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Das Bild des Anderen - Katholische Kirche (Schweiz)

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Präzisierung in dem nicht nur gelehrten und scharfsinnigen, sondern auch Probleme<br />

aufzeigenden Pentateuch-Kommentar Ha'ameq davar von Naftali Zevi Jehuda<br />

Berlin (19. Jh.): Mit dem Hinweis auf Dtn 2,4 erklärt Berlin, als Bruder werde nur<br />

der Teil der Nachkommen Esaus bezeichnet, der als Nachbar Israels in Kanaan lebt<br />

(siehe aber unten die Erzählung aus Qoheleth Rabbati).<br />

Natürlich können auch Angehörige eines als feindlich eingestuften Kollektivs als<br />

Individuen auftreten. Der Midrasch Qoheleth Rabbati, der auf die Zeit vom sechsten<br />

bis achten Jahrhundert datiert wird, erzählt zu Qoh 11,1 eine Serie von Geschichten,<br />

deren erste drei von einem Schiffbruch handeln. In der dritten, die der<br />

zweiten tendenziell entspricht, wird von Rabbi Elazar ben Schammua' (2. Jh.)<br />

erzählt, er habe einen Schiffbruch gesehen zur Zeit, als die Juden auf der Via maris<br />

wallfahrteten. Ein Mann konnte sich retten; er bat die Vorüberziehenden, denen er<br />

sich als „Nachkomme Esaus (sic!), ihres Bruders“ vorstellte, ihn mit dem Nötigsten<br />

zu bekleiden, wurde aber mit Schimpf abgewiesen. Rabbi Elazar jedoch, an den<br />

er sich wandte, half ihm auf grosszügigste Weise. Der Römer wurde später Kaiser<br />

und dekretierte, dass die Männer Judäas getötet und die Frauen geraubt werden<br />

sollen. Elazar ben Schammua' wurde zu ihm geschickt und musste sich folgende<br />

Argumentation anhören: Ich bin ein Nachkomme Esaus, eures Bruders, den ihr<br />

nicht verabscheuen sollt. Ammoniter und Moabiter sind auf ewig aus eurer Gemeinschaft<br />

ausgeschlossen, weil sie euch nicht mit Brot und Wasser entgegengekommen<br />

sind. Ihr habt mir keine Liebestat erwiesen. Somit habt ihr die Gebote der<br />

Tora verletzt und seid <strong>des</strong> To<strong>des</strong> würdig. Rabbi Elazar hatte darauf nichts zu erwidern;<br />

er konnte den Kaiser nur um Gnade bitten. Dieser hatte seinen Wohltäter<br />

erkannt und gewährte die Bitte.<br />

In einer Zeit, in der die Beziehungen zwischen Rom und den Juden aufs äusserste<br />

gespannt waren (Rabbi Elazar ben Schammua' war ein Schüler <strong>des</strong> Rabbi Aqiva),<br />

hat also ein Jude ganz anders als die anderen auf die Erscheinung eines abgerissenen<br />

Schiffbrüchigen reagiert, gleichzeitig das Verbot der Tora einhaltend. <strong>Das</strong>s<br />

sein Verhalten auch für sein Volk belohnt wird, mag man als hinzugefügtes „fabula<br />

docet“ betrachten. Die Lehre ist jedenfalls deutlich, zumal Rabbi Elazar im Kreis<br />

der Rabbinen hohes Ansehen genoss (siehe über ihn M. Braunschweiger, Die Lehrer<br />

der Mischna, 2. Auflage, Frankfurt 1903, S. 38f.). Ich bin geneigt, hier „den<br />

<strong>Anderen</strong>“ zu finden, wie er im jüdischen Denken der Neuzeit so viel deutlicher<br />

wird.<br />

Gewiss liegt es vor allem an meinen mangelnden Kenntnissen, vielleicht aber auch<br />

an der entschieden aphilosophischen Denkweise der Rabbinen wie der Bibel, dass<br />

„der Andere“ als „Mitmensch“ in ethischem und religiösem Verstand (Cohen), als<br />

„der Andere“, der mich hindert, zu töten (Levinas), als „Du“, das erst mein Ich<br />

konstituiert (Rosenzweig), in dem hier behandelten Bereich so nicht zu finden ist.<br />

Die Bibel, wie sie von den Rabbinen interpretiert worden ist, scheint mir jedoch<br />

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