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Ihr kennt eure Bibel nicht! - von Katharina Mommsen

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<strong>nicht</strong> zu nahe trat, wie er in dichterischer Form andeutete. Im Kreise<br />

des Gießener Professors Höpfner - wir sind in der WERTHER­<br />

Zeit - macht die Erscheinung Goethes furore: man läßt ihn "fast<br />

allein" sprechen, "verwundert und begeistert" hören alle dem<br />

"Götterjüngling" zu. "Götterkraft in seinem Wesen" schrieb ihm<br />

Heinse zu, und <strong>von</strong> götterähnlicher Wirkung Goethes bei festlichen<br />

Zusammenkünften spricht wiederholt Friedrich Heinrich Jacobi.<br />

Lavater empfand Goethes beherrschende Ausstrahlung als die eines<br />

"Königs", dem Männer und Frauen gleicherweise huldigten.<br />

Als "größtes Genie und zugleich der liebenswürdigste Mensch unserer<br />

Zeit" wird Goethe <strong>von</strong> Wieland gefeiert. Mit Worten wie "Königswürde",<br />

"echter Geisterkönig", "liebenswürdigster, größter<br />

und bester Menschensohn" sucht Wieland den Eindruck wiederzugeben,<br />

den der junge Goethe bei seiner Ankunft in Weimar<br />

machte. "Menschensohn" deutet auf Christus - so erschien Goethe<br />

dem Rationalisten Wieland, der damals berichtete: "Außer mir<br />

kniet' ich neben ihn, drückte meine Seele an seine Brust, und betete<br />

Gott an."<br />

So hat sich nie in Gottes Welt<br />

Ein Menschensohn uns dargestellt.<br />

Die Wielandschen Verse <strong>von</strong> Anfang 1776 spiegeln den gleichen<br />

Erlebnisbereich. Das Gedicht AN PSYCHE, dem sie entstammen,<br />

schildert das Charisma Goethes auch im Hinblick auf dessen erotische<br />

Ausstrahlung:<br />

Ein schöner Hexenmeister es war,<br />

Mit einem schwarzen Augen-Paar,<br />

Zaubernden Augen voll Götterblicken,<br />

Gleich mächtig zu töten und zu entzücken.<br />

Welche Wirkung auf Frauen vom jungen Goethe ausgegangen sein<br />

muß, darüber sind wir auch informiert durch die Autobiographie<br />

Hufelands: "Man kann sich keinen schöneren Mann vorstellen.<br />

Dabei sein lebhafter Geist und seine Kraft, die seltenste Vereinigung<br />

geistiger und körperlicher Vollkommenheit, groß, stark und<br />

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schön; in allen körperlichen Übungen: Reiten, Fechten, Voltigieren,<br />

Tanzen war er der Erste." So habe Goethe eine" wunderbare Revolution"<br />

durch sein Kommen in Weimar hervorgerufen: "Alle jungen<br />

Leute legten Goethes Uniform: gelbe Weste und Beinkleider<br />

und dunkelblauen Frack an, und spielten junge Werther [. .. ] Alles<br />

kam aus seinen Fugen." Wie "durchaus geliebt" und "angebetet"<br />

Goethe damals war, ist u. a. <strong>von</strong> Klinger und Schiller bezeugt.<br />

Der Bericht einer" vornehmen Dame" - überliefert <strong>von</strong> Zimmermann<br />

- läßt die unvergleichliche Verführungs gabe ahnen, die Goethe<br />

zu jener Zeit eigen war. <strong>Ihr</strong> zufolge sei Goethe damals gewesen:<br />

"der schönste Mensch, der lebendigste, originellste, der<br />

feurigste, ungestümste, der sanfteste, der verführerischste und der<br />

gefährlichste für das Herz einer Frau, den sie in ihrem Leben gesehen<br />

habe." Als Charlotte <strong>von</strong> Stein Goethe kennengelernt hatte,<br />

schrieb sie zunächst, ihrer Natur nach zur Kritik neigend, an Zimmermann:<br />

"Es ist <strong>nicht</strong> möglich, mit seinem Betragen kömmt er<br />

<strong>nicht</strong> durch die Welt; wenn unser sanfter Sittenlehrer gekreuz' get<br />

wurde, so wird dieser bittere zerhackt [ ... ] Ich fühl's, Goethe und<br />

ich werden niemals Freunde." Zwei Monate später schrieb sie an<br />

denselben Adressaten: "Jetzt nenn ich ihn meinen Heiligen."<br />

Aus solchen zeitgenössischen Zeugnissen - sie lassen sich vermehren<br />

- erhellt die eigentliche Situation in der 'Wertherkrise' . Sie<br />

lassen darauf schließen, welche Möglichkeiten Goethe gegeben<br />

waren, als er Lotte Kestner begegnete, und welche innere Kraft<br />

die Lebensentscheidung erforderte, die er damals traf: der Entschluß<br />

zum Verzicht. Was wir aus DICHTUNG UND WAHRHEIT erfahren,<br />

ist zusammengefaßt dies: im Sommer 1772, als Goethe am<br />

Reichskammergericht in Wetzlar tätig war, entstand ein Liebesverhältnis<br />

zwischen ihm und der Verlobten seines Freundes Kestner.<br />

Die drei, Kestner, Goethe und Lotte verbrachten zwei Monate als<br />

"unzertrennliche Gefährten". In Goethes ausführlichem Bericht<br />

heißt es weiter: "Sie hatten sich alle drei aneinander gewöhnt ohne<br />

es zu wollen, und wußten <strong>nicht</strong>, wie sie dazu kamen, sich <strong>nicht</strong><br />

ntbehren zu können." Den Zauber jener Epoche schildert DICH­<br />

TUNG UND WAHRHEIT mit den Worten: "Und so nahm ein gemeiner<br />

Tag den andern auf, und alle schienen Festtage zu sein; der gan-<br />

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