Ihr kennt eure Bibel nicht! - von Katharina Mommsen
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höchstem Maße - schon durch seinen riesenhaften Wuchs - gewann<br />
er als Mensch die Herzen. Es zeugt <strong>von</strong> der ungewöhnlichen<br />
Ausstrahlung seiner Persönlichkeit, dass eine Stadt wie Berlin ihn<br />
in einem seiner Art nach unvergleichlichen Plebiszit zum Besten<br />
und Würdigsten erklärte, als es galt, Napoleon den geeigneten<br />
Volksvertreter entgegenzustellen. Geistreich und gebildet, war<br />
Zelter selbst für Männer wie Goethe, Schiller, Fichte, Schlegel,<br />
Schleiermacher und viele andere Prominente seiner Zeit ein fruchtbarer<br />
Gesprächspartner. Was ihm dabei zugute kam, war etwas,<br />
das keine Schule und Gelehrsamkeit verleiht: Gedanke und Wort<br />
entwickelten sich bei ihm auf dem Grunde einer urwüchsig gesunden,<br />
wie Goethe es nannte, "derb und tüchtigen" Natur. "Seine<br />
Reden sind handfest wie Mauern, aber seine Gefühle zart und<br />
musikalisch" - so charakterisiert ihn A. W. Schlegel (an Goethe<br />
10. Juni 1798), anspielend auf Zelters Herkunft aus dem Maurerberuf.<br />
Und in der Tat: 'auf dem Bau', <strong>von</strong> den Berliner Handwerkern<br />
lernte Zelter, immer das rechte, treffend-griffige, <strong>von</strong> Schlagfertigkeit<br />
und prallem Humor gewürzte Wort zu finden. All dies<br />
bewirkte, dass Zelters Urteile bei Goethe so hoch in Ehren standen,<br />
auch wenn sie sein eigenes Schaffen betrafen. Mochte er <strong>von</strong><br />
Gelehrteren "manches Gute und Freundliche" über ein Werk hören,<br />
den ausschlaggebenden, brauchbaren Spruch erwartete und<br />
empfing er in der Regel <strong>von</strong> Zelter: schließlich blieb dieser "der<br />
erste und einzige, der in die Sache selbst eingeht" (an Zelter<br />
3. Dezember 1812, über dessen Bemerkungen zu DICHTUNG UND<br />
WAHRHEIT). Wie Zelters Persönlichkeit an Reichtum, so übertraf<br />
sein Charakter an Stärke, Lauterkeit und Tiefe die meisten, mit<br />
denen der späte Goethe freundschaftliche Kontakte pflegte. "Tüchtig",<br />
"redlich", "grandios", "grundwahr und trefflich" - Vokabeln<br />
wie diese kehren in Goethes Zelterlob immer wieder. Mit ganz<br />
ähnlichen Ausdrücken definierte er in WINCKELMANN UND SEIN JAHR<br />
HUNDERT die Besonderheit des Winckelmannschen Charakter$. Das<br />
berühmte Wort über Zelter: "Wenn die Tüchtigkeit sich aus der<br />
WeIt verlöhre; so könnte man sie durch ihn wieder herstellen", läßt<br />
vermuten, dass vieles bei dem Freund ihn an Winckelmann erinnerte:<br />
es wurde geschrieben wenige Monate nach Abfassung der<br />
358<br />
Winckelmannschrift und kam aus deren Gedankenkreis (an Herzog<br />
Carl August 10. August 1805).<br />
Besonders beeindruckt war Goethe immer wieder <strong>von</strong> der Uneigennützigkeit<br />
Zelters. Als "rührend" empfand er das selbstlose<br />
Anerkennen und Fördern <strong>von</strong> Schülern, auch wenn diese größer<br />
waren als er selber (vgl. Goethe an Zelter 8. März 1824). Bewundernswert<br />
war ihm stets, wie Zelter mit den Sorgen ums tägliche<br />
Brot (für eine zeitweilig mehr als fünfzehnköpfige Familie!) fertig<br />
wurde, Sorgen, die er freiwillig auf sich nahm seit der Ausübung<br />
seines zweiten, des Musikerberufs. Dabei wird es ihm noch <strong>nicht</strong><br />
einmal zu Ohren gekommen sein, dass Zelter noch im Jahre 1811<br />
"wöchentlich 27 Lectionen unentgeltlich" erteilte, um unbemittelten,<br />
aber begabten Schülern weiterzuhelfen.1<br />
Goethes Freundschaft mit Zelter erhält dadurch ihr besonderes<br />
Gepräge, dass sie sich mehr auf einen intensiven Briefwechsel<br />
stützte als auf persönliche Gegenwart. Insgesamt haben sich beide<br />
Freunde nur etwa 27 Wochen gesehen. Jede Begegnung mit Zelter<br />
steigerte allerdings Goethes Zuneigung, oft genug bedeutete<br />
sie ihm Trost und Erquickung in schwerer Krise. So war es im Jahre<br />
1805, einige Monate nach Schillers Tod, Zelters Besuch, der dem<br />
Dichter" wieder.Lust zu leben gegeben und vermehrt hat" (an Zelter<br />
1. September 1805). So riß ihn der Freund 1814 aus seiner tiefen<br />
Verstimmung über die Entwicklung des öffentlichen Lebens<br />
und erweckte die Lust zu neuen Liedern. Zelters Gegenwart und<br />
Zuspruch richtete ihn auf, als er 1823, im Jahr der Marienbader<br />
ELEGIE, <strong>von</strong> leidenschaftlicher Depression erfaßt darniederlag. Kein<br />
zweiter kann sich rühmen, dem späten Goethe als Helfer in ähnlichen<br />
Situationen ähnliches bedeutet zu haben.<br />
Dennoch: was Goethes Dankbarkeit mehr als alles andere hervorrief,<br />
waren Zelters Briefe. Schätzte er diese anfangs als Quelle<br />
der Belehrung und Erheiterung oder als menschliche Dokumente,<br />
so erkannte er bald ihren eigentlichen Wert. Er entdeckte, dass<br />
Siehe Zelters Bericht Über den Zustand des allgemeinen Gesangswesens, zitiert bei: AIfred<br />
Morgenroth, earl Friedrich Zelter. Berliner Dissertation 1922 (ungedruckt).<br />
5.65.<br />
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