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Thema<br />
volker kiemle<br />
Wie sich die Decke des<br />
Schweigens heben lässt<br />
Die Nazi-Vergangenheit Deutschlands ist aufgearbeitet, zum<strong>in</strong>dest nach außen h<strong>in</strong>. Doch vieles<br />
ist noch immer nicht ausgesprochen – vor allem <strong>in</strong> Familien und <strong>Geme<strong>in</strong>de</strong>n, sagt Jobst Bittner.<br />
Der Pastor e<strong>in</strong>er freien <strong>Geme<strong>in</strong>de</strong> <strong>in</strong> tüb<strong>in</strong>gen schil<strong>der</strong>t diese „Decke des Schweigens“ <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />
gleichnamigen Buch. Volker Kiemle hat darüber mit ihm gesprochen.<br />
Die Gräueltaten <strong>der</strong> NS-Zeit s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>er breiten Öffentlichkeit<br />
schon lange bekannt. Warum gibt es noch immer<br />
e<strong>in</strong>e »Decke des Schweigens«?<br />
Ich gehöre zu <strong>der</strong> Generation, <strong>der</strong>en Väter im Krieg waren.<br />
Manche Väter haben viel erzählt, an<strong>der</strong>e wenig. Aber <strong>in</strong> den<br />
meisten Familien hat es so genannte Familienwahrheiten gegeben:<br />
Bestimmte D<strong>in</strong>ge wurden erzählt, aber das, weswegen<br />
man sich geschämt hat o<strong>der</strong> was traumatisch war, hat man<br />
oft verschwiegen. E<strong>in</strong>e ganze Generation ist mit dem Gefühl<br />
aufgewachsen, dass das nicht alles war, was von früher erzählt<br />
wurde. Das nenne ich <strong>in</strong> den Familien „Die Decke des<br />
Schweigens“.<br />
Sie wurden 1958 geboren. Warum s<strong>in</strong>d Sie erst mit über 50<br />
auf die Idee gekommen, dieses Buch zu schreiben?<br />
Das hängt vor allem mit <strong>der</strong> Stadt zusammen, <strong>in</strong> <strong>der</strong> wir leben.<br />
Die Geschichte Tüb<strong>in</strong>gens <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nachkriegszeit war<br />
vor allem e<strong>in</strong>e Geschichte des Schweigens. Vieles, speziell<br />
aus <strong>der</strong> Zeit des Nationalsozialismus, war verborgen. Als wir<br />
<strong>in</strong> den 1980er Jahren die TOS-<strong>Geme<strong>in</strong>de</strong> gegründet haben,<br />
wurde uns bewusst, dass man als <strong>Geme<strong>in</strong>de</strong> nur authentisch<br />
se<strong>in</strong> kann, wenn man sich mit <strong>der</strong> Stadt, <strong>in</strong> <strong>der</strong> man wirkt,<br />
beschäftigt. Wir f<strong>in</strong>gen an, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> Stadt tiefer<br />
zu graben, und merkten schnell, dass wir zuerst bei uns selbst<br />
anfangen mussten.<br />
Wie war es bei Ihnen?<br />
Ich b<strong>in</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Zeit groß geworden, <strong>in</strong> <strong>der</strong> sich Christen<br />
oft an die NS-Vergangenheit er<strong>in</strong>nert und sie aufgearbeitet<br />
haben – etwa durch Bußgottesdienste o<strong>der</strong> ähnliche Veranstaltungen.<br />
Für mich war die Aufarbeitung unserer Vergangenheit<br />
eigentlich erledigt. Aber dann habe ich gemerkt: Da<br />
ist noch etwas <strong>in</strong> uns, das wir bis heute unbewusst herumgetragen<br />
haben. Es ist nicht nur das Schweigen <strong>der</strong> Väter und<br />
Großväter über das, was sie <strong>in</strong> <strong>der</strong> NS-Zeit erlebt und gesehen<br />
haben. Es gibt auch e<strong>in</strong> Schweigen zwischen den Generationen,<br />
an dem die Beziehungen zwischen Eltern und K<strong>in</strong><strong>der</strong>n<br />
zerbrechen können. Wir entdecken dieses Schweigen<br />
ebenso <strong>in</strong> unseren <strong>Geme<strong>in</strong>de</strong>n wie auch <strong>in</strong> je<strong>der</strong> Gesellschaft,<br />
die sich Tabus auferlegt. Schweigen macht uns – damals wie<br />
heute – zu Mitläufern. Als wir das erkannten und Jesus von<br />
Herzen um Vergebung baten, war das <strong>der</strong> erste Schritt, unser<br />
Schweigen zu zerbrechen.<br />
Warum kommen diese Er<strong>in</strong>nerungen und Fragen gerade <strong>in</strong><br />
unserer Zeit hoch?<br />
Ich halte das für e<strong>in</strong>e sehr große Chance! Die Generation<br />
<strong>der</strong> Enkel <strong>in</strong>teressiert sich sehr stark für die Großväter, und<br />
die wie<strong>der</strong>um können leichter mit ihren Enkeln sprechen als<br />
mit den eigenen K<strong>in</strong><strong>der</strong>n. Ich beobachte das oft <strong>in</strong> unserer <strong>Geme<strong>in</strong>de</strong><br />
o<strong>der</strong> auch da, wo ich mit Holocaustüberlebenden zusammenkomme.<br />
Oft stehen die K<strong>in</strong><strong>der</strong> ganz erstaunt daneben,<br />
weil Kommunikation e<strong>in</strong>mal funktioniert. Zudem beobachten<br />
Psychologen und Therapeuten, dass die Generation <strong>der</strong> Holocaustüberlebenden<br />
und die <strong>der</strong> Täter zum Ende ihres Lebens<br />
anfängt, über ihre Erlebnisse zu reden. Sich zu er<strong>in</strong>nern und<br />
darüber sprechen zu können, ist e<strong>in</strong>e Zeit des Segens!<br />
Trotz dieser Last, die Sie beschreiben, hat sich Deutschland<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Nachkriegszeit kulturell, gesellschaftlich und<br />
„E<strong>in</strong>e ganze Generation ist mit dem GEFüHl aufgewachsen, dass<br />
das nicht alles war, was von FRüHER erzählt wurde.“<br />
wirtschaftlich enorm entwickelt. Wie kommt das?<br />
Ich glaube, dass Deutschland dadurch, dass es sich aktiv an<br />
die Seite Israels gestellt hat, bis heute gesegnet ist. Mit <strong>der</strong><br />
Aufarbeitung <strong>der</strong> Nazi-Vergangenheit s<strong>in</strong>d Politik und Gesellschaft<br />
den meisten Kirchengeme<strong>in</strong>den mehrere Schritte<br />
voraus. Obwohl auf den offiziellen kirchlichen Ebenen da viel<br />
geschehen ist, wurde <strong>in</strong> den örtlichen <strong>Geme<strong>in</strong>de</strong>n ihre Rolle<br />
während <strong>der</strong> Zeit des Nationalsozialismus meistens nicht aufgearbeitet.<br />
Wir s<strong>in</strong>d jetzt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Prozess des Nachfragens.<br />
Dabei wollen wir uns neu zu den jüdischen Wurzeln unseres<br />
Glaubens bekennen und uns <strong>in</strong> Freundschaft zu Israel stellen.<br />
Wie sieht die Decke des Schweigens <strong>in</strong> <strong>Geme<strong>in</strong>de</strong>n aus?<br />
In vielen <strong>Geme<strong>in</strong>de</strong>n gibt es eigene Wahrheiten und Tabubereiche<br />
– auch <strong>in</strong> Bezug auf die Vergangenheit. Das hat sicher<br />
unterschiedliche Ursachen. Aber überall da, wo wir die Decke<br />
des Schweigens brechen, ist es <strong>der</strong> erste Schritt aus <strong>der</strong> Gottesferne<br />
h<strong>in</strong> zur Heilung und Versöhnung. Es ist wichtig über<br />
die Vergangenheit zu sprechen: Wie war das <strong>in</strong> <strong>der</strong> NS-Zeit?<br />
Je mehr es e<strong>in</strong>er <strong>Geme<strong>in</strong>de</strong> gel<strong>in</strong>gt, über ihre Geschichte zu<br />
sprechen und sie ans Kreuz zu br<strong>in</strong>gen, desto mehr kann sie<br />
Durchbrüche und neues Leben erfahren. Da geht es nicht <strong>in</strong><br />
erster L<strong>in</strong>ie um Wachstum!<br />
Hat fehlendes <strong>Geme<strong>in</strong>de</strong>wachstum also etwas mit dem<br />
Verhältnis <strong>der</strong> <strong>Geme<strong>in</strong>de</strong> zu Israel zu tun? Gängige <strong>Geme<strong>in</strong>de</strong>wachstumsprogramme<br />
greifen das ja <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel<br />
nicht auf ...<br />
Da gibt es <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat e<strong>in</strong>en großen Mangel! 1. Mose 12,3 sagt:<br />
Wer Israel segnet, <strong>der</strong> wird gesegnet se<strong>in</strong>. Das kann ich nur<br />
aus unserem persönlichen Erleben <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Geme<strong>in</strong>de</strong> bestätigen!<br />
Als wir angefangen haben, uns aktiv zu Israel zu stellen,<br />
haben wir Durchbrüche erlebt. Wir machten diese Erfahrung<br />
immer wie<strong>der</strong> bei den <strong>Geme<strong>in</strong>de</strong>n, mit denen wir geme<strong>in</strong>sam<br />
e<strong>in</strong>en „Marsch des Lebens“ durchführen konnten. Wenn <strong>Geme<strong>in</strong>de</strong>n<br />
sich neu von Herzen zu Israel stellen und segnen,<br />
berühren sie das Herz Gottes und werden selbst am allermeisten<br />
gesegnet.<br />
Viele Nationen haben e<strong>in</strong>e Schuldgeschichte, die sie verdrängen.<br />
Was macht die deutsche e<strong>in</strong>zigartig?<br />
Wir Deutsche s<strong>in</strong>d durch den Holocaust <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er beson<strong>der</strong>en<br />
Verantwortung – gerade, weil wir Gnade erlebt haben!<br />
Deshalb dürfen wir nicht woan<strong>der</strong>s h<strong>in</strong>kommen und mit dem<br />
F<strong>in</strong>ger auf Missstände zeigen. Wir dürfen aber erzählen was<br />
passiert, wenn man die Decke zerbricht und die Wahrheit<br />
ausspricht. In Län<strong>der</strong>n wie <strong>der</strong> Ukra<strong>in</strong>e, Litauen o<strong>der</strong> Lettland,<br />
aber auch <strong>in</strong> Deutschland o<strong>der</strong> <strong>in</strong> den USA: Wo wir auch<br />
immer Versöhnungsveranstaltungen mit dem „Marsch des<br />
Lebens“ durchführen, erleben wir, wie Holocaustüberlebende<br />
und ihre Nachkommen, wenn Nachfahren <strong>der</strong> Tätergeneration<br />
sie persönlich erschüttert um Vergebung bitten, ihre Herzen<br />
weit öffnen und bei ihnen Heilung geschehen kann.<br />
Es gibt noch e<strong>in</strong>e zweite Decke <strong>in</strong> unserer Geschichte: Die<br />
Zeit <strong>der</strong> DDR. Wann wird die durchbrochen?<br />
Es gibt da sogar e<strong>in</strong>e doppelte Decke: In <strong>der</strong> DDR wurde<br />
die NS-Vergangenheit nicht aufgearbeitet. Das fand erst nach<br />
dem Mauerfall statt. Und natürlich steckt vielen Familien die<br />
DDR-Vergangenheit noch irgendwie <strong>in</strong> den Knochen. Aber<br />
wenn es <strong>in</strong> den Familien gel<strong>in</strong>gt, darüber zu sprechen, was sie<br />
erlebt haben und ihnen Not gemacht hat; wenn es <strong>Geme<strong>in</strong>de</strong>n<br />
gel<strong>in</strong>gt, diese Vergangenheit unter das Kreuz zu br<strong>in</strong>gen,<br />
könnten alte Wunden geheilt werden und <strong>in</strong> wun<strong>der</strong>barer Weise<br />
Wie<strong>der</strong>herstellung geschehen. Ich glaube, wenn das passiert,<br />
würde unser Land stark gesegnet werden. Erst jetzt, mehr als<br />
75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, reden Holocaustüberlebende<br />
und die Täter über ihre Erlebnisse.<br />
Jobst Bittner ist Grün<strong>der</strong> und Leiter <strong>der</strong> TOS-<strong>Geme<strong>in</strong>de</strong> <strong>in</strong> tüb<strong>in</strong>gen. Der Theologe<br />
hat unter an<strong>der</strong>em den „Marsch für das Leben“ <strong>in</strong>itiiert. Dabei laufen Menschen<br />
die Wege ab, über die KZ-Häftl<strong>in</strong>ge am Ende des Zweiten Weltkrieges getrieben<br />
wurden. Bei diesen „Todesmärschen“, mit denen die Nazis ihre Gräuel <strong>in</strong> den KZs<br />
verschleiern wollten, starben viele tausend Menschen.<br />
Dieses Interview erschien ursprünglich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zeitschrift „unterwegs - Magaz<strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> Evangelisch-methodistischen Kirche“, Ausgabe 5/2012. Abdruck mit<br />
freundlicher Genehmigung.<br />
Den schweren Rucksack ablegen<br />
von Dorothea Lagemann<br />
In den zwei schönen Sommerwochen im Mai waren wir an<br />
<strong>der</strong> holländischen Nordsee <strong>in</strong> Renesse, aber als wir e<strong>in</strong>e<br />
Gedenkstätte für zehn junge Hollän<strong>der</strong> gleich neben dem<br />
Camp<strong>in</strong>gplatz entdeckten, da verdunkelte sich für uns <strong>der</strong><br />
Himmel. Weil sie sich vor dem Abtransport nach Deutschland<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Arbeitslager versteckt hatten, wurden sie<br />
am 10.12.1944 von deutschen Soldaten aufgehängt, und<br />
das ganze Dorf, selbst die K<strong>in</strong><strong>der</strong> mussten an dem Galgen<br />
vorbei ziehen, aber bevor sie h<strong>in</strong>gerichtet wurden, sangen<br />
diese jungen Burschen „E<strong>in</strong> feste Burg ist unser Gott ...“<br />
Erst als wir Gott und Menschen für unsere deutsche Schuld<br />
um Vergebung gebeten hatten, wurde <strong>der</strong> Himmel für uns<br />
wie<strong>der</strong> hell.<br />
Zu Hause sahen wir dann e<strong>in</strong>en Fernsehbericht über und<br />
mit Enkeln von Nazi-Tötern. Das knüpfte an unsere Urlaubserlebnisse<br />
an, und das gehäufte Elend <strong>in</strong> manchen Familien<br />
kam <strong>in</strong> e<strong>in</strong> ganz neues Licht, und die Möglichkeit, dass wir<br />
alte, auch fremde Schuld zum Kreuz tragen können, wurde<br />
wie<strong>der</strong> neu lebendig. Auch alte Geschichten kamen hoch:<br />
Vor e<strong>in</strong>igen Jahren, als ich die Schuld me<strong>in</strong>es Vaters nur<br />
aus Gehorsam, ohne große Gefühle (ich kannte ihn nicht)<br />
zum Kreuz getragen hatte, da wurde mir e<strong>in</strong> „schwerer<br />
Rucksack“ vom Rücken genommen und e<strong>in</strong>e oft quälende<br />
Stimme beim Autofahren verschwand, aber das Schönste<br />
war, dass me<strong>in</strong> älterer Stiefbru<strong>der</strong>, <strong>der</strong> me<strong>in</strong>en Vater kannte,<br />
plötzlich anf<strong>in</strong>g, gute D<strong>in</strong>ge über ihn zu erzählen, die unter<br />
<strong>der</strong> Schuld versteckt gewesen waren.<br />
Noch e<strong>in</strong>e markante Geschichte kam hoch: E<strong>in</strong>e ganz<br />
wun<strong>der</strong>bare alte Christ<strong>in</strong> erzählte von ihrem Enkelsohn,<br />
<strong>der</strong> hoch <strong>in</strong>telligent mit abgeschlossenem Studium berufsunfähig<br />
sei, weil er, psychisch krank, sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Zimmer<br />
selbst gefangen hielt. Ich kannte diesen jungen Mann nicht<br />
und auch nicht die Geschichte se<strong>in</strong>er Familie, aber ich trug,<br />
beim Stricken <strong>der</strong> Socken für ihn, die Schuld <strong>der</strong> Vorfahren<br />
zum Kreuz wie e<strong>in</strong> Müllmann, <strong>der</strong> Mülltonnen entleert ohne<br />
nach dem Inhalt zu gucken. Dass <strong>der</strong> junge Mann dann so<br />
schnell gesund wurde und heute <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em verantwortungsvollen<br />
Beruf arbeitet, liegt wohl an den vielen Gebeten se<strong>in</strong>er<br />
Familie. Wir brauchten nur noch den „Stopfen heraus<br />
ziehen, <strong>der</strong> den Segensstrom“ verh<strong>in</strong><strong>der</strong>t hat.<br />
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