Ihr kennt eure Bibel nicht! - von Katharina Mommsen
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Nochmals sind die beiden Sphären gegenübergestellt: Welt des<br />
Tales, der Gärten (»unten«) und Welt des Berges, der Eichbäume<br />
(»hier«). Bei der Charakterisierung ihrer jeweiligen Vorzüge wird<br />
der Höhensphäre mit Emphase der Vorrang gegeben - hier ist die<br />
Welt heroischer Existenz großer Einzelner, eine Welt, die darum<br />
»stolzer« ist als die des Tals mit ihren geselligen Freuden. Das bekräftigt<br />
der schöne Satz: »Denn so will es der ewige Geist« - ein<br />
Amen gleichsam, wie es Hölderlins tiefster Seelenartung entspricht.<br />
Diese Verse hat der Dichter <strong>nicht</strong> bestehen lassen. Die endgültige<br />
Fassung erhielt den Wortlaut:<br />
Könnt' ich die Knechtschaft nur erdulden, ich neidete nimmer<br />
Diesen Wald und schmiegte mich gern ans gesellige Leben.<br />
Fesselte nur <strong>nicht</strong> mehr ans gesellige Leben das Herz mich,<br />
Das <strong>von</strong> Liebe <strong>nicht</strong> läßt, wie gern würd' ich unter euch wohnen!<br />
In seiner Struktur zeigt dieser Abschluß noch Verwandschaft mit<br />
den Entwurfsversen. Auch hier werden die beiden Sphären<br />
»Wald« (der Eichbäume) und »geselliges Leben« (Tal, Gärten) konfrontiert.<br />
Merklich entfernt sich aber der Inhalt des endgültigen<br />
Schlusses sowohl <strong>von</strong> den Entwurfsversen wie auch <strong>von</strong> den ursprünglichen<br />
Bestandteilen des Gedichts. Während Hölderlin früher<br />
keinen Zweifel ließ, welcher Welt er zugehört: der der heroischen,<br />
titanenhaften Existenz/ erscheint jetzt neu die Aussage: dem<br />
»geselligen Leben« sich »anzuschmiegen«, daran hindert den<br />
Dichter sein Freiheitsbedürfnis; in der Welt der freien Eichbäume<br />
zu »wohnen«, verbietet ihm in ähnlicher Weise ein anderes Gefühl:<br />
das der Liebe. So steht er jetzt sehnend zwischen beiden Welten.<br />
Zweifellos entspricht dieser Schluß jetzt mehr dem Begriff der<br />
Synthese in einem dreitaktig gebauten Gedicht. In geistvoller Pointierung<br />
zwei voraufgegangene Aussagen zusammenzufassen, darin<br />
sah Hölderlin damals das Wesen solcher Synthese, wie die Frankfurter<br />
epigrammatischen Oden zeigen. Andererseits ist stets in<br />
Betracht zu ziehen die Aufrichtigkeit, die Gewissenhaftigkeit, die<br />
Hölderlin bei jeglicher Aussage leitet. Was er spricht, ist nie ohne<br />
Wahrheit. Und so spiegelt sich Realität auch in dem Schluß der<br />
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EICHBÄUME: es spiegelt sich darin die Situation des liebenden Hölderlin<br />
der späteren Frankfurter Zeit. Niemals wieder lebte der Dichter<br />
so lange und so intensiv im Bereich des 'geselligen Lebens' wie<br />
in jener Epoche. Darüber findet sich mancher Seufzer auch in seinen<br />
Briefen. 20 Was ihn an diese Welt fesselte, war die Liebe zu Diotima.<br />
Aus dieser völlig veränderten Situation resultiert es, wenn<br />
der Dichter am Schluß der EICHBÄUME als ein zwischen den Welten<br />
Stehender erscheint, wenn hier, fast im Sinne der Palinodie, ein<br />
Schwanken sichtbar wird, wo ehemals im selben Gedicht eine feste,<br />
ausgeprägte Position bezogen ward.<br />
Die Schlußverse <strong>von</strong> DIE EICHBÄUME und die in ihnen enthaltene<br />
Pointe sind somit in gewisser Hinsicht als ein Komplex für sich zu<br />
betrachten. Sie entstanden aus veränderter Sicht und Zeit. Nicht<br />
mehr die Lösung <strong>von</strong> Schiller, sondern die Begegnung mit Diotima<br />
bestimmt hier Hölderlins Fühlen und Denken. Das darf uns<br />
aber <strong>nicht</strong> zu der Auffassung verleiten, dass jenes Preisen der heroischen<br />
Existenz, <strong>von</strong> dem die Hauptbestandteile des Gedichts<br />
erfüllt sind, durch den Abschluß grundsätzlich und endgültig widerrufen<br />
wird. Auch die Schlußverse enthalten, wenn man mit<br />
genügender Aufmerksamkeit liest, gleichsam zwischen den Zeilen<br />
die Andeutung, welcher <strong>von</strong> den beiden Welten Hölderlin sich<br />
eigentlich zugehörig weiß, wenn es sich darum handelt, die Lebenssphäre<br />
zu bestimmen. Letzten Endes war die heroische Existenz<br />
für ihn die einzig gemäße. Zu ihr hin führte sein Weg, als das<br />
Schicksal eingriff und ihn <strong>von</strong> Frankfurt entfernte.<br />
20 Vgl. Hölderlin an seine Mutter, November 1797: "Dieses ganze Jahr haben wir fast<br />
beständig Besuche, Feste und Gott weiß! was alles gehabt" etc. (StA VI 257).<br />
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