Ihr kennt eure Bibel nicht! - von Katharina Mommsen
Ihr kennt eure Bibel nicht! - von Katharina Mommsen
Ihr kennt eure Bibel nicht! - von Katharina Mommsen
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Faksimile wiedergegeben nach: DER JUNGE G OETHE. Neu bearbeitete Ausgabe in fünf<br />
Bänden. Hrsg. <strong>von</strong> Hanna Fischer-Lamberg. Bd. IV. Berlin 1968. S. 325.<br />
296<br />
Mit der bedeutsamen Lebensentscheidung, die das Uneigennützigsein<br />
in Liebe und Freundschaft zum Gesetz machte, hat Goethe<br />
wirklich die Wege seiner künftigen Existenz vorgebildet. Viele<br />
Male wurde später <strong>von</strong> ihm das Gesetz erfüllt. Es entstand aber -<br />
dies gilt es festzuhalten - bereits das Jugendwerk, das Goethe den<br />
größen Erfolg seiner literarischen Laufbahn brachte, der WERTHER,<br />
auf ähnliche Weise im Geiste des Entsagens wie soviele der großen<br />
Dichtungen späterer Epochen. In DICHTUNG UND WAHRHEIT wird<br />
der Einschnitt, den die den WERTHER-Roman begleitende Lebensentscheidung<br />
machte, einmal bezeichnet mit den Worten: die wahre<br />
Sehnsucht dürfe nur auf ein Unerreichbares gerichtet sein (Buch<br />
12). Dieser Satz gilt fürs ganze Leben Goethes und bestimmte weitgehend<br />
sein Verhältnis zu Frauen. Bekanntlich war es zumeist die<br />
unerreichbare, die entfernte Geliebte, die Goethe als dichterisch<br />
Schaffenden am meisten inspirierte.<br />
Der WERTHER-Roman ist alles andere als etwa die eindeutige<br />
und womöglich prahlerische Darstellung eines moralischen Sieges.<br />
Was der Dichter sich als Verdienst anrechnen durfte, darüber<br />
sprach er <strong>nicht</strong>. Das Kreuz, das er auf sich nahm, das er in der<br />
erwähnten Briefunterschrift einmal andeutungsweise sehen ließ,<br />
im Werke hielt er es verborgen. DICHTUNG UND WAHRHEIT tut ein übriges,<br />
die wirkliche moralische Leistung zu verschleiern, z. B.<br />
wenn Goethe dort DIE LEIDEN DES JUNGEN WERTHERS eine Beichte<br />
nennt. Nach der Niederschrift, so heißt es, habe der Dichter sich<br />
"wie nach einer Generalbeichte wieder froh und frei gefühlt". Mit<br />
derartigem lenkt Goethe eher <strong>von</strong> der Hauptsache ab. Es gab<br />
<strong>nicht</strong>s zu "beichten". Vielmehr hätte die Möglichkeit bestandenandere<br />
Poeten hätten sie <strong>nicht</strong> vorbeigelassen - auf Grund der<br />
igenen Verdienste als mahnender Prophet aufzutreten und direkt<br />
ufzufordem: handelt so wie ich, begeht keinen Ehebruch, entsagt,<br />
verzichtet, seid uneigennützig ... Nichts da<strong>von</strong> gab er dem Werke<br />
mit. Ganz anders ging Goethe vor. Wie so oft später kehrt er<br />
auch hier die Erfahrungen seines Lebens um. Er stellt <strong>nicht</strong> dar,<br />
wie er sich verhielt, der im Besitz ungewöhnlicher moralischer<br />
Kräfte war und die Stärke besaß, auch aus der verführendsten<br />
ituation herauszufinden. Vielmehr schildert er einen gutgearte-<br />
297