />

10 EW.J. Schelling, DAS WESEN DER MENSCHLICHEN FREIHEIT 1809.<br />

11 Vgl. Christian Gottlob Voigt an Heinrich Carl Abraham Eichstädt, 31. Juli 1814:<br />

"Auf Aussichten jenseits des Grabes rechnet er [Goethel <strong>nicht</strong> [ ... 1 <strong>von</strong> Nachfolge<br />

der Toten mag er <strong>nicht</strong>s hören, und gewiß hat er nach seinen Begriffen ganz recht."<br />

(SchrGG 56, S. 455.)<br />

12 Vgl. z. B. Erich Schmidt zu FAUST v. 11824 (JA 14, S. 400).<br />

13 Vgl. in der ETH IK besonders T. V, Prop. 22 und 23.<br />

221


hier: kein anderer Philosoph, sondern Spinoza war es, zu dem<br />

Goethe sich stets bekannte, <strong>von</strong> dem er noch als Siebzigjähriger in<br />

einem Epigramm sagte: »Der Philosoph, dem ich zumeist vertraue<br />

.. «14 Über eine so zentrale Frage wie die der Unsterblichkeit<br />

hätte Goethe nie anders als in Übereinstimmung mit Spinoza gesprochen.<br />

Es beruht auf ähnlichen terminologischen Scheinargumenten,<br />

wenn Goethe und Herder hartnäckig ein 'Dynamismus' zuerkannt<br />

wurde, der sie angeblich <strong>von</strong> Spinoza unterschied, mit dem man<br />

sie zugleich in rechte Nähe zum 'dynamischen Weltbild' des 'nordisch-germanischen<br />

Menschen' bringen wollte. Heute <strong>kennt</strong> und<br />

nennt man die Erörterungen der "potentia" in Spinozas ETHIK,15<br />

die Herder legitimierten, in seinem Buch GOTT <strong>von</strong> "Kräften" zu<br />

sprechen, Goethe <strong>von</strong> 'Tätigkeit', 'Polarität', vom 'Schaffen und Umschaffen'<br />

einer sich nie "zum Starren waffnenden" Natur. Selbst<br />

der müßige Wortstreit um die Begriffe 'Pantheismus' und 'Panentheismus',<br />

bei dem alle Mühe aufgewendet wurde, einen 'echt deutschen<br />

Pantheismus' gegen den des Spinoza zu stellen, basiert auf<br />

einer terminologischen Unterschlagung. In Wahrheit spielt bei Spinoza<br />

selbst der Gesichtspunkt der Immanenz eine beträchtliche<br />

Rolle. Im 11. Teil der ETHIK, Von der Natur und dem Ursprunge des<br />

Geistes, lautet Spinozas 15. Lehrsatz: "Alles was ist, ist in Gott, und<br />

<strong>nicht</strong>s kann ohne Gott sein oder begriffen werden."16 Unter Hinweis<br />

auf diesen Lehrsatz erscheint wiederholt in der ETHIK die Formel'in<br />

Deo'.J7<br />

14 WAl 51,109.<br />

15 Hans M. Wolff: Spinozas Ethik. Eine kritische Einführung. München, 1958. 5.24 ff.<br />

Vgl. Martin Bollacher: Der junge Goethe und Spinoza. Tübingen, 1969. s. 235.<br />

16 Ethices, Pars Secunda, De Natura, et Origine Mentis, Propositio XV: "Quicquid est,<br />

in Deo est, et nihil sine Deo esse, neque concipi potest."<br />

17 So lautet beispielsweise, gleichfalls in T. II, die Demonstratio zu Propositio XVIII:<br />

"Omnia, quae sunt, in Deo sunt, et per Deum concipi debent" (Alles was ist, ist in<br />

Gott und muß aus Gott begriffen werden); oder ebd. die Anmerkung zum 45. Lehrsatz:<br />

(Scholium zu Propositio XLV): Loquor [ ... ] de ipsa existentia rerum singularum,<br />

quatenus in Deo sunt." ("Ich spreche [ .. . ] <strong>von</strong> dem Dasein der einzelnen<br />

Dinge selbst, insofern sie in Gott sind ... ")<br />

222<br />

Indem wir vom Pantheismus sprechen, ist ein entscheidender<br />

Punkt erreicht. Spinozas Wirkung auf die Klassik blieb schwer faßlich,<br />

weil eine auf Pantheismus gegründete Weltanschauung,<br />

bei der die traditionelle Vorstellung vom personalen Schöpfergott<br />

fehlte, letzten Endes auf Ablehnung stieß. Mit der Formel vom<br />

Pan e n t h eis mus suchte man diesen personalen Gott wieder<br />

heranzutragen - im Gegensatz zu Spinoza und zu den Repräsentanten<br />

der Klassik, denen sonst die Formel vielleicht akzeptierbar<br />

gewesen wäre. Gott die Ehre zu geben, <strong>nicht</strong> der Welt - darauf lief<br />

alles Bestreben hinaus. Die Konzeption der Klassiker war gerade<br />

entgegengesetzt: sie gaben der Welt die Ehre, der Natur, und die<br />

hier entdeckten Werte erschienen ihnen <strong>von</strong> solchem Rang, dass<br />

sie das Prädikat "göttlich" für einzig geeignet hielten, ihn auszudrücken.<br />

Anerkannt wurde zwar auch <strong>von</strong> ihnen das unbedingte<br />

Primat des schaffenden Prinzips - Spinozas natura naturans. Doch<br />

erschien es seinem Wesen nach unerforschlich, konnte vom Menschen<br />

<strong>nicht</strong> gefaßt werden, am wenigsten als 'Person'. Nur mittelbar<br />

läßt das Göttliche in der Natur - der natura naturata Spinozas<br />

- sich erkennen. Dies gab der Welt, den Dingen ihren Wert und<br />

dem Menschen seine wichtigste Aufgabe.<br />

Mit dieser Einstellung zur Natur unterscheiden sich die Klassiker<br />

<strong>von</strong> ähnlich gerichteten Anschauungen. Ein allgemeines religiöses<br />

Naturgefühl war schon seit Beginn des 18. Jahrhunderts<br />

aufgekommen bei den B. H. Brockes, E. v. Kleist, A. v. Haller,<br />

bei Rousseau, Hamann, den Empfindsamen. Demgegenüber<br />

bedeutet der Pantheismus der Klassik eine entschiedene Steigerung,<br />

eine ganz neue Stufe ist erreicht. Die Frage erhebt sich: wie kam es<br />

dazu? Sie wäre keinesfalls zu klären mit der These Korffs, derzufolge<br />

jener Pantheismus eine Opposition darstellt gegen die "Entgötterung"<br />

der Welt durch die Aufklärung. Die Entgötterung der<br />

Welt, gegen die sich der Pantheismus kehrt, ist älteren Datums, sie<br />

vollzog sich beim Sieg des Christentums über die Antike, fast vor<br />

anderthalb Jahrtausenden. Genau hierauf zielt Schillers Wort <strong>von</strong><br />

der »entgötterten Natur« in DIE GÖTTER GRIECHENLANDS. Es war aber<br />

gerade ein neues Erlebnis der Antike, das für die Klassiker im 18.<br />

Jahrhundert das Weltbild verändert hatte.<br />

223


lingen zu sagen: "Götter und Helden waren alle aus ihrem Geschlecht,<br />

ihre Vorfahren, ihres Gleichen."24 Goethe äußerte denselben<br />

Gedanken dann freizügig und allgemein, indern er <strong>von</strong> der<br />

"reinen Verehrung der Götter als Ahnherren"25 bei den Griechen<br />

sprach. Solche Einstellung zum Menschen gilt ihm als eins des<br />

Hauptrnerkmale des "heidnischen Sinnes"26, wie er Winckelmann<br />

eigen war. Potentieller Träger des Göttlichen konnte für die Klassiker<br />

auch der Mensch gegenwärtiger Zeit sein. Im Hinblick hierauf<br />

sprach Hölderlin sowohl in seiner Lyrik als auch im HYPERION vorn<br />

»Gott in uns«, übrigens gelegentlich auch Herder und Schiller.27<br />

Wenn Hölderlin Gestalten seiner Dichtung wie Diotima, Adamas,<br />

Alabanda, Empedokles oft mit dem Beiwort »göttlich« versieht, so<br />

beruht das auf ganz der nämlichen 'heidnischen' Gesinnung wie<br />

bei Winckelmann und wurde durch diese inspiriert.<br />

Es bleibt zu fragen: was führte die Klassiker zur pantheistischen<br />

Philosophie des Spinoza? Das Bedürfnis, Natur, Welt und Gott wieder<br />

als identisch zu sehen, hätten es <strong>nicht</strong> wirklich auch andere<br />

ähnliche Philosophien befriedigen können, auf die man so oft verwies?<br />

Ein äußerer Grund für die Bevorzugung Spinozas liegt allgemein<br />

in der Tatsache, dass dieser Philosoph der Hauptvertreter<br />

des Pantheismus aller Zeiten ist. So wendete man sich an das Original,<br />

<strong>nicht</strong> an Nachahmer oder Vorläufer. Was aber Spinoza eigentlich<br />

für die Klassiker attraktiv machte, waren tieferliegende Ursachen.<br />

In Hauptpunkten seiner Lehre fand man die philosophische<br />

Deutung <strong>von</strong> Wesenszügen, die soeben an der Antike neu entdeckt<br />

worden waren. Das erweist sich bereits im Hinblick auf die Auf-<br />

24 PLASTIK. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem<br />

Traume. Vierter Abschnitt (HFA 4, 303).<br />

25 Vgl.WINCKELMANN UND SEIN JAHRHUNDERT. Abschnitt Heidnisches (WA 146,25).<br />

26 Ebd.<br />

27 "Das Göttliche in uns wird mit uns geboren", heißt es in Herders Lobschrift Jo­<br />

HANN WINCKELMANN <strong>von</strong> 1781 (HFA 2,682). Schiller in ÜBER ANMUT UND WÜRDE: "der<br />

Gesetzgeber selbst, der Gott in uns." (5NA 20,303.) Vgl. auch Goethes FAUST v. 1566:<br />

"Der Gott, der mir im Busen wohnt." - Ovids "est deus in nobis" (Fast. 6, 5) läßt<br />

sich nur bedingt vergleichen, da es speziell vom Dichter gesagt ist. Allgemeiner<br />

heißt es bei Aristoteles, NIKOMACHISCHE ETHIK 7, 14: "Alle Wesen haben ihrer Natur<br />

nach etwas Göttliches [theion]."<br />

226<br />

fassung, dass Göttliches, wie in allem, so auch im Menschen sei.<br />

Von der Teilhabe des Menschen an der Gott-Natur spricht Spinoza<br />

unter verschiedensten Gesichtspunkten. "Es ist unmöglich, dass<br />

der Mensch kein Teil der Natur sei", lautet ein Lehrsatz des vierten<br />

Teils der ETHIK. 28 Da Natur und Gott für Spinoza gleich sind29,<br />

bedeutet das: der Mensch ist ein Teil Gottes. An anderer Stelle heißt<br />

es: 11 Der menschliche Geist ist ein Teil des unendlichen Verstandes<br />

Gottes."30 Sogar vorn Verhältnis der Menschen untereinander gilt<br />

unter bestimmten Voraussetzungen: "Der Mensch ist dem Menschen<br />

ein Gott. "31 Spinoza weist auf dies als Möglichkeit, vorausgesetzt,<br />

dass der Mensch "nach der Leitung der Vernunft lebt", was<br />

im Gefüge seiner Lehre bedeutet: nach den Gesetzen der göttlichen<br />

Natur handeln. Erfüllt der Mensch diesen schwersten Anspruch,<br />

so wird er dem Mitmenschen "am meisten nützlich", wird ihm<br />

"ein Gott" sein. Wie nüchtern auch Spinozas Formeln sind, sie umschreiben<br />

doch philosophisch gerade das, was Winckelmann so oft<br />

an den 'heroischen Freundschaften' der Antike pries: ein Mensch<br />

wird dem andern "göttlich", indern er selbstlos Opfer für ihn bringt.<br />

Solche Freundespaare schufen dann, <strong>von</strong> Winckelmann angeregt,<br />

die Dichter: Carlos-Posa, Orest-Pylades, Hyperion-Alabanda.<br />

Wichtiger noch war die Übereinstimmung der eigentlich zentralen<br />

l:ehren Spinozas mit den neuen Erfahrungen vorn Gei s t der<br />

An t i k e. Ein solcher Kardinalpunkt war seine Forderung, man solle<br />

vorn Unerforschlichen der Gott-Natur soviel wie möglich zu erkennen<br />

suchen durch intellektuelles Anschaun der Dinge und Erforschung<br />

ihres Wesens. Solche Er<strong>kennt</strong>nis - Spinoza nennt sie Scientia<br />

intuitiva oder auch Dei intuitiva cognitio-errnöglicht es, Natur<br />

in Gott, Gott in der Natur zu sehn. Die Scientia intuitiva "schreitet<br />

28 "Fieri non potest, ut homo non sit Naturae pars ... "(ETHICES Pars Quarta, Oe Servitute<br />

Humana seu de Affectuum Viribus. Propositio IV)<br />

29 Dies ist die Quintessenz des I. Teils <strong>von</strong> 5pinozas ETHIK, auf die in den folgenden<br />

Teilen immer wieder Bezug genommen wird in Wendungen wie z. B. in der Einleitung<br />

zum IV. Teil (Von der menschlichen Knechtschaft oder der Macht der Affekte):<br />

"aeternum [ ... ] infinitum Ens, quod Deum, seu Naturam appellamus (5.382)<br />

30 ETHIC. T. 11, Coroll. zu Prop. 11.<br />

31 ETHIC. T. IV, Schol. zu Prop. 35.<br />

227


e<strong>kennt</strong> Goethe am 9. Juni 1785 brieflich gegenüber Jacobi. Bei der<br />

Beschäftigung mit "Pflanzen und Steinen", mit Anatomie ("zur Erholung<br />

und Ergötzung der Seele"), mit Geologie, Farben usw. ging<br />

es Goethe darum die "Harmonia naturae", die gesetzmäßige Einheitlichkeit<br />

in der Welt der Formen und Dinge nachzuweisen.39<br />

Indem er der "Ordnung und Verknüpfung der Dinge" anschauend<br />

nachspürte, suchte er Erfahrungen <strong>von</strong> der "Ordnung und Verknüpfung<br />

der göttlichen Ideen", die Spinoza als identisch mit jener<br />

sehen lehrt. 40<br />

Dass Goethe zu seiner morphologischen Lieblingsthese <strong>von</strong> der<br />

"Metamorphose, wodurch alles stufenweise hervorgebracht wird",<br />

durch einen Passus aus Spinozas ETHIK angeregt wurde, geht aus<br />

einem eigenhändigen Auszug aus der ETHIK (T. I, Prop. 22) in der<br />

Ausgabe seines Freundes H. E. G. Paulus41 hervor: "Modificatio,<br />

quae et necessario, et infinita existit", wozu er bemerkt: "Die<br />

Metamorphose wodurch alles stufenweise hervorgebracht wird."42<br />

Dass Goethe sich mit der gesamten Konzeption seiner Morphologie<br />

in der Nachfolge Spinozas bewegte, beweisen Sätze wie<br />

die folgenden aus der Ethik: "Die Gesetze und Regeln der Natur,<br />

nach welchen alles geschieht und Formen in Formen verwandelt<br />

werden, sind überall und immer die gleichen [ ... ] Es geschieht<br />

in der Natur <strong>nicht</strong>s, was ihr als Fehler angerechnet werden könn-<br />

39 An eh. v. Stein, 7. Mai 1784. "Harmonia naturae" in Goethes Brief an Herder <strong>von</strong><br />

Anfang November 1784, über seinen Fund des Zwischenkieferknochens. Wohl auf<br />

Grund vieler Gespräche mit Goethe verwendet Herder den Ausdruck "Harmonie<br />

der Natur" gleichbedeutend in Garr (1787), um Spinozas Begriff der göttlichen Gesetzmäßigkeit<br />

in der Natur zu kennzeichnen (SWS 16, 551; HFA4, 778): die "lebendige<br />

Harmonie der Natur" offenbart sich mitihren"einfachen Gesetzen" dem Künstler,<br />

dem Naturforscher durch Anschaun. Das Wort Harmonie auch sonst oft in der<br />

Schrift Gott, zumal im Fünften Gespräch (Vgl. SWS 16, 491, 516, 553, 561, 568.) Der<br />

Terminus "Harmonie" ist Leibnizisch, wurde aber <strong>von</strong> Goethe und Herder auf Spinozas<br />

Lehre angewandt. (Ähnlich bei dem Leibnizischen Terminus "Monade".) In<br />

HölderlinsHYMNE AN DIE GÖTTIN DER HARMONIE 1ST HARMONIE verstanden wiein Herders<br />

Gesprächen GOTT und <strong>von</strong> dorther - <strong>nicht</strong> <strong>von</strong> Leibniz - übernommen. Die Göttin<br />

» Harmonie« fordert den Menschen auf, ihres »Reichs Gesetze zu ergründen«! (v. 75.)<br />

40 ETHIC T. II, Prop. 7.<br />

41 Benedicti deSpinoza Opera quaesupersuntomnia. Iterumedenda cur. praefationes,<br />

vita m auctoris [ ... ] addidit Henr. Eberh. Gottlob Paulus. Jena 1802-03. Vol. 2, S. 57.<br />

42 Vgl. HA 13,562 zur 'Studie nach Spinoza'.<br />

230<br />

te."43 Menschlicher Irrtum ist es, anzunehmen, "es könne sich jede<br />

Form in jede beliebige andere verwandeln"44. Derartige Irrtümer<br />

zu bekämpfen, hat Goethe unendliche Mühe aufgewandt.<br />

Das gleiche Scholium der ETHIK wirkte sogar unmittelbar auf Goethes<br />

Idee einer "Urpflanze" ein. Der Brief an Charlotte <strong>von</strong> Stein,<br />

in dem er aus Rom freudig <strong>von</strong> der Entdeckung des "Hauptpunktes"<br />

berichtet, enthält nämlich Wendungen, die auffallend mit Spinozas<br />

Text übereinstimmen. So schreibt Goethe am 9. Juni 1787:<br />

"Mit diesem Modell [der Urpflanze] [ ... ] kann man alsdann noch<br />

Pflanzen ins Unendliche erfinden, die konsequent sein müssen, das<br />

heißt: die, wenn sie auch <strong>nicht</strong> existieren, doch existieren könnten und<br />

[ .. . ] innerliche Wahrheit und Notwendigkeit haben." Bei Spinoza<br />

hatte Goethe gelesen: während Substanz "in sich ist und durch sich<br />

selbst begriffen wird", soll unter Modifikationen verstanden werden:<br />

"das, was in einem andern ist und deren Begriff nach dem<br />

Begriff des Dinges, in welchem sie sind, gebildet wird. Daher auch<br />

können wir richtige Ideen <strong>von</strong> Modifikationen haben, welche <strong>nicht</strong> existieren,<br />

weil nämlich, obschon sie außerhalb des Intellekts <strong>nicht</strong> wirklich<br />

existieren, ihr Wesen doch in einem andern so enthalten ist, daß<br />

sie durch dieses begriffen werden können."45<br />

Mit der Scientia intuitiva in engstem Zusammenhang steht eine<br />

weitere für die Klassiker wichtige Hauptlehre Spinozas: die vom<br />

43 ETHIC T. III, Vorwort: "Nihil in natura fit, quod ipsius vitio possit tribui; est na mque<br />

natura sem per eadem, et ubique una, eademque ejus virtus, et agendi potentia,<br />

hoc est, naturae leges, et regulae, secundum quas omnia fiunt, et ex unis formis<br />

in alias mutantur, sunt ubique, et semper eaedem ... "<br />

44 ETHIC T. I, Schol. 2 zu Prop. 8: "qui enim veras rerum causas ignorant, omnia confundunt,<br />

et si ne ulla mentis repugnantia tarn arbores, quam homines, loquentes<br />

fingunt, et homines tarn ex lapidibus, qua m ex semine, formari, et, quascunque<br />

formas in alias quascunque mutari, imaginantur."<br />

45 ETHIC T. I, Schol. 2 zu Prop. 8: " ... Nam per substantiam intelligerent id, quod in se<br />

est,et per se concipitur, hoc est, id, cujus cognitio non indiget cognitione alterius<br />

rei. Per modificationes autem id, quod in alio est, et qua rum conceptus a conceptu<br />

rei, in qua sunt, formatur; quocirca modificationum non existentium veras ideas<br />

possumus habere; quandoquidem, quamvis non existant actu extra intellectum,<br />

earum tarnen essentia ita in alio comprehenditur, ut per idem concipi possint. .. "<br />

231


Amor Dei intellee tualis. Was wir aus dem Anschaun der Natur,<br />

nach Weise der cognitio intuitiva erkennen, sagt Spinoza, "daran<br />

erfreuen wir uns, indem nämlich die Idee Gottes uns gleichsam<br />

das Geleit gibt"46. Die entspringende Freude (Laetitia) nennt Spinoza<br />

Amor Dei intellectualis, zugleich erklärend: der Amor Dei<br />

intellectualis bedeutet die Er<strong>kennt</strong>nis, I dass Gott unveränderlich<br />

und ewig ist.47 In dieser Liebe zu Gott besteht für den Menschen<br />

das höchste Gut; sie bringt die höchste Befriedigung des Geistes. 48<br />

Je mehr Einzeldinge der Mensch mit der Scientia intuitiva er<strong>kennt</strong>,<br />

sie, wie Spinoza sagt, sub specie aeternitatis betrachtend, deso mehr<br />

wächst im Menschen selbst das Teilhaben am Ewigen, das Göttliche.<br />

Denn der daraus entspringende Amor Dei intellectualis ist<br />

selber Teil Gottes, Teil der göttlichen Liebe. 49 Unter dem Gesichtspunkt<br />

der Ewigkeit betrachten wir die Dinge, wenn wir sie <strong>nicht</strong><br />

"in Bezug auf Zeit und Raum", sondern "als in Gott enthalten,<br />

und aus der Notwendigkeit (necessitas) der göttlichen Natur folgend<br />

begreifen."<br />

Diese Lehre vom Amor Dei intellectualis, mit der das letzte Buch<br />

<strong>von</strong> Spinozas ETHIK in mächtiger Steigerung ausklingt, hat die stärk-<br />

46 ETHIC. T. V, Prop. 32.]: "Quicquid intelligimus tertio cognitionis genere, eo delectamur,<br />

et quidem concomitante idea Dei, tanquam causa.<br />

47 ETHIC. T. V, Zusätze zu Prop. 32: ". .. Laetitia concomitante idea Dei, tanquam causa,<br />

hoc est, Amor Dei, non quatenus ipsum ut praesentem imaginamur; sed quatenus<br />

Deum aeternum esse intelligimus, et hoc est, quod amorem Dei intellectualern<br />

voco.[ ... ]Laetitia in transitione ad majorem perfectionem consistit, beatitudo<br />

sane in eo consistere debet, quod Mens ipsa perfectione sit praedita."<br />

48 ETHIC. T. V, Demonstr. zu Prop. 20:"Hic erga Deum Amor summum bonum est, quod es<br />

dictamine rationis appetere possumus ... " Prop. 27: "Ex hoc tertio cognitionis genere<br />

summa quae dari potest, Mentis acquiescentia oritur ... " Demonstr.: Summa Mentis<br />

virtus est Deum cognoscere [ ... ] quae quidem virtus eo major est, quo Mens hoc cogni<br />

tionis genere magis res cognoscit; adeoque qui res hoc cogni tionis genere COgnOSCI t,<br />

is adsummam humanam perfectionem transit, etconsequenter, summa Laetztla afflCltur,<br />

idqueconcomitante idea sui, suaeque virtutis, ac proinde ex hoc cognitionis genere<br />

summa, quae dari potest, oritur acquiescentia; vgl. auch Demonst. zu Prop 32.<br />

49 ETHIC., T. V, Prop. 36: "Mentis Amor intellectualis erga Deum est ipse Dei Amor,<br />

quo Deus se ipsum amat, non quatenus infinitus est, sed qua.tenus per essenharn<br />

humanae Mentis, sub specie aeternitatis consideratam, exphcan po test, hoc est,<br />

Mentis erga Deum Amor intellectualis pars est infiniti amoris, quo Deus se ipsum amat."<br />

Vgl. auch Prop. 29 mit Zusätzen.<br />

232<br />

sten Wirkungen ausgeübt. Keine ist aber auch so verkannt worden,<br />

da man ihren eigentlichen Charakter zuwenig beachtete. Sehr<br />

zu Unrecht hat man sie mit christlicher Mystik verglichen, ja sogar<br />

darin ein Zugeständnis ans Christentum sehen wollen. Soweit mit<br />

der Liebe zur Gott-Natur ein gewisses Gefühlsmoment die sonst<br />

so wissenschaftliche Er<strong>kennt</strong>nislehre Spinozas ergänzt, handelt es<br />

sich keineswegs um ein verschwommen religiöses, christlich auf<br />

Jenseitiges gerichtetes Gefühl. Derartiges, wie es im 18. Jahrhundert<br />

die Gefühlslehren Lavaters, Hamann1?, Jacobis, Schleiermachers<br />

boten, konnten die Klassiker <strong>nicht</strong> mehr akzeptieren. Es war gerade<br />

die Nicht-Christlichkeit, die Übereinstimmung mit antiker Weltsicht,<br />

durch die Spinozas Amor Dei intellectualis, wie alle seine<br />

Lehren, so befreiend wirkte.<br />

Die Nicht-Christlichkeit erweist sich schon durch die Art und<br />

Weise, wie Spinoza selbst das den Amor Dei intellectualis bestimmende<br />

Gefühl kennzeichnet: er nennt es ja Laetitia, Freude,<br />

und diese Laetitia ist Freude am Diesseits, an der Welt der Dinge,<br />

deren Wert sie <strong>nicht</strong> aufhebt, sondern betont und erhöht. Dies wird<br />

allzu oft übersehen, <strong>nicht</strong> berücksichtigt aber auch, welche Rolle<br />

der Begriff der Laetitia sonst in Spinozas Philosophie spielt. Laetitia<br />

ist der einzige Affekt, den Spinoza ganz positiv bewertet. Durch<br />

Laetitia "geht der Geist zu größerer Vollkommenheit über", während<br />

Tristitia, Traurigkeit, ihn unvollkommener macht. 50 "Von je<br />

mehr Laetitia wir erregt werden, zu desto größerer Vollkommenheit<br />

gehen wir über, und um so mehr sind wir folglich der göttlichen<br />

Natur teilhaftig." Nur "Aberglauben" betrachtet Tristitia als<br />

etwas Gutes. 51 Mit alledem wird spürbar gegen christliche Auffas-<br />

50 ETHIC., T. III, Schol. zu Prop. 11: " ... Per Laetitiam itaque in sequentibus intelligarn<br />

passionem, qua Mens ad majorem perfectionem transit. Per Tristitiam autem passionem,<br />

qua ipsa ad minorem transit perfectionem. = Unter Lust verstehe ich also im Folgenden<br />

die Leidenschaft, wodurch der Geist zu grässerer Vollkommenheit übergeht, unter<br />

Ul1lust aber die Leidenschaft, wodurch er zu geril1gerer Vollkommel1heit übergeht." Ahnlich<br />

an zahlreichen Stellen.<br />

5'1 ETHIC., T. IV, Append, $ 31: At superstitio id contra videtur statuere bonum esse,<br />

quod Tristitiam, ed id contra malum, quod Laetitiam affert. Sed, ut jam diximus<br />

(vid e Schol. Prop. 45. p.4) nemo, ni si invidus, mea impotentia, et incommodo delecta<br />

tur. Nam quo majori Laetitia afficimur, eo ad majorem perfectionem transi-<br />

233


TIeck": "Man müßte nur sagen mit allem Gleichmut, wir sind betrübt<br />

über der Herren ihre Traurigkeit!"54 Zu den Romantikern,<br />

denen die Laetitia fehlt, zählte Goethe auch Heinrich <strong>von</strong> Kleist,<br />

obwohl er hier <strong>nicht</strong> genannt wird. Goethes tiefe Abneigung gegen<br />

diesen,den Konvertiten Adam Müller und Friedrich Schlegel<br />

nahestehenden Dichter resultierte zum guten Teil aus der Kleistschen<br />

'Tristitia'. So tadelte Goethe an ihm die "nordische Hypochondrie",<br />

das einseitige Aufsuchen des "Unschönen in der Natur",<br />

um demgegenüber die "Heiterkeit" und "fröhlich bedeutsame<br />

Lebensbetrachtung" italienischer Novellen zu loben.55 Auch hier<br />

bildete Spinozas Wertung der 'Laetitia' den Maßstab. Kleists Tristitia'<br />

war für Goethe ein Zeichen des Nichtverstehens der Gott­<br />

Natur. Goethes provozierendes Diktum gegenüber Eckermann,<br />

Klassik sei das Gesunde, Romantik das Kranke 56 , erscheint gleichfalls<br />

im Hinblick auf Spinozas Laetitia in anderem Licht. Das "Ge-<br />

54 Ebd. S. 229.<br />

55 In dem berühmt gewordenen Gesprächsbericht Joh. Daniel Falks <strong>von</strong> Ende<br />

1810:"Goethe tadelt an ihm [Kleistl die nordische Schärfe des Hypochonders; es<br />

sei einem gereiften Verstande unmöglich, in die Gewaltsamkeit solcher Motive, wie<br />

er sich ihrer als Dichter bediene, mit Vergnügen einzugehen. Auch in seinem >Kohlhaas


Gotteslust",,,heilige Liebeslust" am Schluß <strong>von</strong> FAUST 11, überhaupt<br />

die gesamte Schlußszene "Bergschluchten" sind Darstellungen der<br />

Laetitia des Amor Dei intellectualis. Das gleiche gilt vom Schluß<br />

der KLASSISCHEN WALPURGISNACHT in FAUST, <strong>von</strong> manchen berühmten<br />

Gedichten, besonders im DIVAN. Im Sinne des Amor intellectualis<br />

Dei feierten auch der junge Schiller oder Hölderlin die Natur als<br />

"göttliche Geliebte". Bei Hölderlin wird allerdings, anders als bei<br />

Goethe, vom Amor Dei intellectualis überall gesprochen. Hyperions<br />

Verehrung des Eins und Alles, der Natur, der Elemente, des<br />

Göttlichen im Menschen gehören hierzu, so aber auch vieles in<br />

Oden, Elegien, Hymnen, im EMPEDOKLES. Wenn beim späten Hölderlin<br />

die Freude - bis hin zur FRIEDENSFEIER - immer intensiver<br />

vergeistigte Bedeutung bekommt, so steht das in Übereinstimmung<br />

mit Spinozas Laetitia. 60<br />

Auch Sc hell in g und Friedrich Sc h 1 e gel begeisterten sich in ihrer<br />

Jugend für den Amor Dei intellectalis. Alle drei sprachen dann gern<br />

<strong>von</strong> "intellektualer Anschauung". Schelling fand in der intellektualen<br />

Anschauung den "höchsten Punkt <strong>von</strong> Spinozas System", womit<br />

die hervorragende Bedeutung des fünften, abschließenden Teils<br />

der Ethik rechtens anerkannt ist. Den Terminus "intellektuale Anschauung"<br />

leitete Schelling ab aus Spinozas "intelligendo concipere"<br />

sowie "Mentis erga Deum amor intellectualis" - Wendungen, welche<br />

Schelling den Ausruf entlockten: "Was geht über die stille Wonne<br />

dieser Worte, das Hen kai pan unsres besseren Lebens."61 Nach<br />

Hölderlin lag intellektuale Anschauung auch der griechischen Tragödie<br />

zugrunde, womit deren religiöses Fundament auf moderne<br />

Weise gedeutet wurde. (ÜBER DEN UNTERSCHIED DER DICHTARTEN.)<br />

60 In einem Brief Hölderlins an seinen Bruder Karl <strong>von</strong> 1801 wird der Begriff vom<br />

unpersonalen Gott definiert im Anschluß an Spinoza, nämlich ganz wie bei Lessing<br />

unter Hinweis auf das Hen kai pan: "Alles unendliche Einigkeit, aber in diesem<br />

Allem ein vorzüglich Einiges und Einigendes, das, an sich, kein Ich<br />

ist, und dieses sei unter uns Gott!" (StA VI 419.)<br />

61 Die Stellen: ETHIC. T. V, Schol. zu Prop. 23; Prop. 36. - Schellings Schriften VOM IcH<br />

ALS PRINZIP DER PHILOSOPHIE (.1795) und PHILOSOPHISCHE BRIEFE ÜBER DOGMATISMUS UND<br />

KRITIZISMUS (1796). Hen kai pan wal' spinozistische Losung unter den Freunden<br />

Hölderlin, Schelling und Hegel.<br />

238<br />

Durch den Gesichtspunkt des Amor Dei intellectualis wurde<br />

der Realismus Spinozas für die Dichter ebenso förderlich, wie der<br />

zur Vorherrschaft gelangte Idealismus Kants sie behinderte. Diese<br />

Problematik offenbarte sich dem Scharfblick des genialen jungen<br />

Friedrich Schlegel. 1800 sprach er darüber im ATHENAEUM, diplomatisch<br />

und doch provozierend genug. Sein GESPRÄCH ÜBER DIE POE­<br />

SIE, das noch <strong>von</strong> Goethe sehr geschätzt wurde, enthält eine große<br />

Lobrede auf Spinoza.62 Schlegel macht aufmerksam auf den Wert<br />

der Hauptlehren Spinozas für den modernen Dichter. Die Scientia<br />

intuitiva regt die anschauende Phantasie an, bewirkt zugleich, "daß<br />

wir uns wegen des Höchsten <strong>nicht</strong> so ganz allein auf unser Gemüt<br />

verlassen". Der Amor Dei intellectualis vermag den "Funken des<br />

Enthusiasmus" zu entzünden, den Dichtung benötigt. Übrigens<br />

müsse jedes Kunstwerk eine "neue Offenbarung der Natur" sein.<br />

"Nur dadurch, daß esEins und Alles ist, wird ein Werk zum Werk."<br />

Spinoza hinstellend als Lehrer eines "neuen Realismus", sagt Schlegel<br />

ferner: "Ieh begreife kaum, wie man ein Dichter sein kann, ohne<br />

den Spinoza zu verehren, zu lieben und ganz der seinige zu werden.[<br />

... ] Im Spinoza findet <strong>Ihr</strong> denAnfang und das Ende aller Phantasie,<br />

den allgemeinen Grund und Boden, auf dem Euer Einzelnes<br />

ruht [ ... ] Ergreift die Gelegenheit und schaut hin! Es wird Euch ein<br />

tiefer Blick in die innerste Werkstätte der Poesie gegönnt."<br />

Eine kühne Vision steht als Möglichkeit vor Schlegels Blick: es<br />

werde eine neue Poesie kommen, in der sich der "grenzenlose<br />

Realismus" Spinozas mit dem neuen philosophischen Idealismus<br />

vereine. Unter Anspielung auf antike Mythen vergleicht Schlegel<br />

Spinoza mit dem Urgott Saturn, der <strong>von</strong> seinem Sohn Jupiter der<br />

62 ATHENAEUM. Eine Zeitschrift <strong>von</strong> August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel.<br />

Dritten Bandes Erstes Stück. Berlin 1800 (Reprint Berlin 1960) S. 94 ff.: REDE ÜBER<br />

DIE MYTHOLOGIE. Dort heißt es u.a.: "Spinosa, scheint mil'S, hat ein gleiches Schicksal,<br />

wie der gute alte Saturn der Fabel. Die neuen Götter haben den Herrlichen<br />

vom hohen Thron der Wissenschaft herabgestürzt. In das heilige Dunkel der Fantasie<br />

ist er zurückgewichen, da lebt und haust er nun mit den andern Titanen in<br />

ehrwürdiger Verbannung. [ ... ] ich begreife kaum, wie man ein Dichter seyn kann,<br />

ohne den Spinosa zu verehren, zu lieben und ganz der seinige zu werden [. .. ] Im<br />

Spinosa [ ... ] findet <strong>Ihr</strong> den Anfang und das Ende aller Fantasie, den allgemeinen<br />

Grund und Boden, auf dem Euer Einzelnes ruht .. . "<br />

239


Herrschaft beraubt worden war: "Spinoza, scheint mirs, hat ein<br />

gleiches Schicksal wie der gute alte Saturn der Fabel. Die neuen<br />

Götter [des Idealismus] haben den Herrlichen vom Thron der<br />

Wissenschaft herabgestürzt. In das heilige Dunkel der Phantasie<br />

ist er zurückgewichen, da lebt und haust er nun mit den andern<br />

TItanen in ehrwürdiger Verbannung." In der Kunst aber, der "neuen<br />

Poesie", die Realismus und Idealismus vereine, werde die "Erinnerung<br />

an die alte Herrschaft" wachbleiben. Von Saturn-Spinoza<br />

wird abschließend gesagt: "Er teile dann die Wohnung im Tempel<br />

der neuen Poesie mit Homer und Dante und geselle sich zu den<br />

Laren und Hausfreunden jedes Gottbegeisterten Dichters."63<br />

An anderer Stelle nennt Schlegel Spinozas Philosophie geradezu<br />

"die Mysterien des Realismus" und fügt hinzu: in ihr liege der<br />

"Urquell aller Poesie". Eigentlich müsse man "den Geist des Spinoza"<br />

und seines Realismus in einem großen Dichtwerk darstellen.<br />

Dazu bedürfte es jedoch eines neuen Dante. Möglicherweise hatte<br />

Schlegel gehört, dass Goethe sich soeben mit dem Projekt eines<br />

solchen großen "Naturgedichts" beschäftigte.<br />

Als Altertumskenner spricht Schlegel, wenn er ferner auf Spinoza<br />

eine "neue Mythologie" begründet sehen möchte, eine Mythologie,<br />

die ein "Kunstwerk der Natur" sei. Dahinter steht die<br />

Er<strong>kennt</strong>nis, die Schlegel mit den Klassikern gemein hat: die Mythologie<br />

der Griechen, ihre Vergöttlichung der Natur- und Lebensmächte,<br />

hatte zur Voraussetzung ein ganz ähnlich lebendiges,<br />

ehrendes Verhältnis zur Welt, wie es in Spinozas Lehre vom Amor<br />

Dei intellectualis wiederkehrt. Auf letztere deutend sagt Schlegel:<br />

"Mythologie ist ein hieroglyphischer Ausdruck der umgebenden<br />

Natur in dieser Verklärung <strong>von</strong> Phantasie und Liebe." Schlegel war<br />

sich bewußt, wie zwischen dem Verständnis der griechischen<br />

Mythologie und Spinoza ein enger Zusammenhang bestand, dass<br />

63 Vielleicht wurde Hölderlins schwer deutbare Ode NATUR UND KUNST oder SATURN<br />

UND !UPITER, gedichtet bald nach dem Erscheinen <strong>von</strong> Schlegels Aufsatz, angeregt<br />

durch diese Version des Saturn-Mythos. Die Wendung »heilige Dämmerung« im<br />

Schlußvers erinnert an Schlegels "heiliges Dunkel". Vgl. auch Herder in der Schrift<br />

Gon (SWS 16, 492): "Ich wünschte, daß andre auf dem Wege tapfer fortschreiten<br />

mögen, für welchen Spinoza in seiner Dämmerung die Bahn brach."<br />

240<br />

jene durch den Philosophen erklärt, Spinoza selbst hierdurch aktuell<br />

geworden war. "Versucht es nur einmal", so ruft er den Dichtem<br />

zu, "die alte Mythologie voll vom Spinoza und <strong>von</strong> jenen Ansichten,<br />

welche die jetzige Physik in jedem Nachdenkenden erregen<br />

muß, zu betrachten, wie Euch alles in neuem Glanz und Leben<br />

erscheinen wird." Die Aufforderung, eigentlich konform gehend<br />

mit dem, was die Klassik soeben geleistet hatte, ist bedeutungsvoll<br />

vor allem, weil zum erstenmal auf die Verbindung zwischen Mythologie<br />

und Spinoza-Rezeption hingewiesen war. An Leistungen der<br />

Klassik denkt Schlegel auch mit dem Verweis auf die "jetzige Physik"<br />

- der größte "Physiker" war für die Frühromantiker Goethe. 64<br />

Schlegel beendet seine Spinoza-Lobrede mit den Worten: "Ich kann<br />

<strong>nicht</strong> schließen, ohne noch einmal zum Studium der Physik aufzufordern,<br />

aus deren dynamischen Paradoxien jetzt die heiligsten<br />

Offenbarungen der Natur <strong>von</strong> allen Seiten ausbrechen."<br />

Dass Spinoza selbst der Mythologie <strong>nicht</strong> gerade Vorschub leistet,<br />

indem er den Polytheismus ablehnte, konnte Schlegel sowenig<br />

irritieren wie die Klassiker. Insgesamt ließ die ETHIK sehr große Freiheit,<br />

z. B. durch die Lehre <strong>von</strong> den unendlichen Attributen der Gott­<br />

Natur. Gerade diese Freiheit wirkte auf die Dichter erlösend und<br />

inspirierend. So konnte Goethe <strong>von</strong> sich sagen, er sei als Dichter<br />

und Künstler Poly theist, als Naturforscher Pantheist, als Persönlichkeit<br />

und sittlicher Mensch Monotheist. 65 All das ließ sich mit<br />

der Lehre Spinozas vereinen.<br />

Der Amor Dei intellectualis führt die Menschen deswegen zur<br />

Annäherung an die Gott-Natur, weil er einen seelischen Zustand<br />

herbeiführt, wie er in Vollkommenheit Gott selbst eigen ist. Er befreit<br />

nämlich <strong>von</strong> der Herrschaft der Affekte. "Je mehr der Geist<br />

64 "Goethe der erste Physiker seiner Zeit." Novalis ScHRIFTEN. Hg. <strong>von</strong> Richard Samuel.<br />

Bd 2. Darmstadt, 1965, S. 640.<br />

65 Maximen und Reflexionen Nr. 807: "Wir sind naturforschend Pantheisten, dichtend<br />

Poly theisten, sittlich Monotheisten." (SchrGG 21, S. 179). An F. H. Jacobi<br />

schrieb Goethe am 6. Jan. 1813: "Ich für mich kann [ ... ] <strong>nicht</strong> an einer Denkweise<br />

genug haben; als Dichter und Künstler bin ich Poly theist, Pantheist hingegen als<br />

Naturforscher [ ... ] Bedarf ich eines Gottes für meine Persönlichkeit, als sittlicher<br />

Mensch, so ist dafür auch schon gesorgt."<br />

241


als Fehler angerechnet werden könne, die Gesetze und Regeln, nach<br />

welchen Formen in Formen verwandelt werden, sind immer die<br />

gleichen.89<br />

Nicht Unterdrückung aller, sondern Einschränkung der schlechtenAffekte<br />

ist Ziel des Menschen. "Schlecht" und "gut" sind theoretisch<br />

für Spinoza freilich nur "Denkformen". (An diese Lehre schloß<br />

sich Nietzsehe an.) Da Spinoza jedoch bestrebt ist, ein "Muster der<br />

menschlichen Natur aufzustellen" - wie nahe steht das dem Ziele<br />

der Klassik! - erklärt er praktisch den Begriff "gut" dahingehend,<br />

dass es ein Mittel sei, uns dem "Muster mehr und mehr zu nähern".<br />

"Schlecht" ist, was solche Annäherung hindert.90 In der Entscheidung<br />

zwischen gut und schlecht betätigt sich der Wille des<br />

Menschen, bejahend oder verneinend. Unter Wille versteht Spinoza<br />

allein "die Fähigkeit des Bejahens und Verneinens", <strong>nicht</strong> das<br />

Begehren <strong>von</strong> Dingen.91 Damit ist Wollen Sache der Einsicht, Er<strong>kennt</strong>nis,<br />

Vernunft. Eine zentrale Formulierung lautet geradeswegs:<br />

"Wille und Einsicht (intellectus) sind einunddasselbe."92 Hier aber<br />

liegt die Determiniertheit des Willens durch Naturgesetze verankert.<br />

Das Wollen ist abhängig vorn Maß der Einsicht, das die Natur<br />

verlieh, gerade in dieser Hinsicht sind die Menschen verschieden<br />

ausgestattet: "Jeder verlangt oder verschmäht nach den Gesetzen<br />

seiner Natur notwendig das, was er für gut oder für schlecht hält. "93<br />

"Ich bestreite", sagt Spinoza, "dass der Wille sich weiter erstreckt<br />

als das Auffassungsvermögen oder die Fähigkeit des Erkennens."94<br />

Bei aller Determiniertheit des Willens durch das dem Menschen<br />

<strong>von</strong> Natur mitgegebene Verhältnis zu den Affekten, durch das ihm<br />

verliehene Maß der Einsicht vor allem, bleibt doch ein gewisser<br />

Spielraum, wodurch Freiheit gegenüber den Affekten erweitert<br />

werden kann. Einsicht läßt sich steigern. Ja, das Streben nach Meh-<br />

89 Vgl. oben S. 230 mit Anm. 42.<br />

90 ETHIC T. IV, Vorwort.<br />

91 ETHIC T. 11, Schol. zu Prop. 48.<br />

92 ETHIC T. 11, Coroll. zu Prop. 49.<br />

93 ETHIC T. IV, Prop. 19.<br />

94 ETHIC T. 11, Schol. zu Prop. 49.<br />

250<br />

rung der Einsicht ist dem Menschen aufgegeben, auch dies gehört<br />

zum "Gesetz seiner Natur". Im 4. Teil der ETHIK führt Spinoza den<br />

Begriff der Vervollkommnung ein. Wo Vervollkommnung möglich<br />

ist, herrscht Bewegungsfreiheit. Der 4. Teil, mit dem bezeichnenden<br />

Titel DE SERVITUTE HUMANA, geht <strong>von</strong> der Feststellung aus, dass die<br />

wahre "Knechtschaft" der Menschen darin besteht, dass sie ihre<br />

Affekte <strong>nicht</strong> mäßigen, <strong>nicht</strong> einschränken können. "Frei" wären<br />

sie, wenn sie nur <strong>von</strong> der Vernunft geleitet würden. Wege werden<br />

dann gezeigt, wie der Mensch durch "Erkennen" wirklich "frei"<br />

sein, d. h. seine Affekte mäßigen kann. Der Satz "nach Leitung der<br />

Vernunft handeln" bildet das Leitthema. Von der Vernunft geleitet<br />

werden, diese Devise betrachtet Spinoza als identisch mit vielem<br />

Positivem, in erster Linie mit Erkennen (intellegere), aber auch mit<br />

"aus Tugend handeln", mit tätiger Nächstenliebe, Vollbringen guter<br />

Werke usw. Das Erkennen gipfelt in der Cognitio Dei intuitiva,<br />

der Er<strong>kennt</strong>nis Gottes, die damit ein wichtigster Schritt zur Befreiung<br />

<strong>von</strong> den Affekten ist.<br />

Bedeutsam ist eine weitere Gleichsetzung, wonach Spinoza das<br />

"<strong>von</strong> der Vernunft geleitet werden" versteht als das "Suchen des<br />

wahrhaft Nützlichen", letzteres aber erklärt als das Streben, "sein<br />

Sein zu erhalten".95 Die Formel "sein Sein erhalten" (suum esse<br />

conservare) wird leicht mißverstanden, als bezöge sie sich nur<br />

auf die Bewahrung der körperlichen Existenz. Spinoza meint aber<br />

zugleich und vor allem: Erhaltung der jeweiligen Seinsstufe, die<br />

dem Menschen durch Gesetz seiner Natur angewiesen wurde. Es<br />

gibt auch ein Sterben bei lebendigem Leibe, wenn der Mensch seelisch<br />

und geistig verkümmert, <strong>nicht</strong> mehr er selbst ist, hinter dem<br />

Gesetz seiner Natur zurückbleibt.96 Herders Horen-Aufsatz DAS EI­<br />

GENE SCHICKSAL (1795) handelt <strong>von</strong> dieser Art Sterben. Nur durch<br />

Bezug auf die Seinsstufe läßt sich die Gleichsetzung <strong>von</strong> suum esse<br />

conservare mit "nach Leitung der Vernunft handeln" begreifen.<br />

Goethes Verse "Allen Gewalten / Zum Trutz sich erhalten"97 deu-<br />

95 ETHIC. T. IV, Schol. zu Prop. 18; Prop. 24.<br />

96 ETHIC T. IV, Scho l. zu Prop. 39.<br />

97 L ILA (1 777) 2. Au fzug / Magus. (WA 112, 62)<br />

251


ten auf den allgemeineren Aspekt der Seinsbewahrung. Von Bewahrung<br />

der geistigen Seinsstufe handelt das ganz an Spinoza orientierte<br />

Gedicht BEHERZIGUNG (1789): "Eines schickt sich <strong>nicht</strong> für alle!<br />

... Sehe jeder, wo er bleibe, / Und wer steht, daß er <strong>nicht</strong> falle!"98<br />

Alles Handeln nach der Vernunft indessen, alle Einsicht, selbst<br />

das Erkennen Gottes als solches genügt noch <strong>nicht</strong>, um das Ziel<br />

größtmöglicher Befreiung <strong>von</strong> Affekten zu erreichen. Es dient lediglich<br />

der Vorbereitung. Den Satz, dass Wille und Einsicht dasselbe<br />

sind, ergänzt Spinoza durch den fundamentalen Gedanken: ein<br />

Affekt kann nur durch einen andern, stärkern Affekt aufgehoben<br />

werden. So kann auch die" wahre Er<strong>kennt</strong>nis des Guten und Schlechten"<br />

als solche Affekte <strong>nicht</strong> einschränken, sondern nur, insofern sie<br />

selbst zu einem Affekt wird, stärker als die einzuschränkenden<br />

Affekte".99) Im V. Teil der ETHIK, betitelt ÜBER DIE MACHT DER ERKENNT­<br />

NIS, ODER DIE MENSCHLICHE FREIHEIT, wendet Spinoza diesen Grundgedanken<br />

auf die Er<strong>kennt</strong>nis an. Gezeigt wird, wie Er<strong>kennt</strong>nis zum<br />

Affekt, die immer reinere Er<strong>kennt</strong>nis zum immer stärkeren Affekt<br />

(die niederen übertreffend) werden kann. Souveränster aller Affekte,<br />

fähig alle andern zu beruhigen, ist die zum Amor Dei intellectualis<br />

gewordene Er<strong>kennt</strong>nis Gottes. Damit ist, wie es am Schluß<br />

der ETHIK heißt, die eigentliche Freiheit, im Sinne der Acquiescentia<br />

animi erreicht. Der volle Sinn der Acquiescentia in se ipso, wo<strong>von</strong><br />

schon früher die Rede war 100 , ergibt sich erst aus dem genaueren<br />

Verfolg <strong>von</strong> SpinozasAffektenlehre. Die mit dem Amor Dei intellectualis<br />

erreichte Freiheit ist die höchste dem Menschen mögliche, sie<br />

ähnelt ihn dem affektlosen Zustand der Gott-Natur an.<br />

In allen Phasen seiner Argumentation über Will e n s fr e i h e i t<br />

bleibt Spinoza Psychologe und Realist, indem er die natürliche Ungleichheit<br />

der Menschen berücksichtigt. Dies bestimmt seinen<br />

Determinismus. Immer wieder weist er darauf hin, wie ver-<br />

98 "Ach, was soll der Mensch verlangen?" (WA 11,65) Vgl. auch ZUR FARBENLEHRE,<br />

Kap. Newtons Persönlichkeit: "Jedes Wesen, das sich als eine Einheit fühlt, will sich<br />

in seinem eigenen Zustand ungetrennt und unverrückt erhalten. Dies ist eine ewige<br />

notwendige Gabe der Natur."<br />

99 ETHIc. T. IV, Prop. 7; Prop. 14 mit Demonstr.<br />

100 Vgl. oben 5.242 m. Anm. 67.<br />

252<br />

schieden die Menschen sind. "Sofern sie <strong>von</strong> Affekten bestürmt<br />

werden, weichen sie <strong>von</strong>einander ab", stimmen "<strong>von</strong> Natur <strong>nicht</strong><br />

überein", sind überhaupt "veränderlich und unbeständig".lol Von<br />

der" Vernunft geleitet" werden, ist als Möglichkeit zwar "allen<br />

Menschen gemeinsam", doch schränkt Spinoza den Satz realistisch<br />

ein: es sei "ein Gut, das <strong>von</strong> allen Menschen, sofern sie gleicher Natur<br />

sind, in gleicher Weise besessen werden kann".102<br />

Als Psychologe und Realist erweist Spinoza sich auch in der<br />

Art, wie er formuliert, was Kant nachmals im Kategorischen Imperativ<br />

ausdrückte. Wiederholt kehrt im IV. Teil der ETHIK der Satz<br />

wieder: Wer nach Leitung der Vernunft lebt, verlangt für sich <strong>nicht</strong>s,<br />

was er <strong>nicht</strong> auch für andere Menschen begehrte. Bei dieser für<br />

das gesellschaftliche Leben so wichtigen Lehre läßt Spinoza <strong>nicht</strong><br />

die Wirklichkeit außer Acht. Er weist auf die Unterschiede des Menschen,<br />

auf die Schwere der Aufgabe, nennt die Voraussetzung für<br />

ihre Erfüllung. Indem Kant die gleiche Lehre als "Imperativ" für<br />

alle gültig vorträgt, ist er formal berechtigt, <strong>von</strong> Erfahrungstatsachen<br />

- die er <strong>kennt</strong> - abzusehen. So aber entsteht die Fiktion, als<br />

sei jeder imstande, sich zu verhalten wie der <strong>von</strong> der Vernunft Geleitete,<br />

um so mehr, als Kant in diesem Zusammenhang die Autonomie<br />

des Willens betont. Das war populär und erfolgreich. Doch<br />

hat man oft auch die Enge der Kantischen Lehre empfunden, das<br />

"Mönchische", wie Schiller kritisierte. 103 Gerade beim Vergleich mit<br />

Spinozas WeItblick schmeckt der Kategorische Imperativ ein wenig<br />

zu sehr nach preußischem Drill und Kasernenhof.<br />

Psychologischer Realismus liegt insbesondere Spinozas Lehre<br />

zugrunde, dass Affekte nur durch stärkere Affekte eingeschränkt<br />

werden können, dass mithin selbst die Erlangung eigentlicher Freiheit<br />

nur durch einen sublimsten Affekt (den Amor intellectualis<br />

Dei) erreichbar ist. Noch hier bleibt Spinoza Determinist, indem er<br />

die Veranlagung des Menschen als maßgeblichen Faktor sieht. Der<br />

101 ETHIc. T. IV, Prop. 32-34.<br />

102 ETHIc. T. IV, Demonstr. zu Prop. 36.<br />

103 "Kants Entwicklung [vom freien Willen) ist mir gar zu mönchisch, ich habe nie<br />

damit versöhnt werden können." Schiller an Goethe, 2. August 1799; ähnlich 22.<br />

Dezember 1798.<br />

253


Amor Dei intellectualis setzt eine entsprechende Mitgift der Natur<br />

voraus, einen "besonders befähigten Geist", bzw. einen "zu sehr<br />

vielen Dingen befähigten Körper".l04 Determiniert ist aber auch<br />

das aus dem Amor Dei intellectualis folgende Streben nach "Verwandlung",<br />

das Bemühen, den Geist zu immer höherem Bewußtund<br />

Tätigsein anzutreiben, worin wir den Schlüssel zu Fausts tätigem<br />

Bemühn erkannten.105 Solche Verwandlungen sind gleichfalls<br />

nur möglich, "soweit es die Natur des Körpers zuläßt und ihm<br />

zuträglich ist".l06 Aus den letzten Sätzen der ETHIK geht hervor, wie<br />

wenige Menschen Spinoza solcher Entwicklung für fähig hält. Nur<br />

die Weisen erlangen "Macht über die Affekte", "Freiheit des Geistes",<br />

sind den "Unwissenden" dadurch weit "überlegen". Fast <strong>von</strong><br />

allen wird das Heil vernachlässigt. "Aber alles Erhabene", damit<br />

schließt Spinoza, "ist ebenso schwierig wie selten."<br />

Welche Bedeutung für Goethe die Affektenlehre Spinozas hatte,<br />

geht daraus hervor, dass sie in seiner Darstellung <strong>von</strong> Spinozas<br />

Lehre im 16. Buch <strong>von</strong> DICHTUNG UND WAHRHEIT eine zentrale Stellung<br />

einnimmt, wobei die Einzelheiten, trotz aller Einkleidung, aus<br />

dem Wortlaut erkennbar sind, was die Kommentatoren <strong>nicht</strong> weiter<br />

beachtet haben. Den Gedanken, dass ein Affekt nur durch einen<br />

anderen, stärkeren abgelöst werden kann, umschreibt Goethe<br />

so: der Mensch ist "fähig, dem Einzelnen in jedem Augenblick zu<br />

entsagen, wenn er nur im nächsten Moment nach etwas Neuem<br />

greifen darf [ ... ] Wir setzen eine Leidenschaft an die Stelle der andem<br />

[ ... ] um zuletzt auszurufen, daß alles eitel sei".107 Auf die generelle<br />

Befreiung <strong>von</strong> den Affekten durch die Cognitio Dei intuitiva<br />

deutet Goethe mit dem Ermahnen, "sich <strong>von</strong> dem Ewigen, Notwendigen,<br />

Gesetzlichen [d.i. deus sive natural solche Begriffe zu<br />

bilden, welche unverwüstlich sind", diese Begriffe bestätigt zu finden<br />

durch "Betrachtung des Vergänglichen". Nur so kann es gelin-<br />

104 ETHIC. T. V, Prop. 26 und 39.<br />

105 Vg!. oben 5.237 m. Anm. 58.<br />

106 ETHIC. T. V, Seho!. zu Prop. 39.<br />

107 Eine Anspielung auf des Pred. Salomonis "a II es ist ei te I" findet sich auch in<br />

der ETHIK im gleichen Zusammenhang: T.v, Seho!. zu Prop. 10.<br />

254<br />

gen, "allen partiellen Resignationen auszuweichen, sich ein- für<br />

allemal im Ganzen zu resignieren". Dies Ziel ist für Goethe wie<br />

für Spinoza "nur wenigen" erreichbar, in deren Leistung dann<br />

wahrhaft "etwas Übermenschliches liegt".<br />

Spinozas Ablehnung der Willensfreiheit war die Lehre, die<br />

sich auch bei den Klassikern am schwersten, am wenigsten einheitlich<br />

durchsetzte. Haupthindernis bildete ihre Diskreditierung<br />

durch Kant. Noch für Lessing war es, in der Frühzeit <strong>von</strong> Spinozas<br />

Einwirkung, <strong>nicht</strong> schwer, sich zu dessen Determinismus zu<br />

bekennen. In dem historischen Pantheismusgespräch sagte Lessing<br />

1780 zu dem sich vor Spinozas "Fatalismus" bekreuzigenden ]acobi:<br />

"Ich merke, Sie hätten gern <strong>Ihr</strong>en Willen frei. Ich begehre keinen<br />

freien Willen." In ähnlichem Sinne deterministisch hatte Lessing<br />

sich schon 1776 ausgesprochen im Begleitschreiben zur<br />

Ausgabe der Philosophischen Aufsätze ]erusalems, des Spinoza­<br />

Anhängers, dessen Selbstmord eine Hauptanregung zum WERTHER<br />

gab: "Was verlieren wir, wenn man uns die Freiheit abspricht? Etwas<br />

[ ... ] was wir <strong>nicht</strong> brauchen [ ... ] Zwang und Notwendigkeit,<br />

nach welchen die Vorstellung des Besten wirket, wieviel willkommner<br />

sind sie mir, als kahle Vermögenheit, unter den nämlichen Umständen<br />

bald so, bald anders handeln zu können! Ich danke dem<br />

Schöpfer, daß ich muß, das Beste muß." etc.<br />

Von Lessing stammt' andererseits das berühmte Diktum aus<br />

NATHAN DER WEISE: "Kein Mensch muß müssen." Dass auch dieses<br />

Wort an seiner Stelle <strong>nicht</strong> so indeterministisch gemeint ist, wie es<br />

klingt, brauchen wir hier <strong>nicht</strong> weiter zu verfolgen. Wohl aber darf<br />

an einen Goetheschen Aphorismus erinnert werden, der sich gerade<br />

mit jenem Wort Lessings befaßt. In ihm haben wir einen Beweis,<br />

wie Goethe auch noch in spätester Zeit an einem Hauptgedanken<br />

der Determinismuslehre Spinozas festhält. 1829 erschien in den<br />

WANDERJAHREN folgender Merkspruch:<br />

Lessing, der mancherlei Beschränkung unwillig fühlte, läßt eine seiner Personen<br />

sagen: niemand muß müssen. Ein geistreicher frohgesinnter Mann<br />

sagte: wer will, der muß. Ein Dritter, freilich ein Gebildeter, fügte hinzu: wer<br />

einsieht, der will auch. Und so glaubte man den ganzen Kreis des Erken-<br />

255


nens, Wollens und Müssens abgeschlossen zu haben. Aber im Durchschnitt<br />

bestimmt die Er<strong>kennt</strong>nis des Menschen, <strong>von</strong> welcher Art sie auch sei, sein<br />

Tun und Lassen; deswegen auch <strong>nicht</strong>s schrecklicher ist, als die Unwissenheit<br />

handeln zu sehen.<br />

Bekanntlich liegt dem Aphorismus ein Briefgespräch mit Zelter zugrunde.<br />

1826 hatte Zelter in einem Schreiben das Lessingwort vom<br />

Nichtrnüssen angeführt und hinzugefügt: "Ich [Zelter] aber sage<br />

euch: Wer will, der muß." Goethe, erfreut über Zelters zu Spinoza<br />

passende Formulierung, hatte erwidert: " 'Wer will, der muß!' Und<br />

ich fahre fort: Wer einsieht, der will." Damit brachte Goethe ein<br />

wirkliches Spinozawort, er paraphrasiert den oben erwähnten<br />

Kernsatz: Wille und Einsicht sind einunddasselbe. In seinem Aphorismus<br />

erinnert Goethe auf Grund dieses Satzes an die Notwendigkeit<br />

auch des schlechten Wollens, wie Lessing das Wollen des "Besten"<br />

als determiniert ansah. Bei dem Seufzer: "<strong>nicht</strong>s schrecklicher,<br />

als die Unwissenheit handeln zu sehen" mag Goethe im spezielleren<br />

an den politischen Bereich denken, an die Restaurationszeit,<br />

die schon der DIVAN als Epoche der "Zaunkönige" kritisierte. lOS Im<br />

allgemeineren stimmt er jedoch überein mit der pessimistischen<br />

Perspektive in den Schlußworten der ETHIK: dass die Unwissenheit<br />

handelt, ist im Leben der gewöhnliche Fall, denn die Mehrheit<br />

kommt über den Status des Unwissenden (ignarus) <strong>nicht</strong> heraus.<br />

Einsicht, Vernunft sind selten.<br />

Zu Spinozas Ablehnung der Willensfreiheit bekannte sich sehr<br />

nachdrücklich der frühe Herder in seiner Schrift VOM ERKENNEN<br />

UND EMPFINDEN DER MENSCHLICHEN SEELE (1778). Dem betreffenden,<br />

viele Seiten langen Abschnitt liegt zugrunde wiederum der Satz<br />

über die Identität <strong>von</strong> Wille und Einsicht:<br />

Ist jedes gründliche Er<strong>kennt</strong>nis <strong>nicht</strong> ohne Wollen, so kann auch kein Wollen<br />

ohn' Erkennen sein: sie sind nur Eine Energie der Seele [ ... ] Auch die Frage<br />

entschiede sich hier also: ob dies unser Wollen was Angeerbtes oder Erworbnes,<br />

was Freies oder Abhängiges sei? es entscheidet sich ganz aus dem Grunde:<br />

daß wahres Erkennen und gutes Wollen nur Einerlei sei, Eine Kraft und<br />

Würksamkeit der Seele [ ... ] Von Freiheit schwätzen [ ... ] ist meistens ein erbärm-<br />

108 Vgl. im BUCH DES UNMUTS: >>Verschon uns Gott mit deinem Grimme ... «<br />

256<br />

licher Trug [ ... ] Da ists wahrlich der erste Keim zur Freiheit, fühlen, daß man<br />

<strong>nicht</strong> frei sei.<br />

Mit wörtlichem Anklang an Spinoza sagt Herder über die Determiniertheit<br />

der Er<strong>kennt</strong>nis durch die göttliche Mitgift: "Die Seele<br />

spinnet, weiß, erkennet <strong>nicht</strong>s aus sich, sondern was ihr <strong>von</strong> innen<br />

und außen ihr Weltall zuströmt, und der Finger Gottes zuwinket." In<br />

den letzten Worten paraphrasiert Herder folgende Stelle der ETHIK:<br />

"Wir handeln nur nach dem Wink Gottes (ex solo Dei nutu), sind<br />

der göttlichen Natur teilhaftig, und zwar in um so stärkerem Maß,<br />

als wir vollkommnere Taten tun und je mehr wir Einsicht in die<br />

Gottheit haben. "109 Herder schließt den Abschnitt über Erkennen<br />

und Wollen mit einer ungewöhnlichen, für die damalige Zeit gewagten<br />

Lobpreisung Spinozas. Indem er auf das 5. Buch der ETHIK<br />

und die Verherrlichung des Amor Dei intellectualis hindeutet, sagt<br />

er: 110<br />

Je tiefer, reiner und göttlicher unser Erkennen ist, desto reiner, göttlicher und<br />

allgemeiner ist auch unser Würken, mithin desto freier unsre Freiheit [ ... ]<br />

Liebe [ ... ] ist die höchste Vernunft, wie das reinste, göttlichste Wollen; wollen<br />

wir dieses <strong>nicht</strong> dem h. Johannes, so mögen wirs dem ohne Zweifel noch<br />

göttlichem Spinoza glauben, dessen Philosophie und Moral sich ganz um<br />

diese Achse beweget.<br />

Keiner der Klassiker hat sich nochmals ähnlich wortreich zu Spinozas<br />

Willenslehre bekannt wie hier Herder, auch dieser selbst <strong>nicht</strong>.<br />

In seiner Spinozaschrift GOTT (1787) wird das so wichtige Thema<br />

kaum gestreift. Dies mag Goethe noch mit veranlaßt haben, in DICH­<br />

TUNG UND WAHRHEIT SpinozasAffektenlehre wieder so in den Mittelpunkt<br />

zu stellen, wie wir gezeigt haben. Schiller neigte durch sein<br />

Temperament zur Betonung der Willensfreiheit. Den einseitig kantischen<br />

Standpunkt, den er in ANMUT UND WÜRDE (1793) vertrat, gab<br />

er jedoch später Goethe und dem eigenen Schaffen zuliebe auf.<br />

1803 konnte Goethe Schillers Einverständnis gewiß sein, wenn er<br />

109 ETHIc. T. II Schluß, in der Erläuterung zu dem Satz: Wille und Einsicht sind einunddasselbe.<br />

Die Vorstellung des göttlichen "Winkens" ist antik. Zeus gibt durch<br />

Nicken, Winken mit dem Haupt (lat. nutusl die Schicksalsentscheidungen.<br />

110 SWS 8,193 - 202.<br />

257


an ihn schrieb: "Übrigens bekömmt es uns ganz wohl, daß wir mehr<br />

an Natur als an Freiheit glauben und die Freiheit, wenn sie sich ja<br />

einmal aufdringt, geschwind als Natur traktieren."m<br />

Wenden wir uns nun zu dem zweiten Aspekt des Determinismus:<br />

Verhalten des Menschen gegenüber dem leitenden Schicksal. In der<br />

ETHIK spricht sich Spinoza hierüber nur in wenigen, aber stark beachteten<br />

Sätzen aus. Hauptgesichtspunkte sind: Schicksalsfügungen<br />

ergeben sich aus den ewigen Gesetzen der divina natura, müssen<br />

deshalb "mit Gleichmut ertragen" werden. Allerdings ist es die<br />

"Pflicht" des Menschen, den "äußeren Ursachen" entgegenzuwirken,<br />

"Dinge, die außer ihm sind, seinem Nutzen anzupasssen".<br />

Erst wenn unsre eigene "Macht" - sie ist "beschränkt" und "keineswegs<br />

absolut" - bis an die Grenze des Möglichen ausgeübt wurde,<br />

gilt das Gebot des gleichmütig gefaßten Ertragens. Solche Schicksalsergebenheit<br />

ist dann gleichbedeutend mit rechtem Erkennen,<br />

mit völliger Beruhigung des besseren Teils in uns. Je mehr Gleichmut,<br />

Er<strong>kennt</strong>nis, Beruhigung wir erlangen, desto mehr stimmen<br />

wir überein mit der "Ordnung der Allnatur"l12. Schicksalsergebenheit<br />

bewirkt ferner - ein wichtiger Gesichtspunkt - auch rechtes<br />

Verhalten im "gesellschaftlichen Leben". Wer einsieht, "daß alles<br />

aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur erfolgt" wird "dem<br />

Mitmenschen hilfreich beistehen", wird "streben, gut zu handeln<br />

und fröhlich zu sein". Übrigens darf man für gute Handlungen<br />

keine "höchsten Belohnungen <strong>von</strong> Gott erwarten". Als "Dienst<br />

Gottes" sind sie selbst "Glück und höchste Freiheit".113<br />

Indem Spinoza Aktivität, Selbstbehauptung im Rahmen des Möglichen<br />

fordert, ist er Determinist, <strong>nicht</strong> Fatalist. Jacobi hatte also<br />

kein Recht, Spinoza des Fatalismus zu bezichtigen (im Gespräch<br />

mit Lessing, der dadurch denn auch <strong>nicht</strong> zu irritieren war). Andererseits<br />

hat doch Spinozas Maxime vom gleichmütigen Ertragen<br />

111 5. Juli 1803.<br />

112 ETHIc. T. II, Schluß; T. IV, Appendix, Schluß.<br />

113 Vgl. ETHIc. T. 11, Schluß; T. IV, Appendix, Schluß; Schol. zu Prop. 50 und 73.<br />

258<br />

des Schicksals Goethe und H ö I der I i n stärkstens beeindruckt. Eine<br />

ganz spezifische Haltung der Schicksalsfrömmigkeit, des Amor fati<br />

bei beiden findet ihre Erklärung erst durch die Einwirkung <strong>von</strong><br />

Spinoza. So spricht Hölderlin in seinen Briefen immer wieder <strong>von</strong><br />

dem heiligen, dem weisen, gerechten, allmächtigen, allesbeherrschenden<br />

Schicksal. Der "Herr der Natur", bei dem "Wille und Tat<br />

Eines sind"114, bestimmt mit seinem "heiligen Gesetz" auch die<br />

"weise Lenkung unserer Schicksale, insofern sie <strong>nicht</strong> <strong>von</strong> uns abhängig<br />

sind". Natur und Schicksal sind "die einzigen Mächte, denen<br />

man den Gehorsam niemals aufkündigen darf". Gegen den<br />

"Lenker seines Schicksals" will Hölderlin nie "übermütig, ungeduldig,<br />

unbescheiden" sein. Wenn es einmal (1798) heißt: "Das Schicksal,<br />

das ich auch im Unglück liebe", so ist damit zugleich die Form<br />

des Amor fati genannt, die Hölderlin in seinen Dichtungen mit Vorliebe<br />

behandelt. (Hymne DAS SCHICKSAL, HYPERION usw.)<br />

Bei Goethe ist Verehrung des leitenden Schicksals eine sich schon<br />

ganz früh manifestierende Anschauung. Berühmtes Zeugnis dafür<br />

ist die PROMETHEUs-Ode <strong>von</strong> 1773, in der Lessing gleich Spinoza erkannte<br />

("Ich habe das schon lange aus der ersten Hand"). Weniger<br />

bekannt ist, wie oft in Briefen aus jener Epoche Goethes Blick auf<br />

das Schicksal gerichtet ist. Besonders in der letzten Frankfurter Zeit,<br />

als die großen Schicksalswendungen sich vollzogen (Trennung <strong>von</strong><br />

Lili, Übergang nach Weimar), häufen sich Wendungen wie: das schöne,<br />

weise Schicksal; das ewige Schicksal; was das eherne Schicksal<br />

noch künftig mir und den Meinigen zugedacht hat; jeder muß seinen<br />

Kelch austrinken ... fiat voluntas. "Das liebe Ding, das sie Gott<br />

heißen, sorgt doch sehr für mich." "Ich tanze auf dem Draht, Fatum<br />

congenitum genannt, mein Leben so weg! ... Fiat voluntas." "Ich<br />

lasse mich treiben und halte das Steuer, daß ich <strong>nicht</strong> strande."<br />

Während der ersten Weimarer Jahre verdichten sich die Hindeutungen<br />

auf ein "leitendes Schicksal" in Freundesbriefen wie nie<br />

114 Vgl. ETHIc. T. I, Schol. zu Prop. 17: Gottes Wille und Macht (potentia) sind einunddasselbe.<br />

Sein Wille ist Ursache der Dinge. Im Entwurf zur 8. Strophe <strong>von</strong> DER<br />

RHEIN sagt Hölderlin ähnlich: »Immer ist gleich die Tat und der Wille bei Göttern.«<br />

Diese gehen »irrlos [ ... ] vorn Anfang zum vorbestimmten Ende«. (StA II 725.)<br />

259


zuvor und hernach. Beherrschend ist das Dankbarkeitsgefühl für<br />

gewährtes Glück. "Was mir das Schicksal alles gegeben hat", ruft<br />

Goethe staunend aus, zwei Jahre nach dem Ankunftstag in Weimar.<br />

"Mir gehts nach dem Ratschlusse der Götter, den ich in tiefer Ahndung<br />

ehre", heißt es an anderer Stelle im Einklang mit Spinozas<br />

Wort vom "Dei nutu" (vgl. oben S. 257). "Wie seltsam uns ein tiefes<br />

Schicksal leitet", ist der Hauptvers eines Gedichts an earl August<br />

vom 3. August 1776.115 Vom Schicksal handeln auch sonst viele Gedichte<br />

der Frühweimarer Zeit. Sehr bald bedrücken Goethe Hinderungen<br />

durch Beruf und Vereinsamung, worauf in Briefen das<br />

Schicksals thema zurücktritt oder skeptischer klingt: "Auch hier bleibe<br />

ich meinem alten Schicksale geweiht und leide wo andere genießen,<br />

genieße wo sie leiden. Ich habe unsäglich ausgestanden."116<br />

Die Stimmung zur Zeit der wichtigsten Schicksalswendung in Goethes<br />

Leben hält dichterisch der Herbst 1775 konzipierte EGMONT<br />

fest. Allgemein deterministisch ist Egmonts Ausspruch: "Es glaubt<br />

der Mensch sein Leben zu leiten, sich selbst zu führen; und sein<br />

Innerstes wird unwiederstehlich nach seinem Schicksale gezogen."<br />

(Schlußszene.) Die Forderung Spinozas nach möglichster Selbstbehauptung<br />

gegenüber dem Schicksal erscheint eingekleidet in das<br />

Wagenlenker-Gleichnis, die Worte Egmonts, mit denen DICHTUNG<br />

UND WAHRHEIT schließt: "Wie <strong>von</strong> unsichtbaren Geistern gepeitscht,<br />

gehen die Sonnenpferde der Zeit mit unsers Schicksals leichtem<br />

Wagen durch, und uns bleibt <strong>nicht</strong>s als, mutig gefaßt, die Zügel<br />

festzuhalten, und bald rechts, bald links, vom Steine hier, vom Sturze<br />

da, die Räder wegzulenken." Ähnliche Gleichnisse finden sich<br />

in Briefen und Gedichten jener Frankfurter und Frühweimarer Jahre.<br />

So das vom Steuermann in MEERES STILLE, GLÜCKLICHE FAHRT, SEE­<br />

FAHRT; antiker Topos wie das Wagenlenker-Gleichnis); oder die Metaphern<br />

vom Drahtseiltänzer und Eisläufer (an Herder, 13. Mai<br />

1775; Gedicht Mut). Als Hölderlin während des Diotima- Erlebnisses<br />

die Einwirkung des Schicksals besonders erfuhr, findet das<br />

115 DEM SCHICKSAL; später EINSCHRÄNKUNG. (»Ich weiß <strong>nicht</strong>, was mir hier gefällt«)<br />

116 An F. H. Jacobi, 17. November 1782.<br />

260<br />

in Briefen Ausdruck durch Goethesche Metaphern: "Wenn unser<br />

[. .. ] Schicksal in den Meeresgrund hinab und an den Himmel hinauf<br />

uns wirft, das bildet den Steuermann." - "Das Schicksal treibt<br />

uns vorwärts und im Kreise herum ... wie einer, mit dem die Rosse<br />

da<strong>von</strong>gegangen sind."117<br />

Die für Spinoza besonders charakteristische Gedankenverbindung:<br />

rechte Einstellung zu den Schicksalsgesetzen führt auch zu rechtem<br />

sozialen Verhalten, erscheint in vielen Goetheschen Dichtungen<br />

als zentraler Zug. Sie ist auch bei Hölderlin anzutreffen. Egmont,<br />

der im Wagenlenker-Gleichnis usw. seine Schicksalserfahrung bekundet,<br />

ist als Mensch zugleich durch tätige Nächstenliebe, verbunden<br />

mit Frohsinn, ausgezeichnet. Deswegen erfreut er sich beim<br />

Volk größter Beliebtheit. Goethes Gedicht »Edel sei der Mensch,<br />

hilfreich und gut«,das F. H. Jacobi 1785 in seiner Spinoza-Schrift<br />

veröffentlichte, verbindet Anerkennung der "ewigen, ehrnen"<br />

Schicksalsgesetze mit der Devise: das "Nützliche, Rechte" für die<br />

Mitmenschen zu schaffen. In dem Wort »edel« liegt ein Spinoza­<br />

Anklang. Die ETHIK bezeichnet mit Edelmut, Generositas, das<br />

Streben, dem Leben und Nutzen der Gesellschaft zu dienen. In<br />

WILHELM MEISTERS WANDERJAHRE üben sich "die Entsagenden" in vielfachen<br />

Formen um das Wohl des Nächsten. Ein besonders interessantes<br />

Zeugnis findet sich im SANCT ROCHUS-FEST zu BINGEN <strong>von</strong> 1816.<br />

Hier gleicht die Predigt zum Gedenken des Heiligen geradezu einem<br />

spinozistischen Exerzitium. Indem der Geistliche seine Gemeinde<br />

zu Nachahmung des St. Rochus auffordert, empfiehlt er ihr<br />

vor allem: Ergebenheit in den Willen Gottes, seine Schickungen,<br />

Fügungen (entsprechende Wendungen leitmotivisch wiederholt).<br />

Im Einklang mit Spinoza betont er drei Punkte: 1.) Diese Schicksalsergebenheit<br />

bewirkt sicherste Annäherung an das höchste Wesen.<br />

2.) Ergebung in den Willen Gottes muß zusammengehn mit "grenzenloser<br />

Nächstenliebe", mit Opfern selbst unter Gefährdung des<br />

eigenen Lebens. 3.) Auch die größten Aufopferungen haben "selige<br />

Folgen" nur, wenn jeder Gedanke an göttliche Belohnung aufgege-<br />

117 An Neuffer, 16. Februar und 10. Juli 1797.<br />

261


en wird, Wohltun muß um seiner selbst willen geübt werden. Sämtliche<br />

drei Punkte entsprechen Einzelheiten in Spinozas Schicksalslehre,<br />

wie unsere oben gegebene Zusammenfassung zeigt.<br />

Am St. Rochus-Fest zu Bingen nahm Goethe 1815 teil, als er die<br />

Ethik immer auf der Reise bei sich führte.118 Dies erklärt die Spinoza-Anklänge<br />

in seiner Gedenkschrift. Hier ist jedoch auch Folgendes<br />

zu berücksichtigen. Zu erneuter intensiver Beschäftigung<br />

. mit Spinoza, und zwar mit seinem Determinismus, wurde Goethe<br />

während der Abfassung seiner Biographie veranlaßt. Bedeutende<br />

Auswirkungen da<strong>von</strong> finden sich in seinem Alterswerk wie auch<br />

in Briefen. Zwei Aufsätze über deterministische Probleme, die 1812<br />

als Nebenarbeiten zu DICHTUNG UND WAHRHEIT entstanden, werden<br />

uns noch beschäftigen. 1813 schrieb Goethe den Spinoza-Abschnitt<br />

des 16. Buchs seiner Autobiographie. Dass er 1814 plötzlich ein so<br />

spontanes Interesse am Islam zu nehmen vermochte (als Dichter<br />

des WESTÖSTLICHEN DIVAN), dafür bildete die erneute Durchdringung<br />

mit Spinoza eine entscheidende Voraussetzung. Der Determinismus<br />

des Islam ist mit dem der Ethik Spinozas in hohem Grade<br />

wesensverwandt. So erhöhte sein seit 1812 wieder besonders intensiv<br />

betriebenes Spinoza-Studium Goethes Bereitschaft, sich mit<br />

muslimischerDenkweise mehr zu identifizieren als je zuvor.<br />

Der mit dem Spinoza-Abschnitt eingeleitete, mit dem Wagenlenker­<br />

Motiv aus EGMONT schließende vierte Teil (Buch 16-20) <strong>von</strong> DICH­<br />

TUNG UND WAHRHEIT hat zum geheimen Thema: Goethes Einstellung<br />

gegenüber dem Schicksal. Es entsprach das der darzustellenden<br />

Lebensepoche, der großen Schicksalskrise vor dem Übersiedeln<br />

nach Weimar. Im Spinoza-Abschnitt zu Anfang <strong>von</strong> Buch 16,<br />

weist die zentrale Partie über das Entsagen auf den einen Hauptgesichtspunkt:<br />

die Notwendigkeit, sich dem Schicksal zu fügen.<br />

Mit den Worten Entsagen, Resignieren - genau Entsprechendes<br />

kommt bei Spinoza <strong>nicht</strong> vor - bezeichnet Goethe vor allem auch<br />

Schicksalsergebenheit. Sucht man dafür außer dem DICHTUNG UND<br />

118 Vgl. oben 5.235.<br />

262<br />

WAHRHEIT-Text Beweise, so finden sie sich in URWORTE. ORPHISCH (wie<br />

gleich zu zeigen sein wird), aber auch im WERTHER. In der 2. Fassung<br />

des Werther <strong>von</strong> 1787 ersetzte Goethe das Wort "resignieren"<br />

der Urfassung <strong>von</strong> 1774 durch die Wendung: "Ergebung in unvermeidliche<br />

Schicksale"119!<br />

Spinozas zweite Hauptmaxime: Pflicht der Selbstbehauptung<br />

gegenüber dem Schicksal in Grenzen des Möglichen erscheint am<br />

Schluß des 20. Buchs, an Egmont exemplifiziert. Einen dritten Aspekt<br />

bringt zwischenhinein die Partie über Jung-Stilling in Buch<br />

16. Kritisiert wird hier eine Form christlicher Schicksals ergebenheit:<br />

"man hält alles für übernatürliche Bestimmung, mit der Überzeugung,<br />

daß Gott unmittelbar einwirke." Unglücksfälle - wie Stillings<br />

dilettantische Augenoperation -, denen man durch Fleiß,<br />

durch "aufmerksames männliches Betragen" hätte zuvorkommen<br />

sollen, gelten dann als "göttliche Pädagogik". Goethe sah darin<br />

"Dünkel" und "fromme Dreistigkeit". Auch in alledem folgt er Spinoza.<br />

Gegen den tiefgewurzeIten "Aberglauben", dass eine persönlich<br />

aufgefaßte Gottheit unmittelbar "alles zum Nutzen der<br />

Menschen" leite, verbreitet sich die ETHIK innerhalb der großen Polemik<br />

gegen die Endzwecke. 120 Dieser Partie, die für Goethe als Naturwissenschaftler<br />

richtungweisend war, folgt der Dichter auch beim<br />

Präzisieren seiner Schicksalsauffassung.<br />

Über einen anderen Bereich des Determinismus spricht Goethe im<br />

Anschluß an die Spinoza-Darstellung des 16. Buchs <strong>von</strong> DICHTUNG<br />

UND WAHRHEIT: die Determiniertheit des Innern, der Veranlagung<br />

des Menschen. Spinoza löste ihm, wie Goethe offen be<strong>kennt</strong>, das<br />

Rätsel des eigenen dichterischen Schaffens. Schwer begreiflich war<br />

ihm, dass freier Wille bei seinem Produzieren nur wenig vermochte.<br />

Das meiste und Wesentlichste trat "unaufgefordert, unwillkürlich"<br />

hervor. Darin lag etwas Irrationales, das Goethe irritierte, ihn vom<br />

Standpunkt der Aufklärung und Wissenschaft zu Fragen veranlaß-<br />

119 WA 19, 61; 378.<br />

120 ETHI ., Anhang zu T.1.<br />

263


te. Äußerungen über denAnteil des Unbewußten beim Schaffensprozeß<br />

gibt es <strong>von</strong> vielen Dichtem, selbst <strong>von</strong> solchen, bei denen man<br />

es <strong>nicht</strong> erwartet, beispielsweise Schiller und Fontane. Goethe sprach<br />

darüber in seinem Leben außerordentlich oft. Hier in DICHTUNG UND<br />

WAHRHEIT bezeichnet er das Phänomen als sein "nachtwandlerisches<br />

Dichten", dazu erzählend, wie ihm wirklich Dichtungen oft "beim<br />

nächtlichen Erwachen" fertig vorm Geiste standen. Er vergleicht es<br />

mit ungewöhnlichen" vernunftähnlichen" Leistungen <strong>von</strong> Tieren<br />

und Pflanzen. Die Vergleiche entnahm Goethe, es scheint dies <strong>nicht</strong><br />

nachgewiesen zu sein, demselben Abschnitt der ETHIK, dem er auch<br />

die Lösung des ganzen Problems verdankte, welche besagt: auch<br />

künstlerisches Schaffen beruht auf Naturgesetzen.<br />

Ein einzigesmal kommt Spinoza in seinem Hauptwerk auf das<br />

Wesen der Kunst zu sprechen. l21 Das Rätsel des künstlerischen<br />

Schaffens, so sagt er, wird gewöhnlich falsch erklärt durch die Annahme,<br />

es könne der "Geist" des Menschen mit freiem Willen den<br />

"Körper" zu allem bestimmen. Sind doch Geist und Körper dasselbe,<br />

nur unter verschiedenen Attributen - des Denkens und der<br />

Ausdehnung - begriffen. In Wahrheit bestimmen Gesetze der Natur<br />

auch hier das Leistungsvermögen des Menschen. Nur weil die<br />

Grenzen dessen, wozu die Natur den Körper zu befähigen vermag,<br />

unerforschlich weit sind, kann es rätselhaft erscheinen, wenn<br />

einzelne Menschen Tempel, Gemälde, Gedichte zu schaffen vermögen.<br />

Zum Vergleich führt Spinoza zwei Fälle an, wo <strong>nicht</strong> erforschte<br />

Naturgesetze wie beim genialen Künstler scheinbar Unbegreifliches<br />

bewirken: 1.) Tiere übertreffen oft mit ihrer Sinnesschärfe<br />

den Menschen. 2.) Nachtwandler im Schlaf tun vieles, was sie im<br />

Wachbewußtsein <strong>nicht</strong> vollbringen können. Diese Beispiele übernimmt<br />

Goethe, mit Spinoza im Detail ebenso konform gehend wie<br />

in der Konklusion.<br />

"Dichtertalent als Natur", so formuliert ein Schema zu dem Abschnitt<br />

über das unbewußte Dichten die <strong>von</strong> Spinoza gewonnene<br />

Er<strong>kennt</strong>nis, dass auch die schöpferische Tätigkeit durch Naturgesetze<br />

determiniert ist. Unmittelbar anschließend bezeichnet das-<br />

121 ETHIC., Scholium zu Prop. 2 des 3. Teils.<br />

264<br />

Jbe Schema das gleiche Phänomen mit: "Betragen als Naturkind<br />

(Naturbetragen) [ ... ] Zwey Geschichten." In der Ausführung läßt<br />

as für DICHTUNG UND WAHRHEIT so charakteristische understatement<br />

kaum noch erkennen, was gemeint ist: durch Gesetze der Natur,<br />

ehr als durch freien Willen bestimmt, sah Goethe auch Grundzüge<br />

seines menschlichen Verhaltens gegenüber der Gesellschaft.<br />

y, n den "zwey Geschichten" deutet die erste - Brand in der Judenasse<br />

- auf den Drang, den Mitmenschen tätige Hilfe und Fröhlichkeit<br />

zu bringen (ähnlich wie Egmont). Die zweite - Eislauf im<br />

P lz der Mutter - zeigt symbolisch Goethes Unbekümmertheit um<br />

ritik der Gesellschaft. Bei der ersten mag man an Goethes Verhalt<br />

n als Freund und Staatsmann denken, bei der zweiten an so antoßerregende<br />

Handlungen wie die Wahl Christianes als Partnerin.<br />

Wir erinnern uns: das Bestreben, dem "gemeinschaftlichen<br />

Nutzen" zu dienen, wohltätig und froh zu sein, läßt Spinoza folen<br />

aus Er<strong>kennt</strong>nis der determinierenden Naturgesetze. Dementprechend<br />

war für Goethe die vom Determinismus handelnde Partie<br />

<strong>von</strong> DICHTUNG UND WAHRHEIT der rechte Ort, dies zur Sprache zu<br />

bringen. Vorsätzlich verundeutlichte er die Zusammenhänge, um<br />

zu verbergen, <strong>von</strong> wie großen eigenen Vorzügen die Rede ist.<br />

r Aufschluß, den Goethe durch Spinoza über die Determit\<br />

i e r t h e i t seines Dichtens erhielt, war ihm auch aus zwei weit<br />

ren Gründen wichtig:<br />

1.) Wiederum interpretierte Spinozas Philosophie eine Grundnschauung<br />

der Antike. Der Dichter ist - für Griechen und Römer<br />

- entheos, 'des Gottes voll'. Er schafft aus Begeisterung, aus ihm<br />

pricht 'der Gott'. Verstand und Wollen allein erzeugen keine Poeie.<br />

Spinozas Formel: Kunst entsteht aus bloßen Gesetzen der göttlichen<br />

Natur, drückt das gleiche aus, beruht aber auf philosophicher<br />

Argumentation, wie sie dem Wissenschaftsbedürfnis der<br />

Klassik entsprach.<br />

2.)Der Vorstellung, Dichtung sei durch freien Willen zu schaff<br />

n, begegnete Goethe in späterer Zeit bei den Schülern Kants, benders<br />

bei Schiller und den Romantikern. Nun half ihm Spinoza,<br />

igene Position zu behaupten, als er in DICHTUNG UND WAHRHEIT<br />

265


en ließ. Als Arzt stand Faust bereits mitten in der Vita activa und<br />

hat sich in dieser aufs äußerste bewährt. In Pestzeiten versuchte er<br />

unter ständiger Gefährdung des eigenen Lebens zahllose Menschen<br />

vor dem Tode zu retten. Seither ist Faust allgeliebt. Kaum erscheint<br />

er am Ostertag, »sammelt sich das Volk im Kreis« um ihn, huldigt<br />

dem »guten«, opferwilligen Helfer (v. 996 ff.), verehrt ihn fast als<br />

Heiligen. (»Und wenig fehlt, so beugten sich die Knie, / Als käm'<br />

das Venerabile.« v. 1020 f.) Faust weist "vorsehungsgläubig" (Robert<br />

Petsch) auf den »Helfer droben«, erinnert sich seiner damaligen<br />

frommen Gebete. Dagegen lehnt er Ruhm ab (v. 1033). Von seinen<br />

Großverdiensten schweigend, gedenkt er der Verschuldung, in die<br />

ihn gerade sein ärztliches Wirken führte. Es war ein »Meer des<br />

Irrtums«, durch Vergabe minderwertiger Arzneien wurde er, bester<br />

Absicht, an vielen zum »Mörder«. In dem Motiv der Rettung<br />

Pestkranker unter Gefährdung des eigenen Lebens symbolisiert<br />

Goethe größtmögliche Bewährung. Darauf weist das SANCT RocHUS­<br />

FEST ZU BINGEN, das Goethe vielleicht auch als Kommentar zu diesen<br />

FAUST-Szenen schrieb.<br />

Viele Verschuldungen Fausts, oft so verständnislos bewertet, sind<br />

an dieser Vorgeschichte zu bemessen. Bis in Einzelheiten zeigt sie<br />

Charakterzüge, die ihn nachmals zu Tat und Schuld auf staatsmännischer<br />

Ebene treiben. Wie früher, handelt Faust auch jetzt <strong>nicht</strong><br />

um Ruhmes willen. (»Die Tat ist alles, <strong>nicht</strong>s der Ruhm.« v. 10188.)<br />

Nützliches für die Mitmenschen zu schaffen ist sein Traum, und<br />

ein »freies Volk« müßte ihm dankbar sein wie die Menge beim<br />

Osterspaziergang. Doch wie der als Heiliger verehrte Arzt <strong>von</strong><br />

schwerer Verschuldung <strong>nicht</strong> frei bleibt, wird auch der Staatsmann<br />

durch tragische Lebensgesetze bei seinem Handeln.in Schuld verstrickt.<br />

Im FAUST wird die Schuld dem Handelnden, der grundsätzlich<br />

ein »guter Mensch« ist, vergeben.<br />

Alle wesentlichen Aspekte des Determinismus, wie ihn die Klassik<br />

durch Spinoza verstand, finden wir beispielhaft vereinigt in<br />

Hölderlins großer Hymne DER RHEIN. Indem das Gedicht <strong>von</strong> dem<br />

»Schicksal« des Flusses erzählt - das Wort Schicksal kehrt leitmotivisch<br />

wieder - stellt Hölderlin sein eigenes Schicksal als Dichter<br />

270<br />

dar. Wie Goethe (in URWORTE. ORPHISCH) innere und äußere Determination<br />

unterscheidet, die innere als die am stärksten wirksame<br />

bezeichnet, so auch Hölderlin. Bekannt ist die erstaunliche Ähnlichkeit<br />

mit Goethes UR WORTE. ORPHISCH in den Versen: »Denn / Wie<br />

du anfingst, wirst du bleiben, / So viel auch wirket die Not, / Und<br />

die Zucht, das meiste nämlich / Vermag die Geburt, / Und der<br />

Lichtstrahl, der / Dem Neugebornen begegnet.« Mitgeboren ist<br />

dem Rhein, wie dem Dichter Hölderlin, das Verlangen, das »Hoffen«,<br />

auf schnellstem Wege die heimatliche Zone gotterfüllten Lebens<br />

aufzusuchen. Deswegen »wollt' er wandern«, ursprünglich<br />

auswandern nach »Asia« als dem Raum antiker und patriarchischer<br />

Religiosität. »Doch unverständig ist / Das Wünschen vor dem<br />

Schicksal.« Das Schicksal bzw. »ein Gott« bestimmen es anders.<br />

Der Rhein muß seinen Weg durch »deutsches Land« nehmen. Mit<br />

der Nötigung durch das Schicksal stände im Widerspruch, dass<br />

der Rhein »geboren ist, um frei zu bleiben«, um »des Herzens<br />

Wunsch allein zu erfüllen«. (v. 33, 55 ff.) Der Widerspruch löst sich,<br />

indem die Freiheit - ganz im Sinne Spinozas - in Schicksals erge<br />

benhei t gefunden wird. Das »Schicksal« wird als »wohlbeschieden«<br />

angesehen, »seligbescheiden« ruht der Rhein in den »Grenzen,<br />

/ Die bei der Geburt ihm Gott / Zum Aufenthalte gezeichnet«.<br />

Hier, auch in deutschen Landen, »umfängt« ihn »alles, was er gewollt,<br />

/ Das Himmlische, <strong>von</strong> selber ... unbezwungen, lächelnd /<br />

Jetzt, da er ruhet.« Auffallend ist auch die mit Spinoza und Goethe<br />

zusammenstimmende Motivverknüpfung: aus Schicksalsergebenheit<br />

resultiert Tätigkeit zu Nutzen der Mitmenschen. Indem der<br />

Rhein sich »stillwandelnd im deutschen Lande begnüget«, stillt er<br />

das Sehnen im »guten Geschäfte«, »baut das Land« und nährt als<br />

>Vater« liebe Kinder, »In Städten, die er gegründet«.<br />

Am meisten überraschen Übereinstimmungen mit Spinoza und<br />

Goethe in der Partie, wo Hölderlin den »Halbgott« Rousseau und<br />

den Halbgott Rhein vergleicht, damit jedoch die Besonderheit seines<br />

eigenen Dichtens charakterisiert. Alles finden wir hier wieder,<br />

was Goethe später <strong>von</strong> seinem "nachtwandlerischen" Dichten sagte:<br />

dass es <strong>nicht</strong> "forciert", aus freien Willensakten entsteht, sondern<br />

271


geben durch den Zusammenhang, den der durch Kanzler <strong>von</strong><br />

Müller überlieferte Ausspruch innerhalb des Gesprächs hat. Die<br />

Unterhaltung ging damals, am 7. April 1830, um die "Heiligkeit<br />

der Ehe", die Scheu vor "ungeregelten, ehelosen Liebesverhältnissen";<br />

beides betrachtet Goethe als Kulturerrungenschaft des<br />

Christentums. Wir kommen darauf zurück. Zuvor mag es naheliegen,<br />

im Bereich dessen Umschau zu halten, was der späte Goethe<br />

"Entsagung" nennt. Scheint doch hier eine Verwandtschaft mit<br />

christlichen Anschauungen am ehesten gegeben. Über dies Entsagen<br />

ist lang und breit diskutiert worden. Dabei war zuviel <strong>von</strong><br />

Entsagung als Theorie die Rede, zuwenig <strong>von</strong> etwas anderem: dass<br />

Goethe auch in seinem Handeln ein großer Entsagender war, dass<br />

er nämlich lebte, was er lehrte. Denken und Tun in Einklang zu<br />

bringen, die große Lehre des "Entsagungs"-Romans WILHELM MEI­<br />

STERS WANDERJAHRE zu verwirklichen, war Goethes Bemühn. Bei genauerer<br />

Untersuchung lassen sich Anzeichen hierfür beim jungen<br />

wie auch beim alten Goethe finden. Die folgenden Betrachtungen<br />

gelten einer Epoche des jungen Goethe.<br />

Eine der wichtigsten Auslassungen Goethes über das Entsagungsthema<br />

in DICHTUNG UND WAHRHEIT enthält den Hinweis,<br />

dass der Dichter tatsächlich an sein Verhältnis zu Christus dachte,<br />

wenn er <strong>von</strong> Entsagen sprach. Auch deutet er in diesem<br />

Zusammenhang ähnlich kühn auf sich selbst wie in der so erstaunlichen<br />

Gesprächsäußerung gegenüber dem Kanzler <strong>von</strong> Müller.<br />

Beides ist aber in DICHTUNG UND WAHRHEIT so unauffällig, ja versteckt<br />

gesagt, dass nur sorgfältiges Lesen zur Wahrnehmung der<br />

Winke führt. Betrachten wir daraufhin die folgenden Sätze aus<br />

dem <strong>von</strong> Spinoza handelnden Abschnitt im 16. Buch <strong>von</strong> DICHTUNG<br />

UND WAHRHEIT, geschrieben 1813:<br />

276<br />

Unser physisches sowohl als geselliges Leben, Sitten, Gewohnheiten, Weltklugheit,<br />

Philosophie, Religion, ja so manches zufällige Ereignis, alles ruft<br />

uns zu: dass wir entsagen sollen. So manches, was uns innerlich eigenst angehört,<br />

sollen wir <strong>nicht</strong> nach außen hervorbilden; was wir <strong>von</strong> außen zu<br />

Ergänzung unsres Wesens bedürfen, wird uns entzogen ... Ehe wir hierüber<br />

recht ins klare sind, finden wir uns genötigt, unsere Persönlichkeit erst<br />

stückweis und dann völlig aufzugeben." Der Mensch ist nun allenfalls - so<br />

sagt Goethe weiter - "fähig, dem einzelnen in jedem Augenblick zu entsagen,<br />

wenn er nur im nächsten Moment nach etwas Neuem greifen darf;<br />

und so stellen wir uns unbewußt unser ganzes Leben immer wieder her.<br />

Wir setzen eine Leidenschaft an die Stelle der andern; Beschäftigungen, Neigungen,<br />

Liebhabereien, Steckenpferde, alles probieren wir durch, um zuletzt<br />

auszurufen, dass alles eitel sie. Niemand entsetzt sich vor diesem<br />

falschen, ja gotteslästerlichen Spruch; ja man glaubt etwas Weises und Unwiderlegliches<br />

gesagt zu haben. Nur wenige Menschen gibt es, die solche<br />

unerträgliche Empfindung vorausahnen und, um allen partiellen Resignationen<br />

auszuweichen, sich ein für allemal im ganzen resignieren. [Absatz.] Diese<br />

überzeugen sich <strong>von</strong> dem Ewigen, Notwendigen, Gesetzlichen und suchen<br />

sich solche Begriffe zu bilden, welche unverwüstlich sind, ja durch die<br />

Betrachtung des Vergänglichen <strong>nicht</strong> aufgehoben, sondern vielmehr bestätigt<br />

werden. Weil aber hierin wirklich etwas Übermenschliches liegt, so werden<br />

solche Personen gewöhnlich für Unmenschen gehalten, für gott- und weltlose;<br />

ja man weiß <strong>nicht</strong>, was man ihnen alles für Hörner und Klauen andichten<br />

soll.<br />

Beachten wir die beiden Möglichkeiten, die Goethe unterscheidet,<br />

und die sich ergebenden Folgen. Entsagung wird verlangt <strong>von</strong> allen,<br />

jeder übt sie teilhaft und bis zu einem gewissen Grade, ob er<br />

sich nun <strong>von</strong> Sitte, Weltklugheit, Philosophie oder Religion leiten<br />

läßt. Nicht ein jeder aber vermag es, sich auf die Höhe zu erheben,<br />

dass er alle partiellen Resignationen als unzureichend betrachtet<br />

und nun "ein für allemal im ganzen" resigniert. Mit diesem<br />

totalen Entsagen "im ganzen" ist etwas "Übermenschliches"<br />

gemeint. Es ist ein Schwerstes und Letztes, zu dem nur wenige<br />

gelangen, solche, die etwas wissen vom "Ewigen, Notwendigen,<br />

Gesetzlichen", d. h. nach Goetheschem Sprachgebrauch: <strong>von</strong> Gott.<br />

Diese wenigen - man könnte sie Heilige nennen, Goethe vermeidet<br />

nur den Ausdruck -, diese wenigen aber werden <strong>von</strong> ihrer Umgebung<br />

und Nachwelt verteufelt, man dichtet ihnen Hörner und<br />

Klauen an, hält sie für gott- und weltlos. Das Übermenschliche gilt<br />

als unmenschlich.<br />

Es erhebt sich die Frage: wer gehört zu diesen wenigen, wer<br />

ist gemeint? Die Formel "gott- und weltlos" gibt einen Fingerzeig.<br />

Der Gottlose ist Spinoza, <strong>von</strong> dem Goethe ja hier generell spricht<br />

mit ausdrücklicher Ablehnung herkömmlicher Vorwürfe der Gegner,<br />

die den Philosophen als "verwerflichen Atheisten" bezeich-<br />

277


"Ein jeglicher sei gesinnt, wie Christus auch war: welcher, ob er wohl in göttlicher<br />

Gestalt war, sah er doch das Gleichsein mit Gott <strong>nicht</strong> als festen Besitz<br />

an, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward<br />

gleich wie ein anderer Mensch ... er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam<br />

bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz."<br />

Auch hier ist offensichtlich <strong>von</strong> einer Entsagung im ganzen die Rede.<br />

Nahe steht der Schlußsatz des 8. Buchs <strong>von</strong> DICHTUNG UND<br />

WAHRHEIT, wo es heißt, es sei unsere Pflicht, die Absichten der Gottheit<br />

dadurch zu erfüllen, dass wir, indem wir <strong>von</strong> einer Seite uns<br />

zu verselbsten genötigt sind, <strong>von</strong> der andern in regelmäßigen Pulsen<br />

uns zu entselbstigen <strong>nicht</strong> versäumen".<br />

So klären auch die <strong>Bibel</strong>worte etwas vom Sinn der Goetheschen<br />

Entsagungsiehre. Wenn <strong>von</strong> Christus aus die Aufforderung an seine<br />

Jünger ergeht, sich selbst zu verleugnen, das Kreuz auf sich zu<br />

nehmen, so bedeutet das, bezieht man es auf die Jünger selbst: den<br />

Appell zu einer großen grundsätzlichen Lebensentscheidung. Die<br />

Jünger - wir wissen es - bleiben schwach, bleiben Menschen. Sie<br />

irren, sie fehlen im einzelnen. Aber sie richten in großen Zügen<br />

ihr Leben darauf ein, sich so zu verhalten, so zu handeln, dass sie<br />

die geistigen Aufgaben, die das Schicksal ihnen gestellt hat, erfüllen<br />

können. Das heißt natürlich in erster Linie, dass sie die wesentlichsten<br />

Lehren und Gebote Christi befolgen und damit ein<br />

Beispiel geben. Da<strong>von</strong> ist das oberste praktische Gebot: die Menschen<br />

zu lieben, sie zu fördern, ihnen zu helfen, <strong>nicht</strong> so sehr für<br />

sich als für andere dazusein, zu schaffen, zu wirken; zu verzichten<br />

auf ein Glück, wenn es andern schadet.<br />

In diesem Sinne faßte Goethe die Entsagung auf: zu verzichten<br />

auf ein Glück, wenn es andern schadet. Spinoza galt ihm deshalb<br />

als ein hervorragender Vertreter christlicher Ethik, weil bei<br />

ihm Lehre wie Leben durch solche Art des Entsagens geprägt waren.<br />

Im Hinblick auf die Lebensführung Spinozas sagt Goethe in<br />

DICHTUNG UND WAHRHEIT Buch 14: es sei die an dem Philosophen<br />

wahrzunehmende "grenzenlose Uneigennützigkeit", die ihn<br />

geradezu an Spinoza "gefesselt" habe. Goethe fährt fort: "Jenes<br />

wunderliche Wort [aus Spinozas ETHIK]: 'Wer Gott recht liebt, muß<br />

<strong>nicht</strong> verlangen, dass Gott ihn wieder liebe', mit allen den Vorder-<br />

282<br />

sätzen, worauf es ruht, mit allen den Folgen, die daraus entspringen,<br />

erfüllte mein ganzes Nachdenken. Uneigennützig zu<br />

sein in allem, am uneigennützigsten in Liebe und Freundschaft,<br />

war meine höchste Lust, meine Maxime, meine Ausübung [!], so<br />

dass jenes freche spätere Wort: 'Wenn ich dich liebe, was geht's<br />

dich an?' mir recht aus dem Herzen gesprochen ist."<br />

Wieder erschwert vorsätzliches understatement das Verständnis<br />

für den Leser. Besonders wird auch hier die Anwendung auf Goethe<br />

selbst verundeutlicht. Betrachten w.ir daraufhin den letzten<br />

Satz etwas genauer. Er enthält allgemein die Feststellung: "Uneigennützig<br />

zu sein in allem [ .. . ] war meine höchste Lust, meine<br />

Maxime, meine Ausübung." Das sind sogar vergleichsweise kühne<br />

Worte, stellt man sie sich verwirklicht vor. Uneigennützigkeit<br />

so total wie das Entsagen, und das <strong>nicht</strong> als Idee, sondern als Ausübung!<br />

Die Uneigennützigkeit schließt selbst das Verhältnis zum<br />

Göttlichen ein, worauf unmittelbar vorher das Zitat aus Spinozas<br />

ETH IK hinweist. Der Leser gelangt aber kaum dazu, dies alles zu<br />

realisieren dank Goethes hartnäckiger Verschleierungs taktik. 4<br />

Denn der Dichter versieht den Satz ja mit einem Einschub, der<br />

dem Uneigennützigkeitsgedanken sogleich - wenigstens scheinbar<br />

- viel <strong>von</strong> der Strenge seines Anspruchs nimmt. Es heißt: "Uneigennützig<br />

zu sein in allem, am uneigennützigsten in Liebe und<br />

Freundschaft, war meine höchste Lust, meine Maxime, meine Ausübung."<br />

Wer das Ganze so liest, wird nur allzusehr verleitet sein,<br />

sich zu sagen: "Ach so, Liebe und Freundschaft, darum handelt<br />

s sich vor allem. Dann ist das mit der Uneigennützigkeit offenbar<br />

doch gar <strong>nicht</strong> so absonderlich. Nichts Übermenschliches wird<br />

prätendiert." Dieser Eindruck scheint sich zu bestätigen dadurch,<br />

4 Den Zusammenhang mit dem Göttlichen hätte deutlicher machen können jener<br />

Passus, in dem Goethe berichtet: in der Jugend sei es sein Lieblingsgedanke gewesen,<br />

die "liebliche Naturgabe" der Dichtung "als ein Heiliges uneigennützig<br />

auszuspenden". Der Passus steht aber <strong>nicht</strong> hier im 14. Buch <strong>von</strong> DICHTUNG UND<br />

WAHRHEIT, sondern in Buch 16, am Ende des dortigen Spinoza-Abschnitts. An dieser<br />

Stelle wiederum fehlen sonstige Hinweise auf die "Uneigennützigkeit", so daß<br />

die Wendung "Heiliges uneigennützig" in voller Bedeutung nur aus Buch 14 erkannt<br />

werden ka nn.<br />

283


dass Goethe dem Satz einen scheinbar nochmals abschwächenden<br />

Schluß hinzufügt: "so dass jenes freche spätere Wort: >Wenn ich<br />

dich liebe, was geht's dich an?< mir recht aus dem Herzen gesprochen<br />

ist." Damit ist ja auf Philine angespielt, die "zierliche Sünderin"<br />

aus WILHELM MEISTERS LEHRJAHRE.<br />

So wird innerhalb des drei gestuften Satzgefüges Schritt für<br />

Schritt das Außerordentliche, Goethes Handlungsweise im Kern<br />

Bezeichnende gleichsam zurückgenommen, jedenfalls völlig verundeutlicht.<br />

Und doch ermöglicht bei sorgfältigem Lesen gerade<br />

diese Stelle, den Begriff der totalen Entsagung, nach dem wir fragten,<br />

mit konkretem Inhalt auszufüllen. Vergegenwärtigt man sich<br />

nämlich, was hier tatsächlich ausgesprochen ist: dass die "grenzenlose<br />

Uneigennützigkeit" Spinozas auch für Goethe Maxime, ja<br />

Ausübung war, so ist damit grundsätzlich konkretisiert, was Goethe<br />

unter der "Resignation im ganzen" verstand. Damit aber begreifen<br />

wir viel besser, inwiefern das 16. Buch <strong>von</strong> I?ICHTUNG UND<br />

WAHRHEIT in diesem Zusammenhang <strong>von</strong> etwas Ubermenschlichem<br />

sprechen konnte, weshalb dabei auch auf Christus verwiesen<br />

wird. Denn solche grenzenlose Uneigennützigkeit ist <strong>von</strong> Christus<br />

gelehrte, gelebte, <strong>von</strong> den Jüngern geforderte Tugend.<br />

Der besprochene Passus sollte jedenfalls zweierlei lehren: erstens,<br />

dass die Wendung" Uneigennützig zu sein in allem" bei<br />

gebührender Beachtung Immenses an Forderungen einschließt;<br />

zweitens, dass Goethe mit dem Be<strong>kennt</strong>nis, Uneigennützigkeit<br />

besonders in Liebe und Freundschaft bewiesen zu haben, ein Gebiet<br />

ins Blickfeld rückt, auf dem der Dichter sich lebenslänglich -<br />

in einem bestimmten Sinne - zu totaler Entsagung durchrang, mit<br />

sehr großen Opfern, beträchtlichen Leiden. Die uneigennützige<br />

Liebe zu Frauen insbesondere, eine Liebe, die <strong>nicht</strong> an das eigene<br />

Glück, sondern an das Wohl <strong>von</strong> andern denkt, an die Notwendigkeit,<br />

ihnen <strong>nicht</strong> zu schaden, <strong>nicht</strong> wehe zu tun - diese Liebe<br />

hat Goethe wieder und wieder betätigt <strong>von</strong> der Wertherzeit an bis<br />

in seine spätesten Jahre. Die großen Altersromane, DIE W AHLVER­<br />

WANDTSCHAFTEN und WILHELM MEISTERS WANDERJAHRE, aber auch vieles<br />

andere, so die NOVELLE, die KLASSISCHE WALPURGISNACHT machen<br />

es klar, dass der Dichter mit dem Wort Entsagung in erster Linie<br />

284<br />

- wenn auch <strong>nicht</strong> ausschließlich - den Liebesverzicht aus Gewissensgründen<br />

meint. Nicht zuletzt im Hinblick auf diese Form<br />

der Entsagung fühlte Goethe sich in seinem Handeln als Christ.<br />

Es zeigt sich jetzt, wie bedeutungsvoll es ist, dass jenes Wort: " Wer<br />

ist denn noch heutzutage ein Christ, wie Christus ihn haben wollte?"<br />

geäußert wurde innerhalb eines Gesprächs über die Heiligkeit<br />

der Ehe - das Problem, dem Goethe ein ganzes Werk, seine<br />

WAHLVERWANDTSCHAFTEN, gewidmet hatte. Goethe war sich bewußt,<br />

dass er in dieser Hinsicht: die Heiligkeit der Ehe <strong>nicht</strong> anzutasten,<br />

viele Male in seinem Leben ein Äußerstes getan hatte.<br />

Mit der anscheinend so harmlos klingenden Formel "Uneigennützigkeit<br />

in der Liebe" bezeichnet Goethe also doch etwas sehr<br />

Schwerwiegendes: eine Form der Nachfolge Christi. Wenn der<br />

Dichter in diesem Zusammenhang sogar an Philine erinnert und<br />

an ihre Uneigennützigkeit in der Liebe, so will das recht verstanden<br />

sein. Es bedeutet, dass auch dieses Wesen, das ganz Leib, personifizierte<br />

Sinnenfreude und Lebensbejahung ist, durch gewisse<br />

Züge agapeischer Liebe teilhat an spinozistisch-christlicher Haltung.<br />

Jene "Uneigennützigkeit" - ausgesprochene Liebe zu Wohltätigkeit<br />

ist ihr beigemischt - hebt Philine auf eine höhere Stufe.<br />

Das ermöglicht in WILHELM MEISTERS LEHRJAHREN den scherzhaft<br />

paradoxen Spruch <strong>von</strong> der "auf dem Wege zur Heiligkeit" befindlichen<br />

Philine. Deshalb hat auch am Schluß <strong>von</strong> WILHELM MEISTERS<br />

WANDERJAHREN Philine ohne Umstände Zutritt zu Makarie, der echten<br />

Heiligen.<br />

Durch die Nennung Philines im Spinoza-Abschnitt <strong>von</strong> DICH­<br />

TUNG UND WAHRHEIT ist andererseits auch eine Abgrenzung gegenüber<br />

allzu christlicher Auslegung vollzogen. "Grenzenlose Uneigennützigkeit"<br />

totaler Entsagung ist für Goethe <strong>nicht</strong><br />

gleichbedeutend mit Askese. Goethe war kein Asket. Wenn Sinnenfeindlichkeit<br />

und Abtötung des Leibes christlichen Vorstellungen<br />

zufolge heilig machen sollen, so strebte Goethe <strong>nicht</strong> nach solcher<br />

Heiligkeit. Bejahung des Eros gehört zum Wesen des klassischen<br />

Menschen. Es gab bekanntlich im Leben des Dichters Epochen freiz<br />

ügigen erotischen Genießens. Und der Satz: "Nun in allen<br />

L bensreihen / Müsset ihr genießen können" aus dem WEST-ÖST-<br />

285


LICHEN DIVAN bildet einen Teil der Goetheschen Altersweisheit. Erscheint<br />

Goethe hierin recht modem, so trennt ihn doch zweierlei<br />

<strong>von</strong> heutiger Mentalität. Erstens stand die Bejahung des Eros bei<br />

Goethe im Zeichen souverän geistiger Heiterkeit nach Weise der<br />

Antike oder des Alten Orients; dafür gibt es in moderner Zeit keine<br />

Parallele. Zweitens bedeutet Genußfreude für Goethe <strong>nicht</strong> ungehemmtes<br />

Ausleben der Triebe im modemen Sinne. Eine gewisse<br />

Grenze bleibt immer gezogen. Zu allen Zeiten, auch in des Dichters<br />

Jugend, hielt der Freizügigkeit im Genießen ein sehr bestimmtes<br />

Maßgefühl die Waage. Das Einhalten dieser Grenze, dieses<br />

Maßes führte zu schweren inneren Kämpfen bei einer so unvorstellbar<br />

leidenschaftlichen und leidensfähigen Natur wie der Goethes.<br />

Was der Dichter in diesem Ringen erreichte, das In-Schranken-Halten<br />

größter Affizierbarkeit, betrachtete er als Entsagen im<br />

Sinne Spinozas, als sein praktiziertes Christentum.<br />

Lebenslänglich erzog sich Goethe auch dazu, in den kleineren<br />

Dingen des Alltags verzichten und entbehren zu können. Dass der<br />

Mensch seine Affekte beherrschen müsse, war ein Postulat Spinozas,<br />

das Goethe zu befolgen suchte. Wie weit er es darin brachte,<br />

zeigt ein Wort Friedrich Riemers, der den Dichter aus jahrzehntelangem<br />

Umgang kannte. Riemer berichtet: die stoische<br />

Formel "sustine et abstine" habe Goethe "tatkräftig durch ein ganzes<br />

Leben hindurch ausgeführt."5 Riemer betont, wie schwer es<br />

dem Dichter im Grunde fiel, sich zu solcher Haltung durchzuringen.<br />

Die Ruhe, wie Spinoza sie forderte, lag - so sagt Riemer<br />

- ursprünglich <strong>nicht</strong> in Goethes ungeduldig-lebhaften Wesen,<br />

"aber das dunkelgefühlte Bedürfnis nach ihr stand wie ein letztes<br />

Ziel all dieser Bewegungen in seiner Seele. Er mußte sie erst<br />

sich anerwerben oder durch Erfahrung, Vernunft und Studium dahin<br />

gelangen." Wenn Goethe es vermochte, so berichtet Riemer '<br />

weiter, sich Geduld und Gelassenheit anzuerziehen und sein ganzes<br />

geselliges Betragen und Benehmen zu regulieren, so habe ihm<br />

5 Friedrich Wilhelm Riemer, Mitteilungen über Goethe. Hrsg. <strong>von</strong> Arthur Pollmer. Leipzig<br />

1921. S. 362.<br />

286<br />

dabei vor allem auch geholfen das Betrachten <strong>von</strong> Kunstgegenständen,<br />

<strong>von</strong> griechischer Plastik, italienischer Malerei. 6<br />

Es ist aber zu sagen, dass alles, was Goethe durch Selbsterziehung<br />

erreichte, schwer erworben war, dass es seiner Natur abgerungen<br />

werden mußte. Der Dichter war eigentlich ungestüm,<br />

expansiv, heftig in jeder Regung, in Zuneigung und Lieben, in Ablehnung<br />

und Zorn. Er brachte sich aber dazu, auf allen Gebieten<br />

sein Temperament zu zügeln. Man braucht es <strong>nicht</strong> in Abrede zu<br />

stellen, dass auch die Akte der Selbsterziehung im Kleinen, Alltäglichen<br />

noch ins Gebiet des Entsagens bei Goethe gehören. Der<br />

Dichter selbst sah es etwas anders. Er bezeichnete solche Selbsterziehung<br />

lieber mit dem Wort Kultur. Der Mensch, der sich unter<br />

Kontrolle nimmt, sich bändigt, Schwächen bekämpft, gibt sich<br />

damit eine 'Kultur' und erfüllt erst so die Voraussetzung, für ein<br />

höheres Menschliches in Betracht zu kommen. In Eckermanns Gesprächssammlung<br />

begegnen wir dem Wort 'Kultur' überaus häufig<br />

in diesem Sinne. Eckermann stellte es als eine Hauptlehre Goethes<br />

dar, die der Dichter <strong>nicht</strong> müde wurde, seinen Freunden<br />

einzuprägen: sich auf solche Weise eine Kultur zu geben. Dem geamten<br />

Buch Eckermanns liegt als eine der wesentlichsten Tendenzen<br />

zugrunde: darzutun, dass Goethe selbst es in staunenswertem<br />

Maß erreicht hatte, seine eigene Existenz zu einer derartigen Kultur<br />

zu bringen.<br />

Hingegen was Goethe mit dem Wort Entsagung, totaler Entagung,<br />

Resignation im ganzen bezeichnet, meint eigentlich etwas<br />

anderes. Es ist damit gedeutet auf gewisse grundlegende, einzelne<br />

Lebensentscheidungen. Hierbei handelt es sich weniger um den<br />

Kampf des Menschen mit einzelnen Fehlern und Untugenden. In<br />

diesem Kampf wird der einzelne nie ganz frei <strong>von</strong> menschlichen<br />

chwächen. Die großen Lebensentscheidungen dagegen, in denen<br />

Ebd . S. 68. Ähnlich S. 116: man müsse gestehn, daß G. "Selbstbeherrschung und<br />

Resignation in einem ungewöhnlichen Grade besaß, die um so höher anzuschlag<br />

n waren, als er sie gegen die Hindernisse eines lebhaften Naturells sich erworb<br />

n und angeübt hatte."<br />

287


sich die totale Resignation manifestiert, sind Schritte, mit denen<br />

mehr geleistet wird als den Menschen üblicherweise zu erfüllen<br />

gelingt, Akte der ungewöhnlichen Selbstlosigkeit, der schweren<br />

Überwindung. In WILHELM MEISTERS LEHRJAHRE ist das Wesen solcher<br />

Akte gekennzeichnet mit dem schönen Wort: "große und kühne<br />

Aufopferungen". Der Oheim in den "Be<strong>kennt</strong>nissen einer schönen<br />

Seele" meint damit das Leben bestimmende Handlungen des<br />

Glücksverzichts, und zwar des Verzichts auf Eheglück. Wenn DICH­<br />

TUNG UND WAHRHEIT <strong>von</strong> der Uneigennützigkeit in Liebe und<br />

Freundschaft spricht, so ist damit benannt, in welcher Form Goethe<br />

besonders oft solche großen Lebensentscheidungen getroffen<br />

hat. Handlungen dieser Art gehören auch zum Fundament dessen,<br />

was Goethe in DICHTUNG UND WAHRHEIT beiläufig einmal seinen<br />

"sittlichen Lebensbau" nennt (Buch 12). Von diesem sittlichen<br />

Lebensbau - Goethe setzt ihn seinem literarischen als ebenbürtig<br />

zur Seite - ist allzu wenig bekannt. Ihm gelten unsere Betrachtungen,<br />

zeigt sich doch hier recht eigentlich das Verhältnis des<br />

Dichters zu Christus und Spinoza.<br />

Ein Fall, wo Goethe Uneigennützigkeit in Liebe und Freundschaft<br />

exemplarisch bewährte, ist immerhin allgemein sichtbar: des<br />

Dichters Verzicht auf Marianne <strong>von</strong> Willemer. Ausschlaggebend<br />

bei diesem Entsagen war die Respektierung einer Freundesehe.<br />

Die Versuchung war die größte. Erstmals im Leben hatte Goethe<br />

eine Frau getroffen, die ihm geistig ebenbürtig war, eine Dichterin.<br />

Nach dem Tode Christianes 1816 war Goethe selbst frei. Der<br />

Freund Jacob <strong>von</strong> Willemer wäre bereit gewesen, Marianne abzutreten.<br />

Die Reise zu Will emers im Juni 1816 brach Goethe jedoch<br />

ab, nachdem eines jener "zufälligen Ereignisse" eingetreten<br />

war, <strong>von</strong> denen DICHTUNG UND WAHRHEIT sagt, dass auch sie uns<br />

zurufen: dass wir entsagen sollen. Ein Unfall des Reisewagens<br />

ver anlaß te die Rückkehr nach Weimar. Es war Goethe endgültig<br />

klargeworden, dass er die Frau eines Freundes <strong>nicht</strong> antasten, die<br />

Heiligkeit der Ehe <strong>nicht</strong> verletzen dürfe, die er selbst in den W AHL­<br />

VERWANDTSCHAFTEN verteidigt hatte gegen die laxe Ehemoral sich<br />

christlich gebärdender Romantiker. Denken und Tun hätten <strong>nicht</strong><br />

in Einklang gestanden, wie Goethe es doch forderte. Der Dichter<br />

288<br />

hat Marianne <strong>von</strong> Willemer nie wiedergesehen. Den Schmerz<br />

hierüber bekunden die Dichtungen der Altersjahre.<br />

Ein anderes Beispiel ähnlicher Entsagung, des Liebesverzichts<br />

aus Gewissensgründen, fällt in die Jugendepoche, über die DICH­<br />

TUNG UND WAHRHEIT berichtet, wo <strong>von</strong> Goethes "sittlichem Lebensbau"<br />

die Rede ist. (Kommen doch, wie schon Riemer wußte, bei<br />

Goethe dieselben Gedanken immer wieder vor, in "seiner jugendlichen,<br />

mittleren oder späteren Epoche".7 Es ist der den Erlebniskern<br />

für DIE LEIDEN DES JUNGEN WERTHERS bildende Liebesverzicht,<br />

<strong>von</strong> dem wir nun zu sprechen haben. DICHTUNG UND WAHRHEIT gibt<br />

hierüber anscheinend umfassende Informationen. In einem entscheidenden<br />

Punkt erweisen sie sich jedoch als unzureichend. Das<br />

understatement der Autobiographie läßt <strong>nicht</strong> erkennen, wie groß<br />

auch in diesem Fall die Versuchung war, der Goethe zu widerstehen<br />

hatte. Das Außerordentliche im Verlauf der Wertherkrise<br />

wird erst dann sichtbar, berücksichtigt man die Rolle, welche die<br />

ungeh<strong>eure</strong> Attraktionskraft des jungen Goethe spielte. Diese<br />

Attraktionskraft bildete ein Gefahrenmoment solcher Art, dass ein<br />

ganz anderer Ausgang nur allzu nahegelegen hätte. Woran zu denken<br />

ist, soll ein kurzer Überblick in Erinnerung bringen.<br />

Schon seit seinen Jünglingsjahren machte Goethe an sich die<br />

Erfahrung, dass <strong>von</strong> seiner Persönlichkeit die allergrößte, intenivste<br />

Wirkung auf Menschen ausging. Eine Anziehungskraft war<br />

ihm gegeben, die mit unwiderstehlicher Gewalt die Herzen gewann.<br />

Jüngere schlossen sich ihm an, Ältere wollten <strong>von</strong> ihm lernen.<br />

Wo er hinkam, stand er im Mittelpunkt, bildeten sich um ihn<br />

Kreise heiterer oder auch ernster Geselligkeit. Denken wir an den<br />

Studenten Goethe im Kreise Oesers, seine Wirkung unter den<br />

herrnhutischen Frommen in Frankfurt, an seine dominierende Roll<br />

in der Straßburger Tischgesellschaft ("er hatte die Regierung am<br />

Tisch, ohne daß er sie suchte"). Mittelpunkt ist Goethe im Kreis<br />

d r Darmstädter Gemeinschaft der Heiligen, gebildete Frauen<br />

chwärmten für ihn, Frauen <strong>von</strong> Freunden, denen Goethe deshalb<br />

7 Riemer a.a.O. 5. 128.<br />

289


<strong>nicht</strong> zu nahe trat, wie er in dichterischer Form andeutete. Im Kreise<br />

des Gießener Professors Höpfner - wir sind in der WERTHER­<br />

Zeit - macht die Erscheinung Goethes furore: man läßt ihn "fast<br />

allein" sprechen, "verwundert und begeistert" hören alle dem<br />

"Götterjüngling" zu. "Götterkraft in seinem Wesen" schrieb ihm<br />

Heinse zu, und <strong>von</strong> götterähnlicher Wirkung Goethes bei festlichen<br />

Zusammenkünften spricht wiederholt Friedrich Heinrich Jacobi.<br />

Lavater empfand Goethes beherrschende Ausstrahlung als die eines<br />

"Königs", dem Männer und Frauen gleicherweise huldigten.<br />

Als "größtes Genie und zugleich der liebenswürdigste Mensch unserer<br />

Zeit" wird Goethe <strong>von</strong> Wieland gefeiert. Mit Worten wie "Königswürde",<br />

"echter Geisterkönig", "liebenswürdigster, größter<br />

und bester Menschensohn" sucht Wieland den Eindruck wiederzugeben,<br />

den der junge Goethe bei seiner Ankunft in Weimar<br />

machte. "Menschensohn" deutet auf Christus - so erschien Goethe<br />

dem Rationalisten Wieland, der damals berichtete: "Außer mir<br />

kniet' ich neben ihn, drückte meine Seele an seine Brust, und betete<br />

Gott an."<br />

So hat sich nie in Gottes Welt<br />

Ein Menschensohn uns dargestellt.<br />

Die Wielandschen Verse <strong>von</strong> Anfang 1776 spiegeln den gleichen<br />

Erlebnisbereich. Das Gedicht AN PSYCHE, dem sie entstammen,<br />

schildert das Charisma Goethes auch im Hinblick auf dessen erotische<br />

Ausstrahlung:<br />

Ein schöner Hexenmeister es war,<br />

Mit einem schwarzen Augen-Paar,<br />

Zaubernden Augen voll Götterblicken,<br />

Gleich mächtig zu töten und zu entzücken.<br />

Welche Wirkung auf Frauen vom jungen Goethe ausgegangen sein<br />

muß, darüber sind wir auch informiert durch die Autobiographie<br />

Hufelands: "Man kann sich keinen schöneren Mann vorstellen.<br />

Dabei sein lebhafter Geist und seine Kraft, die seltenste Vereinigung<br />

geistiger und körperlicher Vollkommenheit, groß, stark und<br />

290<br />

schön; in allen körperlichen Übungen: Reiten, Fechten, Voltigieren,<br />

Tanzen war er der Erste." So habe Goethe eine" wunderbare Revolution"<br />

durch sein Kommen in Weimar hervorgerufen: "Alle jungen<br />

Leute legten Goethes Uniform: gelbe Weste und Beinkleider<br />

und dunkelblauen Frack an, und spielten junge Werther [. .. ] Alles<br />

kam aus seinen Fugen." Wie "durchaus geliebt" und "angebetet"<br />

Goethe damals war, ist u. a. <strong>von</strong> Klinger und Schiller bezeugt.<br />

Der Bericht einer" vornehmen Dame" - überliefert <strong>von</strong> Zimmermann<br />

- läßt die unvergleichliche Verführungs gabe ahnen, die Goethe<br />

zu jener Zeit eigen war. <strong>Ihr</strong> zufolge sei Goethe damals gewesen:<br />

"der schönste Mensch, der lebendigste, originellste, der<br />

feurigste, ungestümste, der sanfteste, der verführerischste und der<br />

gefährlichste für das Herz einer Frau, den sie in ihrem Leben gesehen<br />

habe." Als Charlotte <strong>von</strong> Stein Goethe kennengelernt hatte,<br />

schrieb sie zunächst, ihrer Natur nach zur Kritik neigend, an Zimmermann:<br />

"Es ist <strong>nicht</strong> möglich, mit seinem Betragen kömmt er<br />

<strong>nicht</strong> durch die Welt; wenn unser sanfter Sittenlehrer gekreuz' get<br />

wurde, so wird dieser bittere zerhackt [ ... ] Ich fühl's, Goethe und<br />

ich werden niemals Freunde." Zwei Monate später schrieb sie an<br />

denselben Adressaten: "Jetzt nenn ich ihn meinen Heiligen."<br />

Aus solchen zeitgenössischen Zeugnissen - sie lassen sich vermehren<br />

- erhellt die eigentliche Situation in der 'Wertherkrise' . Sie<br />

lassen darauf schließen, welche Möglichkeiten Goethe gegeben<br />

waren, als er Lotte Kestner begegnete, und welche innere Kraft<br />

die Lebensentscheidung erforderte, die er damals traf: der Entschluß<br />

zum Verzicht. Was wir aus DICHTUNG UND WAHRHEIT erfahren,<br />

ist zusammengefaßt dies: im Sommer 1772, als Goethe am<br />

Reichskammergericht in Wetzlar tätig war, entstand ein Liebesverhältnis<br />

zwischen ihm und der Verlobten seines Freundes Kestner.<br />

Die drei, Kestner, Goethe und Lotte verbrachten zwei Monate als<br />

"unzertrennliche Gefährten". In Goethes ausführlichem Bericht<br />

heißt es weiter: "Sie hatten sich alle drei aneinander gewöhnt ohne<br />

es zu wollen, und wußten <strong>nicht</strong>, wie sie dazu kamen, sich <strong>nicht</strong><br />

ntbehren zu können." Den Zauber jener Epoche schildert DICH­<br />

TUNG UND WAHRHEIT mit den Worten: "Und so nahm ein gemeiner<br />

Tag den andern auf, und alle schienen Festtage zu sein; der gan-<br />

291


ze Kalender hätte müssen rot gedruckt werden." Plötzlich aber,<br />

an einem Septembertag des Jahres 1772 verließ Goethe Wetzlar,<br />

ohne sich <strong>von</strong> Kestner und Lotte zu verabschieden. Das Verhältnis<br />

zu Lotte sei - so berichtet DICHTUNG UND WAHRHEIT - "leidenschaftlicher<br />

als billig" <strong>von</strong> Goethes Seite geworden. Da habe er,<br />

als die Eheschließung näherrückte, sich freiwilllig entfernt, um<br />

<strong>nicht</strong> "durch das Unerträgliche vertrieben" zu werden.<br />

Was Goethe erzählt, entspricht im ganzen den tatsächlichen<br />

Vorgängen, über die wir gut unterrichtet sind. Und doch fehlt in<br />

DICHTUNG UND WAHRHEIT etwas Entscheidendes. Goethe verschweigt,<br />

was sein eigentliches Verdienst in der damaligen Situation<br />

gewesen ist. In Wirklichkeit lagen doch die Dinge so: selbstverständlich<br />

hätte er damals Lotte für sich gewinnen, hätte er die<br />

Verlobte des Freundes diesem abspenstig machen können. Es wäre<br />

dazu <strong>nicht</strong>s weiter <strong>von</strong>nöten gewesen als der Entschluß Goethes,<br />

die ganze Macht seiner Persönlichkeit einzusetzen. War Goethe<br />

ernstlich willens, Menschen zu gewinnen, so konnte sich niemand<br />

dem entziehen. Er überwand alle Widerstände. Selbst ehemalige<br />

Gegner und Kritiker - wie Jacobi, Wieland, Charlotte <strong>von</strong> Stein -<br />

machte er zu seinen Adoranten. In diesem Fall aber, bei der Entscheidung<br />

um Kestners Lotte, unterließ Goethe es bewußt und freiwillig,<br />

<strong>von</strong> seiner Macht über die Menschen Gebrauch zu machen.<br />

Es war dies ein Akt des Entsagens, der "großen und kühnen Aufopferung",<br />

dass er verzichtete, sich eine Frau anzueignen, die<br />

schon vergeben war. Goethe versagte es sich, einem Freund sein<br />

Glück zu rauben und gab damit auf - wie später noch oftmals -<br />

das eigene Glück.<br />

Betrachtet man die Nachrichten aus der Wetzlarer Zeit genauer,<br />

so bedarf es nur einiger Aufmerksamkeit, um zu erkennen, dass<br />

tatsächlich ein solch freiwilliger Verzicht Goethes vorlag. Obgleich<br />

Kestner es in seinen Aufzeichnungen begreiflicherweise zumeist<br />

so hinstellt, als habe Lotte nie eigentlich geschwankt, so ist doch<br />

ersichtlich, wie sehr sie Goethe geliebt hat. Nach dessen plötzlicher<br />

Abreise war sie zu Tränen erschüttert. Entscheidend ist - neben<br />

vielen andern Zeugnissen - ein Geständnis Kestners, das er damals<br />

brieflich ablegte. Goethe habe - so schrieb er einem Freund -<br />

292<br />

"solche Eigenschaften, die ihn einem Frauenzimmer, zumal einem<br />

empfindenden und das <strong>von</strong> Geschmack ist, gefährlich machen<br />

können" - also war er Lotte gefährlich geworden. Kestner fährt<br />

fort: "Es entstanden bei mir innerliche Kämpfe, da ich auf der einen<br />

Seite dachte, ich möchte <strong>nicht</strong> imstande sein, Lottchen so<br />

glücklich zu machen, als er, auf der andern Seite aber den Gedanken<br />

<strong>nicht</strong> ausstehen konnte, sie zu verlieren." Demnach stand Kestner<br />

sehr wohl die Möglichkeit vor Augen, dass der weit überlegene<br />

Goethe Lotte gewinnen könnte und dass diese damit notwendig<br />

hätte glücklicher werden müssen als mit ihm. Es war Goethes freiwilliger<br />

Verzicht, dass es hierzu <strong>nicht</strong> kam. Welche Gesinnung hinter<br />

diesem Verzicht stand, das verrät einer der vielen Briefe Goethes<br />

an das Kestnersche Paar nach der Trennung. Darin heißt es:<br />

"Daß ich sie so lieb habe ist <strong>von</strong> jeher uneigennützig gewesen."<br />

Kein Zweifel also, dass bereits damals tatsächlich die Devise "Unigennützigkeit<br />

in Liebe und Freundschaft" <strong>von</strong> Goethe gekannt<br />

und befolgt, "ausgeübt" worden ist. Die Autobiographie sagt hierin<br />

<strong>nicht</strong>s als die lautere Wahrheit.<br />

Der WERTHER-Roman, der dieses Erlebnis spiegelt, wurde<br />

geschrieben anderthalb Jahre nach Goethes Trennung <strong>von</strong> Lotte.<br />

Es traf sich merkwürdig, dass Goethe während der Niederschrift<br />

des Romans - die in wenigen Wochen, Frühjahr 1774, erfolgte -<br />

nochmals in einen Spannungszustand versetzt wurde ähnlich dem<br />

im Roman geschilderten. Im Januar 1774 heiratete die 18jährige<br />

Maximiliane La Roche, Tochter der Schriftstellerin Sophie <strong>von</strong> Laroche,<br />

den Frankfurter Kaufmann Brentano. Für Maximiliane, die<br />

spätere Mutter <strong>von</strong> Clemens und Bettina Brentano, faßte Goethe<br />

bereits eine sehr intensive Neigung, seit er sie im Herbst 1772, nach<br />

s inem Weggang <strong>von</strong> Wetzlar, kennengelernt hatte. Deshalb wurde<br />

es ihm zu einem tiefschmerzlichen Erlebnis, als sie Anfang 1774<br />

nach Frankfurt zog, nun aber verheiratet mit einem viel älteren<br />

Manne, den sie <strong>nicht</strong> liebte. Ungewollt fiel Goethe eine Zeitlang<br />

die Rolle des Hausfreundes zu, der die junge Frau trösten mußte<br />

- wie Merck damals schrieb - über den Geruch <strong>von</strong> Öl und Käse<br />

im Hause des Kaufmanns und über dessen schlechte Manieren.<br />

01 HTUNG UND WAHRHEIT teilt mit, dass diese Erlebnisse den un-<br />

293


Faksimile wiedergegeben nach: DER JUNGE G OETHE. Neu bearbeitete Ausgabe in fünf<br />

Bänden. Hrsg. <strong>von</strong> Hanna Fischer-Lamberg. Bd. IV. Berlin 1968. S. 325.<br />

296<br />

Mit der bedeutsamen Lebensentscheidung, die das Uneigennützigsein<br />

in Liebe und Freundschaft zum Gesetz machte, hat Goethe<br />

wirklich die Wege seiner künftigen Existenz vorgebildet. Viele<br />

Male wurde später <strong>von</strong> ihm das Gesetz erfüllt. Es entstand aber -<br />

dies gilt es festzuhalten - bereits das Jugendwerk, das Goethe den<br />

größen Erfolg seiner literarischen Laufbahn brachte, der WERTHER,<br />

auf ähnliche Weise im Geiste des Entsagens wie soviele der großen<br />

Dichtungen späterer Epochen. In DICHTUNG UND WAHRHEIT wird<br />

der Einschnitt, den die den WERTHER-Roman begleitende Lebensentscheidung<br />

machte, einmal bezeichnet mit den Worten: die wahre<br />

Sehnsucht dürfe nur auf ein Unerreichbares gerichtet sein (Buch<br />

12). Dieser Satz gilt fürs ganze Leben Goethes und bestimmte weitgehend<br />

sein Verhältnis zu Frauen. Bekanntlich war es zumeist die<br />

unerreichbare, die entfernte Geliebte, die Goethe als dichterisch<br />

Schaffenden am meisten inspirierte.<br />

Der WERTHER-Roman ist alles andere als etwa die eindeutige<br />

und womöglich prahlerische Darstellung eines moralischen Sieges.<br />

Was der Dichter sich als Verdienst anrechnen durfte, darüber<br />

sprach er <strong>nicht</strong>. Das Kreuz, das er auf sich nahm, das er in der<br />

erwähnten Briefunterschrift einmal andeutungsweise sehen ließ,<br />

im Werke hielt er es verborgen. DICHTUNG UND WAHRHEIT tut ein übriges,<br />

die wirkliche moralische Leistung zu verschleiern, z. B.<br />

wenn Goethe dort DIE LEIDEN DES JUNGEN WERTHERS eine Beichte<br />

nennt. Nach der Niederschrift, so heißt es, habe der Dichter sich<br />

"wie nach einer Generalbeichte wieder froh und frei gefühlt". Mit<br />

derartigem lenkt Goethe eher <strong>von</strong> der Hauptsache ab. Es gab<br />

<strong>nicht</strong>s zu "beichten". Vielmehr hätte die Möglichkeit bestandenandere<br />

Poeten hätten sie <strong>nicht</strong> vorbeigelassen - auf Grund der<br />

igenen Verdienste als mahnender Prophet aufzutreten und direkt<br />

ufzufordem: handelt so wie ich, begeht keinen Ehebruch, entsagt,<br />

verzichtet, seid uneigennützig ... Nichts da<strong>von</strong> gab er dem Werke<br />

mit. Ganz anders ging Goethe vor. Wie so oft später kehrt er<br />

auch hier die Erfahrungen seines Lebens um. Er stellt <strong>nicht</strong> dar,<br />

wie er sich verhielt, der im Besitz ungewöhnlicher moralischer<br />

Kräfte war und die Stärke besaß, auch aus der verführendsten<br />

ituation herauszufinden. Vielmehr schildert er einen gutgearte-<br />

297


so stand ihm natürlich die WERTHER-Zeit vor Augen. Von ihr wußte<br />

Goethe mit Sicherheit, wievieles er Spinoza damals verdankte.<br />

So mag er während der Abfassung des Fragments zu dem Entschluß<br />

gekommen sein, über das Thema Spinoza erst in einem späteren<br />

Buch <strong>von</strong> DICHTUNG UND WAHRHEIT zu sprechen, bei Charakterisierung<br />

der Wertherzeit. Plötzlich ward sich Goethe vermutlich<br />

darüber klar, wieviel reicher, dankbarer die Behandlung dieses<br />

Stoffes dann zu gestalten wäre; so plötzlich, dass er, beim Diktat<br />

an den Namen des "geliebten" Philosophen gekommen, innehielt<br />

und schließlich abbrach. Erst zwei Jahre danach, 1813, verfaßte er<br />

die Spinoza-Abschnitte, die wir kennen. Ihnen gegenüber verhalten<br />

sich die Betrachtungen <strong>von</strong> Jugend-Epoche wie eine erste Improvisation.<br />

Bei Vergleichung des Inhalts zeigt sich das Frühere dem Späteren<br />

gegenüber durchweg verwandt. Doch findet sich in dem<br />

Fragment Jugend-Epoche ein Gesichtspunkt, der Goethes Einstellung<br />

zu Spinoza verdeutlicht, über das in DICHTUNG UND W AHR­<br />

HEIT Gesagte hinaus. Die Spinoza-Partien <strong>von</strong> 1813 enthalten prinzipiell<br />

die nämlichen Gedanken wie das Fragment <strong>von</strong> 1811. Was<br />

Goethe hier "Mäßigkeit" nennt, bezeichnet er dort als Beruhigung<br />

der Leidenschaften, ausgleichende Ruhe, Friedensluft usw. Wie im<br />

Fragment so wird auch in Buch 14 hingewiesen auf den "Kontrast"<br />

zwischen Mäßigkeitsanspruch und Leidenschaftlichkeit des Jugendalters.<br />

In den eingangs <strong>von</strong> uns zitierten Sätzen aus Buch 16<br />

findet sich die überzeugendste Parallele zu den Gedanken des<br />

Schlußsatzes <strong>von</strong> Jugend-Epoche. Wird hier gesagt: die "Umgebungen<br />

beschränken uns, wir mögen uns stellen wie wir wollen",<br />

so heißt es dort: Gesellschaft, Sitten, Philosophie usw., "alles<br />

ruft uns zu, dass wir entsagen sollen".<br />

Unter einem andern Aspekt gesehen ist im Fragment, was Goethe<br />

als das Heilmittel gegen Beschränkung durch die" Umgebungen"<br />

bezeichnet. Es taucht der Begriff der Freiheit auf. In Jugend-Epoche<br />

sagt Goethe, er habe gesucht, sich "i n n e r li c h<br />

unabhängig zu machen". DICHTUNG UND WAHRHEIT nennt als Arkanum<br />

gegen die <strong>von</strong> außen andringenden Entsagungsansprüche:<br />

Beruhigung der Leidenschaften, "Resignieren im ganzen". Es<br />

304<br />

ist aber daran zu erinnern, dass beides für Goethe wesensgleich<br />

war. In dem Begriff der inneren Freiheit ist befaßt, was totale Resignation<br />

ihm bedeutete. Angesichts der Spärlichkeit seiner Mitteilungen<br />

über Spinoza darf uns jedes Wort <strong>von</strong> Wert sein, das die<br />

Be<strong>kennt</strong>nisse der Autobiographie ergänzt. Zwar sagt Goethe auch<br />

in dieser (Buch 14) andeutend ähnliches wie im Fragment: er habe<br />

sich "in aller Welt um ein Bildungsmittel umgesehn" und sei endlich<br />

auf Spinozas ETHIK geraten. Der nun folgende, auf den Freiheitsbegriff<br />

bezügliche Passus ist aber wieder so versteckt in der<br />

Formulierung, dass man den Inhalt kaum erfaßt: "Was ich mir aus<br />

dem Werke mag herausgelesen, was ich in dasselbe mag hineingelesen<br />

haben, da<strong>von</strong> wüßte ich keine Rechenschaft zu geben, genug<br />

ich fand hier eine Beruhigung meiner Leidenschaften,<br />

es schien sich mir eine große und freie Aussicht über die sinnliche<br />

und sittliche Welt aufzutun." Mit Rückblick auf das Fragm nt<br />

Jugend-Epoche läßt sich dem entnehmen: Spinozas Entsagungslehr<br />

brachte Goethe innere Freiheit.<br />

Suchen wir nach weiteren Erweisen, dass totale Resignation<br />

und innere Freiheit für Goethe zusammengehörten, so verhelf n<br />

uns zur Einsicht erstens Spinozas ETHIK und zweitens Goeth eh<br />

Dichtung. Bei Spinoza ist das ethische Postulat, das Goeth<br />

"im ganzen Resignieren" bezeichnet, genannt: Macht üb<br />

Affekte erlangen. Diese Macht über die Affekte aber ist es, di Spjnoza<br />

zufolge dem Menschen einzig innere Freiheit, "Freih it<br />

Geistes" gibt. Das letzte Buch seiner ETHIK, das lehrt, Macht ü '<br />

die Affekte zu erlangen (durch den Intellectus), ist denn au h<br />

titelt: Von der menschlichen Freiheit. In solcher Form erschi n cl<br />

Deterministen Spinoza Freiheit möglich und höchstes Gut.<br />

the, mit seiner Sympathie für deterministische Weltanschauun n<br />

(Spinoza, Calvinismus, Islam), dachte <strong>nicht</strong> viel anders.<br />

Innerhalb <strong>von</strong> Goethes Dichtung legt die folgende Stanz<br />

dem Fragment DIE GEHEIMNISSE Zeugnis ab, dass totale Ent<br />

(hier heißt es: "sich Überwinden") und innere Befreiung g<br />

über der einengenden Außenwelt unlösbar zusammenhän<br />

wesensgleich sind:


gab. Aus MEINEM LEBEN. DICHTUNG UND WAHRHEIT - diese vorsichtige<br />

Formulierung gibt Rechenschaft über das nach bestem Gewissen<br />

zu Leistende. Wahrheit ist angestrebt, doch kann ein Bericht aus<br />

später Rückschau das faktisch Gewesene weder lückenlos noch vollkommen<br />

genau wiedergeben. Die "Erinnerung" wird das Vergangene<br />

notwendig "bildend modeln". In diesem Sinne erklären Goethes<br />

TAG- UND JAHREs-HEFTE im Abschnitt 1811 den Titel des Werks:<br />

Ich hatte die Entwicklung eines bedeutend gewordenen Kindes, wie sie sich<br />

unter gegebenen Umständen hervorgetan, aber doch wie sie im Allgemeinen<br />

dem Menschenkenner und dessen Einsichten gemäß wäre, darzustellen.<br />

In diesem Sinne nannt' ich bescheiden genug ein solches mit sorgfältiger<br />

Treue behandeltes Werk: Wahrheit und Dichtung, innigst überzeugt, daß der<br />

Mensch in der Gegenwart, ja vielmehr noch in der Erinnerung die Außenwelt<br />

nach seinen Eigenheiten bildend modele.<br />

Gegen die Möglichkeit, den Titel irrig dahingehend auszulegen,<br />

dass er die vorsätzliche Beimischung <strong>von</strong> rein Fiktivem ankündige,<br />

verwahrt sich der 80jährige Goethe in einem Brief an König Ludwig<br />

I. <strong>von</strong> Bayern. Dem hier Gesagten maß er solche Bedeutung<br />

bei, dass er es abschriftlich Zelter mitteilte; er wußte, dass die betreffenden<br />

Sätze dann bald nach seinem Tode innerhalb der vorausbestimmten<br />

Veröffentlichung des Briefwechsels mit Zelter dem<br />

Publikum zu Gesicht kommen würden. Das am 17. Dezember 1829<br />

abgefaßte, für das Verständnis <strong>von</strong> DICHTUNG UND WAHRHEIT so wichtige<br />

Dokument lautet:<br />

308<br />

Was den freilich einigermaßen paradoxen Titel der Vertraulichkeiten aus<br />

meinem Leben Wahrheit und Dichtung betrifft, so ward derselbige durch<br />

die Erfahrung veranlaßt, daß das Publikum immer an der Wahrhaftigkeit<br />

solcher biographischen Versuche einigen Zweifel hege. Diesem 'zu begegnen,<br />

bekannte ich mich zu einer Art <strong>von</strong> Fiktion, gewissermaßen ohne Not,<br />

durch einen gewissen Widerspruchs-Geist getrieben, denn es war mein<br />

ernstestes Bestreben das eigentliche Grundwahre, das, insofern ich es einsah,<br />

in meinem Leben obgewaltet hatte, möglichst darzustellen und auszudrücken.<br />

Wenn aber ein solches in späteren Jahren <strong>nicht</strong> möglich ist, ohne<br />

die Rückerinnerung und also die Einbildungskraft wirken zu lassen, und<br />

man also immer in den Fall kommt gewissermaßen das dichterische Vermögen<br />

auszuüben, so ist es klar, daß man mehr die Resultate und, wie wir uns<br />

das Vergangene jetzt denken, als die Einzelheiten, wie sie sich damals ereig-<br />

neten, aufstellen und hervorheben werde. Bringt ja selbst die gemeinste Chronik<br />

notwendig etwas <strong>von</strong> dem Geiste der Zeit mit, in der sie geschrieben<br />

wurde. Wird das vierzehnte Jahrhundert einen Kometen <strong>nicht</strong> ahnungsvoller<br />

überliefern als das neunzehnte? Ja ein bedeutendes Ereignis wird man, in<br />

derselben Stadt, Abends anders als des Morgens erzählen hören. Dieses alles,<br />

was dem Erzählenden und der Erzählung angehört, habe ich hier unter<br />

dem Worte: Dichtung, begriffen, um mich des Wahren, dessen ich mir bewußt<br />

war, zu meinem Zweck bedienen zu können. Ob ich ihn erreicht habe<br />

überlass' ich dem günstigen Leser zu entscheiden, da denn die Frage sich<br />

hervortut: ob das Vorgetragene kongruent sei? ob man daraus den Begriff<br />

stufenweiser Ausbildung einer, durch ihre Arbeiten schon bekannten Persönlichkeit<br />

sich zu bilden vermöge.<br />

Mit der Umsicht des echten Historikers weist Goethe hier auf etwas<br />

hin, das grundsätzlich <strong>von</strong> allen autobiographischen Schriften<br />

gilt: Selbstdarstellungen sind stets zugleich Selbstdeutungen.<br />

Ein genaues Bild des Gewesenen können sie niemals vermitteln,<br />

das Vermögen der "Rückerinnerung" hat seine natürlichen Grenzen,<br />

unvermeidlich mischt sich die "Einbildungskraft" hinein. So<br />

entsteht aus geschichtlicher Wahrheit und deutendem Erinnern ein<br />

Drittes, dessen Wert vom historischen Gesichtspunkt aus notwendig<br />

problematisch bleiben muß. Ausschlaggebend ist, welche Persönlichkeit,<br />

welcher Charakter dem Berichtenden eignet. Wenn es<br />

ihm so sehr wie Goethe darum geht, das "eigentliche Grundwahre"<br />

darzustellen, so wird jenes resultierende Dritte <strong>von</strong> großer Bedeutung<br />

sein. Es besitzt dann eine eigene Realität, die der Realität des<br />

wirklich Gewesenen ebenbürtig zur Seite steht.<br />

Der Begriff "stufenweiser Ausbildung" ist einer der wesentlichsten<br />

Bestandteile jenes "Grundwahren", <strong>von</strong> dem GoethesAutobiographie<br />

Mitteilung macht. Entwicklung, inneres Fortschreiten<br />

in jedem Moment und in atemberaubendem Tempo - das ist eine<br />

Eigenheit, die Goethe, den Menschen und Dichter, auszeichnet und<br />

<strong>von</strong> anderen grundsätzlich unterscheidet. "Wenn ich ihn drei Tage<br />

<strong>nicht</strong> gesehen hatte, so kannte ich ihn <strong>nicht</strong> mehr; so riesenhaft<br />

waren die Fortschritte, die er in seiner Vervollkommnung machte."<br />

Das sagte Goethe <strong>von</strong> Schiller (zu Carl Friedrich <strong>von</strong> Conta),<br />

aber <strong>nicht</strong> weniger galt es <strong>von</strong> Goethe selber. Darum weist DICH­<br />

TUNG UND WAHRHEIT auf dieses Fortschreiten, dies unvergleichliche<br />

309


Schauspiel einer Vervollkommnung als auf das Allerwesentlichste.<br />

Hier liegt das eigentliche fabula docet des Buches. Wenn Goethe<br />

auf diesen Zug hin die Vergangenheit deutete - und er brauchte<br />

hier <strong>nicht</strong> viel umzudeuten -, so geschah das mit Berechtigung und<br />

Sinn. Er traf damit ein "Grundwahres", das zugleich im höchsten<br />

Maße anregend und erzieherisch wirkte. Seine Autobiographie<br />

wird gerade durch diese Besonderheit zur "moralischen Schrift",<br />

und noch der für alle Literaturgeschichtsschreibung so fruchtbar<br />

gewordene Gedanke der Entwicklung geht <strong>nicht</strong> zuletzt auf die<br />

Wirkung <strong>von</strong> DICHTUNG UND WAHRHEIT zurück - vor diesem Buch<br />

wußte man hier<strong>von</strong> <strong>nicht</strong> allzu viel.<br />

Entstehung<br />

Als Goethe im Alter <strong>von</strong> 60 Jahren daranging, sein Leben zu schildern,<br />

war er für diese Aufgabe in ganz besonderer Weise vorbereitet.<br />

Die Arbeiten am Historischen Teil seiner FARBENLEHRE hatten<br />

ihn soeben in umfassendster Weise mit den Problemen der<br />

Geschichtsschreibung vertraut gemacht. Zweierlei hatte er hier gelernt:<br />

sich durch ingeniöses Studium <strong>von</strong> Quellen rasche Einsicht<br />

in historische Verhältnisse zu verschaffen, dann aber auch eine Form<br />

zu entwickeln, in der er Geschichte darstellen konnte, wie es seiner<br />

Schriftstellereigenheit gemäß war. Für das gesamte wissenschaftliche<br />

Schreiben Goethes, das ja erst im Alter breiten Umfang<br />

annahm, wurden jene Arbeiten an der Geschichte der Farbenlehre<br />

richtungweisend. Für DICHTUNG UND WAHRHEIT bedeuten sie eine<br />

der wesentlichen schicksalhaften Voraussetzungen, die das Werk<br />

zu einem so außergewöhnlichen Buch machten. Nur weil Goethe<br />

bereits tief durchdrungen war vom Geist der Historie, weil er ihre<br />

Technik schon weitgehend beherrschte, als er sein Leben zu schildern<br />

begann, bekam seine Autobiographie auch als Geschichtswerk<br />

jene überragende Qualität, die an ihm geschätzt wird.<br />

Diese schicksalhaften Voraussetzungen erklären auch die verhältnismäßige<br />

Leichtigkeit, mit der die Arbeit an DICHTUNG UND<br />

WAHRHEIT <strong>von</strong>statten ging. Dabei verfuhr Goethe hier ebenso gründ-<br />

310<br />

lich wie bei allem, was er unternahm. Im Herbst 1809 schrieb er<br />

ein chronologisches Schema nieder als erste Vorbereitung auf das<br />

geplante Werk. Darin wurden, unter Jahreszahlen geordnet, die<br />

wichtigsten Ereignisse in Stichworten für den Zeitraum 1742 bis<br />

1809 vermerkt. Detailliertere Schemata folgten 1810. Dies Jahr verwendete<br />

Goethe im übrigen auf verschiedenartige Vorstudien. Aus<br />

Frankfurt besorgte er sich allerlei Nachrichten und dokumentarische<br />

Unterlagen <strong>von</strong> Bettina Brentano und Joh. Friedr. Heinrich<br />

Schlosser. Vor allem begann er systematisch, eine ausgebreitete<br />

Lektüre zu treiben. Über Geschichte, Literatur, Philosophie des<br />

18. Jahrhunderts informierte er sich aus einschlägigen Werken. Daneben<br />

las er Historiker wie Tacitus und Johannes <strong>von</strong> Müller, um<br />

sich an großen Mustern der Geschichtsschreibung zu orientieren.<br />

Dass im Winter 1810/11 der lange ins Auge gefaßte Plan einer Biographie<br />

<strong>von</strong> Philipp Hackert endlich ausgeführt werden konnte,<br />

war ebenfalls dem größeren Vorhaben dienlich. Die Arbeit an der<br />

Biographie des ihm befreundeten Malers stellte gleichsam eine letzte<br />

Etüde für die eigene Lebensschilderung dar.<br />

Erst im Jahre 1811, unmittelbar im Anschluß an die Abfassung<br />

der Hackert-Biographie, begann Goethe mit der Arbeit an DICH­<br />

TUNG UND WAHRHEIT. Zunächst stellte er zusammenhängend die<br />

wichtigsten Episoden der beiden ersten Teile dar. Durch Vorlesungen<br />

- bei Christiane und ihren Freundinnen sowie bei der<br />

Herzogin - suchte er sich der guten Wirkung seiner "biographischen<br />

Aufsätze" zu vergewissern. Im Mai 1811 wurde eine "Einteilung<br />

in Bücher" vorgenommen (Tagebuch 20. Mai 1811). Zunächst<br />

dachte Goethe noch daran, jedem Teil den Umfang <strong>von</strong> sechs<br />

Büchern zu geben, wobei ihm sicherlich das Vorbild der Rousseauschen<br />

CONFESSIONS vorschwebte. (Die CONFESSIONS enthalten zwei<br />

Teile zu je sechs Büchern.) Bei der Redaktion des ersten Teils ergab<br />

sich dann jedoch die Fünf-Bücher-Einteilung, wie wir sie kennen,<br />

als die praktischere Lösung.<br />

Im Oktober 1811 lag bereits der erste Teil <strong>von</strong> DICHTUNG UND<br />

WAHRHEIT gedruckt vor. In Anbetracht der Schwierigkeit und Fülle<br />

des bewältigten Stoffes war das Buch in erstaunlicher Geschwindigkeit<br />

entstanden. Erklärbar ist das wohl nur durch die bei der<br />

311


Geschichte der FARBENLEHRE erworbene technische Versiertheit, <strong>von</strong><br />

der wir sprachen. Doch kam noch etwas anderes hinzu. Goethe<br />

arbeitete an DICHTUNG UND WAHRHEIT mit einer durch Enthusiasmus<br />

gespornten Intensität, vergleichbar durchaus jener, die ihn DIE<br />

LEIDEN DES JUNGEN WERTHERS oder DIE WAHLVERWANDTSCHAFfEN in so<br />

rätselhaft kurzer Zeit zu schreiben befähigte. Rückblickend deuten<br />

noch die TAG- UND JAHREs-HEFfE auf diese Besonderheit hin, wo<br />

es im Abschnitt 1811 mit Bezug auf die Arbeit am ersten Teil <strong>von</strong><br />

DICHTUNG UND WAHRHEIT heißt:<br />

Dieses Geschäft, insofern ich durch geschichtliche Studien und sonstige Lokal-<br />

und Personen-Vergegenwärtigung viel Zeit aufzuwenden hatte, beschäftigte<br />

mich wo ich ging und stand, zu Hause wie auswärts, dergestalt daß<br />

mein wirklicher Zustand den Charakter einer Nebensache annahm.<br />

Ein Beispiel mag verdeutlichen, mit welcher Intensität Goethe damals<br />

arbeitete. Zur Darstellung der schwierigen, in der Hauptsache<br />

auf Quellen beruhenden Partien über die Wahl und Krönung im 5.<br />

Buch benötigte der Dichter kaum mehr als 14 Tage, wobei noch<br />

das Studium der Quellenschriften einbegriffen ist.<br />

In ähnlich kurzer Zeit entstand im Jahre 1812 der zweite Teil.<br />

Etwas länger zog sich die Arbeit am dritten Teil hin. Die politische<br />

Entwicklung, die schließlich zur Schlacht bei Leipzig führte, bedrängte<br />

Goethe äußerlich und innerlich. So schrieb er <strong>von</strong> Teplitz<br />

aus - wohin er sich vor dem Kriegsgeschehen geflüchtet hatte -<br />

am 24. Juli 1813 an Riemer (WA IV 23, 410):<br />

Ich wünsche nur daß man <strong>nicht</strong> sagen möge: in doloribus pictam esse tabulam.<br />

Leider habe ich mich nie in einer so ungünstigen Lage befunden als<br />

diese letzten Monate, wo die Krankheit Johns , durch das<br />

innere Mißverhältnis, das jetzt unvermeidliche Gegenstreben gegen das Äußere<br />

höchst schwer machte.<br />

Die widrigen Begleitumstände bei seiner ,Entstehung merkt man<br />

dem dritten Teil <strong>nicht</strong> an, der sogar Episoden <strong>von</strong> besonders heiterer<br />

Prägung enthält. Lange Zeit trug sich Goethe mit der Absicht,<br />

diesen Teil mit dem Aufbruch nach Weimar enden zu lassen, also<br />

noch vieles was jetzt im vierten Teil steht, schon einzubeziehen,<br />

312<br />

und das Werk auf die Weise vorläufig abzuschließen. Das erwies<br />

sich bei der endgültigen Redaktion des dritten Teils aus räumlichen<br />

Gründen als unmöglich.<br />

Der vierte Teil hat eine ganz andere Entstehungsgeschichte als<br />

die übrigen, er ist ein Nachzügler, ein opus postumum. Noch aus<br />

dem Kriegsjahr 1813 stammen - dies zu wissen ist <strong>von</strong> Bedeutung<br />

- die wichtigen Partien über Spinoza (Anfang des 16. Buchs) sowie<br />

über das Dämonische und (Schluß des 20. Buchs). Beide waren ursprünglich<br />

noch für das 15. Buch bestimmt gewesen. Die Ausführung<br />

des übrigen schob Goethe seit 1813 immer wieder hinaus.<br />

Als Eckermann 1824 das Manuskript las, war das meiste "nur in<br />

Andeutungen" vorhanden, das heißt in mehr oder weniger ausgeführten<br />

schematischen Aufzeichnungen, die wir noch besitzen.<br />

Die eigentliche Ausarbeitung erfolgt dann - unter beratender Teilnahme<br />

Eckermanns -1830 und 1831. Veröffentlicht ward der vierte<br />

Teil erst nach Goethes Tod (1833).<br />

Schon während der Arbeit am ersten Teil war Goethe sich darüber<br />

schlüssig geworden, dass er in DICHTUNG UND WAHRHEIT keinesfalls<br />

über sein gesamtes Leben berichten werde. Damals bereits<br />

plante er, mit der Schilderung des Aufbruchs nach Weimar, der im<br />

November 1775 erfolgte, das Werk zu beschließen. 1 Allerdings<br />

tauchte später - noch 1825/26 - gelegentlich doch der Gedanke<br />

auf, einen fünften Teil <strong>von</strong> DICHTUNG UND WAHRHEIT zu schreiben,<br />

der die ersten zehn Jahre in Weimar (vor der Italienischen Reise)<br />

behandeln sollte. Ausschlaggebend für die Aufgabe dieses Projekts<br />

war die Schwierigkeit, dass eine Schilderung der abenteuerlichen<br />

Frühweimarer Zeit die lokalen Persönlichkeiten und Verhältnisse<br />

mit zuviel Offenheit hätte darstellen müssen. "Häufige und<br />

dringende Vorstellungen" seiner Freunde, diesen Teil <strong>von</strong> DICH­<br />

TUNG UND WAHRHEIT trotzdem zu schreiben, beschied er abweisend;<br />

so gegenüber dem Kanzler <strong>von</strong> Müller:<br />

Pauline Gotter an Schelling, 7. Sept. 1811 (Aus Schellings Leben. Hg. v. Plitt. Bd 2.<br />

Leipzig 1870. S. 264) .<br />

313


Die wahre Geschichte der ersten zehn Jahre meines Weimarischen Lebens<br />

könnte ich nur im Gewande der Fabel oder eines Märchens darstellen; als<br />

wirkliche Tatsache würde die Welt es nimmermehr glauben. Kommt doch<br />

jener Kreis, wo auf hohem Standort ein reines Wohlwollen und gebührende<br />

Anerkennung - durchkreuzt <strong>von</strong> den wunderlichstenAnforderungen - ernstliche<br />

Studien neben verwegensten Unternehmungen, und heiterste Mitteilungen<br />

trotz abweichenden Ansichten sich betätigten, mir selbst, der das alles<br />

mit erlebt hat, schon als ein mythologischer vor. Ich würde Vielen weh, vielleicht<br />

nur Wenigen wohl, mir selbst niemals Genüge tun; wozu das? Bin ich<br />

doch froh, mein Leben hinter mir zu haben; was ich geworden und geleistet,<br />

mag die Welt wissen; wie es im Einzelnen zugegangen, bleibe mein eigenstes<br />

Geheimnis.<br />

Weitere autobiographische Schriften<br />

Das autobiographische Interesse war indessen durch die Beschäftigung<br />

mit DICHTUNG UND WAHRHEIT in Goethe so rege geworden,<br />

dass er es nie mehr ganz aus den Augen verlor. Unter der Devise<br />

Aus meinem Leben ließ er noch die dreiteilige ITALIENISCHE REISE<br />

folgen 2 ), sowie die KAMPAGNE IN FRANKREICH. 3 Die wichtigste Ergänzung<br />

<strong>von</strong> DICHTUNG UND WAHRHEIT waren die TAG- UND JAHRES­<br />

HEFTE, deren Abfassung ihn in Abständen <strong>von</strong> 1817 bis 1830 beschäftigte.<br />

Hinzu kommen die historischen Berichte über seine<br />

Arbeiten auf den verschiedenen naturwissenschaftlichen Gebieten.<br />

Mit besonderer Sorgfalt führte er auch in diesen Jahrzehnten seine<br />

Tagebücher, sorgte überdies durch planmäßiges Sammeln <strong>von</strong> Akten<br />

und Briefen für eine vollkommene dokumentarische Erhellung<br />

seiner Altersjahre. Es verging praktisch seit 1819 bis zu Goethes<br />

Tod kaum ein Jahr, in dem der Dichter sich <strong>nicht</strong> auch autobiographischen<br />

Arbeiten widmete.<br />

In den Darstellungen seines Lebens schlug Goethe zwei grundsätzlich<br />

verschiedene Wege ein: das ausführliche Schildern längerer<br />

Epochen in erzählerischem Zusammenhang, wie es DICHTUNG<br />

UND WAHRHEIT zeigt, aber in etwas abgewandelter Form auch die<br />

2 ausgearbeitet 1813 bis 1817 und 1828 bis 1829.<br />

3 geschrieben 1820 bis 1822.<br />

314<br />

ITALIENISCHE REISE und die KAMPAGNE IN FRANKREICH; sodann das<br />

resümierende Zusammenfassen, die schlichte Aufzählung dessen,<br />

was sich in einzelnen Lebensjahren an Bedeutendem ereignet hatte.<br />

Dies war die Schilderungsweise in den TAG- UND JAHRES-HEFTEN,<br />

die in ihrer lakonischen Nüchternheit mehr einen Tätigkeitsbericht<br />

geben als eine eigentliche Biographie.<br />

In den ausführlich erzählenden Schriften steht das Leben des<br />

Dichters, in den resümierenden TAG- UND JAHRES-HEFTEN das des<br />

TheaterIeiters und vor allem des Gelehrten im Vordergrund. Dies<br />

entspricht auch der Perspektive, unter der Goethe im Alter sein<br />

Leben zu überschauen pflegte. Die in DICHTUNG UND WAHRHEIT<br />

geschilderte Zeit betrachtete er als die seines "Privat- und ersten<br />

Autorlebens", es war die Epoche, in der er "sich noch ganz selbst<br />

angehörte" (an Cotta, 12. November 1812). Seit er sich in Weimar<br />

festgesetzt hatte - so erschien es ihm später -, führte er im allgemeinen<br />

das "Leben eines Gelehrten", <strong>von</strong> dem er bescheiden genug<br />

zu Eckermann sagte: "Das Leben eines deutschen Gelehrten, was<br />

ist es? Was in meinem Fall daran etwa Gutes sein möchte, ist <strong>nicht</strong><br />

mitzuteilen, und das Mitteilbare ist <strong>nicht</strong> der Mühe wert." Mit dieser<br />

Erklärung wollte er begründen,warum in den TAG- UND JAHRES­<br />

HEFTEN die "Epoche seines späteren Lebens <strong>nicht</strong> die Ausführlichkeit<br />

des Details haben könne, wie die Jugendepoche <strong>von</strong> Wahrheit<br />

und Dichtung". Damals sagte er zu Eckermann:4<br />

Ich muß diese späteren Jahre mehr als Annalen behandeln; es kann darin<br />

weniger mein Leben als meine Tätigkeit zur Erscheinung kommen. Überhaupt<br />

ist die bedeutendste Epoche eines Individuums die der Entwickelung,<br />

welche sich in meinem Fall mit den ausführlichen Bänden <strong>von</strong> Wahrheit und<br />

Dichtung abschließt. Später beginnt der Konflikt mit der Welt, und dieser<br />

hat nur insofern Interesse als etwas dabei herauskommt.<br />

Aber <strong>nicht</strong> nur was bei Goethes Tätigkeit "herausgekommen" ist,<br />

stellen die TAG- UND JAHREs-HEFTE ins Licht, sondern vor allem auch<br />

das Wesen dieser Tätigkeit selbst: das beispielhafte strebende Sichbemühen<br />

eines, dessen "Acker", wie es im WEST-ÖSTLICHEN DIVAN<br />

4 27. Januar 1824 (Houben 65 f.).<br />

315


heißt, "die Zeit" war, die pausenlos zu Welt- und Gotterforschung<br />

genutzte Zeit:<br />

Ich habe es mir ein halbes Jahrhundert lang sauer genug werden lassen. Ich<br />

kann sagen, ich habe in den Dingen, die die Natur mir zum Tagewerk bestimmt,<br />

mir Tag und Nacht keine Ruhe gelassen und mir keine Erholung<br />

gegönnt, sondern immer gestrebt und geforscht und getan so gut und soviel<br />

ich konnte. Wenn jeder <strong>von</strong> sich dasselbe sagen kann, so wird es um alle gut<br />

stehen. 5<br />

Genau das, was diese Sätze besagen, sucht Goethes unablässiges<br />

autobiographisches Bemühen in dauerhafter Form zu überliefern.<br />

Heiterkeit der Darstellung<br />

Die TAG- UND JAHRES-HEFrE machen es auf jeder Seite deutlich, dass<br />

Goethe, wie er zu Eckermann sagte, in den fünfundsiebzig Jahren<br />

seines Lebens "keine vier Wochen eigentliches Behagen gehabt",<br />

dass es das "ewige Wälzen eines Steines" war, "der immer <strong>von</strong><br />

neuem gehoben sein wollte". In DICHTUNG UND WAHRHEIT steht dasselbe<br />

mehr zwischen den Zeilen, doch kommt es immer noch wahrnehmbar<br />

genug zum Ausdruck.<br />

Charakteristisch für DICHTUNG UND WAHRHEIT ist eine Grundstimmung<br />

der Heiterkeit, die sich durch das ganze Werk zieht und ihm<br />

seinen besondern, eigentümlichen Reiz verleiht. Diese Heiterkeit<br />

wurde dem Buch ganz absichtlich <strong>von</strong> Goethe verliehen. Schon in<br />

den ersten Anfängen der Ausarbeitung war hier<strong>von</strong> die Rede. "Jeder<br />

der eine Confession schreibt, ist in einem gefährlichen Falle,<br />

lamentabel zu werden, weil man nur das Morbose, das Sündige<br />

be<strong>kennt</strong> und niemals seine Tugenden beichten soll."6 In dieser Betrachtung<br />

setzt Goethe sich - auch wenn das <strong>nicht</strong> ausdrücklich<br />

gesagt ist - vor allem mit Rousseau auseinander. Es war unvermeidlich,<br />

dass der Dichter sich an Rousseaus CONFESSIONS als an<br />

5 Zu Eckermann, 14. März 1830 (Houben 581 f.).<br />

6 Tagebuch 18. Mai 1810 (WA III 4, 121).<br />

316<br />

dem großen Muster moderner Autobiographik orientierte. Hier<br />

fand er viele Anregungen. Noch das 17. Buch <strong>von</strong> DICHTUNG UND<br />

WAHRHEIT enthält eine Anspielung auf die CONFESSIONS, die <strong>von</strong><br />

Goethes Dankbarkeit für das Werk zeugt - die Schilderung der<br />

Nachtstimmung nach Lilis Geburtstag. Aber einen Grundzug <strong>von</strong><br />

Rousseaus Autobiographie suchte er strikt zu vermeiden: das<br />

"Lamentable", die allgemeine Tendenz, "Sünden" zu beichten, über<br />

Gebresten und Mißgeschicke zu klagen. Demgegenüber fand Goethe<br />

es angebracht, seiner Lebensdarstellung grundsätzlich "eine<br />

gewisse spezifische Leichtigkeit" zu geben, gleichgültig, was auch<br />

in den geschilderten Daseinsepochen auf ihn "losgehämmert" und<br />

in ihm "gewaltig widerstanden und entgegengewirkt" hatte.? So<br />

war es sein Bestreben, <strong>von</strong> der Vergangenheit "ein reines Bild" zu<br />

geben, "heitersten Gebrauch" <strong>von</strong> dem ihm vorliegenden Tatsachenmaterial<br />

zu machen und die Dinge im ganzen "klar und<br />

freundlich hinzustellen".8<br />

Mit der Opposition gegen Rousseau verband sich ein Gegenstreben<br />

allgemeiner Art. Tendenzen zum Lamentablen, zum Klagen<br />

und Anklagen, zum Hadern mit sich und der Welt waren auch<br />

in der deutschen Literatur vielfach hervorgetreten, vor allem durch<br />

den Einfluß des Pietismus. Gerade in der Zeit, als DICHTUNG UND<br />

WAHRHEIT geschrieben wurde, erneuerte sich dies. Ein gewisser<br />

Hang zur Verdüsterung wurde Mode, bei den Romantikern, im<br />

Schicksalsdrama etc. Hi'ergegen erhob Goethe die ewige Forderung<br />

des klassischen Menschen nach Weltbejahung, wie auch immer das<br />

Leben beschaffen sei. Sein Opponieren zeigte sich in den verschiedensten<br />

Formen. Damals schrieb er für Zelters LIEDERTAFEL das fröhliche<br />

Gedicht RECHENSCHAFT mit dem derben Spottrefrain:<br />

Denn das Ächzen und das Krächzen<br />

Haben wir nun abgetan.<br />

7 An Zelter, 2. September 1812 (WA IV 23, 88).<br />

8 An F. J. Bertuch, 15. Dezember 1816 (WA IV 27, 274).<br />

317


graphie in dieser strengen Form hätte einen unverhältnismäßigen<br />

Aufwand an Zeit und Kraft gekostet.<br />

Es kam aber noch etwas anderes hinzu. Für DICHTUNG UND W AHR­<br />

HEIT lag Goethe <strong>von</strong> vornherein umfangreiches stoffliches Material<br />

vor, das seiner Natur nach eine bestimmte Form trug. Im Laufe der<br />

Zeit hatten sich dem Dichter eine Fülle <strong>von</strong> Erinnerungen zu Geschichten<br />

ausgebildet, die er zu erzählen liebte. Namentlich in den<br />

letzten Jahren vor der Abfassung <strong>von</strong> DICHTUNG UND WAHRHEIT ist<br />

häufig da<strong>von</strong> die Rede, dass Goethe seinen Freunden solche Erinnerungen<br />

zum besten gab. Diese Geschichten bilden einen Hauptbestandteil<br />

<strong>von</strong> DICHTUNG UND WAHRHEIT. Infolgedessen ist das Formelement,<br />

das dem Werke zugrunde liegt, die erzählerische Episode,<br />

und die kompositorische Aufgabe bestand vor allem darin, diese<br />

Episoden aneinander zu reihen. Das war nun bei Anwendung eines<br />

ähnlich strengen Bauprinzips wie dem der W AHLVERWANDTSCHAF­<br />

TEN <strong>nicht</strong> zu leisten. Goethe mußte eine weniger anspruchsvolle<br />

und beengende Lösung suchen.<br />

Den Ausweg bot die für Goethe so charakteristische und <strong>von</strong><br />

ihm mit einzigartiger Virtuosität gehandhabte Form des "Aggregatsl/.<br />

Es handelt sich hier um das ganz freizügige Verfahren der<br />

Reihung: Bestandteile verschiedenster Art werden in zwangloser<br />

Weise zusammengestellt, lose verbunden und nach Art eines<br />

,,straußkranzesl/ zu einem Ganzen gefügt. Besonders im Alter liebte<br />

es der Dichter, auf diese Weise erzählerisch zu verfahren. WILHELM<br />

MEISTERS WANDERJAHRE weisen diese Kompositionsform auf, und in<br />

bezug auf dies Werk sprach Goethe selbst auch <strong>von</strong> einem "Straußkranz",<br />

einem "AggregatI/1o. Doch findet sich die Form auch in wissenschaftlichen<br />

Abhandlungen und vor allem in Aufsätzen des alten<br />

Goethe.<br />

Eine Besonderheit der Goetheschen Aggregatform im Bereich<br />

des Erzählerischen besteht darin, dass sie willkürliche Unterbre-<br />

10 An Zelter, 24. Mai 1827 und 5. Juni 1829; zu Kanzler v. Müller am 18. Februar 1830.<br />

Vgl. auch das Kap. Formaler Einfluss <strong>von</strong> 1001 Nacht: Unterhaltungen deutscher<br />

Ausgewanderten, Wilhe1m Meisters Wanderjahre, Dichtung und Wahrheit in: <strong>Katharina</strong><br />

<strong>Mommsen</strong>, Goethe und 1001 Nacht. 2. Aufl. Frankfurt a. M.1981. S. 57-68.<br />

320<br />

chungen und Fortsetzungen liebt - wobei absichtlich die Neugier<br />

gereizt wird -, ebenso Einschaltungen, Verschachtelung und Verflechtung.<br />

Hierfür war die Erzählweise <strong>von</strong> TAUSENDUNDEINE NACHT<br />

für Goethe das bewußt gewählte und hochgeschätzte Vorbild. DICH­<br />

TUNG UND WAHRHEIT bietet alle angeführten Merkmale der Aggregatform.<br />

Die erzählerischen Episoden, <strong>von</strong> denen wir sprachen, wurden<br />

gemäß dieser Form aneinander gereiht. Hinzu traten im Laufe<br />

der Abfassung noch essayistische Episoden, Abhandlungen diversesten<br />

Inhalts, historischen, literarhistorischen, kunstgeschichtlichen<br />

etc., die Schilderungen <strong>von</strong> Freunden und bekannten Persönlichkeiten.<br />

Es gibt mancherlei Fälle der Verschachtelungstechnik,<br />

so die Erzählung des Märchens DER NEUE PARIS, Herders Vortrag<br />

des Vicars of Wakefield etc. und viele Beispiele für das Erzählen<br />

mit Unterbrechungen, Fortsetzungen, Verflechtungen. Die Gretehen-Episoden<br />

sind auf diese Weise kunstvoll in die Wahl- und<br />

Krönungsgeschichte eingefügt. Der zweite Teil bricht mitten in der<br />

interessanten Erzählung der Friederiken-Episode ab, die dann im<br />

dritten Teil ebenso unvermittelt wieder aufgenommen wird. Den<br />

dritten Teil beschloß Goethe, wie wir sahen, bei der Endredaktion,<br />

<strong>nicht</strong> bis zu einem organischen Abschluß - dem Aufbruch nach<br />

Weimar - zu führen, sondern ihn vorzeitig mitten in der Erzählung<br />

abzubrechen. Auch hier ward die Neugier des Lesers gereizt.<br />

Die Fortsetzung aber erschien erst zwei Jahrzehnte später, und <strong>nicht</strong><br />

zufällig verglich Goethe gerade in den Tagen, in denen er die kühne<br />

kompositorische Umstellung vornahm, DICHTUNG UND WAHRHEIT<br />

mit TAUSENDUNDEINE NACHT. ll<br />

Bei der Abfassung <strong>von</strong> DICHTUNG UND WAHRHEIT fühlte sich der<br />

Dichter also gelegentlich in der Situation des Märchenerzählers. So<br />

ist es erklärlich, wenn er gern <strong>von</strong> seiner Autobiographie als <strong>von</strong><br />

seinem "Lebensmärchen" sprach, <strong>von</strong> den "alten Märchen", die er<br />

sich "in der Einsamkeit zu erzählen anfange.1/12 Den eigentlichen<br />

Titel DICHTUNG UND WAHRHEIT nennt er in Briefen und Tagebüchern<br />

11 "Die Tausend und eine Nacht meines wunderlichen Lebens": an Zelter, November<br />

1813; ähnlich an Trebra, 24. November 1813.<br />

12 An Charlotte v. Stein, Oktober 1811; an Rochlitz, 30. Januar 1812.<br />

321


höchst selten. Der gewöhnlicheArbeitstitellautet: "Biographisches"<br />

oder "meine Biographie". Doch heißt es auch wohl: "meine Confessionen";<br />

"meine Be<strong>kennt</strong>nisse" - womit wieder an Rousseaus<br />

Confessions als an das stets beachtete Gattungsmuster gedacht war.<br />

Oder aber auch: "Biographischer Versuch"; "meine Lebensfabel";<br />

"meine Lebenspoesie oder Poetenleben"; "Biographisches Poem";<br />

"Biographische Scherze" oder "Späße". Als Goethe 1811 mit der<br />

Abfassung begann und er der episodenhaften Eigenart des Stoffes<br />

gewahr wurde, sprach er bezeichnenderweise mit Vorliebe ganz<br />

einfach <strong>von</strong> "Biographischen Aufsätzen" - so auch noch 1824 bei<br />

Betrachtung der schematischen Skizzen zum vierten Teil. Der vollendete<br />

erste Teil galt ihm (1811) geradezu als "Bilderreihe".<br />

Die Form des' Aggregats', auf die uns diese Termini immer wieder<br />

hinweisen, wurde nun <strong>von</strong> Goethe in einer ganz einzigartigen<br />

Weise gemeistert, wann immer er auch <strong>von</strong> ihr Gebrauch machte.<br />

Er besaß die Fähigkeit, verschiedenartigste Bestandteile, Fragmente,<br />

Episoden so zusammenzufügen, dass sie auf geheimnisvolle Weise<br />

ein geformtes Ganzes bilden. Obwohl <strong>von</strong> den herkömmlichen<br />

architektonischen Mitteln bewußt wenig Gebrauch gemacht wird,<br />

entsteht dennoch ein Organismus, kein chaotisches Konglomerat.<br />

Es hängt dies damit zusammen, dass Goethe als Dichter und Künstler<br />

eine immense Kraft des Gestaltens zu eigen war. Was immer er<br />

schöpferisch behandelte - in seiner Hand nahm es Form an. Das<br />

zeigt noch jeder Aufsatz des alten Goethe, der so oft ein Aggregat<br />

aus zusammengewürfelten Ingredienzien ist, trotzdem aber wie<br />

ein künstlerisch gerundetes Ganzes wirkt. In den NOTEN UND AB­<br />

HANDLUNGEN ZUM WEST-ÖSTLICHEN DIVAN tritt diese Eigenschaft hervor,<br />

aber auch in WILHELM MEISTERS WANDERJAHRE und im zweiten<br />

Teil des FAUST. Dass man immer wieder versucht, in solchen aggregathaften<br />

Werken besondere Kompositionsgeheimnisse aufzuspüren,<br />

beweist, welche starke formale Kraft ihnen innewohnt.<br />

Im Sinne des Goetheschen 'Aggregats' ist auch DICHTUNG UND<br />

WAHRHEIT mit mancherlei kompositorischen Reizen ausgestattet.<br />

Zwar gilt im allgemeinen Emil Staigers Feststellung: "Goethe hatte<br />

<strong>nicht</strong> die Absicht, das Ganze oder auch nur die einzelnen Teile und<br />

Bücher kunstgerecht durchzuführen." Dennoch geht <strong>von</strong> dem Werk<br />

322<br />

in formaler Hinsicht eine geheimnisvolle Wirkung aus, über die oft<br />

gesprochen wurde. Im Einzelnen ist sie schwer zu fassen. Man erinnerte<br />

an die kompositorische Schönheit der novellistischen Partien<br />

- der Gretchen-, Friederiken- und Lili-Geschichten zum Beispiel.<br />

Doch können hiermit immerhin noch Rousseaus CONFESSIONS erfolgreich<br />

wetteifern. Ganz Goethe zu eigen ist aber die formal sehr stark<br />

wirksame Kunst der Übergänge: das mit größter rhetorischer Anmut<br />

behandelte Verknüpfen der einzelnen Episoden, das Hinüberwechseln<br />

<strong>von</strong> einem Thema zum anderen. Goethe sei in DICHTUNG<br />

UND WAHRHEIT, so sagte Gundolf, "der größte Meister der unmerkbaren<br />

und doch zugleich selbständigen Übergänge unter allen deutschen<br />

Erzählern"13. Dem lohne es sich, eine eigene Abhandlung zu<br />

widmen; vornehmlich durch Reflexion und Assoziation pflege Goethe<br />

solche Übergänge herzustellen. Hingewiesen ist hiermit auf einige<br />

der wichtigsten Kunstrnittel der Goetheschen Aggregat-Form,<br />

solche, die sich in den Spätwerken wirklich oft antreffen lassen.<br />

Mit spezieller Sorgfalt behandelte Goethe in DICHTUNG UND<br />

WAHRHEIT die Buchschlüsse. Vielfach endigen die Bücher mit einer<br />

besonders eindrucksvollen Partie, sei es, dass ein Handlungsabschnitt<br />

wirkungsvoll abgeschlossen wird, sei es, dass ein Ausblick<br />

ins Allgemeine oder Metaphysische hier seine Stelle bekommt.<br />

Auch darin liegt ein wirkungsvolles kompositorisches Mittel, das<br />

unschwer nachzuweisen und auch oft diskutiert worden ist.<br />

Verborgener sind gewisse formale Wirkungen, die Goethe durch<br />

Akzentuierungen des Gehaltes erzielt. Als Beispiel hierfür möge<br />

beachtet werden, wie auf diese Weise in das 4. Buch ein konstruktives<br />

Element hineingebracht ist. Äußerlich bekommt das Buch eine<br />

gewisse Einheit schon durch das Thema: Unterricht. De facto besteht<br />

es aber aus lauter Einzelepisoden, deren mechanische Aneinanderreihung<br />

etwas Ermüdendes hätte haben können. Am Anfang<br />

wird <strong>von</strong> den verschiedenen Lehrern erzählt, zum Schluß <strong>von</strong><br />

bekannten Frankfurter Bürgern, die einen pädagogischen Einfluß<br />

auf den Knaben Goethe ausübten. Dazwischen treten noch thematisch<br />

abweichende Berichte über "Liebhabereien" des Vaters wie<br />

13 Friedrich Gundolf, Goethe. Berlin 1916 (zahllose Aufl.)<br />

323


Seidenzucht oder das Bleichen der Kupferstiche, ferner der Exkurs<br />

über Biblische Urgeschichte. Ein Konglomerat droht zu entstehen,<br />

und doch wußte Goethe dem abzuhelfen. Er fügte nebenher ein<br />

wichtiges Thema ein, das dem Ganzen ein Schwergewicht gibt und<br />

es dadurch auch formal zusammenhält - in dem Buch wird erstmals<br />

auf die dichterische Begabung des Knaben Goethe hingewiesen.<br />

Der Sprachunterricht, so erfahren wir beiläufig, führte zu einer<br />

kleinen Genieleistung: dem Roman in sechs Sprachen. Der<br />

Hebräisch-Unterricht des Rektors Albrecht hatte sodann zur Folge,<br />

dass Goethe umfangreiche <strong>Bibel</strong>studien und kritische Betrachtungen<br />

über die Urgeschichte anstellt; letzteres aber wirkte wieder<br />

unmittelbar auf die dichterische Produktion - der Knabe schreibt<br />

einen Joseph-Roman, den wir <strong>nicht</strong> mehr besitzen. An dieser Stelle<br />

werden dann auch "geistliche Oden" erwähnt und das erhaltene<br />

Jugendgedicht <strong>von</strong> der HÖLLENFAHRT CHRISTI. In Wahrheit gibt Goethe<br />

hier ein umfassendes Bild da<strong>von</strong>, wie bei ihm der Weg des Produzierens<br />

verläuft. Es erfolgt eine Anregung, Quellen werden auf<br />

fast wissenschaftliche Weise st:udiert, aus all dem entsteht dann<br />

ein dichterisches Werk. Der aus der Jugend geschilderte Vorgang<br />

enthält allerwichtigstes Künftiges schon in nuce. Im Hinblick hierauf<br />

erweist sich auch, dass der an sich so befremdliche Exkurs über<br />

die Urgeschichte tiefe funktionelle Bedeutung hat. Er ist in Wirklichkeit<br />

alles andere als Zutat, <strong>nicht</strong> zufällig steht er auch äußerlich<br />

in der Mitte des 4. Buchs. Sehr geschickt weiß Goethe am Ende<br />

des Buches nochmals auf dessen geheimes Zentrum hinzudeuten<br />

und so das Ganze auch formal zu verklammern. Hier wird berichtet,<br />

wie die älteren pädagogischen Freunde den Knaben auf bestimmte<br />

praktische Lebensberufe nach eigenem Vorbild hinzulenken<br />

suchten, wie aber auch Jüngere ihm bereits damals als Muster<br />

vorgehalten wurden für eine solid bürgerliche Gestaltung seiner<br />

Laufbahn. Dazu bemerkte Goethe: er habe allerdings damals schon<br />

im Sinne gehabt, etwas Außerordentliches zu leisten; wenn er aber<br />

an ein "wünschenswertes Glück" gedacht habe, so sei ihm dies<br />

"am reizendsten in der Gestalt des Lorbeerkranzes erschienen, der<br />

den Dichter zu zieren geflochten ist". Mit dieser Wendung wird<br />

dem 4. Buch ein anmutig pointierter Schluß gegeben, zugleich aber<br />

324<br />

auch an das in seiner Mitte breit ausgestaltete Thema angeknüpft:<br />

die Schilderung der dichterischen Anfänge. Das trägt wesentlich<br />

dazu bei, den Eindruck formaler Geschlossenheit zu erwecken.<br />

Bei wiederholtem Lesen <strong>von</strong> DICHTUNG UND WAHRHEIT wird man<br />

<strong>nicht</strong> wenige Fälle finden, in denen inhaltliche Bezüge und Verknüpfungen<br />

- auch solche, die <strong>nicht</strong> auf den ersten Blick zutag<br />

treten - Einfluß auf die formale Erscheinung des Ganzen oder größerer<br />

Partien ausüben. So wird beispielsweise im 1. Buch, in d m<br />

überhaupt Goethes Vorliebe für sorgfältiges Exponieren bemerklich<br />

wird, durch eine beiläufige, aber sehr präzise Erwähnung d r<br />

Wahl- und Krönungsfeierlichkeiten bereits auf den Inhalt des 5.<br />

Buchs hingedeutet.<br />

Der vierte Teil <strong>von</strong> DICHTUNG UND W ARHEIT ist kompositori h<br />

am nachlässigsten behandelt, was mit seiner verspäteten Ent t -<br />

hung zusammenhängt. Goethe gab sich kaum noch die Mühe, d,<br />

fragmentarische Material durch Übergänge zu verknüpfen. D nnoch<br />

hat auch hier das Aggregat jenen spezifisch Goetheschen Z uber,<br />

der das Fehlen einer geschlossenen Form <strong>nicht</strong> als Mang 1 rscheinen<br />

läßt. Gerade in diesem Teil findet sich sogar in<br />

kompositorischer Zug <strong>von</strong> besonderer Schönheit, und zwar in d r<br />

Art, wie abermals durch inhaltliche Zusammenhänge der Anf n<br />

mit dem Ende verbunden ist. Im ersten Satz des 16. Buchs wird i'<br />

These ausgesprochen, "der Mensch habe die Kraft, das wa zusammengehört,<br />

an sich heranzuziehen". Genau das wird au '<br />

führt in der grandiosen Schluß partie des 20. Buchs. Das Zust nd -<br />

kommen des Aufbruchs nach Weimar trotz aller Schwi rigk it n<br />

verdankt Goethe eben jener Kraft: hierauf deutet der Abschnitt v m<br />

Dämonischen mit der Bezugnahme auf EGMONT.<br />

Andererseits stehen auch innerhalb des 16. Buchs Anfan un<br />

Ende - der Spinoza-Abschnitt und die Erzählung <strong>von</strong> Jung-Stillin<br />

- miteinander in Verbindung, diesmal durch eine vom Inhalt h<br />

bestimmte Kontrastwirkung. Goethe stellt hier seine eigen Art<br />

Frömmigkeit - an Spinoza orientiert ist sie praktischer Natur n<br />

läuft auf "Entsagen" heraus - gegenüber der pietistischen, di ihm<br />

so oft in seinem Leben an geehrten Menschen begegn t Wt r.<br />

klärt er den eigenen Standpunkt. Die Erzählung <strong>von</strong> Jung- tillin<br />

2


verunglückter Augenkur verdeutlicht zugleich, was den Dichter<br />

vom Pietismus und ähnlichen Richtungen immer wieder entfernte:<br />

ein allzu naiver Dogmatismus, der doch auch Züge eines gewissen<br />

"Dünkels" hatte. Vergleicht man diese Partien des 16. Buchs übrigens<br />

mit dem Schluß des 20., so zeigt sich auch hier wieder ein<br />

vielsagender Kontrast. Stilling scheitert mit seinem dogmatischen<br />

Gottvertrauen, die Operation, bei der sein ganzer Ruf auf dem Spiel<br />

stand, ward ein Fehlschlag. Goethes Schicksalsgläubigkeit und <strong>nicht</strong><br />

zuletzt sein Entsagen - der Verzicht auf Lili - führt Gelingen herbei<br />

und die entscheidende Lebenswendung - den Weg nach Weimar.<br />

Der gesamte vierte Teil <strong>von</strong> DICHTUNG UND WAHRHEIT wird durch<br />

diese geheimen Bezüge auch formal zusammengehalten. Zwischen<br />

den weltanschaulichen Abschnitten des 16. und dem großartigen<br />

Finale des 20. Buchs verläuft die eigentliche Handlung wie der <strong>von</strong><br />

starken Pfeilern getragene Bogen einer Brücke.<br />

Selbstdarstellung<br />

Überblicken wir den Inhalt <strong>von</strong> DICHTUNG UND WAHRHEIT in seiner<br />

Gesamtheit, so fällt uns eine Eigentümlichkeit des Werkes vor allem<br />

in die Augen: wie wenig in dieser Autobiographie <strong>von</strong> dem<br />

Verfasser selbst die Rede ist. Die breiten Schilderungen der Umwelt<br />

- der physischen und der geistigen - scheinen in keinem Verhältnis<br />

zu stehen zu den sparsamen Mitteilungen Goethes über<br />

sein eigenes Ich. Es ist offensichtlich, dass hier ein Programm befolgt<br />

wird. Vorsätzlich geht Goethe einen andern Weg als die früheren<br />

Autobiographen, die ihm als Vorbilder dienen konnten.<br />

Rousseau beispielsweise erzählt <strong>von</strong> seinem Leben vornehmlich<br />

aus Freude an der Beleuchtung des Ego, um <strong>von</strong> seiner Seele zu<br />

berichten, um Beichte abzulegen und Rechtfertigungen zu geben.<br />

Die Außenwelt wird nur dargestellt, soweit es diesem Endzweck<br />

dient. Ganz anders Goethe. An Selbstbeobachtung, Beichte, dem<br />

eigentlichen Be<strong>kennt</strong>nis-Eifer der üblichen Autobiographen ist ihm<br />

- der so oft gegen das delphische "Erkenne dich selbst" polemisierte<br />

- gar <strong>nicht</strong>s gelegen. Sein Interesse an sich selbst ist <strong>nicht</strong><br />

326<br />

psychologischer, sondern morphologischer Natur. Seine Entwicklung<br />

ist ihm wichtig, und auch das vorwiegend darum, weil andere<br />

daraus lernen können, weil der "Begriff stufenweiser Ausbildung"<br />

eines Individuums <strong>von</strong> seiner Bedeutung paradigmatischen<br />

Wert haben muß. Das bestimmt die <strong>von</strong> aller Subjektivität so weit<br />

entfernte Erzählweise <strong>von</strong> DICHTUNG UND WAHRHEIT wie auch die<br />

Haltung aller sonstigen autobiographischen Schriften Goethes. Seinem<br />

Ich steht der Dichter bewußt distanziert gegenüber. Er ist sich<br />

selbst im Alter "historisch" geworden, wie er am 1. Dezember 1831<br />

an Wilhelm v. Humboldt schreibt. Das will sagen, er sieht sich selbst<br />

unparteiisch, objektivierend, wie alles Geschehen der Welt. Wie<br />

die Tagebuchaufzeichnungen des alten Goethe <strong>von</strong> subjektiver Reflexion<br />

frei sind, wie seine Briefe das Innenleben schweigsam verhüllen,<br />

so ziehen auch die autobiographischen Schriften um das<br />

Ich absichtlich einen Schleier. Das Typische, Sinnbildhafte hält der<br />

Dichter an seinem vergangenen Leben für wichtig, das Private <strong>nicht</strong>.<br />

Für DICHTUNG UND WAHRHEIT folgt aus dieser objektivierenden<br />

Betrachtungsweise, dass Goethe sogar über wichtige Erlebnisse mit<br />

großer Zurückhaltung spricht. Nur an verhältnismäßig wenigen<br />

Stellen läßt er wissen, dass es sich hier um Höhe- oder Tiefpunkte<br />

seines Lebens handelt. Auch dann ist der Bericht meist nur andeutend.<br />

An die Stelle ausführlicher Beichte treten knappe Bem rkungen<br />

der Selbstkritik; die Ausmalung <strong>von</strong> Unglück und Leid<br />

wird möglichst eingeschränkt und oft begleitet durch ein paar flüchtige<br />

ironische Betrachtungen. Der Ausgang des Gretchen-Abenteuers<br />

am Schluß des 5. Buchs ist eine solche Episode, wo Go th<br />

einmal wirklich <strong>von</strong> einer "tragischen Katastrophe" spricht. Der<br />

Bericht hat hier <strong>nicht</strong> ganz die Sparsamkeit wie sonst, steht ab r<br />

doch auch mehr im Zeichen der Ironie und Selbstkritik als der Klage.<br />

"Ich empfand nun keine Zufriedenheit, als im Wiederkäuen<br />

meines Elends und in der tausendfachen imaginären Vervielfältigung<br />

desselben [ ... ] Ich hatte Zeit genug, mir den seltsamsten Roman<br />

<strong>von</strong> traurigen Ereignissen und einer unvermeidlich tragischen<br />

Katastrophe selbstquälerisch auszumalen." Solche und ähnliche<br />

B merkungen ironisieren ziemlich mitleidlos das ehemalige Verhalten<br />

und haben zugleich inen pädagogischen Sinn. Der spezielle<br />

327


Fall wird zum Anlaß genommen, auf Allgemeingültiges hinzuweisen<br />

zu warnen vor Hypochondrie.<br />

Etwas wie eine Beichte wäre recht wohl denkbar gewesen bei<br />

dem Rückblick auf die Leipziger Zeit in Buch 8. In keiner Epoche<br />

seines Lebens hat Goethe sich vielleicht weiter <strong>von</strong> seinem eigentlichen<br />

Selbst entfernt wie während des Aufenthalts in Leipzig. Das<br />

zeigen noch die Briefe aus jener Zeit. Für eine Weile hatte das lebenslustige<br />

Rokoko ihn ganz in seinen Bann gezogen. Die Gefährdungen<br />

dieser Zeit werden in DICHTUNG UND WAHRHEIT mit symbolischen<br />

Zügen angedeutet. Bei der Abreise nach Leipzig - der ersten Ausfahrt<br />

seines Lebens - sieht der Jüngling das seltsame Schauspiel<br />

des "Pandämoniums <strong>von</strong> Irrlichtern" (Buch 6). Das war ein bedenkliches<br />

Vorzeichen ebenso wie der bald hinterher sich ereignende<br />

Unfall mit dem Wagen. Ominöses ereignete sich auch beim Verlassen<br />

<strong>von</strong> Leipzig: der Studententumult, so dass Goethe zu berichten<br />

hat, "mit einem so gellenden Nachklang akademischer Großtaten"<br />

sei er schließlich 1768 aus Leipzig abgefahren. Sicherlich<br />

kehrte Goethe tief unzufrieden mit sich nach Frankfurt zurück. Zur<br />

Selbstbesinnung führte die aus Leipzig mitgebrachte Krankheit.<br />

All das wird in DICHTUNG UND WAHRHEIT aber <strong>nicht</strong> in Form einer<br />

Beichte <strong>von</strong> reuigen Betrachtungen dargestellt. Es bleibt bei Andeutungen,<br />

wobei man zwischen den Zeilen lesen muß. "Gleichsam<br />

als ein Schiffbrüchiger" sei er zurückgekehrt - soviel wird<br />

immerhin gesagt. Doch habe er sich "<strong>nicht</strong> sonderlich viel vorzuwerfen"<br />

gehabt, infolgedessen sich bald "ziemlich zu beruhigen<br />

gewußt". Von der nun folgenden Epoche einer tiefgreifenden Verinnerlichung<br />

und Umkehr erfahren wir recht wenig und auch das<br />

Wichtigste nur in märchenhafter Einkleidung. Es fallen mehr als<br />

sonst selbstkritische Bemerkungen; das immer wiederholte Betrachten<br />

der so verräterischen Leipziger Briefe spielt eine gewisse Rolle.<br />

Dann aber läßt erst der Bericht <strong>von</strong> den alchemistischen Studien<br />

es ahnen, dass Goethe ganz neue Wege geht. Wohin diese<br />

führen, zeigt der Abschnitt über das "mystische Dogma" am Schluß<br />

des 8. Buchs: zu einer religiösen Selbstbesinnung. So steht diese<br />

ganze Partie, für die eine mehr subjektive Erzählweise so nahe gelegen<br />

hätte, ganz im Zeichen des Objektivierens. Goethe stellt die<br />

328<br />

inneren Vorgänge <strong>nicht</strong> mit historischer Treue dar - wie er gekonnt<br />

hätte -, sondern in dichterischer Umschreibung. Wahrheitsgemäße<br />

Beichte wird ersetzt durch das andeutende Bild.<br />

Der Zurückhaltung im Schildern seiner Erlebnisse entspricht<br />

die auffällige Bescheidenheit, mit der Goethe seine Fähigkeiten,<br />

seine Talente zur Darstellung bringt. Auch hier ist programmatische<br />

Absicht zu erkennen. Diese hängt mit einem wesentlichen Charakterzug<br />

Goethes zusammen: er war zwar sehr selbstbewußt, aber<br />

<strong>nicht</strong> eitel. Da mußte es ihn in echte Verlegenheit bringen, wenn die<br />

Autobiographie ihn nötigte, <strong>von</strong> seiner Genialität, seinen Erfolgen,<br />

<strong>von</strong> Ruhm und Ehre zu sprechen, die daraus entsprangen. Es gab<br />

für ihn nur eine Möglichkeit, diese Aufgabe zu lösen, wie es Geschmack<br />

und Taktgefühl ihm vorschrieb: eine fast auf Selbstverleugnung<br />

hinauslaufende Bescheidenheit in der Berichterstattung - jenes<br />

weitgehende understatement, das wir bei der Schilderung seiner<br />

außergewöhnlichen Begabungen überall feststellen können.<br />

Nun hat aber diese Bescheidenheit in ihrer Auswirkung auf das<br />

Ganze etwas geradezu Irreführendes. Schließlich war der Held<br />

dieser Autobiographie ein Genie, ein großer Dichter, und als Mensch<br />

- gerade in der hier dargestellten Jugendzeit - eine Persönlichkeit<br />

<strong>von</strong> faszinierender Ausstrahlung. All das wird in DICHTUNG UND<br />

WAHRHEIT <strong>nicht</strong> in angemessener Weise deutlich. Man muß schon<br />

feste Vorstellungen <strong>von</strong> Goethe mitbringen, will man ihn in seiner<br />

Autobiographie richtig erkennen.<br />

Insbesondere in den ersten beiden Teilen wird der Leser stets<br />

genötigt, sich das Bild zu ergänzen und sich daran zu erinnern: es<br />

ist Goethes Jugend, die Frühzeit eines großen Dichters, die hier<br />

beschrieben wird. Denn <strong>von</strong> der Genialität des Knaben, des Jünglings<br />

ist so gut wie keine Rede. Dass auch Goethe eine Art Wunderkind<br />

gewesen sein muß, da<strong>von</strong> würde DICHTUNG UND WAHRHEIT<br />

allein schwer einen Begriff geben. Nur spärliche Andeutungen sprechen<br />

da<strong>von</strong>, und man muß beim Lesen sorgfältig auf sie achten.<br />

Hierher gehören beispielsweise verschiedene Berichte über Goethes<br />

Eigenschaften als Schüler. Man erfährt schon im 1. Buch, dass<br />

r "durch schnelles Ergreifen, Verarbeiten und Festhalten sehr bald<br />

d m Unterricht entwuchs". Mit Leichtigkeit verfaßt er Aufsätze,<br />

329


"in rhetorischen Dingen, Chrien und dergleichen tat es mir niemand<br />

zuvor" (Buch 1). Wiederholt ist <strong>von</strong> seinem guten Gedächtnis<br />

die Rede, besonders aber <strong>von</strong> seiner ungewöhnlichen Begabung,<br />

Sprachen zu lernen (Buch 1 und 4). Das deutet auf das Wunderkind,<br />

den künftigen Dichter - aber diesen Schluß muß der Leser<br />

selber ziehen. Goethe berichtet darüber, als sei es etwas gar <strong>nicht</strong><br />

Ungewöhnliches. Nur dass er diese Züge mit einer gewissen absichtlichen<br />

Wiederholung erwähnt, gibt ihnen eine spürbare Betonung,<br />

die auf ihre Bedeutung aufmerksam machen kann. In ähnlich<br />

unauffälliger Weise wird <strong>von</strong> der frühzeitigen "Reimwut des<br />

Knaben" gesprochen (Buch 1), dann zieht sich das Thema versteckt<br />

als roter Faden durch die ersten Teile. Immer wieder kommt Goethe<br />

darauf zurück: die "Leichtigkeit zu reimen und gemeinen<br />

Gegenständen eine poetische Seite abzugewinnen" ist ein Zug, den<br />

er gern erwähnt, ohne ihn als das, was er in seinem Falle war, zu<br />

kennzeichnen - als Merkmal frühzeitiger Genialität. Viel eher<br />

knüpft er ironische Wendungen daran: "und wenn ich auch meinen<br />

Produktionen <strong>nicht</strong> recht traute, so konnte ich sie wohl als<br />

fehlerhaft, aber <strong>nicht</strong> als ganz verwerflich ansehen" (Buch 6). An<br />

anderer Stelle heißt es: "Meine Lust am Hervorbringen war grenzenlos";<br />

unmittelbar darauf folgt aber eine Charakteristik des<br />

Sturm-und-Drang-Treibens, die den Hinweis auf die eigene Produktivität<br />

wieder relativiert. Bescheiden stellt Goethe sich hin als nur<br />

einen aus der "Masse junger genialer Männer", die damals - in<br />

Straßburg - sich in jenem "Quirlen und Schaffen" gefielen und<br />

dabei "manches Übel stifteten" (Buch 12).<br />

Nur einmal werden die Karten auf den Tisch gelegt. Bei der<br />

Besprechung <strong>von</strong> GÖTZ und WERTHER im 13. Buch ließ es sich <strong>nicht</strong><br />

vermeiden, den ungeh<strong>eure</strong>n Erfolg dieser Werke wenigstens zu<br />

erwähnen. Hier erfährt man auch ein paar Details, die erstmals<br />

einen wirklichen Begriff <strong>von</strong> der Genialität des Dichters geben: dass<br />

die Niederschrift des Werther in vier Wochen ohne vorherige Skizzen<br />

erfolgt sei, dass Goethe "dieses Werklein ziemlich unbewußt,<br />

einern Nachtwandler ähnlich" geschrieben habe. Aber der Leser<br />

muß bis zum 13. Buch warten, bis er auf Enthüllungen dieser Art<br />

trifft. Und bei ihnen bleibt es auch im wesentlichen. Genialität und<br />

330<br />

Erfolge werden möglichst <strong>nicht</strong> erwähnt. Da aber <strong>von</strong> ihnen die<br />

Ereignisse in Goethes Leben in vielfacher Weise bestimmt waren,<br />

bringt diese durchgehende Zurückhaltung in die autobiographische<br />

Darstellung eine gewisse Unklarheit.<br />

Ein Drittes, das in DICHTUNG UND WAHRHEIT nur ungenügend zur<br />

Darstellung kommt, ist die Wirkung <strong>von</strong> Goethes Persönlichkeit.<br />

Auch hier machte sein Taktgefühl dem Dichter die Ausführung<br />

schwierig. Der Wahrheit gemäß hätte er einen jugendlichen Helden<br />

schildern müssen, der kraft seines persönlichen Zaubers einen wahren<br />

Siegeszug antritt, der aus einer günstigen, schmeichelhaften<br />

Situation in die andere kommt. Dies in aller Offenheit zu erzählen<br />

war Goethe <strong>nicht</strong> möglich. So läßt er darüber ebenfalls einen dichten<br />

Schleier fallen. Was sich hinter Bescheidenheit und understatement<br />

verbirgt, ist nun für den Nichtinformierten kaum noch zu erraten.<br />

Man muß vom jungen Goethe aus andern Quellen - Briefen,<br />

Gesprächsberichten - etwas wissen, um DICHTUNG UND WAHRHEIT in<br />

dieser Hinsicht zu verstehen und das Verschwiegene ergänzen zu<br />

können.<br />

Goethe hatte in seiner Jugend eine Macht über Menschen, eine<br />

Gabe, die Herzen zu gewinnen, die in ihrer Art einzig war. DICH­<br />

TUNG UND WAHRHEIT zeigt nun zwar überall den Dichter <strong>von</strong> Menschen<br />

umgeben, in Kreisen geistreich heiterer Geselligkeit. Es bleibt<br />

aber unausgesprochen, dass er stets und mit Selbstverständlichkeit<br />

das Haupt solcher Zirkel war, das eigentlich belebende Zentrum.<br />

Auch dafür sei ein Beispiel herausgegriffen. In den recht ausführlichen<br />

Berichten über die Straßburger Tischgesellschaft (Buch<br />

9 bis 11) werden wir über die Verhältnisse dieses lustigen Kreises<br />

scheinbar gut informiert. Den Präsidenten der Gesellschaft, Salzmann,<br />

schildert Goethe eingehend mit allen seinen Qualitäten,<br />

ebenso viele Mitglieder: Meyer <strong>von</strong> Lindau, den Ludwigsritter, Lerse,<br />

Weyland etc. Aber <strong>von</strong> der Rolle, die der Dichter selber in jenem<br />

Zirkel spielte, erfahren wir <strong>nicht</strong>s. Hierüber belehrt uns besser<br />

Jung-Stilling, der ja, wie auch DICHTUNG UND WAHRHEIT erzählt,<br />

der Straßburger Tischgesellschaft angehört hatte: "Besonders karn<br />

einer mit großen hellen Augen, prachtvoller Stirn und schönem<br />

Wuchs, mutig ins Zimmer. Dieser zog Herrn Troosts und Stillings<br />

331


Augen auf sich; ersterer sagte gegen letztem: das muß ein vortrefflicher<br />

Mann sein. Stilling bejahte das ... Goethe saß gegen Stilling<br />

über und er hatte die Regierung am Tisch, ohne daß er sie suchte." So<br />

also war es in Wirklichkeit. Der eigentliche "Präsident" der Straßburger<br />

Tischgesellschaft war Goethe. Wo der Dichter auftrat, beherrschte<br />

er die Szene. Der angeführte Bericht steht in STILLINGS<br />

WANDERSCHAFT, einem Buch, das Goethe nachweislich als Quellenwerk<br />

studierte, als er seine Straßburger Zeit beschrieb. Aber dieses<br />

entscheidende Detail verwendete er <strong>nicht</strong>. Nur auf ganz versteckte<br />

Weise erfolgt eine Andeutung darüber, dass damals die Fama<br />

<strong>von</strong> seiner Rolle innerhalb der Straßburger Tischgesellschaft eine<br />

Menge zu berichten wußte: die Sesenheimer Pfarrersfamilie erkundigt<br />

sich bei Weyland "nach dem lustigen Tischgesellen, der in<br />

Straßburg mit ihm in Einer Pension speise und <strong>von</strong> dem man ihnen<br />

allerlei verkehrtes Zeug erzählt hatte" (Buch 10).<br />

Von den vielen geselligen Szenen in DICHTUNG UND WAHRHEIT<br />

wird man sich entsprechend diesem Beispiel eine Vorstellung machen<br />

dürfen. Ein sehr wichtiges Selbstzeugnis über Goethes Verhältnis<br />

zur Gesellschaft steht aber dennoch in seiner Autobiographie.<br />

Gelegentlich der Schilderung festlich verbrachter Tage in<br />

Sesenheim be<strong>kennt</strong> der Dichter: "Es war <strong>nicht</strong> das erste und letzte<br />

Mal, das ich mich in Familien, in geselligen Kreisen befand, gerade<br />

im Augenblick ihrer höchsten Blüte." Er dürfte sich schmeicheln, so<br />

heißt es weiter, etwas zu dem Glanz solcher Epochen beigetragen<br />

zu haben (Buch 11). Goethe berührt hier eine Seite seiner Persönlichkeit,<br />

die etwas Geheimnisvolles an sich hat, weil sie mit äußern<br />

Gaben: Aussehen, Beredsamkeit etc. <strong>nicht</strong>s mehr oder nur noch in<br />

sekundärer Weise zu tun hat. Es war nämlich einfach Gunst des<br />

Glücks, wenn er immer wieder "geselligen Kreisen" in ihrem jeweils<br />

besten Moment begegnete. Doch ein Glück dieser Art ist großen<br />

Persönlichkeiten wie der seinigen schicksalhaft verliehen, es<br />

ist ihnen angeboren wie ihre Genialität. Letztlich manifestiert sich<br />

darin auch wieder die dem schöpferischen Menschen in ganz besonderem<br />

Maß verliehene "Kraft, das was zusammengehört an sich<br />

heranzuziehen" (Anfang Buch 16). Ohne dies Glück wären des Dichters<br />

Werke <strong>nicht</strong> entstanden, ihm verdankte er Stoff, Stimmung,<br />

332<br />

Anregung zur Produktion. Die Biographien vieler bedeutender Persönlichkeiten<br />

melden <strong>von</strong> solch mitgeborenen Glücksumständen.<br />

DICHTUNG UND WAHRHEIT schildert sie in Fülle - mit Recht, denn sie<br />

waren ein wesentlicher Bestandteil <strong>von</strong> Goethes Leben. Der Sesenheimer<br />

Kreis ist nur ein Beispiel: <strong>von</strong> ähnlichen geselligen Zirkeln<br />

ist immer wieder die Rede. Der Kreis um die Schwester (Buch 6),<br />

der Oesersche Kreis (Buch 8), die Straßburger TIschgesellschaft (Buch<br />

9), die Darmstädter "Gemeinschaft der Heiligen" (Buch 12), der<br />

Zirkel der Frau <strong>von</strong> Laroche (Buch 13), das gesellige Treiben um<br />

Lavater - all das und noch vieles mehr gehört in diesen Bereich.<br />

Stets trug Goethe freilich, wenn er in Kreise bedeutender Menschen<br />

eintrat, das Seinige dazu bei, den "Glanz solcher Epochen"<br />

entscheidend zu steigern. Immer gilt für solche "Augenblicke höchster<br />

Blüte", was der Dichter in diesem Zusammenhang über Sesenheim<br />

berichtet - mit charakteristischem Bescheidenheitsakzent -:<br />

"Wir trugen alle Freude, wie ein Gemeingut, zusammen und wußten<br />

sie durch Geist und Liebe zu steigern." Wenn DICHTUNG UND<br />

WAHRHEIT <strong>von</strong> vielen schönen Augenblicken dieser Art erzählt, so<br />

wird man auf sie besondere Aufmerksamkeit zu richten haben.<br />

Denn hier verrät die Autobiographie, wie sehr in Goethes Wesen<br />

die ganze Festlichkeit des genialen Menschen beschlossen lag, wie<br />

recht eigentlich <strong>von</strong> ihm gilt, was er in der Marienbader ELEGIE <strong>von</strong><br />

der Geliebten sagt: "Zum Geleite gab dir ein Gott die Gunst des<br />

Augenblickes." I<br />

Darstellung der Umwelt<br />

Um sein Selbst darzustellen, <strong>von</strong> seiner "stufenweisenAusbildung"<br />

einen" Begriff" zu geben, schildert Goethe vor allem greifbar und<br />

klar die Welt, die ihn umgab, die Objekte, die dem äußern und<br />

innern Sinn entgegentraten. Der strömend freie Bericht über das,<br />

was <strong>von</strong> außen auf ihn einwirkte, enthüllt sein Ich weit mehr als<br />

die vagen persönlichen Be<strong>kennt</strong>nisse.<br />

"Immer findet der Verfasser sein Ich nur in der Begegnung mit<br />

der Welt" (Erich Trunz). Folgerichtig enthält denn auch Goethes<br />

333


Autobiographie ein Maximum an Welt, weit mehr als alle früheren<br />

entsprechenden Vorbilder. Schon die Städte, in denen er lernte,<br />

liebte und litt, mit welcher Lebendigkeit hat er sie geschildert! Während<br />

noch Rousseau weder <strong>von</strong> der Geburtsstadt Genf noch <strong>von</strong><br />

dem für ihn so wichtigen Paris ein wirkliches Bild gibt - die Kenntnis<br />

der Städte setzt er voraus -, stellt Goethe jeden Ort, der zum<br />

Schauplatz seiner Entwicklung wurde, aufs eindrucksvollste dar.<br />

Besonders Goethes Frankfurt haben Generationen später mit seinen<br />

Augen gesehen. DICHTUNG UND WAHRHEIT hat das Bild dieser<br />

Stadt hinübergerettet in Zeiten, die sich sonst <strong>von</strong> ihrer ursprünglichen<br />

Gestalt kaum noch eine Vorstellung machen könnten. Aber<br />

auch Leipzig, Straßburg, Wetzlar und viele andere Orte wurden<br />

durch die Darstellungen in DICHTUNG UND WAHRHEIT zu historischen<br />

Landschaften. Was sich in ihnen <strong>von</strong> Goetheschem Leben abspielte,<br />

blieb der Nachwelt durch sein verzauberndes Erzählen bewahrt.<br />

Eindrücklicher noch als die lokale Umwelt des Dichters schildert<br />

DICHTUNG UND WAHRHEIT die menschliche. In den Menschendarstellungen<br />

liegt das eigentliche Zentrum des Werks. Auf ihnen<br />

beruht alles, was Handlung darin ist, was zum eigentlichen Fabulieren<br />

gehört. Goethe sucht stets <strong>von</strong> den für ihn wichtig gewordenen<br />

Menschen beides zu berichten: in welchem Verhältnis sie<br />

zu ihm standen, und was sie an und für sich waren. Zur Handlung<br />

gehörte das eine wie das andre. Denn auch was eine Persönlichkeit<br />

objektiv gesehen darstellte, wirkte auf den Dichter, <strong>nicht</strong> nur<br />

was sie ihm an Gutem oder Ungutem zufügte. (Eine Ausnahme<br />

bildet das Fehlen einer Gesamtdarstellung der Mutter. Doch beabsichtigte<br />

Goethe sie zu geben. Wir besitzen die ausführliche Skizze<br />

dazu: die - zumeist auf Bettina Brentanos Erzählungen beruhende<br />

ARISTEIA DER MUTTER.)<br />

Das porträthafte Schildern <strong>von</strong> Menschen bedeutete abermals<br />

einen Schritt über Rousseau hinaus. Dieser erzählt meist nur, und<br />

zwar auch <strong>von</strong> den berühmtesten Zeitgenossen, was der andere<br />

ihm persönlich antat, <strong>nicht</strong> was er als Person eigentlich war. Goethes<br />

Menschenporträts in DICHTUNG UND WAHRHEIT stellen dagegen<br />

eine kostbare historische Galerie dar. Viele der geschilderten Persönlichkeiten<br />

leben nur durch die Darstellung <strong>von</strong> DICHTUNG UND<br />

334<br />

WAHRHEIT weiter. Das gilt vor allem <strong>von</strong> der illustren Reihe der<br />

Frankfurter Honoratioren. <strong>Ihr</strong>e liebevoll eingehende Schilderung<br />

diente gewiß zugleich dem Zweck, <strong>von</strong> der Menschenart jener Zeit<br />

einen Begriff zu geben, in der Goethe aufwuchs. Verkörperte sich<br />

doch in diesen Männern noch eine ganze dahingegangene Epoche<br />

- das kraftvolle 18. Jahrhundert vor der Revolution. Es waren Originale,<br />

auch wohl Sonderlinge, mit einer Fülle und Wucht der Persönlichkeit<br />

ausgestattet, wie sie spätere Zeiten so <strong>nicht</strong> mehr hervorbrachten.<br />

Diesem Menschentum hat Goethe in DICHTUNG UND<br />

WAHRHEIT ein Denkmal gesetzt. War der Dichter doch noch einer<br />

der ihren, er, der im Alter an Zelter schrieb: "Wir werden, mit vielleicht<br />

noch wenigen, die Letzten sein einer Epoche, die sobald <strong>nicht</strong><br />

wiederkehrt" (6. Juni 1825).<br />

Eltern, Lehrer und Freunde schildert Goethe mit Achtung und<br />

Milde, doch so, dass man ahnt: es gab in seiner Umwelt vieles Ungemäße,<br />

mit dem er zu kämpfen hatte. Das Elternhaus war - durch<br />

die Eigenheiten des Vaters - für den jungen Goethe schwierig genug.<br />

Die Lehrer erwiesen sich nie ganz als die rechten. Den Darstellungen<br />

Behrischs, Gellerts, Oesers, Herders merkt man noch<br />

manche ehemalige Enttäuschung an. Jedem begegnete Goethe zunächst<br />

verehrungs freudig mit der Hoffnung, in ihm den entscheidenden<br />

Ratgeber seiner Jugend zu finden - und alle versagten.<br />

Winckelmann, der einzige, bei dem diese Hoffnungen wohl <strong>nicht</strong><br />

getrogen hätten, gelangte im entscheidenden Moment wider alles<br />

Erwarten <strong>nicht</strong> nach Leipzig. So mußte Goethe die schwierigsten<br />

Lebensentscheidungen immer selbst treffen.<br />

Die Porträts der männlichen Freunde zeigen Licht und Schatten<br />

gemischt. Goethes Realismus läßt ihn hier alle Einseitigkeit vermeiden.<br />

Auch in seinen Dichtungen stellte er Männer niemals als<br />

reine Idealfiguren hin. Doch sind die Freunde meist positiver gPschildert,<br />

als die Einstellung Goethes zu ihnen in Wirklichkeit gewesen<br />

war. Die Charakteristik Lavaters beispielsweise hat zwar<br />

viele kritische Züge, verrät aber doch <strong>nicht</strong>s mehr <strong>von</strong> dem heiligen<br />

Zorn, der den Dichter einstmals gegen den Zürcher Propheten<br />

erfüllt hatte.<br />

Vergessen waren auch die ehemaligen Mißhelligkeiten mit Klin-<br />

335


ger, als Goethe dem Freunde in DICHTUNG UND WAHRHEIT ein verschönerndes<br />

Denkmal setzte. Im Falle <strong>von</strong> Merck und Herder wurden<br />

die schwierigen Charaktereigenschaften dieser Männer offensichtlich<br />

mit Schonung dargestellt. Allgemein färbt ein gutmütiges<br />

Wohlwollen die Menschendarstellung in DICHTUNG UND WAHRHEIT.<br />

So entsprach es Goethes Intention, die Welt mit Liebe zu betrachten,<br />

das Vergangene mit Heiterkeit zu schildern und das "Lamentable"<br />

fern zu halten.<br />

Anders steht es mit den Frauen. Wie Goethe als Dichter seine<br />

Geliebten stets idealisierend sah, so gibt er auch in DICHTUNG UND<br />

WAHRHEIT <strong>von</strong> den Freundinnen der Jugend ein Bild ungetrübter<br />

Schönheit. Die besonderen Eigenheiten einer jeden werden so geschildert,<br />

dass sie dadurch an individuellem Liebreiz noch gewinnt.<br />

Hier bewährt sich die ganze Kunst des großen Meisters der Frauendarstellung.<br />

Als die dichterisch glanzvollsten Partien in Dichtung<br />

und Wahrheit gelten denn auch die novellistischen Erzählungen<br />

<strong>von</strong> Gretchen, Käthchen, <strong>von</strong> Friederike, Lotte und Lili.<br />

Bildungswelt und Schaffen<br />

In entscheidender Weise erschwert wurde Goethes Entwicklung<br />

durch die Rückständigkeit der kulturellen Verhältnisse im Deutschland<br />

des 18. Jahrhunderts. "Als ich achtzehn war, war Deutschland<br />

auch erst achtzehn." Diese zu Eckermann gesprochenen Worte<br />

(15. Februar 1824) kennzeichnen die Situation, in die der Dichter<br />

gestellt war. Goethe war genötigt, auf allen Gebieten seines Wirkens<br />

den Boden, den er bearbeiten wollte, erst urbar zu machen.<br />

Um künstlerisch schaffen zu können, mußte er selbst erst das gesamte<br />

Kunstniveau seiner Zeit heben. Hierüber in umfassender<br />

Weise zu berichten, war eins der Hauptanliegen <strong>von</strong> DICHTUNG UND<br />

WAHRHEIT.<br />

Insbesondere die vielen Abschnitte über Literatur - deutsche,<br />

französische, englische - weisen kritisch und vergleichend hin auf<br />

die <strong>von</strong> dem jungen Goethe zu bewältigenden Schwierigkeiten. In<br />

Deutschland war die Verskunst noch unentwickelt, es fehlte an kri-<br />

336<br />

tisch-ästhetischen Maßstäben, aber auch an Stoffen, die der höheren<br />

Dichtung angemessen gewesen wären. Ausführlich wird geschildert,<br />

warum eine etwaige Anlehnung an die dominierende französische<br />

Literatur, wie sie noch Friedrich der Große befürwortete,<br />

keine Lösung darstellte (Buch 11). Gerade in Straßburg, wohin Goethe<br />

nach seinem eigenen Eingeständnis ursprünglich gegangen war,<br />

um sich in der französischen Sprache zu vervollkommnen, kam der<br />

Entschluß zur Abkehr <strong>von</strong> Frankreich. Hier erkannte er, dass dem<br />

Streben der jungen Dichtergeneration nach "Natur und Wahrheit"<br />

mit den Mitteln einer "bejahrten" Literatur und Sprache wie der<br />

französischen <strong>nicht</strong> mehr abzuhelfen war. Da lagen in der noch<br />

jungen deutschen Sprache die größeren Möglichkeiten. Herders<br />

Einfluß mag zu dieser Er<strong>kennt</strong>nis mitgeholfen haben. Entscheidend<br />

war aber wohl etwas anderes, wo<strong>von</strong> DICHTUNG UND WAHRHEIT <strong>nicht</strong><br />

spricht. In Straßburg erlebte Goethe das Wunder, dass ihm erstmals<br />

Gedichte glückten mit jenen Ur- und Naturlauten, die die Gewähr<br />

für eine Erneuerung der deutschen Sprache <strong>von</strong> Grund auf boten.<br />

Damit war das Französische als Vorbild entbehrlich geworden.<br />

Goethe war später mit seiner Darstellung der französischen<br />

Literatur in DICHTUNG UND WAHRHEIT <strong>nicht</strong> mehr zufrieden. "Voltaire<br />

und seine großen Zeitgenossen [. .. ] es geht aus meiner Biographie<br />

<strong>nicht</strong> deutlich hervor was diese Männer für einen Einfluß<br />

auf meine Jugend gehabt, und was es mich gekostet, mich gegen<br />

sie zu wehren und mich auf eigene Füße in ein wahreres Verhältnis<br />

zur Natur zu stellen." (Zu Eckermann, 3. Januar 1830.) DICH­<br />

TUNG UND WAHRHEIT stellt - darauf spielen diese Worte an - die französische<br />

Literatur betont negativ dar, weil Goethe hier die Abkehr<br />

einer jungen Generation <strong>von</strong> dem für sie Veralteten historisch begründen<br />

mußte. Solche generationsbedingten Gesinnungen sind<br />

stets einseitig. Dass er in Wirklichkeit der französischen Dichtung<br />

außerordentlich viel verdankte, hat Goethe bei anderen Gelegenheiten<br />

oft betont.<br />

Auch in den Abschnitten über die deutsche Literatur des 18.<br />

Jahrhunderts findet sich manche Einseitigkeit des Urteils. Vielfach<br />

vermittelte Goethe auch hier mehr die Einsicht in eine bestimmte<br />

Zeitsituation; insofern sind diese Abschnitte in erster Linie wert-<br />

337


voll als literarhistorische Zeugnisse. Objektive Literaturgeschichte<br />

geben sie <strong>nicht</strong> und wollen sie <strong>nicht</strong> geben. Am Anfang des 7. Buches<br />

erklärt der Dichter ausdrücklich, dass er die deutsche Literatur<br />

"<strong>nicht</strong> sowohl wie sie an und für sich beschaffen sein mochte,<br />

darzustellen gedenke, als vielmehr wie sie sich zu ihm verhielt".<br />

So kommt unter anderen Gottsched unverhältnismäßig schlecht<br />

weg. Den Leistungen des "Altvaters" gegenüber war man zur Zeit,<br />

als Goethe studierte, besonders ungerecht, da die Entwicklung soeben<br />

neue Wege einschlug. Das drückt sich nOFh in DICHTUNG UND<br />

WAHRHEIT aus. Die köstliche Anekdote <strong>von</strong> der Ohrfeige charakterisiert<br />

sehr zutreffend die Oppositionsstimmung der damaligen<br />

Jugend. Doch hat sie dem Ansehen Gottscheds unverhältnismäßig<br />

geschadet, indem hier Goethes Erzählkunst das Bild eines bedeutenden<br />

Mannes für lange Zeit einseitig bestimmte.<br />

In anderen Fällen gibt es bei den literarischen Porträts leichte<br />

Verzeichnungen, weil Goethe <strong>nicht</strong> die Last umfangreicher Nachforschungen<br />

auf sich nehmen konnte. Gelegentlich schildert er einen<br />

Dichter nur auf Grund eines einzelnen Werks, das ihm zufällig<br />

zur Hand war. Die Charakteristik des Klingersehen Schaffens beispielsweise<br />

beruht im wesentlichen auf der Geschichte eines Teutsehen,<br />

die Goethe gerade 1813 gelesen hatte. Nur auf diesen Roman,<br />

der erst im Jahr 1798 erschienen war, trifft speziell alles in<br />

DICHTUNG UND WAHRHEIT Gesagte zu. Die aus der Sturm-und-Drang­<br />

Zeit stammenden Jugendwerke Klingers - <strong>von</strong> denen eigentlich in<br />

DICHTUNG UND WAHRHEIT hätte gesprochen werden müssen - tragen<br />

aber ein ganz anderes Gepräge. Bei der Schilderung der Sturmund<br />

-Drang-Bewegung verfährt Goethe im übrigen ähnlich eigenwillig<br />

wie viele Literarhistoriker nach ihm. Er verschweigt die Tatsache<br />

oder deutet sie doch nurin unzureichender Weise an, dass ein wesentliches<br />

Charakteristikum des Sturm und Drangs die politische, sozialkritische<br />

Blickrichtung war. Meisterhaft sind innerhalb der Abschnitte<br />

über die literarischen Zeitgenossen die Darstellungen der<br />

Persönlichkeiten als solcher, soweit sie auf eigener Erinnerung beruhen.<br />

Besonders das 14. Buch - mit den Abschnitten über Klinger,<br />

Lavater, Basedow, Jacobi - zeichnet sich in dieser Hinsicht aus. Befriedigt<br />

schrieb Goethe nach seiner Fertigstellung an Riemer: "Lava-<br />

338<br />

ter und Basedow sind, dünkt mich, gut geraten, aus kleinen Zügen<br />

bildet sich die Imagination die Individualitäten gern zusammen. "14<br />

Zur Schilderung der Bildungswelt gehört in DICHTUNG UND W AHR­<br />

HEIT neben der Erörterung der literarischen vor allem die der religiösen<br />

Zustände. Auch auf weltanschaulichem Gebiet waren die<br />

Schwierigkeiten, die sich Goethes Entwicklung entgegenstellten,<br />

beträchtlich. Die "öffentliche Religion" konnte dem Dichter, wie<br />

auch vielen seiner Zeitgenossen, <strong>nicht</strong> mehr Genüge tun. Ebensowenig<br />

auf die Dauer Pietismus und Herrnhuterturn, mit denen der<br />

junge Goethe sich zeitweise intensiv beschäftigte. In dem damals<br />

zwischen Glauben und Wissen entbrannten Streit sich schlechtweg<br />

auf die Seite der Aufklärung zu stellen, war ihm gleichfalls <strong>nicht</strong><br />

möglich, daran hinderte ihn die Stärke seiner metaphysischen Erlebnisfähigkeit.<br />

So war er in weltanschaulichen Dingen ebenso wie in<br />

literarischen lange Zeit ein Suchender. Doch fand er schließlich den<br />

Weg. Wie ihm als Dichter Shakespeare das große Vorbild wurde, so<br />

schloß er sich in Sachen der Philosophie und Religion hauptsächlich<br />

an Spinoza an. Linne, Shakespeare und Spinoza bezeichnete Goethe<br />

noch im Alter als diejenigen "Abgeschiedenen", die auf ihn die<br />

größte "Wirkung getan" hätten. (An Zelter, 7. November 1816.)<br />

Die Erörterung religiöser Fragen nimmt in DICHTUNG UND W AHR­<br />

HEIT großen Raum ein. Von den zwanzig Büchern des Werks enthalten<br />

dreizehn diesbezügliche Abschnitte. Das zeigt, dass Goethe<br />

seiner weltanschaulichen Entwicklung ähnliche Bedeutung beimaß<br />

wie seiner künstlerischen. Außerordentlich groß war die religiöse<br />

Erregtheit der Epoche, in die seine Jugend fiel. Zu Goethes Freunden<br />

zählten bedeutende Vertreter des religiösen Lebens - Susanna<br />

<strong>Katharina</strong> <strong>von</strong> Klettenberg, Lavater, Herder, Jacobi u. a. -, die ihn<br />

immer wieder zur Auseinandersetzung mit dem Christentum nötigten.<br />

In DICHTUNG UND WAHRHEIT schildert der Dichter die allmähliche<br />

Verselbständigung seines Denkens in vielen Etappen. Während<br />

die <strong>Bibel</strong>, namentlich das Alte Testament, stets als<br />

Lieblingsbuch wichtig blieb, war es doch Goethes unablässiges Bestreben,<br />

sich "seine eigene Religion zu bilden" (Buch 8). Erst da-<br />

14 27. Juli 1813 (WA IV 23, 416).<br />

339


durch, dass ihm dies gelang, hatte er auch als Dichter den Standpunkt<br />

gefunden, <strong>von</strong> dem aus er wirken konnte. Zwar wurde Goethe,<br />

trotz manchen Drängens <strong>von</strong> Freunden, kein religiöser Dichter<br />

wie Klopstock. Aber durch die ethische Tendenz, die sein<br />

Schaffen so stark bestimmt, wirkte er doch auch im religiösen Sinn<br />

erzieherisch für viele Generationen.<br />

Wie ihn äußere Eindrücke, Erlebnisse und Bildungserlebnisse<br />

schließlich zu seinen ersten Dichtungen inspirierten, schildern die<br />

Entstehungsgeschichten der Frühwerke in DICHTUNG UND WAHRHEIT.<br />

Im 12. Buch wiederholt Goethe, was er schon im Vorwort ausgesprochen<br />

hatte: vor allem sei die Autobiographie dazu "bestimmt,<br />

die Lücken eines Autorlebens auszufüllen, manches Bruchstück zu<br />

ergänzen und das Andenken verlorner und verschollener Wagnisse<br />

zu erhalten". Die entsprechenden Partien sind darum <strong>von</strong> so großer<br />

Bedeutung, weil sie einen unvergleichlichen Einblick gewähren<br />

in die Schaffensgeheimnisse eines großen Dichters. Übrigens<br />

spricht Goethe mit besonderer Ausführlichkeit gerade über die dichterischen<br />

Fragmente und Pläne. Was ihm <strong>nicht</strong> auszuführen gelang,<br />

sind besonders die Projekte großer religiöser Dichtungen:<br />

MAHOMET, DER EWIGE JUDE, PROMETHEUS. Hier war das Interesse an<br />

den Problemen stärker als der Drang zu dichterischer Realisierung.<br />

Gerade an diesen Projekten mag Goethe aufgegangen sein, dass<br />

religiöse Dichtung außerhalb seiner Bestimmung lag.<br />

Symbolische Darstellung<br />

Goethe äußerte einmal, er habe in DICHTUNG UND WAHRHEIT "eigentlich<br />

nur sein späteres Leben hinter das frühere versteckt". Er<br />

bezeichnete seine Autobiographie in diesem Zusammenhang<br />

geradezu als "Maskerade". (An Gräfin O'Donell, 22-. Januar 1813.)<br />

Diese Worte verdienen ganz besondere Beachtung, weil sie eine<br />

der wichtigsten Seiten des Werks berühren. Tatsächlich läßt sich<br />

feststellen, dass Goethe mit Vorliebe solche Züge ins Licht rückt,<br />

die gleichnishaft auf Späteres weisen, auf dauernde Persönlichkeitsund<br />

Lebenseigentümlichkeiten. Dadurch schildert DICHTUNG UND<br />

340<br />

WAHRHEIT, obgleich nur die ersten 26 Lebensjahre behandelt werden,<br />

doch in gewisser Weise den ganzen Goethe.<br />

Einige Beispiele mögen das verdeutlichen. Schon in frühester<br />

Kinderzeit zeigt sich - beim Blick aus dem Gartenzimmer - das<br />

"Gefühl der Einsamkeit", das später für den Dichter, für das "<strong>von</strong><br />

der Natur in ihn gelegte Ernste und Ahnungsvolle", bezeichnend<br />

ist (Buch 1). Der "Gott der Natur", dem das Kind seltsame Opfer<br />

darbringt, läßt an die spätere Entwicklung Goethes zum Spinozismus,<br />

zur Naturwissenschaft denken (Schluß Buch 1). Die ersten<br />

Liebeserlebnisse - mit dem Frankfurter Gretchen, dem Leipziger<br />

Käthchen - zeigen schon jene Vorliebe Goethes für "Naturwesen",<br />

die später in seiner Ehe zum Ausdruck kam. In den Märchen DER<br />

NEUE PARIS und DIE NEUE MELUSINE sind es speziell die "kleinen"<br />

Frauen, auf die Goethes Liebe fällt. Auch darin mag man eine symbolisierende<br />

Vordeutung auf Christiane sehen. Andererseits ist es<br />

aber auch ganz charakteristisch, dass bereits Goethes erste Liebe<br />

eine "durchaus geistige Wendung" nahm, dass er "in dem andern<br />

Geschlecht das Gute und Schöne sinnlich gewahr werden" wollte<br />

(Buch 5). Zeitlebens hat der Dichter seine Geliebten in diesem Sinne<br />

verehrt. Die "Schöne-Gute" heißt noch eine der hervorragendsten<br />

Frauengestalten in Goethes letztem Roman WILHELM<br />

MEISTERS WANDERJAHRE. Vordeutend sind aber auch die verschiedenen<br />

Schilderungen des Liebeswahnsinns (vor allem in Buch 6<br />

und 7): noch in hohem Alter konnte seine Leidenschaftlichkeit den<br />

Dichter zu ähnlichem" Weinen und Rasen" bringen wie damals<br />

nach dem Gretchen-Abenteuer.<br />

Selbst ein scheinbar so geringfügiger Zug wie die Erwähnung<br />

des Diktierens im 4. Buch wird bedeutungsvoll, wenn man des Dichters<br />

späteres Leben mit in Betracht zieht. Alles in Prosa Verfaßte<br />

pflegte Goethe zu diktieren. Er schrieb wie er sprach und sprach<br />

wie er schrieb. Namentlich im Alter vermochte er dadurch wie kein<br />

anderer der deutschen Prosa etwas vom Glanz antiker Rhetorik<br />

mitzuteilen. DICHTUNG UND WAHRHEIT legt da<strong>von</strong> beredtes Zeugnis<br />

ab. Da geschah es mit gutem Vorbedacht, wenn Goethe darauf hinwies,<br />

wie es ihm schon in frühester Jugend "bequem" erschien,<br />

alles" was ihm durch den Kopf ging", zu diktieren. Über sein wohl-<br />

341


tätiges Unterstützen und Fördern eines jungen Menschen wird zu<br />

Anfang des 12. Buchs mit dem ausdrücklichen Hinweis berichtet,<br />

dass dies ein Beispiel sei für eine "Eigenheit", die Goethe auch<br />

später geblieben und ihn "viel gekostet" habe.<br />

Unzählige derartige Züge bestätigen es, dass Goethe in DICH­<br />

TUNG UND WAHRHEIT sein "späteres Leben hinter das frühere versteckt".<br />

Doch enthält die Autobiographie <strong>nicht</strong> nur das eigene künftige<br />

Leben im Gleichnis, sie ist auch in einern weiteren Sinne<br />

symbolisch. "Ich dächte, es steckten darin einige Symbole des Menschenlebens",<br />

sagte der Dichter zu Eckerrnann (30. März 1831). Es<br />

war Goethe im Alter deutlich geworden, wie sehr sein Leben, seine<br />

Entwicklung, sein Schaffen überpersönliche, sinnbildliche Bedeutung<br />

hatte. Daher rührte der autobiographische Eifer in den<br />

letzten Jahrzehnten seines Lebens. Der Dichter wollte die eigenen<br />

Erfahrungen in weitestem Umfang für andere nutzbar machen und<br />

damit Sinn- und Leitbilder geben.<br />

Zu allen Zeiten seines Lebens sprach Goethe gern <strong>von</strong> der<br />

Swedenborgschen Vorstellung, dass "Geister", die <strong>nicht</strong> mit den<br />

rechten Sinnesorganen ausgestattet sind, sich der Augen des Weisen<br />

bedienen müssen, wollen sie die Welt schauen und aus ihr lernen.<br />

Als eine solchen Swedenborgschen Seher-Weisen mag er sich<br />

selbst im Alter betrachtet haben. Er ließ andere die Welt, sein Leben,<br />

wie er es geschaut hatte, durch seineAugen sehen. Wie in der Schlußszene<br />

<strong>von</strong> Faust 11 der Pater Seraphicus und Faust selbst auf diese<br />

Swedenborgsche Weise den Seligen Knaben zu Lehrern werden -<br />

<strong>nicht</strong> zufällig taucht das Bild in der AItersdichtung wieder auf - so<br />

ward Goethe der Erzieher einer in vielem noch unmündigen Menschheit.<br />

Durch das Medium seiner autobiographischen Schriften haben<br />

ganze Generationen mit Goethes Augen gesehen, was Goethe<br />

gelernt und gelehrt hat. Frankfurt, Leipzig, Straßburg, Wetzlar, Weimar,<br />

Rom - die Stationen des Goetheschen Lebens - wurden für<br />

Unzählige ein geistiger Besitz wie selbst Erfahrenes. Was er lebte,<br />

wurde andern zur Lehre. (Selige Knaben in FAUST 11, Vs. 12082:)<br />

342<br />

Doch dieser hat gelernt,<br />

Er wird uns lehren.<br />

"Schwänchen" und "Schwan"<br />

im SCHENKENBUCH des WEST-ÖSTLICHEN DIVAN<br />

Schenke<br />

Heute hast du gut gegessen,<br />

Doch du hast noch mehr getrunken;<br />

Was du bei dem Mahl vergessen<br />

Ist in diesen Napf gesunken.<br />

Sieh, das nennen wir ein Schwänchen<br />

Wie's dem satten Gast gelüstet,<br />

Dieses bring' ich meinem Schwane<br />

Der sich auf den Wellen brüstet.<br />

Doch vom Singschwan will man wissen<br />

Daß er sich zu Grabe läutet;<br />

Laß mich jedes Lied vermissen,<br />

Wenn es auf dein Ende deutet.<br />

Dies Gedicht entstand im Oktober 1814, nachdem Goethe in dem<br />

13jährigen August Wilhelm Paulus, dem Sohn des Heidelberger<br />

Orientalisten Heinrich Eberhard Gottlob Paulus, das wichtigste<br />

menschliche Vorbild für die Gestalt des 'Schenken' gefunden hatte.<br />

Eine Abschrift des Gedichts vom 1. Januar 1815 ging als Neujahrsgruß<br />

an den jungen Paulus nach Heidelberg1• Dort lautete die Überschrift:<br />

Der gute Schenke spricht, am Ende aber stand der Zusatz:<br />

Nach dem Lateinischen. Diesen Quellenhinweis hielten die<br />

Kommentatoren, sofern sie überhaupt darauf eingingen, für fingiert.<br />

So Gustav v. Loeper 2 : "Paulus zu Heidelberg erhielt das Gedicht<br />

mit dem absichtlich irrigen Zusatz 'Nach dem Lateinischen'."<br />

Das wurde <strong>von</strong> Heinrich Düntzez-3 übernommen: "Das 'Nach dem<br />

1 Vgl. WAIV 25,236 f.<br />

2 Hempel: Goethe's Werke, 36 Teile in 23 Bdn. Berlin 1868-1879. -4. Teil: Gedichte. Hg.<br />

v. Gustav v. Loeper. Bd 4 (1872) S. 183.<br />

3 Heinrich Düntzer, Erläuterungen zu den Deutschen Klassikern. Goethes westöstlicher<br />

Divan. Leipzig 1878. S. 375.<br />

343


tale, seltsame Wirkung hervorzubringen, das Ungereimte zusammenreimt,<br />

so soll der Deutsche, dem dergleichen wohl auch begegnet,<br />

dazu <strong>nicht</strong> scheel sehen."<br />

In unserem Fall liegt nur eins der vielen praktischen Beispiele<br />

vor, die Goethe für die Eigenart orientalischer Dichtung im Divan<br />

bringt, und gerade der ominöse achte Vers dürfte die Aufgabe haben,<br />

das quasi "aus dem Lateinischen" stammende Gedicht intensiv<br />

mit dem Hafis-Stil zu verbinden. Es ist also orientalisierendes<br />

Metaphernspiel, wenn in Goethes Gedicht der 'Schenke' den Dichter<br />

»Schwan« nennt. Gegenüber der Kühnheit echter östlicher Tropen<br />

ist das noch vergleichsweise zahm. Denn man vermag - was<br />

bei orientalischen Gleichnissen <strong>nicht</strong> immer der Fall ist - das tertium<br />

comparationis, Sänger = Schwan, zu durchschauen. Auch die<br />

Verselbständigung des Schwanbildes in v. 8 ist <strong>nicht</strong> so abwegig,<br />

dass gar keine Erklärung mehr möglich wäre. Bezieht man den<br />

»Schwan«, der »sich auf den Wellen brüstet« auf den Dichter als<br />

»Singschwan«, so darf man in dem 'Sichbrüsten' doch immer noch<br />

das Wohlgefühl des Dichters in der Trunkenheit gemalt sehen, das<br />

»herrliche Gefühl der Gegenwart«, welches ihm »im Becher« gewährt<br />

ist, wie Goethe in v. 21 f. des Gedichts »Jene garstige Vettel«<br />

rühmt.<br />

Das Gedicht vorn Schwänchen und Schwan darf also auf einern<br />

einheitlichen Gedanken beruhend erkannt werden. Seine Einheit<br />

liegt in dem Kontrapost: Schwänchen-Dichterschwan. Nur so wird,<br />

was der Schenke empfindet und tut, verständlich. Nur so wird es<br />

auch begreiflich, daß das Gedicht in der Paulus-Handschrift überschrieben<br />

war: Der gute Schenke spricht. Den gleichen Kontrapost<br />

erkennen wir in dem Martial-Distichon. Auch hier ist das<br />

Entscheidende, dass ein Xenion = Schwänchen den »cantator cygnus«,<br />

den Sänger-Schwan zum Gegenstand hat. So mag uns auch<br />

die Kenntnis der antiken 'Quelle' einen Hinweis mehr auf die innere<br />

Einheit des Gedichtes geben. 19<br />

19 Wolfgang Kayser bestätigte: "Die Deutung <strong>Mommsen</strong>s erweist sich vom Rhythmus<br />

her als die richtige." Vgl. W. K., Die Vortrags reise. Studien zur Literatur. Bern<br />

1958, S. 160 f.<br />

352<br />

Goethe und Zel ter<br />

Zelter [ ... ] befand sich in dem seltsamsten Drange zwischen einern ererbten,<br />

<strong>von</strong> Jugend auf geübten, bis zur Meisterschaft durchgeführten Handwerk,<br />

das ihm eine bürgerliche Existenz ökonomisch versicherte, und zwischen<br />

einern eingebornen, kräftigen, unwiderstehlichen Kunsttriebe, der aus<br />

seinem Individuum den ganzen Reichtum der Tonwelt entwickelte. Jenes<br />

treibend, <strong>von</strong> diesem getrieben, <strong>von</strong> jenem eine erworbene Fertigkeit besitzend,<br />

in diesem nach einer zu erwerbenden Gewandtheit bestrebt, stand<br />

er <strong>nicht</strong> etwa wie Herkules am Scheidewege zwischen dem, was zu ergreifen<br />

oder zu meiden sein möchte, sondern er ward <strong>von</strong> zwei gleich werten<br />

Musen hin und her gezogen, deren eine sich seiner bemächtigt, deren andere<br />

dagegen er sich anzueignen wünschte. Bei seinem redlichen, tüchtig<br />

bürgerlichen Ernst war es ihm ebensosehr um sittliche Bildung zu tun, als<br />

diese mit der ästhetischen so nah verwandt, ja ihr verkörpert ist, und eine<br />

ohne die andere zu wechselseitiger Vollkommenheit <strong>nicht</strong> gedacht werden<br />

kann.<br />

Goethe, TAG- UND JAHRES-HEFTE 1803.<br />

Das hat mir die Mutter prophezeit: "Dir", sagte sie, "muß es wohlgehn,<br />

das ist mein Gebet. Du wirst vieles vor dir hingehn sehn, aber du wirst <strong>nicht</strong><br />

allein sein; du sollst den besten Freund haben und behalten; ihr werdet, mei-<br />

. lenweit auseinander, Eine;; Sinnes sein; du wirst sehen, hören und genießen,<br />

was Tausende dir beneiden werden." Da nun das alles so ist und trifft, so<br />

muß ich dir nachlaufen, und wie und warum es geschieht, weißt du.<br />

Zelter an Goethe 27. Apri/1828.<br />

Ich danke Gott stündlich auf den Knieen meines Herzens, daß ich endlich<br />

<strong>Ihr</strong> Angesicht gesehn habe. Die Erinnerung dieser Tage wird nur mit meinem<br />

Gedächtnisse aufhören. Ein neuer Geist ist in mir durch die Berührung<br />

erweckt, und wenn ich je etwas hervorgebracht oder hervorbringe, das der<br />

Musen würdig ist, so weiß ich, daß es Gabe ist und woher sie kommt.<br />

Zelter an Goethe 7. Apri/1802.<br />

353


Leben (er bedurfte das früher) über Gemeines und gelegentlich-heftige Ausbrüche<br />

desselben emporgehoben, emporgehalten. Und alles dies, ohne daß<br />

er an Kraft und Freiheit des Geistes, an Festigkeit und Eigentümlichkeit des<br />

Charakters, selbst an Besonderheit des Individuellen und jener Art verloren<br />

hätte. Seit Errichtung dieser Freundschaft war er im Grunde stets bei und<br />

mit Goethen. Bei jedem Bedeutenden, das er dachte und empfand, erfuhr<br />

und tat, schwebte ihm vor: wie würde Er's ansehen, wie es aufnehmen, wie<br />

damit verfahren? [ ... ] <strong>Ihr</strong> Zusammensein hatte für einen dritten Mann, wenn<br />

dieser auch nur auf das Nächste, was vor den Sinnen lag, merken wollte -<br />

etwas Erhebendes, ja, daß ich so sage, etwas Erbauliches. Zwei hochbetagte,<br />

ganz eigentümliche, würdevolle Männer, in allem und jedem, was der<br />

äußern Welt und ihren Verhältnissen zugehört, <strong>von</strong> einander so gänzlich verschieden:<br />

in vielem und Wesentlichem, was der innern eignet, einander so<br />

nahe verwandt - einer den andern durch und durch kennend, einer dem<br />

andern in alle dem, was ihm eigen, volle Gerechtigkeit, angenehme Förderung,<br />

sorgsame Schonung erweisend - der eine mit ruhiger Freundlichkeit<br />

und heiterer Zuneigung entgegenkommend: der andere mit heller Freude<br />

und zwischendurch mit stürmischem, auch wohl barockem Enthusiasmus<br />

herausbrechend - beide ohne allen Rückhalt und <strong>von</strong> Grund aus sich gegen<br />

einander aussprechend über jedes, was sie vorzüglich und in eben dieser<br />

Zeit beschäftigt, oder absichtslos scherzhaft hinwerfend, was der Zufall<br />

und die gesteigerte Laune gibt - jeder das Beste, was er eben hat, darbringend,<br />

jeder aufs beste, wie er eben kann, aufnehmend - dann beide, losgebunden<br />

<strong>von</strong> allem Beschränkenden, fröhlich mit einander, wie Jünglinge,<br />

im Vergessen aller Welt außer den vier Pfählen am schönsten Augenblicke<br />

hangend - - noch einmal: Es hatte etwas Seelenerhebendes, ja etwas Erbauliches.<br />

Goethes Freundschaft mit Zelter<br />

Goethe und Zelter begegneten sich erstmals im Februar 1802. Sehr<br />

bald entwickelte sich zwischen beiden ein Freundschaftsverhältnis,<br />

das seiner Festigkeit und Dauer nach im Leben beider Männer<br />

<strong>nicht</strong> seinesgleichen hatte. In den drei Jahrzehntel1 ihrer .<br />

Freundschaft gab es keine Trübung, kein Nachlassen, keine Pause,<br />

wie man es sonst in fast allen menschlichen Beziehungen Goethes<br />

feststellt, die sich über vergleichbar lange Zeiträume erstrecken.<br />

Im Gegenteil, eine stetige Intensivierung charakterisiert<br />

356<br />

diesen Bund bis zu seinem Ende - und selbst dieses Ende erscheint<br />

noch wie eine letzte wundersame Steigerung. Der Tod Zelters, keine<br />

zwei Monate nach Goethes Ableben, wurde verursacht - darüber<br />

gibt es nur eine Meinung - durch den Schmerz über den Verlust<br />

des Freundes. "Excellenz hatten natürlich den Vortritt, aber<br />

ich folge bald nach" - mit diesen Worten verbeugte sich der<br />

Trauernde vor der Büste des Dichters, und in wenigen Tagen machte<br />

er seine Prophezeiung wahr.<br />

Schon 1796 war Goethe aufmerksam geworden auf Zelters<br />

Kompositionen seiner Gedichte. Diese Vertonungen sagten ihm zu,<br />

mehr als alle anderen, weil ihre schlichte Musik sich <strong>nicht</strong> vordrängte<br />

und die Aufmerksamkeit vom Dichterwort ablenkte. In<br />

diesem Sinne empfand er Zelters Lieder als "radicale Reproduction<br />

der poetischen Intentionen" (an A. W. Schlegel 18. Juni 1798).<br />

Entscheidend war für den Dichter, dass Zelter an einem Lied "den<br />

Charakter traf", während anspruchsvollere Kompositionen den<br />

Nachteil hatten, dass sie "den Eindruck des Ganzen durch vordringende<br />

Einzelnheiten zerstören" (an W. v. Humboldt 14. März<br />

1803). Darüber hinaus hat Goethe Zelter als Komponisten <strong>nicht</strong><br />

eigentlich überschätzt, wie auch bekanntlich Zelter selbst seinen<br />

Tonschöpfung.en nur einen begrenzten Wert zumaß. So bildete<br />

denn auch durchaus <strong>nicht</strong> etwa die Musik das wesentliche Fundament<br />

der Freundschaft zwischen beiden Männern. Was Goethe an<br />

Zelter bewunderte und 1iebte, war <strong>nicht</strong> in erster Linie sein fachliches<br />

Können und Wissen; den Ausschlag gaben vielmehr seine<br />

menschlichen Eigenschaften, sein Charakter, seine Persönlichkeit.<br />

Das unterscheidet die Freundschaft mit Zelter <strong>von</strong> den vielen Verbindungen<br />

Goethes mit Männern, die in bestimmten Fächern exzellierten<br />

und dadurch wertvolle Berater und Helfer wurden.<br />

War Zelter <strong>nicht</strong> genial als Komponist, so durchdrang doch<br />

Genialität sein ganzes Wesen. Durch Kraft und Energie einer<br />

außerordentlichen Persönlichkeit war er dazu geboren, Dirigent,<br />

Anführer, Mittelpunkt einer großen künstlerischen Gemeinde zu<br />

sein. So gingen <strong>von</strong> seiner Tätigkeit als Leiter der Singakademie,<br />

als Gründer der »Liedertafel« Generationen überdauernde<br />

Wirkungen aus. Liebenswürdig und attraktiv, imponierend in<br />

357


höchstem Maße - schon durch seinen riesenhaften Wuchs - gewann<br />

er als Mensch die Herzen. Es zeugt <strong>von</strong> der ungewöhnlichen<br />

Ausstrahlung seiner Persönlichkeit, dass eine Stadt wie Berlin ihn<br />

in einem seiner Art nach unvergleichlichen Plebiszit zum Besten<br />

und Würdigsten erklärte, als es galt, Napoleon den geeigneten<br />

Volksvertreter entgegenzustellen. Geistreich und gebildet, war<br />

Zelter selbst für Männer wie Goethe, Schiller, Fichte, Schlegel,<br />

Schleiermacher und viele andere Prominente seiner Zeit ein fruchtbarer<br />

Gesprächspartner. Was ihm dabei zugute kam, war etwas,<br />

das keine Schule und Gelehrsamkeit verleiht: Gedanke und Wort<br />

entwickelten sich bei ihm auf dem Grunde einer urwüchsig gesunden,<br />

wie Goethe es nannte, "derb und tüchtigen" Natur. "Seine<br />

Reden sind handfest wie Mauern, aber seine Gefühle zart und<br />

musikalisch" - so charakterisiert ihn A. W. Schlegel (an Goethe<br />

10. Juni 1798), anspielend auf Zelters Herkunft aus dem Maurerberuf.<br />

Und in der Tat: 'auf dem Bau', <strong>von</strong> den Berliner Handwerkern<br />

lernte Zelter, immer das rechte, treffend-griffige, <strong>von</strong> Schlagfertigkeit<br />

und prallem Humor gewürzte Wort zu finden. All dies<br />

bewirkte, dass Zelters Urteile bei Goethe so hoch in Ehren standen,<br />

auch wenn sie sein eigenes Schaffen betrafen. Mochte er <strong>von</strong><br />

Gelehrteren "manches Gute und Freundliche" über ein Werk hören,<br />

den ausschlaggebenden, brauchbaren Spruch erwartete und<br />

empfing er in der Regel <strong>von</strong> Zelter: schließlich blieb dieser "der<br />

erste und einzige, der in die Sache selbst eingeht" (an Zelter<br />

3. Dezember 1812, über dessen Bemerkungen zu DICHTUNG UND<br />

WAHRHEIT). Wie Zelters Persönlichkeit an Reichtum, so übertraf<br />

sein Charakter an Stärke, Lauterkeit und Tiefe die meisten, mit<br />

denen der späte Goethe freundschaftliche Kontakte pflegte. "Tüchtig",<br />

"redlich", "grandios", "grundwahr und trefflich" - Vokabeln<br />

wie diese kehren in Goethes Zelterlob immer wieder. Mit ganz<br />

ähnlichen Ausdrücken definierte er in WINCKELMANN UND SEIN JAHR­<br />

HUNDERT die Besonderheit des Winckelmannschen Charakter$. Das<br />

berühmte Wort über Zelter: "Wenn die Tüchtigkeit sich aus der<br />

WeIt verlöhre; so könnte man sie durch ihn wieder herstellen", läßt<br />

vermuten, dass vieles bei dem Freund ihn an Winckelmann erinnerte:<br />

es wurde geschrieben wenige Monate nach Abfassung der<br />

358<br />

Winckelmannschrift und kam aus deren Gedankenkreis (an Herzog<br />

Carl August 10. August 1805).<br />

Besonders beeindruckt war Goethe immer wieder <strong>von</strong> der Uneigennützigkeit<br />

Zelters. Als "rührend" empfand er das selbstlose<br />

Anerkennen und Fördern <strong>von</strong> Schülern, auch wenn diese größer<br />

waren als er selber (vgl. Goethe an Zelter 8. März 1824). Bewundernswert<br />

war ihm stets, wie Zelter mit den Sorgen ums tägliche<br />

Brot (für eine zeitweilig mehr als fünfzehnköpfige Familie!) fertig<br />

wurde, Sorgen, die er freiwillig auf sich nahm seit der Ausübung<br />

seines zweiten, des Musikerberufs. Dabei wird es ihm noch <strong>nicht</strong><br />

einmal zu Ohren gekommen sein, dass Zelter noch im Jahre 1811<br />

"wöchentlich 27 Lectionen unentgeltlich" erteilte, um unbemittelten,<br />

aber begabten Schülern weiterzuhelfen.1<br />

Goethes Freundschaft mit Zelter erhält dadurch ihr besonderes<br />

Gepräge, dass sie sich mehr auf einen intensiven Briefwechsel<br />

stützte als auf persönliche Gegenwart. Insgesamt haben sich beide<br />

Freunde nur etwa 27 Wochen gesehen. Jede Begegnung mit Zelter<br />

steigerte allerdings Goethes Zuneigung, oft genug bedeutete<br />

sie ihm Trost und Erquickung in schwerer Krise. So war es im Jahre<br />

1805, einige Monate nach Schillers Tod, Zelters Besuch, der dem<br />

Dichter" wieder.Lust zu leben gegeben und vermehrt hat" (an Zelter<br />

1. September 1805). So riß ihn der Freund 1814 aus seiner tiefen<br />

Verstimmung über die Entwicklung des öffentlichen Lebens<br />

und erweckte die Lust zu neuen Liedern. Zelters Gegenwart und<br />

Zuspruch richtete ihn auf, als er 1823, im Jahr der Marienbader<br />

ELEGIE, <strong>von</strong> leidenschaftlicher Depression erfaßt darniederlag. Kein<br />

zweiter kann sich rühmen, dem späten Goethe als Helfer in ähnlichen<br />

Situationen ähnliches bedeutet zu haben.<br />

Dennoch: was Goethes Dankbarkeit mehr als alles andere hervorrief,<br />

waren Zelters Briefe. Schätzte er diese anfangs als Quelle<br />

der Belehrung und Erheiterung oder als menschliche Dokumente,<br />

so erkannte er bald ihren eigentlichen Wert. Er entdeckte, dass<br />

Siehe Zelters Bericht Über den Zustand des allgemeinen Gesangswesens, zitiert bei: AIfred<br />

Morgenroth, earl Friedrich Zelter. Berliner Dissertation 1922 (ungedruckt).<br />

5.65.<br />

359


sie Kunstwerke waren. Goethe hat einen großen Teil der bei ihm<br />

eingehenden Briefe geachtet und geehrt: Zelters Briefe hat er genossen.<br />

Vielfach ist es bezeugt, wie gern er sie Freunden vortrug<br />

und mit Begeisterung <strong>von</strong> ihnen sprach. Noch im hohen Alter ließ<br />

er sich die sorgfältig zusammengehefteten Jahrgänge an stillen<br />

Winterabenden "zu erbaulicher Unterhaltung" vorlesen. Vom Jahr<br />

1825 ab beschäftigte er sich bis zu seinem Tode mit der Redaktion<br />

seines Briefwechsels mit Zelter, den er als nahezu druckfertiges<br />

Manuskript hinterließ zur Veröffentlichung "nach.beiderseitigem<br />

Ableben". In ähnlicher Weise hatte er nur den Bnefwechsel<br />

mit Schiller selbst redigiert. Andeutungsweise gab er dem Freunde<br />

auch zu verstehen, dass er seine Briefe <strong>nicht</strong> geringer schätzte<br />

als die Schillerschen, ja dass er ihnen sogar in mancher Hinsicht<br />

Vorzüge zuerkannte. 2 Das Besondere an Zelters Briefen bestand<br />

für Goethe vor allem darin, dass in ihnen ganz allgemein das "genre<br />

epistolaire" mit wirklicher Meisterschaft behandelt war. Hierin<br />

sah er einen ganz ungewöhnlichen Fall, in Anbetracht der Tatsache,<br />

dass die deutsche Sprache gerade der "Gattung" des Briefs<br />

so wenig günstig sei (zu F. Soret 3. Juni 1824).. . . .<br />

Durch den ganzen Briefwechsel mit Zelter zIehen sIch dIe BItten<br />

Goethes an den Freund, er möge ihm häufig und ausführlich<br />

schreiben: Goethe konnte <strong>von</strong> diesen "erquickenden" Briefen <strong>nicht</strong><br />

genug bekommen. Nicht zuletzt Zelters Reisebeschreibungen hatten<br />

es ihm als schriftstellerische Bravourstücke angetan. Trotz oft<br />

erdrückender Arbeits- und Sorgenlasten, die Goethe einmal zu der<br />

Äußerung veranlaßten: "Es ist wirklich etwas prometheisches in<br />

<strong>Ihr</strong>er Art zu seyn, das ich nur anstaunen und verehren kann" (an<br />

Zelter 30. August 1807), trotz Behinderung durch Alter und Augenkrankheit<br />

kam Zelter unermüdlich den Wünschen des Freundes<br />

nach. "Nur Geben heißt Leben" war seine Maxime (an Goethe<br />

19. Juli 1828), und selten trat ein Freund Goethes so entschieden<br />

und nachhaltig als Schenkender auf wie Zelter. Belustigend<br />

ist es zu sehen, wie er Goethes unersättliches Verlangen schließ-<br />

2 An Zelter 28. Dez. 1830; 4. Jan. 1831. Vgl. EGW I 444-70: BRIEFWECHSEL ZWISCHEN GOE­<br />

360<br />

THE UND ZELTER.<br />

lich bei Gelegenheit auch stillt, indem er ihm Briefe an andere<br />

Adressaten mitschickt: "Da du mein Geschreibsel gerne hast [. .. ]"<br />

- mit solchen und ähnlichen Begründungen werden dann Beilagen<br />

dieser Art angekündigt. Unverkennbar groß war Goethes Bestreben,<br />

sich zu revanchieren und Zelter mit, wenn auch <strong>nicht</strong> so umfangreichen<br />

so doch gehaltvollen Briefen zu bedenken, ihm die<br />

geistige Nahrung zu spenden, nach der er stärkstes Verlangen trug.<br />

Seit die postume Veröffentlichung des Briefwechsels beschlossen<br />

war, breitete er planmäßig in den Schreiben an Zelter ein besonders<br />

reiches Gedankengut aus, als Vermächtnis an die Nachwelt.<br />

"Wenn nur etwas Gutes <strong>von</strong> mir übrigbleibt und nachzuwirken<br />

vermag, so bin ich über mein Schicksal völlig getröstet" (an<br />

Goethe 7. August 1807). Dieser sehnliche Wunsch Zelters, etwas<br />

Bleibendes zu hinterlassen, ging in Erfüllung: zwar <strong>nicht</strong> der<br />

Komponist, aber der Schriftsteller Zelter schuf Unvergängliches.<br />

Bereits an seinem Grabe rühmte Schleiermacher, er sei "einer unserer<br />

ersten Meister geworden in der vaterländischen Sprache". Kein<br />

Wort hier<strong>von</strong> ist zuviel gesagt. Auf dem Gebiet, innerhalb dessen<br />

vor allem er zu schreiben verstand, dem des 'genre epistolaire',<br />

eroberte sich Zelter einen ersten Platz. Einmal weil hier der ganze<br />

Reichtum seiner vielfarbigen Persönlichkeit einen adäquaten<br />

sprachlichen Ausdruck fand; vor allem aber auch darum, weil<br />

<strong>nicht</strong> das geringste 'Literarische' diesen Briefen anhaftet - obgleich<br />

Zelter doch mit echter Künstlersorgfalt an ihnen feilte. Sie sind<br />

ganz und gar spontanes unmittelbares Leben. Dass Zelter es zu<br />

dieser Meisterschaft des Briefstils brachte, verdankte er seiner Verehrung<br />

für Goethe. Er hatte hier den Weg gefunden, dem Freund,<br />

mit Sokrates zu sprechen, kata dynamin, nach bestem Vermögen<br />

nützlich zu sein. Die vielen Stellen, in denen er jener Verehrung<br />

Ausdruck gab, gehören zum Schönsten in seinen Briefen. Sie bilden<br />

für sich einen stillen Weihebezirk, wie es ähnliche im Schrifttum<br />

der Welt <strong>nicht</strong> allzuviele gibt.<br />

Goethes Freundschaftsverhältnisse standen im ganzen unter<br />

keinem günstigen Stern. Bei den Empfindsamen, den Religiösen,<br />

den Stürmern und Drängern - den Kreisen, in denen besonders<br />

viel <strong>von</strong> Freundschaft geschwärmt wurde - galt er leicht als kalter<br />

361


zurückstoßender Antonio; für die Welt-, Hof- und Vernunftmenschen<br />

war er eher ein Tasso, entrückt in der Ferne seines Künstlerlebens.<br />

Fast immer fühlte man sich irritiert durch seine Überlegenheit,<br />

und dem älteren Goethe warf man noch dazu vor, dass er sich<br />

durch sein rastloses Arbeiten "den Freunden entzog". So war es<br />

ihm <strong>nicht</strong> oft vergönnt, sich freundschaftlich »vertrauend ohne<br />

Rückhalt hinzugeben« (TASSO). Dass ihm dies bei Zelter möglich<br />

war, macht seine Verbindung mit diesem Manne zu dem seltenen<br />

Glücks- und Ausnahmefall. Es war Zelters Verdienst, dahin zu gelangen,<br />

jede Seite des Menschen Goethe zu verstehen. Vielleicht<br />

weil er selbst mit seiner genialen Natur hoch genug stand, dass<br />

ihn des Freundes Größe <strong>nicht</strong> drückte. Vor allem aber, weil er Goethes<br />

Spruch aus den WAHLVERWANDTSCHAFTEN zu beherzigen verstand:<br />

"Gegen große Vorzüge eines andern gibt es kein Rettungsmittel<br />

als die Liebe."<br />

362<br />

Goethe und Eckermann<br />

Dr. Eckermann, ein junger, wahrhaft bedeutender Herankömmling, der sich<br />

mit aufrichtiger Neigung an meinem Tun, Schreiben, Treiben und Lassen<br />

ausgebildet hat, und mir gegenwärtig bei Redaktion der vielfachsten Papiere<br />

treuen Beistand leistet [ ... ]<br />

An C. F. Graf v. Reinhard, 2. Juni 1824<br />

Der getreue Eckart ist mir <strong>von</strong> großer Beihülfe. Reinen und redlichen Gesinnungen<br />

treu, wächst er täglich an Kenntnis, Ein- und Übersicht und<br />

bleibt, wegen fördernder Teilnahme, ganz unschätzbar.<br />

An C. F. Zelter, 14. Dezember 1830<br />

Eckermann versteht am besten, literarische Produktionen mit mir zu extorquieren<br />

durch den verständigen Anteil, den er an dem bereits Geleisteten,<br />

bereits Begonnenen nimmt. So ist er vorzüglich Ursache, daß ich den Faust<br />

fortsetze, daß die zwei ersten Akte des zweiten Teils beinahe fertig sind.<br />

Zu F. v. Müller, 8. Juni 1830<br />

Es ist <strong>nicht</strong> gut, daß der Mensch alleine sei, und besonders <strong>nicht</strong>, daß er alleine<br />

arbeite; vielmehr bedarf er der Teilnahme und Anregung, wenn etwas<br />

gelingen soll. Ich verdanke Schillern die Ach i 11 eis und viele meiner<br />

Ball ade n, wozu er mich getrieben, und Sie können es sich zurechnen,<br />

wenn ich den zweiten Teil des Faust zustande bringe. Ich habe es Ihnen<br />

schon oft gesagt, aber ich muß es wiederholen, damit Sie es wissen.<br />

ZU J. P. Eckermann, 7. März 1830<br />

Mein Verhältnis zu Goethe war eigentümlicher Art und sehr zarter Natur.<br />

Es war das des Schülers zum Meister, das des Sohnes zum Vater, das des<br />

Bildungs-Bedürftigen zum Bildungs-Reichen.<br />

Eckermann, Vorrede zum 3. Teil der G ESPRÄCHE<br />

363


kommen, damit das Kleinod der GESPRÄCHE das Licht der Welt erblicken<br />

konnte. Da war Eckermanns bewundernswerter Instinkt,<br />

der ihn schon in der Jugend <strong>von</strong> fern seine Bestimmung erahnen<br />

ließ; da war jene nachtwandlerische Sicherheit, mit der er stets die<br />

richtigen Wege einschlug - nach seinen eigenen Worten "wie die<br />

Tiere durch ihre Organe belehrt" -, um dorthin zu gelangen, wo<br />

die Lebensaufgabe seiner harrte; da war schließlich und vor allem<br />

die Stärke des Charakters, die ihn niemals vor den Opfern zurückschrecken<br />

ließ, wie sie ihm seine Sendung auferlegte. Mußte<br />

er doch, um seinen Platz bei Goethe behaupten zu können, jeden<br />

Gedanken an bürgerliche Sekurität hintanstellen. Warnender<br />

Freunde und der klagenden Braut <strong>nicht</strong> achtend, ließ er Jahr um<br />

Jahr verstreichen, in denen er sich eine 'Existenz' hätte gründen<br />

können und müssen: Goethe zu dienen war ihm wichtiger. So blieb<br />

er ein armer Mann bis an sein Ende, und für das Buch, dem er<br />

seine Unsterblichkeit verdankt, war ein zerschelltes Leben der<br />

Preis.<br />

Einzigartige moralische Kräfte ließen Eckermann die kaum<br />

überdurchschnittliche Mitgift natürlicher Gaben zusammenraffen<br />

zur fruchtbaren Tat. Dass es nötig sei, um höherer Zwecke willen<br />

Opfer zu bringen, zu entbehren, zu entsagen, diese Lebenslehre<br />

Goethes war ihm zum Evangelium geworden - Eckermann war<br />

einer der ersten, wenn <strong>nicht</strong> überhaupt der erste und auf lange<br />

hinaus der einzige, der mit dieser Lehre rigoros Ernst machte. <strong>Ihr</strong>er<br />

Realisierung durch die Tat kam eine tief in seiner Natur begründete<br />

Tendenz entgegen: eine Art Kreuzfahrergesinnung, die<br />

ihn <strong>von</strong> früh auf beherrscht. "Der guten Sache dienen" - "für die<br />

gute Sache etwas tun" - in den "Streit des Rechten und Verkehrten"<br />

aktiv eingreifen, das waren typisch Eckermannsche Devisen.<br />

Unter ihnen griff schon der Student zur Feder, um die BEYTRÄGE<br />

ZUR POESIE MIT BESONDERER HINWEISUNG AUF GOETHE zu schreiben, das<br />

Buch, das ihm den Weg nach Weimar bahnte. Von der 'Sache' her<br />

also wird Eckermann zu Goethe getrieben, <strong>nicht</strong> etwa <strong>von</strong> einem<br />

unklaren, zum Selbstzweck erhobenen Heroenkult! Dass in der<br />

Welt des Geistes und der Kunst vieles im Argen liegt, die 'gute<br />

Sache' Streiter braucht! damit <strong>nicht</strong> das 'Verkehrte' obsiege - das<br />

366<br />

ruft Eckermanns Aktivität auf den Plan. Zu Goethe stößt er, für<br />

Goethe kämpft er, weil er in ihm den Exponenten der guten Sache<br />

sieht. Noch an seinen GESPRÄCHEN ist ihm das Wichtigste, das<br />

sie geeignet seien, "die heilsamste Wirkung auf die Welt" - "auf<br />

den jetzigen Stand deutscher Kultur einen wohltätigen Einfluß<br />

auszuüben". Sie sind gleichsam ein Nachhutgefecht des <strong>von</strong> Go _<br />

the geführten bellum iustum: ein Buch bewußt geschrieben zu Nutz<br />

und Frommen des "Guten". Welch entscheidende Rolle dies r<br />

Trieb, sich der "guten Sache" zur Verfügung zu stellen, in sein m<br />

Leben spielt, darüber spricht sich eine briefliche Äußerung des alten<br />

Eckermann bescheiden-deutlich aus: "Es liegt in meiner N •<br />

tur, das Gute unbedingt zu verehren, und wenn aus mir etwas g _<br />

worden ist und noch ferner werden möchte, so verdanke ich<br />

lediglich dieser meiner Einrichtung; sintemalen mein Wissen ni ht<br />

weit her ist und meine Lebensumstände sehr widerwärtiger N •<br />

tur waren und noch sind."<br />

Das Arbeits- und Freundschaftsverhältnis zwischen Goethe und<br />

Eckermann hatte zur Grundlage die gemeinsame Herausgabe d r<br />

Goetheschen Schriften. Hier entfaltete Eckermann, durchdrun n<br />

vom Gefühl seiner Mission, für des Dichters" Wirkung in d r<br />

Gegenwart" etwas tun zu müssen, eine fruchtbare, <strong>von</strong> Goeth mit<br />

reichem Lob bedachte Tätigkeit. Bald wurde er für den Dicht r in<br />

so unentbehrlicher Berater bei allem Schaffen, wie es in früh r r<br />

Zeit nur Schiller gewesen war. Er wußte als anregender Kritik<br />

Ergänzungen und Korrekturen zu "fordern", er verstand zu in j.<br />

rieren und zu "treiben". Der realen Auswirkung nach übertraf in<br />

Einfluß selbst den Schillers: kein geringeres Werk als der FAu r­<br />

TRAGÖDIE ZWEITER TEIL ist dem unablässigen Drängen Eck rm nn<br />

zu verdanken. Auch in Goethes Naturwissenschaft war er im < uf<br />

der Jahre so eingedrungen, dass er für die Herausgabe des n turwissenschaftlichen<br />

Nachlasses vorgesehen wurde. Goeth 'Ti t .<br />

ment gibt dann die eindeutige Bestätigung, bis zu welch m f< _<br />

de Eckermann in die Stellung des nächsten Vertrauten gerü kt w, r.<br />

Ihm wurde die Veröffentlichung des gesamten literarisch n N hlasses<br />

übertragen, ihm der Schlüssel zu dem Kasten ausgehän t,<br />

in dem sich die Manuskripte zum 11. Teil des FAu T, zum .IV. iI<br />

3 7


ten."5 Diese Worte des siebzigjährigen Goethe können unserem<br />

Unternehmen in vieler Hinsicht als Leitsatz dienen. Mit ihnen<br />

wollte er die Schwierigkeiten veranschaulichen, die sich dem Erhellen<br />

chronologisch-entstehungsgeschichtlicher Verhältnisse bei<br />

seinen Werken entgegenstellen, und zugleich dartun, dass man solchen<br />

Schwierigkeiten nur begegnen könne durch gründliche umfassende<br />

Arbeit. 6 Von besonderem Interesse in unserem Zusammenhang<br />

ist, dass Goethe, indem er hier selbst auf die eigentümlich<br />

enge Verbindung seiner Werke mit ihrem entstehungsgeschichtlichen<br />

Hintergrund zu sprechen kommt, das eigene Schaffen ganz<br />

aus der Perspektive des Morphologen sieht. Wie die Gebilde der<br />

Pflanzenwelt, so deutet er an, verdanken seine schriftstellerischen<br />

Bemühungen ihr Dasein und Sos ein dem oft komplizierten Zusammenwirken<br />

bestimmter biologischer Bedingungen. Diesen Bedingungen,<br />

dem Lebensboden, auf dem seine Werke wurzelten und<br />

wuchsen, wird man daher sorgfältige Aufmerksamkeit zuwenden<br />

müssen. Ohne Kenntnis der jeweiligen Wachstumsvoraussetzungen<br />

bleibt die Pflanze als Gebilde rätselhaft; man kann sie <strong>nicht</strong> als<br />

fertige Form allein aus sich erklären. Nicht anders steht es mit Goethes<br />

Werken. Isoliert, als Einzelheiten betrachtet, erschließen sie sich<br />

nur ungenügend und teilhaft. <strong>Ihr</strong> Wurzeln und Wachsen gilt es zu<br />

erforschen, vor allem aber den Boden, der sie so und <strong>nicht</strong> anders<br />

hervorbrachte. Dem Einfluß des Bodens auf Wachstum und Gestalt<br />

der Pflanzen hatte Goethe schon frühzeitig Beachtung schenken<br />

gelernt, als seine ersten morphologischen Er<strong>kennt</strong>nisse in ihm<br />

zu reifen begannen. 7 Wenn er nun im Alter die entstehungsgeschichtlichen<br />

Voraussetzungen seiner Werke ganz nach der Weise<br />

des Morphologen als deren Lebensb 0 den ansieht, so charakterisiert<br />

das spezieller die Bedeutung, die er ihnen zuerkannte.<br />

5 S. SUMMARISC HE JAHRESFOLGE GOETHE'SCHER ScHRIFTEN (WA 142', 81).<br />

6 Goethe nahm die obigen Worte als Ausgangspunkt, um zu erklären, dass er eine<br />

umfangreiche 'autobiographische Schrift - die T AG- UND JAHR ES-HEFTE - dem Zweck<br />

widmen wolle, Licht in die Entstehungsverhältnisse seiner Arbeiten zu bringen.<br />

7 Vgl. denAbschnitt D ER VERFASSER THEILT DIE GESCHICHTE SEINER BOTANISCHEN STUDIEN MIT<br />

im dritten Druck der METAMORPHOSE DER PFLANZEN (WA II 6, 120 0.<br />

374<br />

Dem Philologen erwächst hieraus die Verpflichtung, sich Goethes<br />

morphologische Betrachtungsweise gleichfalls zu eigen zu machen.<br />

Er muß nach Möglichkeit das Werk wieder mit dem zu ihm<br />

gehörigen Lebensboden vereinigen. Notwendige Voraussetzung zur<br />

Erreichung dieses Ziels aber ist die Kenntnis des entstehungsgeschichtlichen<br />

Zeugnismaterials. Dieses Material repräsentiert jenen<br />

Lebensboden, wenn auch <strong>nicht</strong> ausschließlich, so doch in seinen<br />

wichtigsten Bestandteilen; es spiegelt ihn wieder, für uns <strong>nicht</strong><br />

anders als für Goethe: ihm hatte sich der oben angeführte morphologische<br />

Vergleich bezeichnenderweise aufgedrungen nach intensiver<br />

Betrachtung derartigen Materials.<br />

Jeder Versuch, Klarheit und Ordnung zu bringen in die entstehungsgeschichtlichen<br />

Verhältnisse - das was Goethe den schwer<br />

zu entwirrenden Knaul nannte - wird also mit der Sichtung des dokumentarischen<br />

Materials beginnen müssen. Dabei wird die Vereinigung<br />

<strong>von</strong> Werk und zugehÖrigem Lebensboden mehr eintragen als<br />

bloße historische Er<strong>kennt</strong>nis. Sie kann uns helfen, ein lebendiges<br />

Verhältnis wiederzugewinnen zu vielen Werken, die uns so fremd<br />

geworden sind, dass sie praktisch nur noch ein Schattendasein führen.<br />

Von den üblichen 36 oder 40 Bänden der Goetheausgaben in<br />

unseren Bücherschränken - wie viele pflegen unbenutzt zu bleiben,<br />

weil die darin enthaltenen Schriften keinen Aspekt darbieten,<br />

<strong>von</strong> deII) aus sie uns interessant erscheinen könnten. Da wir <strong>nicht</strong><br />

mehr wahrnehmen, was Goethe bewegte, als er sie schrieb, bewegen<br />

sie auch uns <strong>nicht</strong> mehr. Unverstandene Werke aber geraten in<br />

Vergessenheit. Bleiben wir in der Bildsprache <strong>von</strong> Goethes Vergleich,<br />

so ließe sich sagen: wie eine Pflanze ohne den rechten, ihr<br />

zuträglichen Boden <strong>nicht</strong> existenzfähig bleibt, so ist auch das echte<br />

Leben vieler Goethescher Werke in Gefahr zu verdorren, sofern sie<br />

getrennt bleiben <strong>von</strong> dem ihnen zugehörigen Boden, in dem sie wurzelten<br />

und wuchsen.<br />

Wenn die entstehungsgeschichtlichen Dokumente, wie wir sahen,<br />

besonders den wissenschaftlichen Zweig <strong>von</strong> Goethes Schaffen<br />

zu erhellen vermögen, so ist das <strong>von</strong> erheblicher Bedeutung, da<br />

gerade viele Schriften dieser Gattung zu den unverstandenen und<br />

vergessenen gehören. Es hat den Anschein, dass Goethe bei jen m<br />

75


nen Aufsatz Schillers für die Prophyläen mit der Wendung quittiert:<br />

"Meine Per 0 rat ion, die Sie mir zum Theil weggenommen<br />

haben ... "18 Auch dass Goethe kleinere Einschübe und Überleitungen<br />

innerhalb umfangreicher Schriften mit Vorliebe als<br />

"E i n red e" oder "Z w i s c h e n red e" bezeichnet l9 , weist darauf<br />

hin, dass er sich oft beim Schreiben in die Situation des Redners<br />

versetzt fand. Endlich ist als besonders wichtiges Zeugnis in<br />

diesem Zusammenhang auf das Schreiben an Riemer vom 20. Juni<br />

1813 hinzuweisen, das in breiter Ausführlichkeit erkennen läßt,<br />

welche Rolle r h e tor i s c h e Eie m e n t e bei der Abfassung<br />

<strong>von</strong> DICHTUNG UND WAHRHEIT spielten, wobei Ernesti' s Lehrbuch über<br />

antike Rhetorik zur Orientierung diente.2o<br />

Betrachtet man Goethes wissenschaftliche Arbeiten unter diesem<br />

Gesichtspunkt: dass sie auch Dokumentationen seiner Rednergabe<br />

sind, so wird es immer deutlicher, warum er in dem morphologischen<br />

Vergleich besonders auf den zu diesen Werken<br />

gehörigen Lebensboden hinweist. Für das Verständnis rhetorischer<br />

Äußerungen ist die Kenntnis entstehungsgeschichtlicher Bedingungen<br />

unentbehrlich. Auch eine Rede Ciceros ist <strong>nicht</strong> aus sich, <strong>nicht</strong><br />

als Einzelheit zu verstehen, sie kann nur im Zusammenhang mit<br />

den historischen Begleitumständen erklärt und gewürdigt werden.<br />

Dementsprechend kommt den Zeugnissen zur Entstehungsgeschichte<br />

<strong>nicht</strong> zuletzt die wichtige Funktion zu, den historischen<br />

Hintergrund sichtbar zu machen, auf dem Goethes Beredsamkeit<br />

sich manifestierte. Seine Redegabe, <strong>von</strong> der Goethe in DICHTUNG<br />

UND WAHRHEIT bedauernd sagt, er habe sie <strong>nicht</strong> praktisch zur Anwendung<br />

bringen können, weil "sich bei seiner Nation <strong>nicht</strong>s zu<br />

reden fand "21, - in seinen wissenschaftlichen Schriften machte er<br />

wenigstens mittelbar <strong>von</strong> ihr Gebrauch.<br />

***<br />

18 An Schiller 30. Sept 1800 (WA IV 15, 125).<br />

19 So im Historischen Teil der FARBENLEHRE, in der CAMPAGNE IN FRANKREICH und in den<br />

NarEN UND ABHANDLUNGEN ZU BESSEREM VERSTÄNDNIß DES WEST-ÖSTLICHEN DIVANS.<br />

20 s. EGW 2, 455 m. Anm. 1.<br />

21 DICHTUNG UND WAHRHEIT Buch 10, Schluß (WA 127,374).<br />

378<br />

Da in dieser Sammlung erstmalig die Entstehungsgeschichten <strong>von</strong><br />

Goethes wissenschaftlichen Arbeiten ans Licht treten, sei zusammenfassend<br />

auf einige typische Möglichkeiten der Wechselbeziehungen<br />

zwischen Werk und dokumentarischem Supplement hingewiesen<br />

mit Bezug auf Beispiele aus den ersten jetzt vorgelegten<br />

Bänden. Zunächst sind zwei Vorteile, die das dokumentarische Material<br />

bietet, als besonders wesentlich hervorzuheben:<br />

1. Es versetzt uns unmittelbar in den Zeitmoment, in dem eine<br />

Schrift entstand, Anlässe und Anregungen rücken ins historische<br />

Licht, was <strong>von</strong> besonderer Wichtigkeit ist angesichts der Tatsache,<br />

dass Goethes schriftstellerische Verlautbarungen fast immer Aktionen<br />

oder Reaktionen darstellen. Bei seinem poetischen Schaffen<br />

pflegen wir auf Anlässe und Anregungen achtzuhaben, da wir<br />

längst wissen, wie sehr Goethes Poesie 'G eie gen h e i t s d ich -<br />

tun g' ist. Aber die Gelegenheit spielt bei den Arbeiten des Gelehrten<br />

Goethe eine <strong>nicht</strong> minder wichtige Rolle. Sie bildet auch hier<br />

meist den Lebenspunkt, aus dem heraus der Organismus eines Werkes<br />

wächst. Dieses muß daher im Bereich jener Aktualität gesehen<br />

werden, in dem es entstand. Gerade das über die ersten Anlässe<br />

zu derlei Arbeiten Aufschluß gebende dokumentarische Material<br />

wurde mit besonderer Sorgfalt gesammelt, in vielen Fällen erstmalig<br />

vorgeführt. Im Hinblick auf die rhetorische Seite <strong>von</strong> Goethes<br />

wissenschaftlichem Schrifttum wird die Er<strong>kennt</strong>nis des geschichtlichen<br />

Augenblicks mit seinen Eingebungen und Einflüssen<br />

besonders wertvoll. Vom philologischen Gesichtspunkt endlich gesehen<br />

sind selbstverständlich alle aktuellen Verlautbarungen, die<br />

einen Goetheschen Text beeinflußten, <strong>von</strong> hervorragender Bedeutung;<br />

und hier bieten die Sekundärzeugnisse eine Fülle <strong>von</strong> Quellenmaterial,<br />

auch <strong>von</strong> bisher völlig unbekanntem.<br />

2. Das dokumentarische Supplement bringt ferner unmittelbar<br />

zur Anschauung die Beziehungen zu Menschen, die Goeth s<br />

wissenschaftliches Arbeiten durchweg mitbestimmen, ohne die<br />

<strong>nicht</strong> zu denken und zu verstehen ist. Es war schon da<strong>von</strong> di Rde,<br />

welche Bedeutung in dieser Hinsicht der Teilnahme befr undeter<br />

Gelehrter, aber auch Goethes eigener Teilnahme an d n Angelegenheiten<br />

anderer zukommt. Wa s die erstere betrifft ,<br />

7


eweisen viele einschlägige Artikel dieser Sammlung, wie sehr der<br />

endgültige Text eines Werkes durch Mitteilungen anderer bestimmt<br />

ist. Nicht nur auf die vorgetragenen Meinungen und Resultate, sondern<br />

auch auf das jeweilige rednerische Gewand wirkten sich solche<br />

- zustimmenden oder verneinenden - Mitteilungen aus. Sichtbar<br />

wird dabei aber auch ein anderer wesentlicher Umstand, über<br />

den man sich bisher kaum genügend Rechenschaft gab. Fast zu<br />

jeder Schrift gehört gleichsam ein bestimmtes menschliches Klima,<br />

das, einmal erkannt, <strong>von</strong> ihr <strong>nicht</strong> mehr wegzudenken ist. Welche<br />

Menschen überhaupt bei der Entstehung einer Schrift nahestanden,<br />

so das sie in Betracht und ins Vertrauen gezogen wurden, mitsprechen<br />

oder mitwirken durften: da<strong>von</strong> wird der gesamte innere<br />

und äußere Habitus eines Werks entscheidend mitbestimmt; es gilt<br />

das übrigens in begrenzterem Maß auch <strong>von</strong> dichterischen Arbeiten:<br />

soweit Goethe überhaupt während ihrer Entstehung Freunde<br />

ins Vertrauen zog, ist es <strong>von</strong> natürlicher Bedeutung, wer diese Freunde<br />

waren. - Die umfangreiche Gruppe derjenigen wissenschaftlichen<br />

Schriften, die durch Goethes Teilnahme an den Bestrebungen<br />

Dritter hervorgerufen wurden, umfaßt vor allem rezensionsartige<br />

Schriften. Das dokumentarische Material bringt an den Tag, was<br />

diese Arbeiten selbst <strong>nicht</strong> erkennen lassen: welchen Belastungen<br />

Goethe dadurch ausgesetzt war, dass ihm als dem einflußreichsten<br />

Kritiker der Zeit Bitten um öffentliche Fürsprache und Empfehlung<br />

im Übermaß zugingen. Erstaunlich ist es zu sehen, was Goethe<br />

es sich kosten ließ, solche Bitten zu erfüllen. Nicht zuletzt sind<br />

aber auch <strong>von</strong> Interesse die vielerlei Fälle, in denen er aus äußeren<br />

oder inneren Gründen <strong>nicht</strong> imstande war, den an ihn gestellten<br />

Forderungen so zu entsprechen, wie man es erwartete. So kam die<br />

Besprechung <strong>von</strong> Boisseree's Domwerk niemals zustande, um die,<br />

mit jahrelangem Werben, Boisseree ihn gebeten hatte. Goethe mußte<br />

andere Wege gehen, um auf seine Weise die Bemühungen des Freundes<br />

nach Kräften zu propagieren. 22 So unterblieb auch die erbetene<br />

Fortsetzung der Kritik <strong>von</strong> DES KNABEN WUNDERHORN 23 oder die der<br />

22 s. den Artikel ,,5. Boisseree:Ansichten, Risse ... des Doms zu Köln" (EGW 1, 351 ff.).<br />

23 s. den Artikel "Arnim und Brentano: Des Knaben Wunderhorn" (EGW 1, 146 ff.).<br />

380<br />

Gries' schen Calderonübersetzung: 24 in allen derartigen Fällen ist<br />

Goethes Reserve, wie sie das dokumentarische Material erkennen<br />

läßt, <strong>nicht</strong> weniger <strong>von</strong> Interesse, wie seine zunächst durch öffentliche<br />

Verlautbarungen bezeugte Hilfsbereitschaft. - Auf eine weitere<br />

Gruppe <strong>von</strong> Schriften sei in diesem Zusammenhang noch hingewiesen,<br />

weil die Entstehungszeugnisse besonders eindrücklich<br />

erkennen lassen, wie überragend Goethes Autorität auf wissenschaftlichem<br />

Gebiet war. Nicht selten wurde er <strong>von</strong> hervorragenden<br />

Fachgelehrten um Gutachten über spezielle Probleme ersucht.<br />

Liest man diese Gutachten isoliert, so bildet ihr Text eine verhältnismäßig<br />

spröde Lektüre. Erfährt man aber aus den Entstehungszeugnissen,<br />

wie berühmte Zeitgenossen ihnen den Wert einer<br />

wissenschaftlichen Weissagung beimaßen, so gewinnt auch diese<br />

Art <strong>von</strong> Schriften ein lebendiges Interesse innerhalb des weiten<br />

Bereichs der für Goethes Gelehrtentätigkeit so charakteristischen<br />

menschlichen Beziehungen.25<br />

Unter den im Vorstehenden angeführten Gesichtspunkten betrachtet,<br />

wird das dokumentarische Supplement zu den meisten<br />

wissenschaftlichen Arbeiten wertvolle Aufschlüsse geben. In gewissen<br />

Fällen kommen demselben darüber hinaus noch Funktionen<br />

besonderer Art zu. Auf einige der wichtigsten sei hier hingewiesen.<br />

Vielfach spricht das entstehungsgeschichtliche Zeugnismaterial<br />

eine allgemeinverständlichere Sprache als das betreffende Werk<br />

selbst. Diese Tatsache kommt unter Umständen dem Verständnis<br />

solcher Arbeiten besonders zugute, die sehr entschieden im Rahmen<br />

einer wissenschaftlichen Disziplin gehalten sind. Die ersten<br />

Bände dieser Sammlung bieten hierfür eindrucksvolle Beispiele,<br />

vor allem in den Artikeln zu den Aufsätzen: BEYTRÄGE ZUR OPTIK<br />

und DEM MENSCHEN WIE DEN THIEREN IST EIN ZWISCHEN KNOCHEN 0 R<br />

OBERN KINNLADE ZUZUSCHREIB EN. Beide Schriften, die Erstveröffentlichungen<br />

auf dem Gebiet der Farbenlehre und der Osteologie, ge-<br />

24 s. den Artikel "Calderon: Die Tochter der Luft" (ECW 2, 17 ff.) .<br />

25 s. die Artikel "Über Bildung <strong>von</strong> Edelsteinen" (EGW 1, 281 ff.); "Üb reine altd utsche<br />

Taufschale" (ECW 1, 28 ff.); " Das Deutsche Recht in Bildern" (EGW 2,322 H.).<br />

3 1


Goethe und Eckermann - Zum Gedächtnis Johann Peter Eckermanns. In: GOE­<br />

THE. Neue Folge des Jahrbuchs der Goethe-Gesellschaft. Bd. 16. Weimar, 1954.<br />

S. XI-XIII.<br />

Zur Entstehung <strong>von</strong> Goethes Werken. - Einleitung (auszugsweise): Momme<br />

Momrnsen unter Mitwirkung <strong>von</strong> <strong>Katharina</strong> Momrnsen, DIE ENTSTEHUNG<br />

VON GOETHES WERKEN IN DOKUMENTEN. Bd. I. Berlin: Akademie Verlag, 1958.<br />

S. XIII - XXXIX.<br />

392<br />

Abälard (Abeillard, Abelard) Peter,<br />

Scholastiker und Theologe 0079-<br />

1142) 190-196,211.<br />

Historia calamitatum 192-195.<br />

Achilles (Achilleus), Hauptheld in<br />

Homers Ilias 96, 225.<br />

Aeschylos (Aeschylus, Äschylus,<br />

Aischylos)<br />

Agamemnon 183,344.<br />

Eumeniden 170.<br />

Albrecht, Joh. Georg, Rektor in Frankfurt<br />

324.<br />

Alkaios, attischer Komödiendichter<br />

mytholog. Travestien 157.<br />

Allemann, Beda 114,145,180.<br />

Anakreon, ionischer Lyriker 150.<br />

Äneas-Mythos 208.<br />

Angelloz,Jean-Fran\ois 387.<br />

Anna Amalia, Herzogin <strong>von</strong> Sachsen­<br />

Weimar-Eisenach 311. ,<br />

Aphrodite 137,168.<br />

Apollo (Apollon) 127, 138, 174,246 (A.<br />

<strong>von</strong> Belvedere) 348.<br />

Apollodor (<strong>von</strong> Athen) 143.<br />

Aratos (aus Soloi in Kilikien) griech.<br />

Dichter.<br />

Scholien 211.<br />

Ariosto, Lodovico, itai. Dichter 0474-<br />

1533) 344.<br />

Aristides, P. Aelius 146,151,166,171<br />

Dionysos 146.<br />

Aristogeiton, griech. Jüngling, Freund<br />

des Harmodios, mit ihm beim gemeinsamen<br />

Tyrannenmord 514 v.<br />

Chr. getötet 96.<br />

Register<br />

Personen und Werke<br />

Aristophanes, Athener Komödiendichter<br />

des 4. Jhts. v. Chr.<br />

Nubes (Die Wolken) 170,213.<br />

Pax (Frieden; Scholien) 165.<br />

Ranae (Die Frösche) 165, 170,<br />

213.<br />

Vespae (Die Wespen) 159.<br />

Aristoteles 221,226,366.<br />

Nikomachische Ethik 226.<br />

Arnim, LudwigAchim <strong>von</strong> 380.<br />

Des Knaben Wunderhorn 380.<br />

Athenaios (aus Naukratis in Ägina,<br />

Anf. des 3. Jh. n. Chr. in Rom). Poikilograph;<br />

viele literar. Fragmente<br />

nur durch ihn überliefert 137,<br />

150f., 159.<br />

Augustus, röm. Kaiser (Julius Caesar<br />

Octavianus) 154.<br />

Bacchus s. Dionysos.<br />

Basedow, Johann Bernhard 338.<br />

Baudelaire, Charles 32.<br />

Baumgart, Hermann 344, 348.<br />

Bayern, König Ludwig I. <strong>von</strong> 308.<br />

Beaulieu-Marconnay, Henriette <strong>von</strong><br />

300.<br />

Beattie, James 219.<br />

Beck, Adolf 53f., 57f., 64.<br />

Behrisch, Ernst Wolfgang 335.<br />

Beißner, Friedrich 95,101,132,144,152,<br />

170,175,182,187.<br />

Berington, Joseph 191.<br />

Bernhard, Prinz <strong>von</strong> Weimar 383.<br />

Bertuch, Friedrich loh. }ustin 317.<br />

Beutler, Ernst 348.<br />

393


<strong>Bibel</strong> 1-8,11 (Menge-B.), 12, 14-16, 20,<br />

22f., 132f., 220, 278, 28lf., 324, 339.<br />

Altes Testament 1,5, 8f., 11, 13-16,<br />

339.<br />

Das Buch Esra 7.<br />

Das Buch Nehemia 7.<br />

Das Buch Ruth 7, 344.<br />

Das Buch Josua 6.<br />

Das Hohelied Salomonis 351.<br />

David. 7 (Mose) 344.<br />

Der Prophet Hesekiel 1,10-13.<br />

Der Prophet Hosea 6,10f.<br />

Der Prophet Jeremia 2f.,9-11 .<br />

Der Prophet Jesaia 9f.<br />

Der Prophet Micha 10.<br />

Der Prophet Sacharia 13.<br />

Könige 3, 8f., 13.<br />

Leviticus 132.<br />

Mose 5-7, 8f., 14f., 59, 132.<br />

Pentateuch 7, 132.<br />

Prediger Salomon 254.<br />

Propheten 59.<br />

Psalmen 6, 8,10,13 f., 344<br />

(David).<br />

NeuesTestament 10f., 166,224,281.<br />

Apostelgeschichte 10.<br />

Lukas 2.<br />

Matthäus 10.<br />

Johannes-Evangelium 193, 278.<br />

Paulus an die Korinther 6.<br />

Paulus an die Philipper 281.<br />

Binder, Wolfgang 162,206,219.<br />

Birus, Hendrik 344.<br />

Boehringer, Robert 21, 30.<br />

Böhlendorff, C. U 117.<br />

Böhm, Wilhelm 65,67,69,72,78,84,<br />

92,97,99,101,211.<br />

Böhme, Jakob 219.<br />

Boisseree, Sulpiz 235,349,377, 380.<br />

Kölner Domwerk 380.<br />

Tagebücher 235,349.<br />

Bollacher, Martin 222.<br />

Bollak, Jean 108.<br />

394<br />

Bonaparte, Napoleon 25,358.<br />

Borcherdt, Hans Heinrich 53,64.<br />

Bossi, Giuseppe 377.<br />

Böttiger, Karl August 345.<br />

Brasch, Hans 23.<br />

Bräuning-Oktavio, Hermann 370.<br />

Brentano, Bettina 293,311,334.<br />

Brentano, Clemens 293.<br />

Des Knaben Wunderhorn 380.<br />

Brentano, Maximiliane geb. Laroche<br />

294f.<br />

Brentano, Peter Anton (Kaufmann)<br />

293.<br />

Breysig, Kurt 3.<br />

Stefan George 3.<br />

Brion, Friederike 321,323,332 (Sesenheimer<br />

Kreis) 336.<br />

Brockes, Barthold Hinrich 223.<br />

Bruno, Giordano 219.<br />

Burdach, Konrad 348.<br />

Cäcilia s. Metella, Caecilia.<br />

Calderon de la Barca, Don Pedro 381.<br />

Die Tochter der Luft 381.<br />

CarlAugust, Herzog/Großherzog <strong>von</strong><br />

Sachsen-Weimar-Eisenach 260,<br />

274,359,377.<br />

Carlyle, Thomas 346.<br />

Cäsar (L. Julius Caesar, röm. Imperator)<br />

17.<br />

Catull (c. Valerius Catullus, bahnbrechend<br />

als röm. Elegiker) 146,170,<br />

174.<br />

Ceres-Mythos (Demeter) 213.<br />

Christus 130 f., 142, 147, 148 (c. u.<br />

Dionysos) 160 f., 162 ('Bruder' d.<br />

Herakles) 163,165-167,174,181-<br />

182f., 212-214, 275f., 278-282, 288,<br />

290,294,295,306.<br />

Cicero, M. Tullius Cicero, Meister der<br />

lat. Rede, (106-43 v. Chr.) 17, 156,<br />

377f.<br />

Epistulae ad familiares 17.<br />

De finibus 214.<br />

De natura deorum 154, 156.<br />

In Verrem 154.<br />

TuscuIanae disputationes 214.<br />

Colerus (Coler), Johannes 279.<br />

La vie de Spinoza 279.<br />

Conta, Carl Friedrich <strong>von</strong> 309.<br />

Cotta, Joh. Friedrich <strong>von</strong> 60,102,<br />

315.<br />

Dädalus-Mythos 70f.<br />

Dante, Alighieri 20,22, 24f., 240, 307.<br />

Comedia: Fegefeuer 21; Paradiso 22.<br />

Demeter-Mythos (Ceres) 213.<br />

Demokrit (Democritus) griech. Philosoph<br />

107.<br />

Dilthey, Wilhelm 370.<br />

Diodor (Diodorus Siculus), griech.<br />

Geschichtschreiber im 1. Jh. v Chr.<br />

118,137.<br />

Historische Bibliothek 118,120,137-<br />

139,143,152,165,208,209.<br />

Dion (<strong>von</strong> Syrakus), Jünger des Platon<br />

96.<br />

Dionysos (Bacchus) 108, 113, 117,<br />

121,135-184,137 (Bacchus-Oden),<br />

138f. (D.-Melpomenos, Musagetes),<br />

140 (Gleichsetzung des<br />

Dichters mit Bacchus), 142f. (Gott<br />

der Dichter, Thyoneus, Bacchus­<br />

Ode des Horaz), 144, 147 (Doppelnatur),<br />

147 (Gott der Dichtung),<br />

147, 148 (Christus u. D.),<br />

149 (D.-Kult), 150 (Bacchus­<br />

Lyaeus), 154 (Theodaisios, Beiname),<br />

155, 158 (Euhius, iocosus<br />

Liber, Lyaeus), 164 (Gott d. Dichter),<br />

165 (Liber pater, Eroberer u.<br />

Friedensgott, Horaz' Bacchus­<br />

Ode), 167 (Christus u. D.), 167<br />

(Gesetzgeber), 173f., 175 (D. u.<br />

Herakles), 183 (D. u. Christus),<br />

200, 201, (Rousseau), 205, 209,<br />

212,213 (D.-Iakchos), 213, 214, 272,<br />

(Bacchus).<br />

Dioskuren (Kastor und Pollux) 87.<br />

Dschami (pers. Dichter Maulana Nur<br />

od-DinA'bdor-Rachman) 351.<br />

Medschnun und Leila 351.<br />

Dschingis-Khan, mongoI. Eroberer<br />

25.<br />

Düntzer, Heinrich 343,347.<br />

Dusch, Jos. Jakob 192.<br />

Eckermann, Johann Peter 25,236,281,<br />

287, 30lf., 313, 315f., 336f., 342,<br />

346,364-368,372,392.<br />

Bey träge zur Poesie mit besonderer<br />

Hinweisung auf Goethe 364 f.,<br />

368.<br />

Gespräche mit Goethe 366, 368.<br />

Eichstädt, Heinrich CarlAbraham 221,<br />

318.<br />

Eiselein, Joseph (Editor:)<br />

Winckelmanns sämtliche Werke IX,<br />

213.<br />

Empedokles (<strong>von</strong> Akragas) 57, 112 f.,<br />

118, 120f., 123, 129, 139, 155, 226,<br />

238,245,273.<br />

Enkelados-Mythos 208.<br />

Enweri (pers. Dichter Anwar) 25.<br />

Ernesti, Johann Christian Gottlieb 378.<br />

Eubulos, griech. Komödiendichter 159.<br />

Euripides, griech. Tragödiendichter<br />

(ca. 480-407 v. Chr.) 53, 90, 98-100,<br />

117f., 14lf., 146, 149f., 152 , 154,<br />

157-159,165,170,184,391.<br />

Bakchen. (Bacch.) 108, 117, 14lf.,<br />

144,146,149,152,157-159,165, 170,<br />

184,212-214.<br />

Cyclops 159.<br />

Hekabe (Hecuba) 90,98-100,146.<br />

Ion 149,170,213.<br />

Iphigenie in Aulis 150.<br />

Iphigenie auf Tauros 170.<br />

Orestes 96,100,118,227.<br />

395


Phoinissai (Phoeniss.) 170,213.<br />

Troades 149.<br />

Euryalos, trojan. Jüngling in der Begleitung<br />

des Aeneas, berühmt durch<br />

seine Schönheit und Freundschaft<br />

mit Nisus, mit dem er gemeinsam<br />

den Tod findet. (Vergil, Aeneis 9,<br />

177-445) 90,95-97.<br />

Fabius Maximus (Verrucosus), Quintus<br />

154.<br />

Fahlmer, Johanna 295.<br />

Falk, Joh. Daniel 236.<br />

Fichte, Johann Gottlieb 65,79,218,221,<br />

355.<br />

Fischer-Lamberg, Hanna 296.<br />

Flach, Willy 370.<br />

Fontane, Theodor 264.<br />

Franz, Viktor 370.<br />

Friedrich der Große, König <strong>von</strong> Preußen<br />

337.<br />

Fulbert, Kanonikus <strong>von</strong> Notredame<br />

194.<br />

Gaedertz, Karl Theodor 345.<br />

Gellert, Christian Fürchtegott 335.<br />

George, Stefan 1-5,7-9,11-15,20-31,<br />

33-52, 61, 112, 120, 133, 184, 216,<br />

39I.<br />

Blätter für die Kunst 36.<br />

Das Jahr der Seele 29.<br />

Das Neue Reich 1, 20, 37, 184.<br />

Der Krieg 1 f., 6, 11 f., 14, 16, 21-<br />

26, 184, 390.<br />

Der Letzte der Getreuen 20.<br />

Geheimes Deutschland 26,52.<br />

Der Siebente Ring 16, 25, 28-30,<br />

34,37,41,51 f.<br />

Aachen: Graboeffner 48.<br />

Bamberg 49.<br />

Bild: einer der 3 Könige 50.<br />

Brücke 29f., 35.<br />

Einzug 25,29.<br />

396<br />

Franken 29,34,216.<br />

Jahrhundertspruch 50.<br />

Ein Vierter: Schlacht 50.<br />

Ein Fünfter: Östliche Wirren 50.<br />

Rhein (Blüht am hange <strong>nicht</strong> die<br />

rebe?) 28,34.<br />

Rhein: I. Ein fürstlich paar geschwister<br />

hielt in frone 34 f.,<br />

4Of., 47f.<br />

Rhein: II. Einer steht auf und<br />

schlägt mit mächtiger gabel 34,<br />

4Of., 45f.<br />

Rhein: III. Dann fährt der wirbel<br />

aus den tiefsten höllen 34,35,<br />

40f.<br />

Rhein: IV. Nun fragt nur bei dem<br />

furchtbaren gereut 34-36,40 f.,<br />

43f.<br />

Rhein: V. Dies ist das land: solang<br />

die fluren strotzen 34,36,40 f.<br />

Rhein: VI. Sprecht <strong>von</strong> des Festes<br />

<strong>von</strong> des Reiches nähe 34, 36f.,<br />

40f.<br />

Tafeln 25,28,34-37,40 f., 44-46,<br />

48, 5lf., 39I.<br />

Traumdunkel 29.<br />

Ursprünge 1,29,31,35,37.<br />

Wogen brachen aus einer tosenden<br />

see 40.<br />

Zum Abschluss des Siebenten<br />

Rings 4O,5I.<br />

Ein Gleiches: Kehraus 4O,5I.<br />

Der Stern des Bundes 37,52,133.<br />

Von weIchen wundern lacht die<br />

morgen-erde 37 f.<br />

Vorabend war es unsrer bergesfeier<br />

38.<br />

Der Teppich des Lebens 30,33-35.<br />

Vorspiel 30,33.<br />

Hymnen 29.<br />

Aufschrift 29.<br />

Weihe 29.<br />

[Übersetzung:] Dante 20, 22.<br />

Goethe, Christiane <strong>von</strong>, geb. Vulpius<br />

(G's Frau) 265,288,311,341.<br />

Goethe, Cornelia (G's Schwester) 333.<br />

Goethe, Johann Kaspar (G's Vater) 335.<br />

Goethe, Johann Wolfgang(<strong>von</strong>) 16,20,<br />

25,27,32, 34,39,4O,41,45f., 52, 104,<br />

108f., 110, 120, 138, 174f., 197-199,<br />

215,217,219,221, 224f., 228f., 236,<br />

237,240,242 f., 245 f., 247, 251, 254-<br />

392.<br />

Achilleis 364, 390.<br />

Amtliche Schriften 37I.<br />

Aphorismus 110.<br />

Aristeia der Mutter 334.<br />

Bey träge zur Optik 38l.<br />

Biographische Einzelheiten 302.<br />

Boisseree, Ansichten und Risse des<br />

Doms zu Köln 380.<br />

Claudine <strong>von</strong> Villa Bella 109,244.<br />

Das Abendmahl <strong>von</strong> Leonard da Vinci<br />

377.<br />

Das Deutsche Recht in Bildern 38I.<br />

Dem Menschen wie den Thieren ist<br />

ein Zwischenknoehen der obern<br />

Kinnlade zuzuschreiben 381.<br />

Der Ewige Jude 278,340.<br />

Der Neue Paris 321,341.<br />

Der Verfasser theilt die Geschichte seiner<br />

botanischen Studien mit 374.<br />

Des Epimenides Erwachen 273.<br />

Dichtung und Wahrheit 57, 109,<br />

243, 254, 257, 260-268, 273, 276,<br />

278f., 280-285, 288f., 291-293, 295,<br />

297-304,307-342, 358, 369, 378f.,<br />

384.<br />

Die Geheimnisse 306.<br />

Die Leiden des jungen Werthers 255,<br />

263,289,291,293-295,297-299,304,<br />

312,318.<br />

Die Natürliche Tochter 20, 273.<br />

Die Neue Melusine 34l.<br />

Die Wahlverwandschaften 244,269,<br />

285,288,312,319.<br />

Epoche der forcierten Talente 266.<br />

Egmont 25,260-263,268,299,325.<br />

Farbenlehre 219,252,310,379,382.<br />

Faust 34,45,221,226,237,254,269<br />

(Prolog im Himmel) 269 (Vor dem<br />

Tor), 270, 284 (Klass. Walpurgisnacht)322,342,363,367,373,388.<br />

[Gedichte, einzelne:]<br />

Beherzigung 252.<br />

Dem Schicksal 260.<br />

Der Becher 344.<br />

Der Philosoph. (Epigramm) 222.<br />

Die Geheimnisse 305.<br />

Die Metamorphose der Pflanzen<br />

319,374.<br />

Einschränkung 260.<br />

Glückliche Fahrt 260.<br />

Mahomets Gesang 272.<br />

[Marienbaderl Elegie 333,359.<br />

Meeres Stille 260.<br />

Mut 260.<br />

Rechenschaft 317.<br />

Seefahrt 260.<br />

Urworte. Orphisch 263,266,27].<br />

Götz <strong>von</strong> Berlichingen 330.<br />

Hermann und Dorothea 273.<br />

Höllenfahrt Christi 324.<br />

Iphigenie 96,100,118,227, 244,268,<br />

273.<br />

Italienische Reise 314f.<br />

Jugend-Epoche 302-305.<br />

Kampagne in Frankreich 314f.<br />

Lila 25l.<br />

Mahomet (Voltaire-Übers.) 340.<br />

Maximen und Reflexionen 237, 24] .<br />

Paläophron und Neoterpe 175.<br />

Philipp Hackert (Biographie) 311 .<br />

Propyläen 244.<br />

Reise in die Schweiz 28l.<br />

Sanct Rochus-Fest zu Bingen 261,<br />

270.<br />

Shakespeare und kein Erlde 268.<br />

Studie nach Spinoza 230.<br />

7


400<br />

Bruchstück Nr. 68 132.<br />

Chiron 129,142,160,211.<br />

Das Ahnenbild 150.<br />

Dem Genius der Kühnheit 72f.<br />

Dem Schicksal 68,72,81, 155,259.<br />

Der blinde Sänger 211.<br />

Der Einzige 63, 146, 147, 151, 156,<br />

163, 167, 174, 182, 183, 211, 213,<br />

273.<br />

Der gefesselte Strom 211.<br />

Der Rhein 164,201,259,270 f., 273.<br />

Der Tod des Empedokles 57, 112 f.,<br />

119-121,123,129,139,155,226,238,<br />

245,273.<br />

Der Wanderer 185,197-199.<br />

Der Weingott 142,143,212.<br />

Dichterberuf 113,135,141.<br />

Dichtermuth 164.<br />

Die Eichbäume 53,76-79,82-90.,95,<br />

99,101-103,391.<br />

Die Friedensfeier 114,135,148-168,<br />

171-175,177,179-183,185,199-206,<br />

209, 211f., 238f., 391.<br />

Die Herbstfeier 15lf., 159, 161.<br />

Die Liebe 129.<br />

Die scheinheiligen Dichter 135.<br />

Die Weisheit des Traurers 185f., 189-<br />

191,194-196,210-213.<br />

Diotima 225.<br />

Emilie vor ihrem Brauttag 17.<br />

Ermunterung 129,180.<br />

Fragment: Seines jedem und ein Ende<br />

167.<br />

Ganymed 211.<br />

Germanien 113, 126, 129, 154, 164,<br />

215, 224.<br />

Hälfte des Lebens 126-129.<br />

Heimkunft 159 f.<br />

Hero 92.<br />

Hyperion oder der Eremit in Griechenland<br />

56 f., 60, 63-65, 69, 79, 82, 96,<br />

100,102-106,110,113,118,123,136,<br />

225f., 238, 245 f., 256, 273.<br />

Hyperions Jugend 63-65,69,74,76,<br />

79,82,100.<br />

Lied der Freundschaft 155.<br />

Meine Genesung 155.<br />

Ovid-Übersetzung (Heroiden Phaeton)<br />

71,90,92,95,98.<br />

Natur und Kunst 240.<br />

Neue Briefe über die ästhetische Erziehung<br />

des Menschen 102.<br />

Patmos 130f., 141, 164, 201, 211,<br />

273.<br />

Proemium 10lf.<br />

'Reimhymnen' 56, 67, 84f.<br />

Rousseau 129.<br />

Saturn und ]upiter 239.<br />

Stutgard 151.<br />

'Tübinger Hymnen' 112.<br />

Über den Unterschied der Dichtarten<br />

238.<br />

Versöhnender der du nimmer geglaubt<br />

141,161,174.<br />

Wie wenn am Feiertage 112-117,<br />

121 f., 124-127, 129, 141, 180.<br />

Hölderlin, Johanna Christiane (Mutter)<br />

89,196.<br />

Hölty, Ludwig Heinrich Christoph,<br />

Lyriker 197.<br />

An die Grille 197.<br />

Höpfner, Ludwig Julius Friedrich, Prof.<br />

der Jurisprudenz in Gießen 290.<br />

Homer (Homeros) 107, 153, 158,225,<br />

236,240,307.<br />

Höpfner, Ludwig Julius Friedrich 290.<br />

Horaz (Quintus Horatius Flaccus)<br />

röm. Dichter (65-8 v. Chr.) 1, 15-<br />

24,71,73,95, 107f., 137-139, 143,<br />

147,150, 156-158,165,172,203f.,<br />

206,208 f., 272, 391.<br />

Bacchus-Ode 137,143,165.<br />

Carmen saeculare 165.<br />

Carmina (Oden) 16,71,73,95,138 f.,<br />

147,150,156-158,172,203,208,272.<br />

Epistulae 138,156,165.<br />

Epoden 16-22.<br />

Ode I 3 An das Schiff des Vergil 203-<br />

206.<br />

Sermones 150.<br />

Hötzer, Ulrich 81.<br />

Houben, Heinrich Hubert 236,346.<br />

J.P. Eckermann. Sein Leben für Goethe<br />

346.<br />

Hufeland, Christoph Wilhelm 290.<br />

Humboldt, Wilhelm <strong>von</strong> 183,357.<br />

lkarus-Mythos 69,70,71.<br />

Iken, Car! Jakob Ludwig 128.<br />

Ion <strong>von</strong> Chios, Tragiker, Lyriker, Philosoph<br />

des 5. Jh. v. Chr. inAthen 151.<br />

Iphigenie (Iphigeneia) Priesterin der<br />

Artemis 183.<br />

Jacobi, Friedrich Heinrich 228f., 233,<br />

241,255,258, 260f., 290, 292, 338 f.,<br />

377.<br />

Wider Mendelssohns Beschuldigungen.<br />

Leipzig 1786. 228.<br />

Jean Paul (Richter, Johann Paul Friedrich)<br />

32.<br />

Jerusalem, Kar! Wilhelm 0747-1772)<br />

Jurist, 1771 braunschweigischer<br />

Legationssekretär bei der Kammergerichtsvisitation<br />

in Wetzlar 255,<br />

298.<br />

Jesus s. auch Christus 2,281.<br />

John, Joh. August Friedrich (Sekretär<br />

Goethes) 312.<br />

JuliusCaesarOctavianus (späterer Kaiser<br />

Augustus, geb 23 v. Chr.) 154.<br />

Jung-Stilling 263, 325f., 33lf.<br />

Jung-Stillings Wanderschaft 325f.,<br />

33lf.<br />

Juno Ludovisi 244.<br />

Jupiter-Mythos 75, 239.<br />

Kalb, Charlotte <strong>von</strong> 54,58,70.<br />

Kant,lmmanuel 218, 239, 249,253,255.<br />

Kar! Eugen, Herzog <strong>von</strong> Württemberg<br />

186, 189f., 194, 196, 274.<br />

Kastor (und Pollux) 87,96.<br />

Kayser, Wolfgang 352, 387.<br />

Kelietat,Alfred 162,206,209.<br />

Kerenyi, Kar! 149.<br />

Kestner, Johann Christian 291 f.<br />

Kestner, Char!otte, geb. Buff 291-294,<br />

336.<br />

Kleist, Ewald <strong>von</strong> 223.<br />

Kleist, Heinrich <strong>von</strong> 236.<br />

Michael Kohlhaas 235.<br />

Klinger, Friedrich Maximilian <strong>von</strong> 291,<br />

338.<br />

Geschichte eines Teutschen 338.<br />

Klingner, Friedrich 16.<br />

Klettenberg, Susanna <strong>Katharina</strong> <strong>von</strong><br />

339.<br />

Klopstock, Friedrich Gottlieb 110, 166,<br />

340,376.<br />

Messias 166.<br />

Kluckhohn, Paul 107.<br />

Knebel, Kar! Ludwig <strong>von</strong> 266,376.<br />

KommereII, Max 65.<br />

Korff, HermannAugust 217, 223.<br />

Geist der Goethezeit 217.<br />

Körner, Christian Gottfried 267.<br />

Krauss, Werner 107.<br />

Krieck, Ernst 219.<br />

Kronberger, Maximilan (Maximin) 33.<br />

Kuhn, Dorothea 370.<br />

Landauer, Gustav 151.<br />

Landmann, Edith 25.<br />

Gespräche mit Stefan George 25.<br />

Landmann Michael 385.<br />

Laroche (La Roche), Maximiliane (später<br />

Brentano) 293f.<br />

Laroche (La Roche), Sophie <strong>von</strong> 293 f.,<br />

333.<br />

Lavater 232,279 f., 290, 333, 335, 338 f.<br />

Jesus Messias 279.<br />

Lehmann, Emil 101.<br />

401


Leibniz, Gottfried Wilhelm 219,220,<br />

221.<br />

Lerse, Franz Christian 331.<br />

Lessing, Gotthold Ephraim 217 f., 220,<br />

238, 255f., 258 f.<br />

Nathan der Weise 255.<br />

Lili s. Schönemann.<br />

Linne, Kar! <strong>von</strong> 339.<br />

Loeper, Gustav <strong>von</strong> 343 f., 345, 347.<br />

Lucan, M.Annaeus, Röm. Epiker 165.<br />

Pharsalia 165,170.<br />

Ludwigsritter, Der (Freiherr <strong>von</strong> Cronhjelm?),<br />

Goethes Tischgenosse in<br />

Straßburg 331.<br />

Lukian (Lukianos aus Samosata), Sophist<br />

und Satiriker 118.<br />

De sacr. 118.<br />

De Syria dea 214.<br />

Luther, Martin 281,371.<br />

Lygdamus (Verf. eines im Corpus Tibullianum<br />

überlieferten Zyklus<br />

<strong>von</strong> 6 Elegien) 150.<br />

Mallarme, Stephane 33.<br />

Martial (M. Valerius Martialis) bedeutendster<br />

röm. Epigrammatiker 344.<br />

Epigramme 344.<br />

Xenia (Cygni-Distichon) 345.<br />

Matthaei, Rupprecht 370.<br />

Maximin s. Kronberger.<br />

Meinecke, Friedrich 307.<br />

Merck, Johann Heinrich 293.<br />

Metella, Caecilia (Frau des röm. Diktators<br />

Sulla) 188,190,213.<br />

Meyer, Heinrich 386.<br />

Meyer, Herman 197, 387.<br />

Meyer, Johann Heinrich (Maler und<br />

Kunsthistoriker, Freund Goethes)<br />

280f., 377.<br />

Meyer (<strong>von</strong> Lindau), Johann, (Medizinstudent,<br />

Goethes Tischgenosse<br />

in Straßburg) 331.<br />

Minor, Jakob 225.<br />

402<br />

Möbus, Gerhard 275.<br />

Morgenroth, Alfred 359 f.<br />

Morwitz, Ernst 2.<br />

'An den Mond' (Der Fluch) 190.<br />

Müller,Adam 236.<br />

Müller, Ernst 65.<br />

Müller, Friedrich Theodor Adam Heinrich<br />

<strong>von</strong> (Kanzler) 275.<br />

Müller, Joachim 389.<br />

Müller, Johannes <strong>von</strong> 311.<br />

Napoleon Bonaparte 25,358.<br />

N ast, Louise 196.<br />

Neuffer, Christian Ludwig 62,87,97,<br />

98,153,247,261.<br />

Newton, Isaac 252.<br />

Nibelungenlied 236.<br />

Nicolovius,Alfred 346.<br />

Niethammer, Emil 102.<br />

Nietzsehe, Friedrich 32,63,87, 219f.,<br />

250.<br />

Die fröhliche Wissenschaft 220.<br />

Nisus s. Euryalos 90, 96f.<br />

Nonnos (<strong>von</strong> Panopolis) 139, 166.<br />

Dionysiaka 166.<br />

Nostradamus (Michel de Notredame)<br />

34-36,40-52.<br />

Centuries 34, 40-52.<br />

Proömium 47.<br />

Novalis (Friedrich Philipp Frhr. <strong>von</strong><br />

Hardenberg) 107,241.<br />

Heinrich <strong>von</strong> Ofterdingen 107.<br />

Schriften 241.<br />

Octavian (Kaiser Augustus) 17.<br />

O'Donell, Josephine Gräfin 340.<br />

Odysseus 93,208.<br />

Oeser, Adam Friedrich 333,335.<br />

Ohly, Friedrich 301.<br />

Oppenheimer, Ernst Martin 391.<br />

Orestes, Sohn <strong>von</strong> Agamemnon u.<br />

Klytaimnestra, Freund des Pylades<br />

(s. d.) 96,100,118,227.<br />

Ovid (P. Ovidius Naso), geb. 43 v. Chr.,<br />

röm. Dichter 53, 69, 70, 71, 75,<br />

90, 91, 92, 95 (Hölderlins Übersetzung),<br />

98, 118, 139, 150, 173,<br />

391.<br />

Amores 118, 138f., 207.<br />

Ars amatoria 139,158,174.<br />

Heroiden 90-95.<br />

Dejanira an Herkules 91 f., 95.<br />

Ex Ponto 139.<br />

Fasti 139, 150, 159, 211, 226.<br />

Metamorphosen 69 f. (Dädalus), 139,<br />

147,150,173,208.<br />

Phaeton 98.<br />

Tristia 138 f.<br />

Panyassis (<strong>von</strong> Halikarnassos). Epischer<br />

Dichter des frühen 5. Jh. v.<br />

Chr. 150.<br />

Patroklos, des Achilleus Freund 96.<br />

Paulus,August Wilhelm 343f., 349.<br />

Paulus, Heinrich Eberhard Gottlob<br />

230,343 f., 346, 349, 352.<br />

Benedicti de Spinoza Opera 230.<br />

Paulus, Karoline 350.<br />

Pausanias, griech. Reiseschriftsteller<br />

des 2. Jhdts 138,154, 170,213.<br />

Pelletier, Anatole le (Editor des Nostradamus)<br />

4O,43f., 46, 49.<br />

Pelops-Mythos 118.<br />

Persephone-Mythos 213.<br />

Petsch, Robert 270,348.<br />

Petrus Venerabilis (1094-1156) Abt u.<br />

Klosterreformator der Cluniacenser<br />

193.<br />

Petzold, Emil 142,212.<br />

Phaethon-Mythos 70,98, 106.<br />

Philochoros (Athener Seher, Gelehrter)<br />

Hauptwerk Atthis 137.<br />

Philonides (Dichter der Alten Komödie)<br />

137.<br />

Philoxenos (Dithyrambiker aus Kythera)<br />

150.<br />

Pindar (Pindaros) griech. Lyriker (522-<br />

448 v. Chr.) 107, 118, 146, 158,225<br />

(Diagoras),272.<br />

Olympische Oden 118.<br />

Pythische Oden (Hypoth.) 146.<br />

Platen, Hallermund, August Graf <strong>von</strong><br />

17,19,21.<br />

Polenlieder 17,19,21.<br />

Platon (Plato) griech. Philosoph (427-<br />

347 v. Chr.) 94, 96, 107f., 110, 150,<br />

365.<br />

Ion 107f.<br />

Phaedon 344.<br />

Phaidros 107f.<br />

Symposion 150.<br />

Plessing, Friedrich Victor Leberecht<br />

243.<br />

Plinius (c. Plinius Secundus), Historiker,<br />

Schriftsteller (23-79 n. Chr.)<br />

154,207.<br />

Plotin, platonischer Philosoph (ca. 205-<br />

270) 219.<br />

Plutarch (Plutarchos <strong>von</strong> Chaironeia,<br />

ca. 45-120), berühmter Biograph<br />

und popularphilosoph. Schriftsteller<br />

152, 166, 188f., 190, 211,<br />

213.<br />

Vitae (Biographie des Sulla) 188f.<br />

Pollmer, Arthur 286.<br />

Pollux s. Dioskuren 87.<br />

Pope, Alexander, eng!. Dichter (1688-<br />

1744) 192.<br />

Eloisa to Abelard 192.<br />

Praxiteles, griech. Bildhauer des 4. Jhdts.<br />

v. Chr 213.<br />

Priamos, der letzte König <strong>von</strong> Troja<br />

99.<br />

Prometheus, 109, 120, 203, 205, 207,<br />

208,259,340.<br />

Properz (Sextus Propertius) röm. cl 'g.<br />

Dichter 138,153, 159,207,229,250-<br />

254,258,264, 272.<br />

Pseudo-Anakreon 150.<br />

403


Pylades, Freund des Orestes 96,<br />

227.<br />

Pythagoras (aus Samos, 6. Jh.) Begründer<br />

einer religiös fundierten Lebensgemeinschaft<br />

146,193.<br />

Raabe, Paul 53.<br />

Reinhard, Carl Friedrich Graf <strong>von</strong><br />

363.<br />

Richter, Karl 344.<br />

Richter, Rudolf 348.<br />

Riemer, Friedrich Wilhelm 242, 286,<br />

289,312,338,378.<br />

Mitteilungen über Goethe 286.<br />

Ritter, Heinz 107.<br />

Rochlitz, Johann Friedrich 321,355.<br />

Rousseau, Jean-Jacques 123,129,164,<br />

200 f., 223, 271, 314, 317, 334.<br />

Confessions 311, 316f., 322.<br />

Sachsen-Weimar-Eisenach, Carl August<br />

Herzog/Großherzog <strong>von</strong> 260,<br />

274,359,377.<br />

Salin, Edgar 108.<br />

Salomon 350.<br />

Hohes Lied 350.<br />

Salzmann, Johann Daniel 331.<br />

Samuel, Richard 107.<br />

Sandvoß, Franz 345,347.<br />

Sappho (DichterinaufLesbos, 7./6.Jh.<br />

v. Chr.) 107.<br />

Saturn-Mythos 239f.<br />

Schadewaldt, Wolfgang 117,370 f.<br />

Goethe-Wörterbuch 370.<br />

Scheffer, Thassilo <strong>von</strong> 71.<br />

Schelling, Friedrich Wilhelm Josef <strong>von</strong><br />

217, 220f., 274, 313.<br />

Das Wesen der menschlichen Freiheit<br />

221.<br />

Philosophische Briefe über Dogmatismus<br />

und Kritizismus 238.<br />

Vom Ich als Prinzip der Philosophie<br />

238.<br />

404<br />

Schiller, Christophine (Schwester) 274.<br />

Schiller, Friedrich (<strong>von</strong>) 32,53-106,112,<br />

137,138,197,207,217,223,226,238,<br />

244,249,253,257,264,266-269,274,<br />

291,309,358, 360f., 367, 372, 377f.,<br />

391.<br />

An die Freude 67, 137.<br />

Anthologie auf das Jahr 1782 (Spinoza)<br />

220.<br />

Briefe über die ästhetische Erziehung<br />

des Menschen 53,244. .<br />

Das Reich der Schatten 72 f., 81, 92,<br />

102.<br />

Das verschleierte Bild zu Sais 103-<br />

106.<br />

Der philosophische Egoist 79-83,85 f.,<br />

102.<br />

Der Spaziergang 78, 84, 102.<br />

Die Götter Griechenlands 85, 223.<br />

Die Horen 78f., 101, 103.<br />

Die Ideale 70, 102.<br />

Die Künstler 85,207.<br />

Don Carlos 227.<br />

Einem jungen Freund, als er sich der<br />

Weltweissheit widmete 105f.<br />

Elegie (Der Spaziergang) 78,84,102.<br />

Epigramm 73.<br />

Musenalmanach 69.<br />

Spinoza 220.<br />

Thalia 72,81,82,103-105.<br />

Über Anmut und Würde 226,257.<br />

Wallenstein-Trilogie 249,267.<br />

Zeus zu Herkules 73,75,102.<br />

Schlegel, August Wilhelm 266,357 f.<br />

Athenäum 239,248.<br />

Schlegel, Friedrich 217, 235, 238-241,<br />

248,266,358.<br />

Athenäum 239,247.<br />

Gespräch über die Poesie 239.<br />

Prosaische Jugendschriften 225.<br />

Rede über die Mythologie 239.<br />

Über das Studium der Griechischen<br />

Poesie 225.<br />

Schleiermacher, Ernst Christian FriedrichAdam<br />

221.<br />

Schlosser, Cornelia Friedrike Christiane,<br />

geb. Goethe 333.<br />

Schlosser, Johann Friedrich Heinrich<br />

311.<br />

Schmid, Günther 370.<br />

Schmidt, Erich 221.<br />

Schönemann, Lili (später <strong>von</strong> Türekheim)<br />

259,273,300,317,323,326,<br />

336.<br />

Schönkopf, Käthchen 336,340.<br />

Schopenhauer, Arthur 221.<br />

Schulz, Gerhard 107.<br />

Seebaß, Friedrich 101.<br />

Sembdner, Helmut 236.<br />

Semele-Mythos 117,129,140-143,180,<br />

202.<br />

Shaftesbury, Anthony Ashley-Cooper<br />

219.<br />

Shakespeare,William 268,307,339.<br />

Hamlet 355.<br />

Siegmund Schultze, Friedrich 186.<br />

Silius Halicus (TIb. Catius Asconius S.<br />

1.), röm. Epiker (ca. 35-100).<br />

Punica 154,159,170.<br />

Sophokles, griech. Tragiker (497-405 v.<br />

Chr.) 94f., 100, 138, 158, 165, 170f.,<br />

212f.<br />

Antigone 138, 158, 165, 170, 171,<br />

212,267.<br />

Elektra 100.<br />

Oedipus Rex 213.<br />

Trachinierinnen 94 f.<br />

Sokrates (470-399 v. Chr.) 361.<br />

Soret, Frederic Jean (Jacques) 360.<br />

Spinoza, Baruch 57, 109, 217-288,<br />

294, 298, 302-306, 313, 325, 339,<br />

391.<br />

Ethik 219,221-265,274,282,298,<br />

302, 304-306.<br />

Städel, Rosine 346.<br />

Staiger, Emil 94, 322.<br />

Statius, P. Papinius, röm. Dichter (ca.<br />

40-96).<br />

Silvae 207.<br />

Thebais 208.<br />

Stein, Charlotte <strong>von</strong> 230 f., 29lf., 354.<br />

Stern, Julius (Ps. für Sturm, Julius) 249.<br />

Stilling, Johann Heinrich (genannt<br />

Jung-Stilling) 26lf., 325f., 333.<br />

Stillings Wanderschaft 33lf.<br />

Strabo (Strabon <strong>von</strong> Amaseia) Stoischer<br />

Historiker und Geograph<br />

208,214.<br />

Sueton (S. Suetonius Tranquillus) Röm.<br />

Biograph (1. Jh. n. Chr.) 154.<br />

De vita Caesarum 214.<br />

Suidas (Suda), Titel d. umfangreichsten<br />

erhaltenen byzantinischen Lexikons<br />

170.<br />

Sulla, Ludus Cornelius, röm. Diktator<br />

(137-78 v. Chr.) 188f., 213.<br />

Swedenborg, Emanuel, schwedischer<br />

Theosoph (1688-1772) 342.<br />

Szondi, Peter 114,125.<br />

Tadtus, P. Cornelius, röm. Geschichtsschreiber<br />

311.<br />

Tantalos-Mythos 117f., 120, 122, 129.<br />

Tausend und eine Nacht 320f.<br />

Theseus-Mythos 208.<br />

Tibull (Albius TIbullus, geb. ca. 50 v.<br />

Chr.) Röm. Elegiendichter 138, 150,<br />

159,173,197-199.<br />

Elegien 198.<br />

Lygdamus 138.<br />

Panegyricus Messallae 198 f.<br />

Tieck, Johann Ludwig 236.<br />

Trebra, Friedrich Wilh. Heinrich <strong>von</strong><br />

321,349.<br />

Troll, Wilhelm 370.<br />

Trunz, Erich 333,388.<br />

Türckheim,Anna Elisabeth (Lili), geb.<br />

Schönemann 259, 273, 300, 317,<br />

323,326,336.<br />

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