Ihr kennt eure Bibel nicht! - von Katharina Mommsen
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RING, das Robert Boehringer gewidmet war. Hier wird nämlich eine<br />
Hauptphase vom Lauf des Rheins, der Übergang vom reissenden<br />
Dahinschnellen des Gebirgsflusses zu breitem, ruhigem Strömen<br />
dargestellt in ganzen vier Versen (VI-VII. 194):<br />
Unterm nächtigen holz der brückenfirst<br />
Brause woge wild im felsigen strudel!<br />
Nicht mehr lang dass du zum sanften sprudel<br />
Meines königlichen stromes wirst.<br />
Einen durchaus neuen Akzent bringt in Georges Rheingesänge das<br />
VORSPIEL zu DER TEPPICH DES LEBENS <strong>von</strong> 1899. Hier verbindet der<br />
Dichter erstmals deutlich mit der Rheinlandschaft und gerade mit<br />
ihr das, was er später 'die hoffnung verwandelten lebens' nannte.<br />
Der Engel, der ihm göttliche Weisungen bringt, fordert ihn auf,<br />
sich der eigentlichen Bedeutung der Rheinlandschaft bewußt zu<br />
werden, in ihr das »geheimnis ewiger runen« zu finden. Hierauf<br />
antwortet der Dichter, er entsage gern dem Zauber des Südens,<br />
Venedigs und Roms, um jenes Geheimnis des Rheins zu ergründen<br />
(v. 16):<br />
>Schon lockt <strong>nicht</strong> mehr das Wunder der lagunen<br />
Das allumworbene trümmergrosse Rom<br />
Wie herber eichen duft und rebenblüten<br />
Wie sie die Deines volkes hort behüten-<br />
Wie Deine wogen -lebengrüner Strom! (<br />
Entscheidend sind die letzten Worte. Am Rhein sieht Stefan George<br />
Zeichen eines neuerwachenden menschlichen Lebens. Der Beginn<br />
einer geistigen Revolution wirft auch auf den Rhein ein neues Licht:<br />
darum - »lebengrüner strom«. Von diesem Leben wußte George<br />
bis dahin <strong>nicht</strong> mit Sicherheit, wo in der Welt, wenn überhaupt, es<br />
sich manifestieren könnte. Jetzt zweifelt er <strong>nicht</strong> mehr, dass es in<br />
Deutschland zu suchen ist - genauer gesagt aber: in einem Deutschland,<br />
dessen geistige Mitte der Rhein ist. Hier am Rhein entdeckt<br />
der Dichter nun sogar in der Natur Formen, die auf die Beschaffenheit<br />
eines künftigen höheren Menschentums hinzuweisen vermögen.<br />
Damit nimmt Georges Rheinverherrlichung die Wendung<br />
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ins ganz Einzigartige. Wo wäre eine Landschaft, <strong>von</strong> der große<br />
Dichtung jemals ähnliches gesungen hätte?<br />
An diesem Punkt unserer Betrachtungen wird es nötig sein, einen<br />
Augenblick zu verweilen, um zu fragen, was es auf sich hat<br />
mit jener Erneuerung, jener geistigen Revolution, die nun immer<br />
entschiedener Georges Dichten und Trachten beherrscht. Allzuoft<br />
wird diese Seite seines Schaffens mißverstanden, allzugern glaubt<br />
man sie abtun zu können mit bequemem Darüberhinwegsehen.<br />
Diese geistige Revolution stammt in ihren Ursprüngen <strong>nicht</strong> <strong>von</strong><br />
George selbst. Es handelt sich vielmehr um eine Bewegung, die<br />
erstmals in den Jahren nach dem großen französischen Umsturz<br />
auf den Plan trat, zu Ende des 18. Jahrhunderts also. Diese Revolution<br />
ist folglich ebenso alt wie die große andere Revolutionsbewegung,<br />
mit der wir alle vertraut sind: die politische, gesellschaftliche<br />
Revolution, die noch bis in die sozialistischen Strebungen<br />
unserer Tage hineinwirkt, unser Leben mehr oder weniger<br />
beherrscht, die auch in der Literatur aller Länder sich stärker geltend<br />
machte als irgendeine andere Denkrichtung.<br />
Während nun aber diese letztgenannte breite revolutionäre Bewegung<br />
aus der Notwendigkeit entsprang, die Menschenrechte<br />
neu zu konstituieren, während sie Verhältnisse, Zustände, Einrichtungen<br />
des menschlichen Lebens zu bessern suchte, richtete sich<br />
j ne geistige Revolution - die Revolution einer kleinen Schar, die<br />
I die Ahnen Georges anzusehen sind - auf etwas ganz anderes:<br />
nämlich auf die Neukonstituierung des Menschen selbst. Weit mehr<br />
I Zustände und Einrichtungen schien ihr der Mensch als solcher<br />
)in r Erneuerung bedürftig, der gesamte seelische Status und Haltu<br />
des Wesens, das sich Mensch nennt. Hier rückte die Frage ins<br />
ntrum: ist der Mensch der neueren Zeit überhaupt noch Mensch,<br />
In d m Sinne, wie er es jahrtausendelang gewesen war. Ein großes<br />
Er hr cken trat da ein. Denn mit dem Erwachen des historischen<br />
WI s ns und Denkens war erstmals die Vergleichsmöglichkeit ge<br />
I n - man konnte den modernen Menschen bemessen an dem<br />
rü h 'r r großer Blütezeiten: der Antike, des Mittelalters, der Reinl<br />
n ,d s Orients. Und hier entdeckte man, dass der moderne<br />
M '1'\ h m hr und mehr wichtigste Eigenschaften zu verlieren im<br />
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