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Ihr kennt eure Bibel nicht! - von Katharina Mommsen

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e<strong>kennt</strong> Goethe am 9. Juni 1785 brieflich gegenüber Jacobi. Bei der<br />

Beschäftigung mit "Pflanzen und Steinen", mit Anatomie ("zur Erholung<br />

und Ergötzung der Seele"), mit Geologie, Farben usw. ging<br />

es Goethe darum die "Harmonia naturae", die gesetzmäßige Einheitlichkeit<br />

in der Welt der Formen und Dinge nachzuweisen.39<br />

Indem er der "Ordnung und Verknüpfung der Dinge" anschauend<br />

nachspürte, suchte er Erfahrungen <strong>von</strong> der "Ordnung und Verknüpfung<br />

der göttlichen Ideen", die Spinoza als identisch mit jener<br />

sehen lehrt. 40<br />

Dass Goethe zu seiner morphologischen Lieblingsthese <strong>von</strong> der<br />

"Metamorphose, wodurch alles stufenweise hervorgebracht wird",<br />

durch einen Passus aus Spinozas ETHIK angeregt wurde, geht aus<br />

einem eigenhändigen Auszug aus der ETHIK (T. I, Prop. 22) in der<br />

Ausgabe seines Freundes H. E. G. Paulus41 hervor: "Modificatio,<br />

quae et necessario, et infinita existit", wozu er bemerkt: "Die<br />

Metamorphose wodurch alles stufenweise hervorgebracht wird."42<br />

Dass Goethe sich mit der gesamten Konzeption seiner Morphologie<br />

in der Nachfolge Spinozas bewegte, beweisen Sätze wie<br />

die folgenden aus der Ethik: "Die Gesetze und Regeln der Natur,<br />

nach welchen alles geschieht und Formen in Formen verwandelt<br />

werden, sind überall und immer die gleichen [ ... ] Es geschieht<br />

in der Natur <strong>nicht</strong>s, was ihr als Fehler angerechnet werden könn-<br />

39 An eh. v. Stein, 7. Mai 1784. "Harmonia naturae" in Goethes Brief an Herder <strong>von</strong><br />

Anfang November 1784, über seinen Fund des Zwischenkieferknochens. Wohl auf<br />

Grund vieler Gespräche mit Goethe verwendet Herder den Ausdruck "Harmonie<br />

der Natur" gleichbedeutend in Garr (1787), um Spinozas Begriff der göttlichen Gesetzmäßigkeit<br />

in der Natur zu kennzeichnen (SWS 16, 551; HFA4, 778): die "lebendige<br />

Harmonie der Natur" offenbart sich mitihren"einfachen Gesetzen" dem Künstler,<br />

dem Naturforscher durch Anschaun. Das Wort Harmonie auch sonst oft in der<br />

Schrift Gott, zumal im Fünften Gespräch (Vgl. SWS 16, 491, 516, 553, 561, 568.) Der<br />

Terminus "Harmonie" ist Leibnizisch, wurde aber <strong>von</strong> Goethe und Herder auf Spinozas<br />

Lehre angewandt. (Ähnlich bei dem Leibnizischen Terminus "Monade".) In<br />

HölderlinsHYMNE AN DIE GÖTTIN DER HARMONIE 1ST HARMONIE verstanden wiein Herders<br />

Gesprächen GOTT und <strong>von</strong> dorther - <strong>nicht</strong> <strong>von</strong> Leibniz - übernommen. Die Göttin<br />

» Harmonie« fordert den Menschen auf, ihres »Reichs Gesetze zu ergründen«! (v. 75.)<br />

40 ETHIC T. II, Prop. 7.<br />

41 Benedicti deSpinoza Opera quaesupersuntomnia. Iterumedenda cur. praefationes,<br />

vita m auctoris [ ... ] addidit Henr. Eberh. Gottlob Paulus. Jena 1802-03. Vol. 2, S. 57.<br />

42 Vgl. HA 13,562 zur 'Studie nach Spinoza'.<br />

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te."43 Menschlicher Irrtum ist es, anzunehmen, "es könne sich jede<br />

Form in jede beliebige andere verwandeln"44. Derartige Irrtümer<br />

zu bekämpfen, hat Goethe unendliche Mühe aufgewandt.<br />

Das gleiche Scholium der ETHIK wirkte sogar unmittelbar auf Goethes<br />

Idee einer "Urpflanze" ein. Der Brief an Charlotte <strong>von</strong> Stein,<br />

in dem er aus Rom freudig <strong>von</strong> der Entdeckung des "Hauptpunktes"<br />

berichtet, enthält nämlich Wendungen, die auffallend mit Spinozas<br />

Text übereinstimmen. So schreibt Goethe am 9. Juni 1787:<br />

"Mit diesem Modell [der Urpflanze] [ ... ] kann man alsdann noch<br />

Pflanzen ins Unendliche erfinden, die konsequent sein müssen, das<br />

heißt: die, wenn sie auch <strong>nicht</strong> existieren, doch existieren könnten und<br />

[ .. . ] innerliche Wahrheit und Notwendigkeit haben." Bei Spinoza<br />

hatte Goethe gelesen: während Substanz "in sich ist und durch sich<br />

selbst begriffen wird", soll unter Modifikationen verstanden werden:<br />

"das, was in einem andern ist und deren Begriff nach dem<br />

Begriff des Dinges, in welchem sie sind, gebildet wird. Daher auch<br />

können wir richtige Ideen <strong>von</strong> Modifikationen haben, welche <strong>nicht</strong> existieren,<br />

weil nämlich, obschon sie außerhalb des Intellekts <strong>nicht</strong> wirklich<br />

existieren, ihr Wesen doch in einem andern so enthalten ist, daß<br />

sie durch dieses begriffen werden können."45<br />

Mit der Scientia intuitiva in engstem Zusammenhang steht eine<br />

weitere für die Klassiker wichtige Hauptlehre Spinozas: die vom<br />

43 ETHIC T. III, Vorwort: "Nihil in natura fit, quod ipsius vitio possit tribui; est na mque<br />

natura sem per eadem, et ubique una, eademque ejus virtus, et agendi potentia,<br />

hoc est, naturae leges, et regulae, secundum quas omnia fiunt, et ex unis formis<br />

in alias mutantur, sunt ubique, et semper eaedem ... "<br />

44 ETHIC T. I, Schol. 2 zu Prop. 8: "qui enim veras rerum causas ignorant, omnia confundunt,<br />

et si ne ulla mentis repugnantia tarn arbores, quam homines, loquentes<br />

fingunt, et homines tarn ex lapidibus, qua m ex semine, formari, et, quascunque<br />

formas in alias quascunque mutari, imaginantur."<br />

45 ETHIC T. I, Schol. 2 zu Prop. 8: " ... Nam per substantiam intelligerent id, quod in se<br />

est,et per se concipitur, hoc est, id, cujus cognitio non indiget cognitione alterius<br />

rei. Per modificationes autem id, quod in alio est, et qua rum conceptus a conceptu<br />

rei, in qua sunt, formatur; quocirca modificationum non existentium veras ideas<br />

possumus habere; quandoquidem, quamvis non existant actu extra intellectum,<br />

earum tarnen essentia ita in alio comprehenditur, ut per idem concipi possint. .. "<br />

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