Ihr kennt eure Bibel nicht! - von Katharina Mommsen
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handschriftlichen Entwurf eher als die zweite in der Reihenfolge,<br />
sie ist auf jeden Fall später entstanden. Wenn Hölderlin schließlich<br />
bei der Zusammenfügung der Skizzen zu einem Gedicht die<br />
Winterstrophe an den zweiten Platz stellte, so geschah das <strong>nicht</strong><br />
zuletzt auch deshalb, weil er durch den Titel HÄLFTE DES LEBENS den<br />
Versen eine Möglichkeit exoterischen Verständnisses sichern wollte<br />
bei einem Publikum, das den esoterischen Sinn doch <strong>nicht</strong> hätte<br />
erfassen können.<br />
Durchweg finden wir in den besprochenen Partien des' Ausgangs<br />
der Hymne diese Situation - und damit kommen wir auf<br />
das Wesentliche -: es stehen sich Gegenbilder kontrastierend und<br />
bedeutungsvoll gegenüber: Winter und Sommer, Mangel und Fülle,<br />
Götternähe und Götterferne, festes und blutendes Herz des<br />
Priesters. Es hebt aber <strong>nicht</strong> ein Bild das andere auf, das negative<br />
etwa das positive. Sondern im Nebeneinander der Bilder selbst<br />
liegt der Sinn, ist die Klärung und Lösung gegeben. Extreme Möglichkeiten,<br />
resultierend aus den bei den konträren Lebensimpulsen,<br />
werden erwogen - damit aber zugleich der rechte Weg. Der rechte<br />
Weg besteht im Vermeiden möglichen Übermaßes. Er ist ein<br />
Drittes, das sich als Synthese aus These und Antithese der Gegenbilder<br />
ergibt. Die Synthese bleibt unausgesprochen, sie deutet sich<br />
nur an. Gerade das beweist gereiftes Wissen um das Wesen des<br />
Dichterischen.<br />
Der echte Dichter stellt Gebilde hin, Symbole, Gleichnisse. Solche<br />
Gebilde liebt er zu konfrontieren, damit sie sich - wie Goethe sagt<br />
"gleichsam ineinander abspiegeln" und so "den geheimeren Sinn<br />
dem Aufmerkenden offenbaren"17. Ein Gedicht ist aber kein wissenschaftlicher<br />
Aufsatz, der Gedanken in streng logischer Folge<br />
abhandelt und zur Konklusion führt. Dies besonders wird in unserer<br />
<strong>von</strong> mathematisch-philosophischem Denken beherrschten<br />
Zeit allzuleicht verkannt. Somit gibt also auch die Reihenfolge, in<br />
der die sich abspiegelnden Gebilde des Dichters auftreten, keine<br />
17 Goethe an earl Jakob Ludwig Iken 27. Sept. 1827 (WA IV 43,83)<br />
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schlüssigen Anhalte für die Deutung. Späteres hebt <strong>nicht</strong> notwendig<br />
das Vorhergegangene auf. Eins wie das andere hält Erfahrenes,<br />
Durchlittenes als Spracherlebnis fest. Wenn in der Hymne WIE<br />
WENN AM FEIERTAGE und in HÄLFTE DES LEBENS die dunkleren Bilder<br />
den helleren nachgestellt sind, so liegt darin <strong>nicht</strong> eine Negation<br />
der helleren. In anderen Gesängen findet sich die nämliche Thematik<br />
auch in umgekehrter Reihenfolge. Wirklich sprechen ja noch<br />
viele Gedichte in Hölderlins Spätwerk <strong>von</strong> der Gefahr des Erstarrens,<br />
des dichterischen Verstummens. Das geschieht jedoch zumeist<br />
so, dass das positive Gegenbild: Neuerwachen des götterbeschwörenden<br />
Lieds, daneben erscheint; wobei dieses in vielen<br />
Fällen auch durch Aufbau und Reihenfolge der Bilder als das bevorzugte<br />
gekennzeichnet ist. So enden positiv Gedichte wie<br />
ROUSSEAU, DIE LIEBE, ERMUNTERUNG, eHIRON, GERMANIEN usw. Die Reihenfolge<br />
<strong>von</strong> positiv und negativ ist also wechselnd. Das bestätigt<br />
aufs neue: es gibt bei Hölderlin, wenn er über sein Seher- und<br />
Priestertum spricht, keine Aufhebung der positiven Sicht, nirgends<br />
und niemals. Auch im Tod des Empedokles vermag alles Negative,<br />
jede Beschuldigung, jeder Selbstvorwurf dem Helden letztlich<br />
seine Hoheit und Integrität <strong>nicht</strong> zu nehmen. Mit ganz anderem<br />
haben wir es zu tun: mit steter gewissenhafter Selbstprüfung,<br />
mit der Suche nach dem rechten Weg, der die Klippen des Übermaßes<br />
vermeiden läßt.<br />
Wir könnten das auch anders definieren: der Dichter, nie wird er<br />
müde, sich der Gefahren des Priestertums, seines Mittleramts bewußt<br />
zu bleiben. Besonders eindringlich zeigt sich das in der Hymne<br />
WIE WENN AM FEIERTAGE, wo ja die vier letzten Strophen mit<br />
ihren Anspielungen auf den Semele- und Tantalos-Mythos <strong>von</strong><br />
<strong>nicht</strong>s anderem handeln als <strong>von</strong> der Gefährlichkeit des Mittleramts.<br />
Hier wird auch im Zusammenhang mit dem Mythos <strong>von</strong><br />
der blitzgetroffenen Semeie das Wort Gefahr selbst prägnant ausgesprochen.<br />
Das himmlische Feuer trinken die Erdensöhne nur<br />
d shalb »ohne Gefahr«, weil es der Dichter ihnen im Lied darr<br />
icht. Dem Dichter andererseits - wir sprachen da<strong>von</strong> - droht<br />
ur h das 'Fassen' des göttlichen 'Strahls' Verderben, sofern sein<br />
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