Das Bild des Anderen - Katholische Kirche (Schweiz)
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Simon Lauer<br />
Der Andere im alten jüdischen Denken<br />
Einleitend darf wohl gefragt werden, seit wann es „den <strong>Anderen</strong>“ als sittlich bestimmende<br />
Erscheinung begrifflich gibt. Liest man nur Levinas, möchte man meinen,<br />
der Andere sei erst im zweiten Drittel <strong>des</strong> 20. Jahrhunderts – verständlicherweise<br />
– so recht zum Thema geworden. Es sei <strong>des</strong>halb darauf hingewiesen, dass<br />
Hermann Cohen Begriff, Ort und Handreichung <strong>des</strong> <strong>Anderen</strong> (bei ihm zumeist: der<br />
Mitmensch) über dreissig Jahre hinweg – von seinem Gerichtsgutachten 1888 bis<br />
zu seinem Alterswerk 1918 – herausgearbeitet und philosophisch stringent verankert<br />
hat.<br />
Im alten Judentum dürfte (wenn es erlaubt ist, eine Zusammenfassung zu wagen)<br />
der Andere in zweifacher Gestalt auftreten, nämlich als Jude und als Nichtjude. In<br />
beiden Fällen kann der Andere ein Individuum sein oder für eine Gruppe stehen; so<br />
mag ein Armer als Individuum behandelt werden oder als Angehöriger der Bevölkerungsschicht<br />
der Armen. Wir werden auch sehen, dass die Abgrenzung <strong>des</strong> nicht<br />
jüdischen <strong>Anderen</strong> nicht immer ganz einfach ist.<br />
Jüdisches Nachdenken – auch über aktuellste Probleme – muss sich durch die rabbinischen<br />
Texte hindurch auf die Bibel beziehen. Es geht also im Folgenden nicht<br />
um Bibelexegese, sondern um die Frage, wie sich jüdische Quellen mit dem <strong>Anderen</strong><br />
befasst haben. Es wird sich rasch erweisen, dass die Bibel mehrere Ausdrücke<br />
für den <strong>Anderen</strong> kennt; jedenfalls kann man das Wort nicht mit ha-acher rückübersetzen.<br />
Locus classicus ist ja Lev 19,18 mit der kaum endgültig zu erledigenden Frage,<br />
wer mit rea' gemeint sein könnte. Es scheint mir aufschlussreich, zwei Lexikographen<br />
miteinander zu vergleichen. Gesenius (13. Auflage, 1899) nennt „Genosse ...<br />
Freund ... abgeschwächt zu Nächster oder ganz farblos ... z. B. Jud 6,29“. Jona ibn<br />
Ganach (Spanien, 11. Jh.), der die auf ihn folgenden jüdischen Kommentatoren<br />
stark beeinflusst hat, weist in seinem Sepher ha-schoraschim (ed. W. Bacher, Berlin<br />
1896, S. 482) ausdrücklich darauf hin, dass rea' auch den Nichtjuden (nokhri )<br />
bezeichnen kann (s. Ex 11,2).<br />
Für das Verhältnis zum <strong>Anderen</strong> ist wohl nicht ohne Bedeutung, wie kamokha im<br />
gleichen Vers übersetzt oder gedeutet wird. „Er ist wie du“, das mittlerweile Flügel<br />
bekommen hat, geht auf Hartwig Wesselys Kommentar (nicht die Übersetzung) zu<br />
Moses Mendelssohns Pentateuchübersetzung zurück. In der Bibelübersetzung von<br />
Buber und Rosenzweig heisst es – nicht eindeutig – „dir gleich“. Aber in Bubers<br />
Vorbemerkung zu einer 1935 erschienenen Auswahl aus Hermann Cohens Schriften<br />
(Der Nächste) liest man dann: „Sei liebend zum Gastsassen als zu einem der<br />
wie du ist.“<br />
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