Ihr kennt eure Bibel nicht! - von Katharina Mommsen
Ihr kennt eure Bibel nicht! - von Katharina Mommsen
Ihr kennt eure Bibel nicht! - von Katharina Mommsen
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
sten, mache wieder den Egoisten, ist etwas ziemlich Ungewöhnliches.<br />
Der Egoismus liegt nun ganz offensichtlich darin, dass er eben<br />
allein leben, allein stehen möchte - <strong>nicht</strong> in einer menschlichen<br />
Gemeinschaft, die für ihn unangemessen, die nur drückend und<br />
einschränkend ist. Es sieht doch aber ganz so aus, als ob diese Wendung<br />
vom Egoisten dem Dichter in die Feder geflossen ist, weil er<br />
sich zu dieser Zeit gerade mit Schillers Gedicht DER PHILOSOPHISCHE<br />
EGOIST auseinandersetzte und mit dem stillen Vorwurf, der darin<br />
gegen ihn erhoben wurde. Wenig später entstanden dann die Gedichte<br />
AN HERKULES und DIE EICHBÄUME.<br />
Mit den letzten fünfeinhalb Versen der EICHBÄUME hat es - wir deuteten<br />
schon darauf hin - eine eigene Bewandnis. Sie wurden erst<br />
etwa ein Jahr nach der Entstehung des Vorhergehenden verfaßt.<br />
In dieser ergänzenden Partie finden sich Gedanken, die mit den<br />
Urbestandteilen des Gedichts inhaltlich <strong>nicht</strong> ganz in Harmonie<br />
stehen. (Zu der Ergänzung benutzte Hölderlin auch <strong>nicht</strong> mehr<br />
die ursprüngliche Handschrift, sondern eine neue.) Der nachgetragene<br />
Schluß läßt erkennen, dass die Spannung, unter der Hölderlin<br />
lebte unmittelbar nach der Trennung <strong>von</strong> Schiller, jetzt gewichen<br />
ist und andere Stimmungen herandrängen. Zunächst wird<br />
- in Vers 12 und 13 - noch der letzte Satz der ursprünglichen Partie<br />
ergänzt:<br />
wie die Sterne des Himmels<br />
Lebt ihr, jeder ein Gott, in freiem Bunde zusammen.<br />
Dies ist noch ganz im Sinne des Vorhergehenden konzipiert. Ein<br />
Bezug auf das Verhältnis zu Schiller ist noch deutlich spürbar, wie<br />
denn auch dieser Passus - vgl. oben - auf Schillers DER PHILOSOPHI<br />
SCHE EGOIST im replizierenden Sinne anzuspielen scheint. Angeredet<br />
sind immer noch die Eichbäume. Wenn sie untereinander in<br />
Gemeinschaft stehen, so ist diese Gemeinschaft ein »freier Bund«<br />
der in ihrer Höhenwelt einzeln Stehenden und Entfernten. »Wie<br />
die Sterne .. . jeder ein Gott« - die Bildsprache weist hier hin auf<br />
86<br />
das "Götterpaar Kastor und Pollux"18, auf die Dioskuren also, für<br />
deren Freundschaft das Sternbild der Zwillinge ewiges Symbol ist<br />
seit der Antike. Die Dioskuren hat Hölderlin schon in den Tübinger<br />
Hymnen und auch später vielfach besungen. Hier dient der<br />
Mythos, um zu versinnbildlichen, was Hölderlin nach der Trennung<br />
weiter mit Schiller verbindet: Verehrung und Freundschaft<br />
auch aus der Ferne. Das Nietzschesche Bild <strong>von</strong> der "Sternenfreundschaft",<br />
das natürlich gleichfalls den Dioskuren-Mythos zum Hintergrund<br />
hat, findet sich also tatsächlich - seltsame Fügung - schon<br />
bei Hölderlin. Gleiches Erleben führt auf die gleiche Metapher: das<br />
Auseinandergehen zweier Großen, bei dem Liebe und Verehrung<br />
auf anderer, höherer Ebene fortbestehen.<br />
Im weiteren bringt der nachgetragene Schluß der EICHBÄUME eine<br />
neue motivische Wendung. Wie schon früher angedeutet, spiegeln<br />
sich darin andere, neue Erlebnisse. Um diese Verse recht zu verstehen,<br />
muß man sich ins Bewußtsein rufen, dass Hölderlin mit ihnen<br />
auch einem bestimmten Formprinzip Rechnung tragen will, das<br />
ihm inzwischen bedeutungsvoll wurde. Die Zeit ist nämlich gekommen,<br />
wo er beginnt, seinen Gedichten jenen bekannten dreitaktigen<br />
Rhythmus zu geben: These - Antithese - Synthese. In der<br />
nachträglichen Ergänzung der EICHBÄUME zeigt sich ein frühes Beispiel<br />
für die Anwendung dieser Form: offensichtlich gestaltet Hölderlin<br />
diese Ergänzung derart, dass sie wie die Synthese zu dem<br />
Vorhergehenden wirkt, das nun als These und Antithese betrachtet<br />
wird. So ergibt sich folgender Aufbau: Welt der Gärten, des Tals<br />
(These) - Welt des Berges, der Eichen (Antithese) - pointierte Deutung<br />
beider Welten, bzw. des Verhältnisses zu ihnen (Synthese). In<br />
der handschriftlichen Überlieferung findet sich ein Versuch, diese<br />
Synthese zunächst so zu gestalten (Entwurf der Verse 14 ff.):19<br />
Enger vereint ist unten im ThaI das gesellige Leben,<br />
[Stolzer steht es und]<br />
Vester bestehet es hier und sorgenfreier und stolzer,<br />
Denn so will es der ewige Geist.<br />
18 HölderJin an Neuffer, 28. November 1791. (StA VI 71.)<br />
19 StA 1501 f.<br />
87