28.10.2013 Aufrufe

Ihr kennt eure Bibel nicht! - von Katharina Mommsen

Ihr kennt eure Bibel nicht! - von Katharina Mommsen

Ihr kennt eure Bibel nicht! - von Katharina Mommsen

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

handschriftlichen Entwurf eher als die zweite in der Reihenfolge,<br />

sie ist auf jeden Fall später entstanden. Wenn Hölderlin schließlich<br />

bei der Zusammenfügung der Skizzen zu einem Gedicht die<br />

Winterstrophe an den zweiten Platz stellte, so geschah das <strong>nicht</strong><br />

zuletzt auch deshalb, weil er durch den Titel HÄLFTE DES LEBENS den<br />

Versen eine Möglichkeit exoterischen Verständnisses sichern wollte<br />

bei einem Publikum, das den esoterischen Sinn doch <strong>nicht</strong> hätte<br />

erfassen können.<br />

Durchweg finden wir in den besprochenen Partien des' Ausgangs<br />

der Hymne diese Situation - und damit kommen wir auf<br />

das Wesentliche -: es stehen sich Gegenbilder kontrastierend und<br />

bedeutungsvoll gegenüber: Winter und Sommer, Mangel und Fülle,<br />

Götternähe und Götterferne, festes und blutendes Herz des<br />

Priesters. Es hebt aber <strong>nicht</strong> ein Bild das andere auf, das negative<br />

etwa das positive. Sondern im Nebeneinander der Bilder selbst<br />

liegt der Sinn, ist die Klärung und Lösung gegeben. Extreme Möglichkeiten,<br />

resultierend aus den bei den konträren Lebensimpulsen,<br />

werden erwogen - damit aber zugleich der rechte Weg. Der rechte<br />

Weg besteht im Vermeiden möglichen Übermaßes. Er ist ein<br />

Drittes, das sich als Synthese aus These und Antithese der Gegenbilder<br />

ergibt. Die Synthese bleibt unausgesprochen, sie deutet sich<br />

nur an. Gerade das beweist gereiftes Wissen um das Wesen des<br />

Dichterischen.<br />

Der echte Dichter stellt Gebilde hin, Symbole, Gleichnisse. Solche<br />

Gebilde liebt er zu konfrontieren, damit sie sich - wie Goethe sagt­<br />

"gleichsam ineinander abspiegeln" und so "den geheimeren Sinn<br />

dem Aufmerkenden offenbaren"17. Ein Gedicht ist aber kein wissenschaftlicher<br />

Aufsatz, der Gedanken in streng logischer Folge<br />

abhandelt und zur Konklusion führt. Dies besonders wird in unserer<br />

<strong>von</strong> mathematisch-philosophischem Denken beherrschten<br />

Zeit allzuleicht verkannt. Somit gibt also auch die Reihenfolge, in<br />

der die sich abspiegelnden Gebilde des Dichters auftreten, keine<br />

17 Goethe an earl Jakob Ludwig Iken 27. Sept. 1827 (WA IV 43,83)<br />

128<br />

schlüssigen Anhalte für die Deutung. Späteres hebt <strong>nicht</strong> notwendig<br />

das Vorhergegangene auf. Eins wie das andere hält Erfahrenes,<br />

Durchlittenes als Spracherlebnis fest. Wenn in der Hymne WIE<br />

WENN AM FEIERTAGE und in HÄLFTE DES LEBENS die dunkleren Bilder<br />

den helleren nachgestellt sind, so liegt darin <strong>nicht</strong> eine Negation<br />

der helleren. In anderen Gesängen findet sich die nämliche Thematik<br />

auch in umgekehrter Reihenfolge. Wirklich sprechen ja noch<br />

viele Gedichte in Hölderlins Spätwerk <strong>von</strong> der Gefahr des Erstarrens,<br />

des dichterischen Verstummens. Das geschieht jedoch zumeist<br />

so, dass das positive Gegenbild: Neuerwachen des götterbeschwörenden<br />

Lieds, daneben erscheint; wobei dieses in vielen<br />

Fällen auch durch Aufbau und Reihenfolge der Bilder als das bevorzugte<br />

gekennzeichnet ist. So enden positiv Gedichte wie<br />

ROUSSEAU, DIE LIEBE, ERMUNTERUNG, eHIRON, GERMANIEN usw. Die Reihenfolge<br />

<strong>von</strong> positiv und negativ ist also wechselnd. Das bestätigt<br />

aufs neue: es gibt bei Hölderlin, wenn er über sein Seher- und<br />

Priestertum spricht, keine Aufhebung der positiven Sicht, nirgends<br />

und niemals. Auch im Tod des Empedokles vermag alles Negative,<br />

jede Beschuldigung, jeder Selbstvorwurf dem Helden letztlich<br />

seine Hoheit und Integrität <strong>nicht</strong> zu nehmen. Mit ganz anderem<br />

haben wir es zu tun: mit steter gewissenhafter Selbstprüfung,<br />

mit der Suche nach dem rechten Weg, der die Klippen des Übermaßes<br />

vermeiden läßt.<br />

Wir könnten das auch anders definieren: der Dichter, nie wird er<br />

müde, sich der Gefahren des Priestertums, seines Mittleramts bewußt<br />

zu bleiben. Besonders eindringlich zeigt sich das in der Hymne<br />

WIE WENN AM FEIERTAGE, wo ja die vier letzten Strophen mit<br />

ihren Anspielungen auf den Semele- und Tantalos-Mythos <strong>von</strong><br />

<strong>nicht</strong>s anderem handeln als <strong>von</strong> der Gefährlichkeit des Mittleramts.<br />

Hier wird auch im Zusammenhang mit dem Mythos <strong>von</strong><br />

der blitzgetroffenen Semeie das Wort Gefahr selbst prägnant ausgesprochen.<br />

Das himmlische Feuer trinken die Erdensöhne nur<br />

d shalb »ohne Gefahr«, weil es der Dichter ihnen im Lied darr<br />

icht. Dem Dichter andererseits - wir sprachen da<strong>von</strong> - droht<br />

ur h das 'Fassen' des göttlichen 'Strahls' Verderben, sofern sein<br />

129

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!