Ihr kennt eure Bibel nicht! - von Katharina Mommsen
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Fall wird zum Anlaß genommen, auf Allgemeingültiges hinzuweisen<br />
zu warnen vor Hypochondrie.<br />
Etwas wie eine Beichte wäre recht wohl denkbar gewesen bei<br />
dem Rückblick auf die Leipziger Zeit in Buch 8. In keiner Epoche<br />
seines Lebens hat Goethe sich vielleicht weiter <strong>von</strong> seinem eigentlichen<br />
Selbst entfernt wie während des Aufenthalts in Leipzig. Das<br />
zeigen noch die Briefe aus jener Zeit. Für eine Weile hatte das lebenslustige<br />
Rokoko ihn ganz in seinen Bann gezogen. Die Gefährdungen<br />
dieser Zeit werden in DICHTUNG UND WAHRHEIT mit symbolischen<br />
Zügen angedeutet. Bei der Abreise nach Leipzig - der ersten Ausfahrt<br />
seines Lebens - sieht der Jüngling das seltsame Schauspiel<br />
des "Pandämoniums <strong>von</strong> Irrlichtern" (Buch 6). Das war ein bedenkliches<br />
Vorzeichen ebenso wie der bald hinterher sich ereignende<br />
Unfall mit dem Wagen. Ominöses ereignete sich auch beim Verlassen<br />
<strong>von</strong> Leipzig: der Studententumult, so dass Goethe zu berichten<br />
hat, "mit einem so gellenden Nachklang akademischer Großtaten"<br />
sei er schließlich 1768 aus Leipzig abgefahren. Sicherlich<br />
kehrte Goethe tief unzufrieden mit sich nach Frankfurt zurück. Zur<br />
Selbstbesinnung führte die aus Leipzig mitgebrachte Krankheit.<br />
All das wird in DICHTUNG UND WAHRHEIT aber <strong>nicht</strong> in Form einer<br />
Beichte <strong>von</strong> reuigen Betrachtungen dargestellt. Es bleibt bei Andeutungen,<br />
wobei man zwischen den Zeilen lesen muß. "Gleichsam<br />
als ein Schiffbrüchiger" sei er zurückgekehrt - soviel wird<br />
immerhin gesagt. Doch habe er sich "<strong>nicht</strong> sonderlich viel vorzuwerfen"<br />
gehabt, infolgedessen sich bald "ziemlich zu beruhigen<br />
gewußt". Von der nun folgenden Epoche einer tiefgreifenden Verinnerlichung<br />
und Umkehr erfahren wir recht wenig und auch das<br />
Wichtigste nur in märchenhafter Einkleidung. Es fallen mehr als<br />
sonst selbstkritische Bemerkungen; das immer wiederholte Betrachten<br />
der so verräterischen Leipziger Briefe spielt eine gewisse Rolle.<br />
Dann aber läßt erst der Bericht <strong>von</strong> den alchemistischen Studien<br />
es ahnen, dass Goethe ganz neue Wege geht. Wohin diese<br />
führen, zeigt der Abschnitt über das "mystische Dogma" am Schluß<br />
des 8. Buchs: zu einer religiösen Selbstbesinnung. So steht diese<br />
ganze Partie, für die eine mehr subjektive Erzählweise so nahe gelegen<br />
hätte, ganz im Zeichen des Objektivierens. Goethe stellt die<br />
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inneren Vorgänge <strong>nicht</strong> mit historischer Treue dar - wie er gekonnt<br />
hätte -, sondern in dichterischer Umschreibung. Wahrheitsgemäße<br />
Beichte wird ersetzt durch das andeutende Bild.<br />
Der Zurückhaltung im Schildern seiner Erlebnisse entspricht<br />
die auffällige Bescheidenheit, mit der Goethe seine Fähigkeiten,<br />
seine Talente zur Darstellung bringt. Auch hier ist programmatische<br />
Absicht zu erkennen. Diese hängt mit einem wesentlichen Charakterzug<br />
Goethes zusammen: er war zwar sehr selbstbewußt, aber<br />
<strong>nicht</strong> eitel. Da mußte es ihn in echte Verlegenheit bringen, wenn die<br />
Autobiographie ihn nötigte, <strong>von</strong> seiner Genialität, seinen Erfolgen,<br />
<strong>von</strong> Ruhm und Ehre zu sprechen, die daraus entsprangen. Es gab<br />
für ihn nur eine Möglichkeit, diese Aufgabe zu lösen, wie es Geschmack<br />
und Taktgefühl ihm vorschrieb: eine fast auf Selbstverleugnung<br />
hinauslaufende Bescheidenheit in der Berichterstattung - jenes<br />
weitgehende understatement, das wir bei der Schilderung seiner<br />
außergewöhnlichen Begabungen überall feststellen können.<br />
Nun hat aber diese Bescheidenheit in ihrer Auswirkung auf das<br />
Ganze etwas geradezu Irreführendes. Schließlich war der Held<br />
dieser Autobiographie ein Genie, ein großer Dichter, und als Mensch<br />
- gerade in der hier dargestellten Jugendzeit - eine Persönlichkeit<br />
<strong>von</strong> faszinierender Ausstrahlung. All das wird in DICHTUNG UND<br />
WAHRHEIT <strong>nicht</strong> in angemessener Weise deutlich. Man muß schon<br />
feste Vorstellungen <strong>von</strong> Goethe mitbringen, will man ihn in seiner<br />
Autobiographie richtig erkennen.<br />
Insbesondere in den ersten beiden Teilen wird der Leser stets<br />
genötigt, sich das Bild zu ergänzen und sich daran zu erinnern: es<br />
ist Goethes Jugend, die Frühzeit eines großen Dichters, die hier<br />
beschrieben wird. Denn <strong>von</strong> der Genialität des Knaben, des Jünglings<br />
ist so gut wie keine Rede. Dass auch Goethe eine Art Wunderkind<br />
gewesen sein muß, da<strong>von</strong> würde DICHTUNG UND WAHRHEIT<br />
allein schwer einen Begriff geben. Nur spärliche Andeutungen sprechen<br />
da<strong>von</strong>, und man muß beim Lesen sorgfältig auf sie achten.<br />
Hierher gehören beispielsweise verschiedene Berichte über Goethes<br />
Eigenschaften als Schüler. Man erfährt schon im 1. Buch, dass<br />
r "durch schnelles Ergreifen, Verarbeiten und Festhalten sehr bald<br />
d m Unterricht entwuchs". Mit Leichtigkeit verfaßt er Aufsätze,<br />
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