Ihr kennt eure Bibel nicht! - von Katharina Mommsen
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hier: kein anderer Philosoph, sondern Spinoza war es, zu dem<br />
Goethe sich stets bekannte, <strong>von</strong> dem er noch als Siebzigjähriger in<br />
einem Epigramm sagte: »Der Philosoph, dem ich zumeist vertraue<br />
.. «14 Über eine so zentrale Frage wie die der Unsterblichkeit<br />
hätte Goethe nie anders als in Übereinstimmung mit Spinoza gesprochen.<br />
Es beruht auf ähnlichen terminologischen Scheinargumenten,<br />
wenn Goethe und Herder hartnäckig ein 'Dynamismus' zuerkannt<br />
wurde, der sie angeblich <strong>von</strong> Spinoza unterschied, mit dem man<br />
sie zugleich in rechte Nähe zum 'dynamischen Weltbild' des 'nordisch-germanischen<br />
Menschen' bringen wollte. Heute <strong>kennt</strong> und<br />
nennt man die Erörterungen der "potentia" in Spinozas ETHIK,15<br />
die Herder legitimierten, in seinem Buch GOTT <strong>von</strong> "Kräften" zu<br />
sprechen, Goethe <strong>von</strong> 'Tätigkeit', 'Polarität', vom 'Schaffen und Umschaffen'<br />
einer sich nie "zum Starren waffnenden" Natur. Selbst<br />
der müßige Wortstreit um die Begriffe 'Pantheismus' und 'Panentheismus',<br />
bei dem alle Mühe aufgewendet wurde, einen 'echt deutschen<br />
Pantheismus' gegen den des Spinoza zu stellen, basiert auf<br />
einer terminologischen Unterschlagung. In Wahrheit spielt bei Spinoza<br />
selbst der Gesichtspunkt der Immanenz eine beträchtliche<br />
Rolle. Im 11. Teil der ETHIK, Von der Natur und dem Ursprunge des<br />
Geistes, lautet Spinozas 15. Lehrsatz: "Alles was ist, ist in Gott, und<br />
<strong>nicht</strong>s kann ohne Gott sein oder begriffen werden."16 Unter Hinweis<br />
auf diesen Lehrsatz erscheint wiederholt in der ETHIK die Formel'in<br />
Deo'.J7<br />
14 WAl 51,109.<br />
15 Hans M. Wolff: Spinozas Ethik. Eine kritische Einführung. München, 1958. 5.24 ff.<br />
Vgl. Martin Bollacher: Der junge Goethe und Spinoza. Tübingen, 1969. s. 235.<br />
16 Ethices, Pars Secunda, De Natura, et Origine Mentis, Propositio XV: "Quicquid est,<br />
in Deo est, et nihil sine Deo esse, neque concipi potest."<br />
17 So lautet beispielsweise, gleichfalls in T. II, die Demonstratio zu Propositio XVIII:<br />
"Omnia, quae sunt, in Deo sunt, et per Deum concipi debent" (Alles was ist, ist in<br />
Gott und muß aus Gott begriffen werden); oder ebd. die Anmerkung zum 45. Lehrsatz:<br />
(Scholium zu Propositio XLV): Loquor [ ... ] de ipsa existentia rerum singularum,<br />
quatenus in Deo sunt." ("Ich spreche [ .. . ] <strong>von</strong> dem Dasein der einzelnen<br />
Dinge selbst, insofern sie in Gott sind ... ")<br />
222<br />
Indem wir vom Pantheismus sprechen, ist ein entscheidender<br />
Punkt erreicht. Spinozas Wirkung auf die Klassik blieb schwer faßlich,<br />
weil eine auf Pantheismus gegründete Weltanschauung,<br />
bei der die traditionelle Vorstellung vom personalen Schöpfergott<br />
fehlte, letzten Endes auf Ablehnung stieß. Mit der Formel vom<br />
Pan e n t h eis mus suchte man diesen personalen Gott wieder<br />
heranzutragen - im Gegensatz zu Spinoza und zu den Repräsentanten<br />
der Klassik, denen sonst die Formel vielleicht akzeptierbar<br />
gewesen wäre. Gott die Ehre zu geben, <strong>nicht</strong> der Welt - darauf lief<br />
alles Bestreben hinaus. Die Konzeption der Klassiker war gerade<br />
entgegengesetzt: sie gaben der Welt die Ehre, der Natur, und die<br />
hier entdeckten Werte erschienen ihnen <strong>von</strong> solchem Rang, dass<br />
sie das Prädikat "göttlich" für einzig geeignet hielten, ihn auszudrücken.<br />
Anerkannt wurde zwar auch <strong>von</strong> ihnen das unbedingte<br />
Primat des schaffenden Prinzips - Spinozas natura naturans. Doch<br />
erschien es seinem Wesen nach unerforschlich, konnte vom Menschen<br />
<strong>nicht</strong> gefaßt werden, am wenigsten als 'Person'. Nur mittelbar<br />
läßt das Göttliche in der Natur - der natura naturata Spinozas<br />
- sich erkennen. Dies gab der Welt, den Dingen ihren Wert und<br />
dem Menschen seine wichtigste Aufgabe.<br />
Mit dieser Einstellung zur Natur unterscheiden sich die Klassiker<br />
<strong>von</strong> ähnlich gerichteten Anschauungen. Ein allgemeines religiöses<br />
Naturgefühl war schon seit Beginn des 18. Jahrhunderts<br />
aufgekommen bei den B. H. Brockes, E. v. Kleist, A. v. Haller,<br />
bei Rousseau, Hamann, den Empfindsamen. Demgegenüber<br />
bedeutet der Pantheismus der Klassik eine entschiedene Steigerung,<br />
eine ganz neue Stufe ist erreicht. Die Frage erhebt sich: wie kam es<br />
dazu? Sie wäre keinesfalls zu klären mit der These Korffs, derzufolge<br />
jener Pantheismus eine Opposition darstellt gegen die "Entgötterung"<br />
der Welt durch die Aufklärung. Die Entgötterung der<br />
Welt, gegen die sich der Pantheismus kehrt, ist älteren Datums, sie<br />
vollzog sich beim Sieg des Christentums über die Antike, fast vor<br />
anderthalb Jahrtausenden. Genau hierauf zielt Schillers Wort <strong>von</strong><br />
der »entgötterten Natur« in DIE GÖTTER GRIECHENLANDS. Es war aber<br />
gerade ein neues Erlebnis der Antike, das für die Klassiker im 18.<br />
Jahrhundert das Weltbild verändert hatte.<br />
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