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Ihr kennt eure Bibel nicht! - von Katharina Mommsen

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voll als literarhistorische Zeugnisse. Objektive Literaturgeschichte<br />

geben sie <strong>nicht</strong> und wollen sie <strong>nicht</strong> geben. Am Anfang des 7. Buches<br />

erklärt der Dichter ausdrücklich, dass er die deutsche Literatur<br />

"<strong>nicht</strong> sowohl wie sie an und für sich beschaffen sein mochte,<br />

darzustellen gedenke, als vielmehr wie sie sich zu ihm verhielt".<br />

So kommt unter anderen Gottsched unverhältnismäßig schlecht<br />

weg. Den Leistungen des "Altvaters" gegenüber war man zur Zeit,<br />

als Goethe studierte, besonders ungerecht, da die Entwicklung soeben<br />

neue Wege einschlug. Das drückt sich nOFh in DICHTUNG UND<br />

WAHRHEIT aus. Die köstliche Anekdote <strong>von</strong> der Ohrfeige charakterisiert<br />

sehr zutreffend die Oppositionsstimmung der damaligen<br />

Jugend. Doch hat sie dem Ansehen Gottscheds unverhältnismäßig<br />

geschadet, indem hier Goethes Erzählkunst das Bild eines bedeutenden<br />

Mannes für lange Zeit einseitig bestimmte.<br />

In anderen Fällen gibt es bei den literarischen Porträts leichte<br />

Verzeichnungen, weil Goethe <strong>nicht</strong> die Last umfangreicher Nachforschungen<br />

auf sich nehmen konnte. Gelegentlich schildert er einen<br />

Dichter nur auf Grund eines einzelnen Werks, das ihm zufällig<br />

zur Hand war. Die Charakteristik des Klingersehen Schaffens beispielsweise<br />

beruht im wesentlichen auf der Geschichte eines Teutsehen,<br />

die Goethe gerade 1813 gelesen hatte. Nur auf diesen Roman,<br />

der erst im Jahr 1798 erschienen war, trifft speziell alles in<br />

DICHTUNG UND WAHRHEIT Gesagte zu. Die aus der Sturm-und-Drang­<br />

Zeit stammenden Jugendwerke Klingers - <strong>von</strong> denen eigentlich in<br />

DICHTUNG UND WAHRHEIT hätte gesprochen werden müssen - tragen<br />

aber ein ganz anderes Gepräge. Bei der Schilderung der Sturmund<br />

-Drang-Bewegung verfährt Goethe im übrigen ähnlich eigenwillig<br />

wie viele Literarhistoriker nach ihm. Er verschweigt die Tatsache<br />

oder deutet sie doch nurin unzureichender Weise an, dass ein wesentliches<br />

Charakteristikum des Sturm und Drangs die politische, sozialkritische<br />

Blickrichtung war. Meisterhaft sind innerhalb der Abschnitte<br />

über die literarischen Zeitgenossen die Darstellungen der<br />

Persönlichkeiten als solcher, soweit sie auf eigener Erinnerung beruhen.<br />

Besonders das 14. Buch - mit den Abschnitten über Klinger,<br />

Lavater, Basedow, Jacobi - zeichnet sich in dieser Hinsicht aus. Befriedigt<br />

schrieb Goethe nach seiner Fertigstellung an Riemer: "Lava-<br />

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ter und Basedow sind, dünkt mich, gut geraten, aus kleinen Zügen<br />

bildet sich die Imagination die Individualitäten gern zusammen. "14<br />

Zur Schilderung der Bildungswelt gehört in DICHTUNG UND W AHR­<br />

HEIT neben der Erörterung der literarischen vor allem die der religiösen<br />

Zustände. Auch auf weltanschaulichem Gebiet waren die<br />

Schwierigkeiten, die sich Goethes Entwicklung entgegenstellten,<br />

beträchtlich. Die "öffentliche Religion" konnte dem Dichter, wie<br />

auch vielen seiner Zeitgenossen, <strong>nicht</strong> mehr Genüge tun. Ebensowenig<br />

auf die Dauer Pietismus und Herrnhuterturn, mit denen der<br />

junge Goethe sich zeitweise intensiv beschäftigte. In dem damals<br />

zwischen Glauben und Wissen entbrannten Streit sich schlechtweg<br />

auf die Seite der Aufklärung zu stellen, war ihm gleichfalls <strong>nicht</strong><br />

möglich, daran hinderte ihn die Stärke seiner metaphysischen Erlebnisfähigkeit.<br />

So war er in weltanschaulichen Dingen ebenso wie in<br />

literarischen lange Zeit ein Suchender. Doch fand er schließlich den<br />

Weg. Wie ihm als Dichter Shakespeare das große Vorbild wurde, so<br />

schloß er sich in Sachen der Philosophie und Religion hauptsächlich<br />

an Spinoza an. Linne, Shakespeare und Spinoza bezeichnete Goethe<br />

noch im Alter als diejenigen "Abgeschiedenen", die auf ihn die<br />

größte "Wirkung getan" hätten. (An Zelter, 7. November 1816.)<br />

Die Erörterung religiöser Fragen nimmt in DICHTUNG UND W AHR­<br />

HEIT großen Raum ein. Von den zwanzig Büchern des Werks enthalten<br />

dreizehn diesbezügliche Abschnitte. Das zeigt, dass Goethe<br />

seiner weltanschaulichen Entwicklung ähnliche Bedeutung beimaß<br />

wie seiner künstlerischen. Außerordentlich groß war die religiöse<br />

Erregtheit der Epoche, in die seine Jugend fiel. Zu Goethes Freunden<br />

zählten bedeutende Vertreter des religiösen Lebens - Susanna<br />

<strong>Katharina</strong> <strong>von</strong> Klettenberg, Lavater, Herder, Jacobi u. a. -, die ihn<br />

immer wieder zur Auseinandersetzung mit dem Christentum nötigten.<br />

In DICHTUNG UND WAHRHEIT schildert der Dichter die allmähliche<br />

Verselbständigung seines Denkens in vielen Etappen. Während<br />

die <strong>Bibel</strong>, namentlich das Alte Testament, stets als<br />

Lieblingsbuch wichtig blieb, war es doch Goethes unablässiges Bestreben,<br />

sich "seine eigene Religion zu bilden" (Buch 8). Erst da-<br />

14 27. Juli 1813 (WA IV 23, 416).<br />

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