Ihr kennt eure Bibel nicht! - von Katharina Mommsen
Ihr kennt eure Bibel nicht! - von Katharina Mommsen
Ihr kennt eure Bibel nicht! - von Katharina Mommsen
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
ger, als Goethe dem Freunde in DICHTUNG UND WAHRHEIT ein verschönerndes<br />
Denkmal setzte. Im Falle <strong>von</strong> Merck und Herder wurden<br />
die schwierigen Charaktereigenschaften dieser Männer offensichtlich<br />
mit Schonung dargestellt. Allgemein färbt ein gutmütiges<br />
Wohlwollen die Menschendarstellung in DICHTUNG UND WAHRHEIT.<br />
So entsprach es Goethes Intention, die Welt mit Liebe zu betrachten,<br />
das Vergangene mit Heiterkeit zu schildern und das "Lamentable"<br />
fern zu halten.<br />
Anders steht es mit den Frauen. Wie Goethe als Dichter seine<br />
Geliebten stets idealisierend sah, so gibt er auch in DICHTUNG UND<br />
WAHRHEIT <strong>von</strong> den Freundinnen der Jugend ein Bild ungetrübter<br />
Schönheit. Die besonderen Eigenheiten einer jeden werden so geschildert,<br />
dass sie dadurch an individuellem Liebreiz noch gewinnt.<br />
Hier bewährt sich die ganze Kunst des großen Meisters der Frauendarstellung.<br />
Als die dichterisch glanzvollsten Partien in Dichtung<br />
und Wahrheit gelten denn auch die novellistischen Erzählungen<br />
<strong>von</strong> Gretchen, Käthchen, <strong>von</strong> Friederike, Lotte und Lili.<br />
Bildungswelt und Schaffen<br />
In entscheidender Weise erschwert wurde Goethes Entwicklung<br />
durch die Rückständigkeit der kulturellen Verhältnisse im Deutschland<br />
des 18. Jahrhunderts. "Als ich achtzehn war, war Deutschland<br />
auch erst achtzehn." Diese zu Eckermann gesprochenen Worte<br />
(15. Februar 1824) kennzeichnen die Situation, in die der Dichter<br />
gestellt war. Goethe war genötigt, auf allen Gebieten seines Wirkens<br />
den Boden, den er bearbeiten wollte, erst urbar zu machen.<br />
Um künstlerisch schaffen zu können, mußte er selbst erst das gesamte<br />
Kunstniveau seiner Zeit heben. Hierüber in umfassender<br />
Weise zu berichten, war eins der Hauptanliegen <strong>von</strong> DICHTUNG UND<br />
WAHRHEIT.<br />
Insbesondere die vielen Abschnitte über Literatur - deutsche,<br />
französische, englische - weisen kritisch und vergleichend hin auf<br />
die <strong>von</strong> dem jungen Goethe zu bewältigenden Schwierigkeiten. In<br />
Deutschland war die Verskunst noch unentwickelt, es fehlte an kri-<br />
336<br />
tisch-ästhetischen Maßstäben, aber auch an Stoffen, die der höheren<br />
Dichtung angemessen gewesen wären. Ausführlich wird geschildert,<br />
warum eine etwaige Anlehnung an die dominierende französische<br />
Literatur, wie sie noch Friedrich der Große befürwortete,<br />
keine Lösung darstellte (Buch 11). Gerade in Straßburg, wohin Goethe<br />
nach seinem eigenen Eingeständnis ursprünglich gegangen war,<br />
um sich in der französischen Sprache zu vervollkommnen, kam der<br />
Entschluß zur Abkehr <strong>von</strong> Frankreich. Hier erkannte er, dass dem<br />
Streben der jungen Dichtergeneration nach "Natur und Wahrheit"<br />
mit den Mitteln einer "bejahrten" Literatur und Sprache wie der<br />
französischen <strong>nicht</strong> mehr abzuhelfen war. Da lagen in der noch<br />
jungen deutschen Sprache die größeren Möglichkeiten. Herders<br />
Einfluß mag zu dieser Er<strong>kennt</strong>nis mitgeholfen haben. Entscheidend<br />
war aber wohl etwas anderes, wo<strong>von</strong> DICHTUNG UND WAHRHEIT <strong>nicht</strong><br />
spricht. In Straßburg erlebte Goethe das Wunder, dass ihm erstmals<br />
Gedichte glückten mit jenen Ur- und Naturlauten, die die Gewähr<br />
für eine Erneuerung der deutschen Sprache <strong>von</strong> Grund auf boten.<br />
Damit war das Französische als Vorbild entbehrlich geworden.<br />
Goethe war später mit seiner Darstellung der französischen<br />
Literatur in DICHTUNG UND WAHRHEIT <strong>nicht</strong> mehr zufrieden. "Voltaire<br />
und seine großen Zeitgenossen [. .. ] es geht aus meiner Biographie<br />
<strong>nicht</strong> deutlich hervor was diese Männer für einen Einfluß<br />
auf meine Jugend gehabt, und was es mich gekostet, mich gegen<br />
sie zu wehren und mich auf eigene Füße in ein wahreres Verhältnis<br />
zur Natur zu stellen." (Zu Eckermann, 3. Januar 1830.) DICH<br />
TUNG UND WAHRHEIT stellt - darauf spielen diese Worte an - die französische<br />
Literatur betont negativ dar, weil Goethe hier die Abkehr<br />
einer jungen Generation <strong>von</strong> dem für sie Veralteten historisch begründen<br />
mußte. Solche generationsbedingten Gesinnungen sind<br />
stets einseitig. Dass er in Wirklichkeit der französischen Dichtung<br />
außerordentlich viel verdankte, hat Goethe bei anderen Gelegenheiten<br />
oft betont.<br />
Auch in den Abschnitten über die deutsche Literatur des 18.<br />
Jahrhunderts findet sich manche Einseitigkeit des Urteils. Vielfach<br />
vermittelte Goethe auch hier mehr die Einsicht in eine bestimmte<br />
Zeitsituation; insofern sind diese Abschnitte in erster Linie wert-<br />
337