Das Bild des Anderen - Katholische Kirche (Schweiz)
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Jean Halpérin<br />
Die Beziehung zum <strong>Anderen</strong><br />
Ich bin der Meinung, dass wir beim aktuellen Stand unserer Überlegungen nun die<br />
Analysen hinter uns lassen können, die auf das Denken eines bestimmten Autors<br />
ausgerichtet sind. Ich möchte daher versuchen, die Gründe kurz darzulegen, aus<br />
denen mir unsere Befragung nach der „Beziehung zum <strong>Anderen</strong>“ nützlich scheint.<br />
In seiner Rede in der Grossen Synagoge von Rom am 13. April 1986 betonte Papst<br />
Johannes Paul II. die Notwendigkeit, die in den Zehn Geboten enthaltenen ethischen<br />
Werte wieder zu entdecken; er erwähnte ausdrücklich die hebräische Quelle<br />
der Pflicht, den Nächsten und den Fremden zu lieben (Lev 19,18 und 34), ebenso<br />
wie die hebräische Wurzel <strong>des</strong> Gebotes, der Witwe, der Waise, dem Armen und<br />
dem Fremden zu helfen (Dtn 10,18). Der Papst erinnerte auch an den „Schalom,<br />
der von den Gesetzgebern, von den Propheten und von den Weisen Israels herbeigesehnt<br />
worden ist“.<br />
Mehr als vierzig Mal erwähnt der Pentateuch die Achtung dem Fremden (ger)<br />
gegenüber. <strong>Das</strong> Gesetz solle dem Fremden und dem Einheimischen gemeinsam<br />
sein, was zugleich durch die menschliche Brüderlichkeit und die Leidensgemeinschaft<br />
begründet wird: „Denn du warst fremd im Lande Ägypten.“ <strong>Das</strong> Recht einer<br />
Person ist jenseits der Zugehörigkeit dieser Person zur Religion <strong>des</strong> Staates begründet.<br />
„Der Monotheismus ist keine Arithmetik <strong>des</strong> Göttlichen. Er ist die vielleicht<br />
übernatürliche Gabe, den Menschen hinter der Verschiedenheit der historischen<br />
Traditionen, die jeder einzelne fortsetzt, als absolut dem Menschen gleich zu<br />
sehen. Er ist eine Schule der Liebe zum Fremden und <strong>des</strong> Antirassismus.“ 1<br />
Genau aus diesem Grund sollten die monotheistischen Religionen gemeinsam,<br />
zusammen – und nicht gegeneinander – kämpfen, um die Sache der Menschenrechte<br />
voranzubringen. Religion und Menschenrechte widersprechen einander nicht,<br />
sondern begegnen sich im Dienst an der Würde der menschlichen Person. Dies ist<br />
der einzige Weg, der der Gewalt den Weg versperren kann. Zugleich ist dies das<br />
sicherste Mittel, dem interreligiösen Dialog seinen Sinn und Zweck zu verleihen.<br />
Die schlechte Welt, in der wir leben, wäre besser erträglich, wenn jeder Einzelne,<br />
jede Gruppe, jeder Staat die „Goldene Regel“, die Hillel der Ältere formuliert hat,<br />
berücksichtigen würde: „Was dir nicht lieb ist, dies füge auch dem <strong>Anderen</strong> nicht<br />
zu. <strong>Das</strong> ist die ganze Tora, der Rest ist Kommentar. Geh und lerne“ (Babylonischer<br />
Talmud, Shabbat 31a). Diese grundlegende Regel der Weisheit und <strong>des</strong> zwischenmenschlichen<br />
Umgangs, die mit Unterschieden in so vielen Zivilisationen ausge-<br />
1 Emmanuel Levinas: Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum. Aus dem Französischen von<br />
Eva Moldenhauer, Frankfurt am Main 2 1996, 126.<br />
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