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Ihr kennt eure Bibel nicht! - von Katharina Mommsen

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durch, dass ihm dies gelang, hatte er auch als Dichter den Standpunkt<br />

gefunden, <strong>von</strong> dem aus er wirken konnte. Zwar wurde Goethe,<br />

trotz manchen Drängens <strong>von</strong> Freunden, kein religiöser Dichter<br />

wie Klopstock. Aber durch die ethische Tendenz, die sein<br />

Schaffen so stark bestimmt, wirkte er doch auch im religiösen Sinn<br />

erzieherisch für viele Generationen.<br />

Wie ihn äußere Eindrücke, Erlebnisse und Bildungserlebnisse<br />

schließlich zu seinen ersten Dichtungen inspirierten, schildern die<br />

Entstehungsgeschichten der Frühwerke in DICHTUNG UND WAHRHEIT.<br />

Im 12. Buch wiederholt Goethe, was er schon im Vorwort ausgesprochen<br />

hatte: vor allem sei die Autobiographie dazu "bestimmt,<br />

die Lücken eines Autorlebens auszufüllen, manches Bruchstück zu<br />

ergänzen und das Andenken verlorner und verschollener Wagnisse<br />

zu erhalten". Die entsprechenden Partien sind darum <strong>von</strong> so großer<br />

Bedeutung, weil sie einen unvergleichlichen Einblick gewähren<br />

in die Schaffensgeheimnisse eines großen Dichters. Übrigens<br />

spricht Goethe mit besonderer Ausführlichkeit gerade über die dichterischen<br />

Fragmente und Pläne. Was ihm <strong>nicht</strong> auszuführen gelang,<br />

sind besonders die Projekte großer religiöser Dichtungen:<br />

MAHOMET, DER EWIGE JUDE, PROMETHEUS. Hier war das Interesse an<br />

den Problemen stärker als der Drang zu dichterischer Realisierung.<br />

Gerade an diesen Projekten mag Goethe aufgegangen sein, dass<br />

religiöse Dichtung außerhalb seiner Bestimmung lag.<br />

Symbolische Darstellung<br />

Goethe äußerte einmal, er habe in DICHTUNG UND WAHRHEIT "eigentlich<br />

nur sein späteres Leben hinter das frühere versteckt". Er<br />

bezeichnete seine Autobiographie in diesem Zusammenhang<br />

geradezu als "Maskerade". (An Gräfin O'Donell, 22-. Januar 1813.)<br />

Diese Worte verdienen ganz besondere Beachtung, weil sie eine<br />

der wichtigsten Seiten des Werks berühren. Tatsächlich läßt sich<br />

feststellen, dass Goethe mit Vorliebe solche Züge ins Licht rückt,<br />

die gleichnishaft auf Späteres weisen, auf dauernde Persönlichkeitsund<br />

Lebenseigentümlichkeiten. Dadurch schildert DICHTUNG UND<br />

340<br />

WAHRHEIT, obgleich nur die ersten 26 Lebensjahre behandelt werden,<br />

doch in gewisser Weise den ganzen Goethe.<br />

Einige Beispiele mögen das verdeutlichen. Schon in frühester<br />

Kinderzeit zeigt sich - beim Blick aus dem Gartenzimmer - das<br />

"Gefühl der Einsamkeit", das später für den Dichter, für das "<strong>von</strong><br />

der Natur in ihn gelegte Ernste und Ahnungsvolle", bezeichnend<br />

ist (Buch 1). Der "Gott der Natur", dem das Kind seltsame Opfer<br />

darbringt, läßt an die spätere Entwicklung Goethes zum Spinozismus,<br />

zur Naturwissenschaft denken (Schluß Buch 1). Die ersten<br />

Liebeserlebnisse - mit dem Frankfurter Gretchen, dem Leipziger<br />

Käthchen - zeigen schon jene Vorliebe Goethes für "Naturwesen",<br />

die später in seiner Ehe zum Ausdruck kam. In den Märchen DER<br />

NEUE PARIS und DIE NEUE MELUSINE sind es speziell die "kleinen"<br />

Frauen, auf die Goethes Liebe fällt. Auch darin mag man eine symbolisierende<br />

Vordeutung auf Christiane sehen. Andererseits ist es<br />

aber auch ganz charakteristisch, dass bereits Goethes erste Liebe<br />

eine "durchaus geistige Wendung" nahm, dass er "in dem andern<br />

Geschlecht das Gute und Schöne sinnlich gewahr werden" wollte<br />

(Buch 5). Zeitlebens hat der Dichter seine Geliebten in diesem Sinne<br />

verehrt. Die "Schöne-Gute" heißt noch eine der hervorragendsten<br />

Frauengestalten in Goethes letztem Roman WILHELM<br />

MEISTERS WANDERJAHRE. Vordeutend sind aber auch die verschiedenen<br />

Schilderungen des Liebeswahnsinns (vor allem in Buch 6<br />

und 7): noch in hohem Alter konnte seine Leidenschaftlichkeit den<br />

Dichter zu ähnlichem" Weinen und Rasen" bringen wie damals<br />

nach dem Gretchen-Abenteuer.<br />

Selbst ein scheinbar so geringfügiger Zug wie die Erwähnung<br />

des Diktierens im 4. Buch wird bedeutungsvoll, wenn man des Dichters<br />

späteres Leben mit in Betracht zieht. Alles in Prosa Verfaßte<br />

pflegte Goethe zu diktieren. Er schrieb wie er sprach und sprach<br />

wie er schrieb. Namentlich im Alter vermochte er dadurch wie kein<br />

anderer der deutschen Prosa etwas vom Glanz antiker Rhetorik<br />

mitzuteilen. DICHTUNG UND WAHRHEIT legt da<strong>von</strong> beredtes Zeugnis<br />

ab. Da geschah es mit gutem Vorbedacht, wenn Goethe darauf hinwies,<br />

wie es ihm schon in frühester Jugend "bequem" erschien,<br />

alles" was ihm durch den Kopf ging", zu diktieren. Über sein wohl-<br />

341

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