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Ihr kennt eure Bibel nicht! - von Katharina Mommsen

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licher: »eingehüllet und gemildert im Liede«. Der gesamte Gedankengang<br />

ist für Hölderlin höchst charakteristisch. Gemeint ist nämlich:<br />

nur wenn des Dichters Lied die himmlische Gabe in behutsamer<br />

Weise einhüllt, deren Geheimnisse <strong>nicht</strong> zu sehr preisgibt,<br />

sie damit zugleich 'mildert', nur dann entgeht er der mit dem 'Fassen'<br />

des Göttlichen verbundenen Gefahr. Dann wird ihn des Vaters<br />

Strahl <strong>nicht</strong> versengen, sein Herz wird rein, seine Hände<br />

schuldlos bleiben (Entwurf: »gereinigt <strong>von</strong> Freveln«). Anders jedoch,<br />

wenn er zuviel verrät, wenn das Lied <strong>nicht</strong> genügend einhüllt<br />

und verbirgt: dann begeht er den Frevel des Tantalos, dann<br />

droht ihm ein entsprechend verderbliches Schicksal.<br />

Die Einbeziehung der Tantalos-Sage überhaupt, so zeigt sich<br />

jetzt, erklärt sich erst in der rechten Weise, wenn man den Bezug<br />

auf das Vorhergehende beachtet. Der Mythos vom Verräter göttlicher<br />

Geheimnisse steht im Gegensatz zum Bild des geheimnisbewahrenden<br />

Dichters. Alles zusammen läuft hinaus auf die Forderung<br />

nach Maß, nach Beachtung der <strong>von</strong> den Göttern bestimmten<br />

Grenzen. Damit erklärt sich die gesamte Überleitung. Was mit den<br />

gewichtigen Worten: »Weh mir! wenn [. .. ] « beginnt, deutet auf<br />

die Folgen etwaigen Nicht-Maßhaltens. Läßt sich der Dichter dazu<br />

hinreißen, das Göttliche zu sehr zu enthüllen, so wird er zum »falschen<br />

Priester«.<br />

Der große Prosaentwurf zur Hymne WIE WENN AM FEIERTAGE bietet<br />

die Aussage der Schlußstrophen in ähnlich fragmentarischer<br />

Form wie die metrische Fassung. Dabei tritt <strong>nicht</strong> nur der Tantalos-Mythos<br />

in noch deutlicheren Konturen hervor. Es findet sich<br />

hier außerdem ein wertvolles gedankliches Zwischenglied, das in<br />

die metrische Fassung <strong>nicht</strong> aufgenommen wurde. Wir erfahren,<br />

dass ganz bestimmt benannte Ursachen den Dichter an jene bedenkliche<br />

Grenze hinzutreiben drohen, wo er - Tantalos ähnlich<br />

- zuviel <strong>von</strong> den Göttern schauen und verraten könnte. Zwischen<br />

die Worte: »Aber [weh mir!] wenn <strong>von</strong>[ ... ] « und den Satz: »Und<br />

sag ich gleich, ich wäre genaht, die Himmlischen zu schauen« ist<br />

hier eingeschoben: »Aber wenn <strong>von</strong> selbgeschlagener Wunde das<br />

Herz mir blutet, und tiefverloren der Frieden ist, u. freibescheidenes<br />

Genügen, Und die Unruh, und der Mangel mich treibt zum<br />

122<br />

Überflusse des Göttertisches [ ... ] « Danach folgt der Passus vom<br />

falschen Priester: »0 daß ich dann <strong>nicht</strong> sage« usw.<br />

Das Entscheidende innerhalb des hier Eingeschobenen ist ausgesprochen<br />

durch die Worte: Unruh und Mangel. Damit tritt ein<br />

weiterer Aspekt zutage. Die Empfindung <strong>von</strong> Unruh und Mangel<br />

ist ja in besonderer Weise charakteristisch für das schwierige<br />

Leben des Dichters in dürftiger, götterloser Zeit; für den Zustand,<br />

den Hölderlins Dichtung viele Male darstellt als bezeichnend für<br />

eine persönliche Situation. Denken wh: an das Elend Hyperions<br />

oder die Not des Empedokles, an das Schicksal des »armen Sehers«<br />

Rousseau oder an das der in dürftiger Zeitnacht trauernden<br />

Dichter in BROD UND WEIN - alle Schichten des Werks enthalten Klag<br />

n über jenes eigentlich Hölderlinsche Leiden am Zeitalter.<br />

Dabei müssen wir uns stets vergegenwärtigen, worin ganz<br />

konkret der Mangel, die Dürftigkeit und Gottferne der Zeit beteht.<br />

Gemeint ist damit der den Dichter als Realität umgebende<br />

Menschheitszustand. In den heute Lebenden erscheint das Gött­<br />

Ii he <strong>nicht</strong> mehr so, wie es in begnadeteren Zeiten - besonders der<br />

Antike - der Fall war. Dem Manne ist <strong>nicht</strong> der Stempel der Gotthitaufgedrückt,<br />

wie es in BROD UND WEIN heißt. Zwar sieht der<br />

ichter schon einen Umschwung voraus, aber die Wiederkunft ein<br />

r anderen, <strong>von</strong> der Gottheit gezeichneten Menschheit steht erst<br />

. vor. Noch sind sie <strong>nicht</strong> da, die Hölderlin in der Spätdichtung<br />

I die »Künftigen«, die »Neuen«, die »Verheißenen« bezeichnet,<br />

I die »Göttlichgeborenen«, die »Göttermenschen«, die »heilige<br />

haar«. Solange aber diese Ankunft sich noch <strong>nicht</strong> vollzogen hat,<br />

I nur als bevorstehend geahnt wird, empfindet der Dichter den<br />

harakteristischen Zustand des Mangels. Ihm fehlt die adäquate<br />

m nschliche Umwelt. Womit er es de facto zu tun hat, ist die morne<br />

Welt derer, die er die »Rastlosen«, »Unsteten« nennt, die<br />

)) Wi lden«, »Irrenden«, »Götterlosen«. Wie Hölderlin mit solchen<br />

W ndungen immer wieder die Menschen der neueren Zeit be-<br />

7. i hnet, das erklärt es, wenn zur Empfindung des Mangels die<br />

gl i hfalls typische der »Unruh« tritt, <strong>von</strong> der im Prosaentwurf der<br />

Iymn gesprochen wird, sowie auch der dort beklagte Verlust des<br />

Fr! d ns, des freibescheidenen Genügens.<br />

123

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