Ihr kennt eure Bibel nicht! - von Katharina Mommsen
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äußerlich einen Zusammenhang aufweisen: nämlich durch die gemeinsame<br />
handschriftliche Überlieferung. Gerade das Wesen dieses<br />
Zusammenhangs bemerklich zu machen, ist eine Hauptabsicht<br />
unserer Ausführungen. Das Gedicht, das erst 1893 gedruckt wurde,<br />
lautet mit seinem <strong>von</strong> den Herausgebern geprägten Titel:<br />
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AN HERKULES<br />
In der Kindheit Schlaf begraben<br />
Lag ich, wie das Erz im Schacht;<br />
Dank, mein Herkules! den Knaben<br />
Hast zum Manne du gemacht,<br />
Reif bin ich zum Königssitze<br />
Und mir brechen stark und groß<br />
Thaten, wie Kronions Blize,<br />
Aus der Jugend Wolke los.<br />
Wie der Adler seine Jungen,<br />
Wenn der Funk' im Auge klimmt,<br />
Auf die kühnen Wanderungen<br />
In den frohen Aether nimmt,<br />
Nimmst du aus der Kinderwiege,<br />
Von der Mutter TIsch' und Haus<br />
In die Flamme deiner Kriege,<br />
Hoher Halbgott mich hinaus.<br />
Wähntest du, dein Kämpferwagen<br />
Rolle mir umsonst ins Ohr?<br />
Jede Last, die du getragen,<br />
Hub die Seele mir empor,<br />
Zwar der Schüler mußte zahlen;<br />
Schmerzlich brannten, stolzes Licht<br />
Mir im Busen deine Strahlen,<br />
Aber sie verzehrten <strong>nicht</strong>.<br />
Wenn für deines Schiksaals Woogen<br />
Hohe Götterkräfte dich,<br />
Kühner Schwimmer! auferzogen,<br />
Was erzog dem Siege mich?<br />
Was berief den Vaterlosen,<br />
Der in dunkler Halle saß,<br />
Zu dem Göttlichen und Großen,<br />
Daß er kühn an dir sich maß?<br />
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Was ergriff und zog vom Schwarme<br />
Der Gespielen mich hervor?<br />
Was bewog des Bäumchens Arme<br />
Nach des Aethers Tag empor?<br />
Freundlich nahm des jungen Lebens<br />
Keines Gärtners Hand sich an,<br />
Aber kraft des eignen Strebens<br />
Blikt und wuchs ich himmelan.<br />
Sohn Kronions! an die Seite<br />
Tref ich nun erröthend dir,<br />
Der Olymp ist deine Beute;<br />
Komm und theile sie mit mir!<br />
Sterblich bin ich zwar geboren,<br />
Dennoch hat Unsterblichkeit<br />
Meine Seele sich geschworen,<br />
Und sie hält, was sie gebeut.<br />
Das Gedicht ist, wie man annimmt, am 24. Juli 1796 an Schiller<br />
gesandt worden, der jedoch Hölderlins Bitte, es zu drucken, <strong>nicht</strong><br />
erfüllte. Was seine Form betrifft, so gehört AN HERKULES zu den<br />
wenigen Nachzüglern der Tübinger Reimhymnen, die eine dichterische<br />
Schönheit besonderer Art aufweisen. Es ist geschrieben im<br />
Versmaß <strong>von</strong> Schillers LIED AN DIE FREUDE, das auch einer Reihe anderer<br />
Reimhymnen zugrunde lag.<br />
Wilhelm Böhm sah das Gedicht vor allem als Ausdruck eines<br />
neuen gesteigerten Selbstgefühls an, gerade im Hinblick auf das<br />
Verhältnis zu Schiller. Gewiß ist das richtig. Was jedoch ebenfalls<br />
darin, und zwar in allen Teilen des Gedichts, zur Darstellung<br />
kommt, das scheint doch jenes intensive Erlebnis des Größenunterschieds<br />
zu sein - des vermeintlichen Größenunterschieds -, <strong>von</strong><br />
dem wir in den Briefen an Schiller so viele Spuren fanden. Auf<br />
diesen Größenunterschied spielt hier natürlich die mythologische<br />
inkleidung an, allerdings mit Betonung eines stolzen Gefühls des<br />
ignen Werts. Herkules ist der Sohn des Zeus und einer Sterblih<br />
n, der Dichter dagegen sieht sich als »vaterlos«, als <strong>nicht</strong> gött-<br />
Ii h geboren. Aber zu den »Kriegern«, die Herkules führt, nahm er<br />
n Dichter »mit hinaus«, wie der Adler seine Jungen zum Höhen-<br />
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