Ihr kennt eure Bibel nicht! - von Katharina Mommsen
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ze Kalender hätte müssen rot gedruckt werden." Plötzlich aber,<br />
an einem Septembertag des Jahres 1772 verließ Goethe Wetzlar,<br />
ohne sich <strong>von</strong> Kestner und Lotte zu verabschieden. Das Verhältnis<br />
zu Lotte sei - so berichtet DICHTUNG UND WAHRHEIT - "leidenschaftlicher<br />
als billig" <strong>von</strong> Goethes Seite geworden. Da habe er,<br />
als die Eheschließung näherrückte, sich freiwilllig entfernt, um<br />
<strong>nicht</strong> "durch das Unerträgliche vertrieben" zu werden.<br />
Was Goethe erzählt, entspricht im ganzen den tatsächlichen<br />
Vorgängen, über die wir gut unterrichtet sind. Und doch fehlt in<br />
DICHTUNG UND WAHRHEIT etwas Entscheidendes. Goethe verschweigt,<br />
was sein eigentliches Verdienst in der damaligen Situation<br />
gewesen ist. In Wirklichkeit lagen doch die Dinge so: selbstverständlich<br />
hätte er damals Lotte für sich gewinnen, hätte er die<br />
Verlobte des Freundes diesem abspenstig machen können. Es wäre<br />
dazu <strong>nicht</strong>s weiter <strong>von</strong>nöten gewesen als der Entschluß Goethes,<br />
die ganze Macht seiner Persönlichkeit einzusetzen. War Goethe<br />
ernstlich willens, Menschen zu gewinnen, so konnte sich niemand<br />
dem entziehen. Er überwand alle Widerstände. Selbst ehemalige<br />
Gegner und Kritiker - wie Jacobi, Wieland, Charlotte <strong>von</strong> Stein -<br />
machte er zu seinen Adoranten. In diesem Fall aber, bei der Entscheidung<br />
um Kestners Lotte, unterließ Goethe es bewußt und freiwillig,<br />
<strong>von</strong> seiner Macht über die Menschen Gebrauch zu machen.<br />
Es war dies ein Akt des Entsagens, der "großen und kühnen Aufopferung",<br />
dass er verzichtete, sich eine Frau anzueignen, die<br />
schon vergeben war. Goethe versagte es sich, einem Freund sein<br />
Glück zu rauben und gab damit auf - wie später noch oftmals -<br />
das eigene Glück.<br />
Betrachtet man die Nachrichten aus der Wetzlarer Zeit genauer,<br />
so bedarf es nur einiger Aufmerksamkeit, um zu erkennen, dass<br />
tatsächlich ein solch freiwilliger Verzicht Goethes vorlag. Obgleich<br />
Kestner es in seinen Aufzeichnungen begreiflicherweise zumeist<br />
so hinstellt, als habe Lotte nie eigentlich geschwankt, so ist doch<br />
ersichtlich, wie sehr sie Goethe geliebt hat. Nach dessen plötzlicher<br />
Abreise war sie zu Tränen erschüttert. Entscheidend ist - neben<br />
vielen andern Zeugnissen - ein Geständnis Kestners, das er damals<br />
brieflich ablegte. Goethe habe - so schrieb er einem Freund -<br />
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"solche Eigenschaften, die ihn einem Frauenzimmer, zumal einem<br />
empfindenden und das <strong>von</strong> Geschmack ist, gefährlich machen<br />
können" - also war er Lotte gefährlich geworden. Kestner fährt<br />
fort: "Es entstanden bei mir innerliche Kämpfe, da ich auf der einen<br />
Seite dachte, ich möchte <strong>nicht</strong> imstande sein, Lottchen so<br />
glücklich zu machen, als er, auf der andern Seite aber den Gedanken<br />
<strong>nicht</strong> ausstehen konnte, sie zu verlieren." Demnach stand Kestner<br />
sehr wohl die Möglichkeit vor Augen, dass der weit überlegene<br />
Goethe Lotte gewinnen könnte und dass diese damit notwendig<br />
hätte glücklicher werden müssen als mit ihm. Es war Goethes freiwilliger<br />
Verzicht, dass es hierzu <strong>nicht</strong> kam. Welche Gesinnung hinter<br />
diesem Verzicht stand, das verrät einer der vielen Briefe Goethes<br />
an das Kestnersche Paar nach der Trennung. Darin heißt es:<br />
"Daß ich sie so lieb habe ist <strong>von</strong> jeher uneigennützig gewesen."<br />
Kein Zweifel also, dass bereits damals tatsächlich die Devise "Unigennützigkeit<br />
in Liebe und Freundschaft" <strong>von</strong> Goethe gekannt<br />
und befolgt, "ausgeübt" worden ist. Die Autobiographie sagt hierin<br />
<strong>nicht</strong>s als die lautere Wahrheit.<br />
Der WERTHER-Roman, der dieses Erlebnis spiegelt, wurde<br />
geschrieben anderthalb Jahre nach Goethes Trennung <strong>von</strong> Lotte.<br />
Es traf sich merkwürdig, dass Goethe während der Niederschrift<br />
des Romans - die in wenigen Wochen, Frühjahr 1774, erfolgte -<br />
nochmals in einen Spannungszustand versetzt wurde ähnlich dem<br />
im Roman geschilderten. Im Januar 1774 heiratete die 18jährige<br />
Maximiliane La Roche, Tochter der Schriftstellerin Sophie <strong>von</strong> Laroche,<br />
den Frankfurter Kaufmann Brentano. Für Maximiliane, die<br />
spätere Mutter <strong>von</strong> Clemens und Bettina Brentano, faßte Goethe<br />
bereits eine sehr intensive Neigung, seit er sie im Herbst 1772, nach<br />
s inem Weggang <strong>von</strong> Wetzlar, kennengelernt hatte. Deshalb wurde<br />
es ihm zu einem tiefschmerzlichen Erlebnis, als sie Anfang 1774<br />
nach Frankfurt zog, nun aber verheiratet mit einem viel älteren<br />
Manne, den sie <strong>nicht</strong> liebte. Ungewollt fiel Goethe eine Zeitlang<br />
die Rolle des Hausfreundes zu, der die junge Frau trösten mußte<br />
- wie Merck damals schrieb - über den Geruch <strong>von</strong> Öl und Käse<br />
im Hause des Kaufmanns und über dessen schlechte Manieren.<br />
01 HTUNG UND WAHRHEIT teilt mit, dass diese Erlebnisse den un-<br />
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