Ihr kennt eure Bibel nicht! - von Katharina Mommsen
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Mir scheint, dass besonders der Passus: »Willst, du Armer, stehen<br />
allein und allein durch dich selber« - mit der durch Schiller veranlaßten<br />
Betonung des Wortes »allein« durch Sperrdruck - Hölderlins<br />
Lage <strong>von</strong> damals seltsam genau bezeichnet. Über sein AIleinstehn<br />
und seine "Armseligkeit" hatte Hölderlin ja auch gerade<br />
geklagt in dem ersten Brief an Schiller aus Nürtingen, der seinen<br />
Weggang aus Jena entschuldigen, als "Apologie" begründen sollte.<br />
Wobei er allerdings zugleich bekannte: "Ich lebe sehr einsam<br />
und glaube, dass es mir gut ist."<br />
Offenbar besteht doch nun auch ein Zusammenhang zwischen<br />
diesen Schillerschen Versen und den sehr bald nach ihrem Erscheinen<br />
verfaßten Hölderlinschen Gedichten, die das Thema der titanischen<br />
Selbstisolierung behandelten. Eine ganze Reihe <strong>von</strong> Anklängen<br />
tritt hier zutage:<br />
1. Sowohl bei Schillers DER PHILOSOPHISCHE EGOIST als auch bei<br />
Hölderlins HERKuLEs-Hymnus steht am Anfang das Bild des schlafenden<br />
Kindes, des Kindes, das dann gepflegt und aufgezogen wird.<br />
Bei Schiller ist es die Natur, die das Kind aufzieht, bei Hölderlin ist<br />
es der Halbgott Herkules:<br />
In der Kindheit Schlaf begraben<br />
Lag ich, wie das Erz im Schacht;<br />
Dank, mein Herkules! den Knaben<br />
Hast zum Manne du gemacht [ ... ]<br />
Von der »Kindheit Schlaf« spricht das Hölderlinsche, vom schlafenden<br />
Säugling das Schillersche Gedicht. In letzterem wiederholen<br />
sich sogar die Wendungen, die auf Schlummer und Schlaf deuten,<br />
in den Versen 5 f.:<br />
Hast du eine Mutter gesehn, wenn sie Schlummer dem Kinde<br />
Kauft mit dem eigenen Schlaf [ ... ]?<br />
Der für eine HERKuLEs-Hymne merkwürdige Beginn würde sich<br />
erklären, wenn man ihn als Replik auf Schillers DER PHILOSOPHISCHE<br />
EGOIST auffaßt, mit besonderem Bezug auf dessen Eingangsverse.<br />
2. Im zweiten Vers <strong>von</strong> Schillers DER PHILOSOPHISCHE EGOIST heißt<br />
es, dass die Mutter das Kind »wiegt«: »Die ihn wärmet und wiegt«.<br />
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Das Bild <strong>von</strong> der Wiege taucht auch, seltsam genug, in Hölderlins<br />
HERKULEs-Hymne auf (v. 13 ff.):<br />
[ ... ]<br />
Nimmst du aus der Kinderwiege,<br />
Von der Mutter Tisch' und Haus<br />
In die Flamme deiner Kriege,<br />
Hoher Halbgott mich hinaus.<br />
Bei Schiller wird das Bild der wiegenden Mutter weiterhin in<br />
Parallele gesetzt zu der »großen Natur«, als »Mutter«. Hier ist daran<br />
zu erinnern, dass Hölderlin bereits früher, in dem Gedicht DAS<br />
SCHICKSAL, erschienen in Schillers THALlA 1794, ein entsprechendes<br />
Bild gebracht hatte. Hier ist gleichfalls <strong>von</strong> der »Wiege« der »Mutter«<br />
Natur die Rede, die als »heilige Natur« bezeichnet wird:<br />
Da sprang er aus der Mutter Wiege,<br />
Da fand er sie, die schöne Spur<br />
Zu seiner Tugend schwerem Siege,<br />
Der Sohn der heiligen Natur;<br />
Der hohen Geister höchste Gaabe,<br />
Der Tugend Löwenkraft begann<br />
Im Siege, den ein Götterknabe<br />
Den Ungeheuern abgewann.<br />
Der »Sohn«, der hier aus der Wiege der Mutter Natur hervorgeht,<br />
ist natürlich Herkules. Hatte Schiller diese Hölderlinschen Verse im<br />
Sinne, als er das Gedicht DER PHILOSOPHISCHE EGOIST schrieb? Für<br />
Hölderlin selbst mußte dieser Zusammenhang als wahrscheinlich<br />
gelten. Eine Einwirkung der Herkules-Partie aus Hölderlins DAS<br />
SCHICKSAL auf Schiller hat die Forschung auch sonst feststellen zu<br />
können geglaubt. Man rechnet mit der Möglichkeit, dass die auf<br />
Herkules bezüglichen Schlußstrophen <strong>von</strong> DAS REICH DER SCHATTEN<br />
angeregt wurden durch die soeben zitierte Strophe der HERKULES<br />
Hymne.15 Alles das waren jedenfalls weitere Anlässe für Hölderlin,<br />
15 Vgl. Ulrich Hötzer, Die Gestalt des Herakles in Hälderlins Dichtung, Stuttgart 1956,<br />
S. 150.<br />
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