Download - Kommunistischer StudentInnenverband
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1<br />
# 8 | Oktober 2006<br />
stadtblatt für verschwenderische selbstbestimmung in allen lebensbereichen<br />
Uni: 2-6 Schwerpunkt: 22-27<br />
crowd & rüben: 10-21www.rotcrowd.comunista.at<br />
SCHWERPUNKT: AFRIKA<br />
ab Seite 22
2 UNI<br />
Meduni: Studiengebühren für<br />
jahrelanges Warten<br />
Vorsitzender der<br />
StV Humanmedizin,<br />
Sebastian Wisiak (KSV)<br />
rotcrowd sprach mit Sebastian<br />
Wisiak (KSV) über die Entwicklungen<br />
an der Medizinischen Universität<br />
Graz, die Zugangsbeschränkungen<br />
und darüber, wie studentische<br />
Anliegen erfolgreich umgesetzt<br />
werden können. Das Interview<br />
führte Maria Helene Koller.<br />
Du bist seit März dieses Jahres Vorsitzender der<br />
Studienvertretung Humanmedizin in Graz. Wie<br />
stellt sich die Situation derzeit dar?<br />
Sebastian Wisiak: Bedingt durch den neuen<br />
Studienplan haben wir nach wie vor Stehzeiten<br />
von über einem Jahr nach dem ersten Studienabschnitt.<br />
Vor allem bekommen das die Erstsemestrigen<br />
zu spüren, weil die Uni versucht,<br />
dem Problem durch geringere Aufnahmezahlen<br />
zu begegnen. Das vierte Semester hat<br />
sich zum Härtetest im Studium herauskristallisiert,<br />
weil es derart mit Stoff überladen<br />
ist. Ich führe zwar Gespräche mit den verantwortlichen<br />
Personen der Universität, aber leider<br />
gibt es bislang noch keine greifbare Lösung.<br />
Was haben die Stehzeiten für konkrete Auswirkungen<br />
auf die Studierenden?<br />
Sebastian: Wer vor dem Wintersemester 2005<br />
inskribiert hat, wird nach Abschluss des ersten<br />
Abschnitts auf die Warteliste gesetzt. Auf dieser<br />
befinden sich derzeit Hunderte Studierende.<br />
Erstsemestrige sind davon ausgenommen,<br />
weil sie ja die Zugangsbeschränkungen durchlaufen<br />
müssen. Die Wartezeiten für das Weiterkommen<br />
in den zweiten Studienabschnitt<br />
betragen mitunter zwei Jahre. Wer sich in dieser<br />
Zeit vom Studium beurlauben lässt, wird<br />
zurückgereiht und muss dann ergo noch länger<br />
warten. Die Studierenden müssen also<br />
sogar für jahrelanges Warten Studiengebühren<br />
bezahlen.<br />
Was könnte am vierten Semester geändert werden,<br />
damit sich die Situation entspannt?<br />
Sebastian: Wichtigstes Ziel ist es, den Stoffumfang<br />
zu verringern. Das kann zum Beispiel<br />
dadurch gelingen, dass einige Teile des vierten<br />
Semesters in andere Module verschoben werden.<br />
Es gibt StudentInnen, die der Auffassung<br />
sind, dass manches komplett gestrichen werden<br />
könnte, weil es ohnehin zu einem späteren<br />
Zeitpunkt wieder Teil des Lehrplans ist. Dem<br />
kann ich weniger abgewinnen, weil z.B. Inhalte<br />
wie die Herz-Kreislauf-Erkrankungen, denen<br />
ein eigenes Modul gewidmet ist, zu wichtig<br />
sind, um nur einmal gehört zu werden.<br />
Gab es da nicht einen Vorschlag der Modul-Koordinatoren?<br />
Sebastian: Ja, durchaus. Dieser Entwurf hat<br />
vorgesehen, dass die Fächer des vierten Semesters<br />
– Pathologie, Pathophysiologie und Pharmakologie<br />
– parallel laufen und einzeln am<br />
Ende des Semesters geprüft werden. Ein entsprechender<br />
Antrag wurde in der Studienkommission<br />
nicht zuletzt durch massive Kritik<br />
der Studienvertretung abgewiesen.<br />
Gibt es auch noch andere Erfolgsmeldungen?<br />
Sebastian: Die von mir initiierten Modul-Nachbesprechungen,<br />
in denen über die Lehrinhalte,<br />
deren Vermittlung und die Modulprüfung reflektiert<br />
wird, haben zum Teil gute Ergebnisse<br />
gebracht. So haben wir im Chirurgiemodul erreichen<br />
können, dass Vorlesungen und Praktikum<br />
an getrennten Tagen stattfinden werden,<br />
wodurch Studierende auch die Möglichkeit<br />
haben, bei komplizierten OPs zu assistieren.
UNI<br />
3<br />
Auch die Debatte um das berüchtigte vierte<br />
Semester ist dank M11-Nachbesprechung in<br />
Gang gekommen. Wenn viele Studierende an<br />
einem Strang ziehen, kann das von der Unileitung<br />
nicht mehr ignoriert werden.<br />
Inwieweit spielen die Zugangsbeschränkungen eine<br />
Rolle?<br />
Sebastian: Von reaktionärer Seite wurden die<br />
Zugangsbeschränkungen in der Medizin schon<br />
lange gefordert. Mit dem Studienplan von 2002<br />
sind sie de facto implementiert worden. Mit<br />
dem Schmierentheater rund um das Urteil des<br />
EuGH ist der Regierung ein willkommener<br />
Anlass in den Schoß gefallen, diese gesetzlich<br />
zu verankern.<br />
Wer aus teuren Privatschulen kommt, hauptberuflich<br />
Sohn oder Tochter ist und sich deshalb<br />
ohne Zuverdienst die Vorbereitungskurse<br />
bei privaten Instituten leisten kann, hat einen<br />
entscheidenden Vorteil. Was wir hier erleben<br />
ist das systematische Hinausdrängen von<br />
ArbeiterInnenkindern aus Berufen, die<br />
gemeinhin als einträglich gelten – auch das ist<br />
Klassenkampf.<br />
Siehst Du einen Ausweg aus dieser Misere?<br />
Sebastian: Es macht durchaus Sinn, die Anzahl<br />
der Studienplätze zu erhöhen, die Studiengebühren<br />
abzuschaffen und das Bildungsbudget<br />
– finanziert über eine Besteuerung der<br />
Konzerngewinne und großen Vermögen – massiv<br />
anzuheben. Es ist ja nicht so, dass keine<br />
MedizinerInnen gebraucht würden. Dazu muss<br />
man sich nur die Nacht- und Wochenenddienste,<br />
die überfüllten Ambulanzen oder wie<br />
wenig Zeit niedergelassene ÄrztInnen für ihre<br />
PatientInnen haben vor Augen führen.<br />
Wie könnte die Situation kurzfristig entspannt werden?<br />
Sebastian: Gerade im klinischen Bereich<br />
herrscht eklatanter Studienplatz- und Personalmangel,<br />
der etwa durch Einbeziehung des<br />
Landeskrankenhäuser in die Lehre behoben<br />
werden könnte. Das wäre auch ein qualitativer<br />
Sprung. Ich denke da beispielsweise an das<br />
LKH Graz West, dessen Abteilung für innere<br />
Medizin auf Tropenkrankheiten spezialisiert<br />
ist. Bislang kommt dieser Bereich an der<br />
Meduni Graz eindeutig zu kurz.<br />
Willst Du den Studierenden zum Abschluss noch<br />
etwas mit auf den Weg geben?<br />
Sebastian: Wie sich schon öfter gezeigt hat,<br />
können Verbesserungen meist nur dann erstritten<br />
werden, wenn die Studierenden zusammenhalten.<br />
Das Motto „Augen zu und durch“<br />
ist in vielen Köpfen verankert. Wenn wir aber<br />
eine gute und faire Ausbildung haben wollen,<br />
müssen wir den Mut aufbringen, Missstände<br />
beim Namen zu nennen und Verbesserungen<br />
offen zu fordern.<br />
von Andreas Nitsche<br />
Gesundheit und Sozialismus<br />
Kommentar<br />
Da der Kapitalismus auch nicht vor dem Gesundheitswesen halt macht,<br />
sterben in den afrikanischen Ländern südlich der Sahara jährlich 4,7<br />
Millionen Kinder, meist an vermeidbaren oder behandelbaren Krankheiten.<br />
Entwicklungsländer wie Schwellenländer sind weder ökonomisch<br />
in der Lage nur annähernd genügend ÄrztInnen, Medikamente<br />
und Ausbildungsmöglichkeiten der Bevölkerung zur Verfügung zu stellen,<br />
noch Forschungseinrichtungen zu finanzieren.<br />
Die große Ausnahme ist Kuba (wo es bereits mehr ÄrztInnen pro<br />
EinwohnerIn gibt als in Österreich), denn dort hat sich neben dem<br />
ausgezeichneten Bildungswesen auch eine florierende Biotechnologie<br />
und pharmazeutische Industrie – trotz des US-Handelsembargos – entwickelt.<br />
So wurden zwischen 1990 und 2000 34 neue Forschungszentren<br />
gebaut. Auftrag dieser Zentren ist nicht nur Ersatz für die teuren Medikamente,<br />
die sich Kuba und die meisten anderen Staaten dieser Erde<br />
am Weltmarkt nicht leisten können, zu finden, sondern auch neue Präparate<br />
zu entwickeln. Die Erfolge sprechen für sich, denn 87 Prozent<br />
der auf der Insel genutzten – und für die Bevölkerung kostenlos zur<br />
Verfügung gestellten – Medikamente werden in Kuba produziert. Mit<br />
dem Gentech-Präparat VA-MENGOC-BC® konnte die weltweit erste<br />
Impfung gegen die Gehirnhautentzündung Meningitis B entwickelt werden.<br />
Außerdem verkauft Kuba seinen Impfstoff gegen Hepatitis B,<br />
rekombinante Proteine, Streptokinase zur Behandlung von Herzinfarkten,<br />
monoklonale Antikörper und andere pharmazeutische Erzeugnisse<br />
an über 40 Länder. Auch selbst erzeugte antiretrovirale Medikamente<br />
werden sowohl für alle kubanischen HIV-Positiven und AIDS-<br />
PatientInnen gratis zur Verfügung gestellt als auch exportiert . Des Weiteren<br />
ist Kuba einer von fünf Staaten weltweit – neben den USA, Großbritannien,<br />
Frankreich und der Schweiz – der autorisierte klinische<br />
Tests mit Impfstoffen gegen AIDS durchführt.<br />
Da in Kuba die Entwicklungs- und Produktionskosten von Medikamenten<br />
und Impstoffen nur zwischen einem Zehntel und einem Hunderstel<br />
im Vergleich zu den Industrieländern liegen, hilft man nicht nur der<br />
eigenen Bevölkerung, sondern auch den Entwicklungsländern, ihre akuten<br />
Gesundheitsprobleme finanzierbar zu lösen.<br />
Andreas Nitsche studier t Pharmazie an der Karl-Franzens-Universität Graz<br />
und ist Vorsitzender des Kommunistischen StudentInnenVerbandes (KSV) Graz.
4 UNI<br />
Vom Drehen und Wenden<br />
in der Bildungspolitik<br />
Hanno Wisiak,<br />
KSV-Mandatar an der<br />
ÖH Uni Graz<br />
Dass das österreichische Bildungssystem<br />
in einer tiefen Krise steckt,<br />
wird nicht erst durch Pisastudien und<br />
Universitätsrankings manifest. Der<br />
Hund liegt aber nicht in einer wie<br />
auch immer eingefärbten Bundesregierung<br />
begraben, sondern in der<br />
Funktionsweise des Kapitalismus<br />
selbst. von Hanno Wisiak<br />
Kapital muss akkumuliert werden, muss sich<br />
vermehren, um im Konkurrenzkampf bestehen<br />
zu können. War es der Nachkriegsökonomie der<br />
westlichen Staaten – gestützt durch Marshallplan<br />
und staatliche Förderung – trotz sozialer Zugeständnisse<br />
an das Gros der Lohnabhängigen<br />
möglich, satte Profite zu erzielen, so stellten sich<br />
in den Siebzigern die ersten krisenhaften Entwicklungen<br />
ein. Diesen Krisenerscheinungen<br />
folgten umfassende Maßnahmen im Bildungsbereich,<br />
um eine bessere, d.h. dem geänderten<br />
Entwicklungsniveau der Produktivkräfte entsprechende<br />
Koordination zwischen Produktion<br />
und Schule zu erreichen: Die moderne industrielle<br />
Großproduktion stellte neue Anforderungen.<br />
Dies wurde maßgeblich beeinflusst durch<br />
den „Sputnikschock“, der, ausgehend von den<br />
USA, zu grundlegenden Änderungsschritten im<br />
Bildungswesen führte. 1 Die bildungspolitischen<br />
Errungenschaften der Siebzigerjahre fielen so<br />
schon bald den „Sparpaketen“ der SPÖ-ÖVP-<br />
Regierungen zum Opfer.<br />
„Der staatsmonopolistische Kapitalismus hat,<br />
bedingt durch die strukturelle Überakkumulation<br />
von Kapital, eine spezifische Ausgestaltung erfahren,<br />
die an geänderten Strategien in der Kapitalanlage<br />
festzumachen ist. So ist unter anderem festzustellen,<br />
dass das Kapital zunehmend in Bereiche<br />
drängt, die bisher nicht oder zumindest nicht direkt<br />
der privat-monopolistischen Verfügung unterstellt<br />
waren.“ 2<br />
Neben dem Kapitalexport in frühere sozialistische<br />
Länder – Stichwort EU-Osterweiterung<br />
– reißen sich die Konzerne ergo zunehmend<br />
auch den Bildungsbreich unter den Nagel.<br />
Nicht nur, dass in Schulen allerorts Plakatflächen<br />
hängen, um so das karge Budget der<br />
Schulen aufzubessern, um vielleicht zu gewährleisten,<br />
dass ausreichend Toilettenpapier vorhanden<br />
ist, auch auf Lehrinhalte und<br />
Forschungsziele der Universitäten wird direkter<br />
Zugriff hergestellt.<br />
Die Dialektik von Verwertungslogik,<br />
Entdemokratisierung und Elitenbildung<br />
Die durch die herrschende Bildungspolitik<br />
ausgehungerten Unis müssen, um den Forschungs-<br />
und Lehrbetrieb einigermaßen aufrecht<br />
erhalten zu können, in verstärktem Ausmaß<br />
sog. Drittmittel lukrieren. Da aber der<br />
Profitlogik gehorchende Firmen nur in Bereiche<br />
„investieren“, die kurzfristige Gewinne oder<br />
„Wettbewerbsvorteile“ versprechen, kommen<br />
v.a. geisteswissenschaftliche Studienrichtungen<br />
– „Orchideenfächer“, wie sie Finanzminister<br />
Grasser genannt hat – zunehmend in die Bredouille.<br />
Lehrbudgets und -angebote sinken, und<br />
letzten Endes drohen Institutszusammenlegungen<br />
oder -schließungen.<br />
Mit den finanziellen Kürzungen geht die rapide<br />
Entdemokratisierung der Unis einher.<br />
Wurden bis zum Universitätsgesetz 2002 alle<br />
uni-relevanten Entscheidungen von gewählten<br />
VertreterInnen der Studierenden mitgefällt, so<br />
haben nun die – im wesentlichen aus Regierungs-<br />
und KapitalvertrerInnen zusammengesetzten<br />
– Uniräte das letzte Wort in den strategischen<br />
Ausrichtungen.
UNI<br />
5<br />
Zeitigte schon die Einführung der Studiengebühren<br />
einen wesentlichen Rückgang von<br />
Studierenden aus ArbeiterInnenfamilien, so<br />
bewirken die Zugangsbeschränkungen eine<br />
weitere Verschärfung dieser Situation, haben<br />
doch SchülerInnen aus sündteuren Privatschulen<br />
sehr viel mehr Chancen, die Aufnahmetests<br />
zu bestehen.<br />
So werden die Universitäten in zunehmendem<br />
Ausmaß ein Hort von sich selbst reproduzierenden<br />
Eliten.<br />
Europäische Standardisierung<br />
Durch die EU-weite Durchsetzung von<br />
Bakkalaureatstudienplänen wird die Dauer der<br />
Studien verkürzt, indem Bildung auf Ausbildung<br />
reduziert wird. Würden die Lehrbudgets<br />
entsprechend angehoben und die Betreuungsund<br />
inhaltlichen Standards damit erhöht, wäre<br />
ein wesentlicher Kritikpunkt entkräftet. Dennoch<br />
ist genau das Gegenteil der Fall. Die Umstellung<br />
der Curricula wird von den Unis dazu<br />
benutzt, den finanziellen Aufwand für Lehre<br />
weiter zurückzuschrauben.<br />
Die Anrechenbarkeit von Lehrveranstaltungen<br />
im EU-Raum kann nur subjektiv und auf<br />
den ersten Blick als Fortschritt erachtet werden,<br />
was sogar die großbürgerliche deutsche Frankfurter<br />
Allgemeine Zeitung attestiert: „Die vielgepriesene<br />
Mobilität in Europa entspricht allenfalls<br />
politischen Wunschvorstellungen, nicht jedoch der<br />
Wirklichkeit.“ 3<br />
Bildung ist eine Klassenfrage!<br />
„Durch die verschärfte Konkurrenz um freie Ausbildungsplätze<br />
können sie [die UnternehmerInnen,<br />
Anm. hw] – nahezu ohne Gegenwehr – die Vergütung<br />
und die Qualität der Ausbildung weiter herunterschrauben:<br />
Ausbeutung ist angesagt, nicht<br />
Ausbildung.“ 4 Deshalb gilt es breite Bündnisse<br />
– Studierende, Lehrende und Allgemeinbedienstete,<br />
Eltern und SchülerInnen, Lehrlinge<br />
und Gewerkschaften – zu bilden, um diese<br />
Entwicklung zu bremsen und schließlich aufzuhalten<br />
und umzukehren.<br />
Es wäre ein Trugschluss, auf einen<br />
Regierungswechsel zu vertrauen, der maximal<br />
universitätspolitische Augenauswischerei mit<br />
sich bringen kann. Auch eine etwaige rosa-grüne<br />
Regierung würde die Handlangerinnendienste<br />
für das Kapital wohl kaum<br />
zugunsten eines demokratischen und offenen<br />
Bildungssystems beenden. Es kann ganz nach<br />
Belieben gedreht und gewendet werden: Die<br />
Betroffenen müssen den Pinsel selbst in die<br />
Hand nehmen.<br />
1 Dies ist insofern wesentlich, als die intelligenten<br />
Kreise des Großkapitals sehr wohl auch heute über<br />
die strategische Bedeutung der Bildung Bescheid<br />
wissen.<br />
2 Gerfried Tschinkel, Abschied von der Birnenpolitik<br />
– Zur weltweiten Privatisierung der Universitäten.<br />
In: UNITAT 2/2005<br />
3 FAZ 22.08.2005<br />
4 Thomas Lühr, Zwei Seiten einer Medaille. In: Marxistische<br />
Blätter 4/2006<br />
Gastkommentar<br />
von der KPÖ- Wohnungsstadträtin Elke Kahr<br />
Ein klares Nein zur Belastung<br />
von Studierenden<br />
ÖVP und SPÖ planen, in Graz eine Abgabe für Nebenwohnsitze<br />
einzuführen. Davon wären auch Tausende Studierende betroffen, auch<br />
wenn Finanzstadtrat Riedler (SP) das vor den Wahlen (noch?) dementiert.<br />
Wie bei vielen anderen Vorhaben von Nagl und Riedler wurde die<br />
KPÖ auch in diesem Fall nicht rechtzeitig informiert. Wieder einmal<br />
haben wir von diesem Plan aus den Medien erfahren.<br />
Schon vor der letzten Volkszählung haben wir KommunistInnen<br />
einige Initiativen eingefordert, um Graz als Hauptwohnsitz attraktiver<br />
zu machen. Dazu gehören die Forderung nach einem Grazer Sozialpass<br />
– dieser würde auch Studierenden viele Vergünstigungen bringen<br />
– und der Bau zusätzlicher Gemeindewohnungen, die an den<br />
Hauptwohnsitz Graz gebunden sind. Wir halten es grundsätzlich für<br />
besser, Anreize zu schaffen als neue finanzielle Belastungen für den<br />
Großteil der Menschen zu erfinden, während Konzerne geschont<br />
werden.<br />
Für Studierende aus den Bezirken bringt eine Nebenwohnsitzabgabe<br />
auf den ersten Blick immense Probleme mit sich. Dabei handelt<br />
es sich nicht nur um die finanzielle Belastung, sondern auch um Sozialleistungen<br />
die nicht mehr gewährt würden, wenn der Hauptwohnsitz<br />
in Graz ist.<br />
Der Trend zur Abwanderung in das Umland von Graz kann durch<br />
derartige unkoordinierte Einzelmaßnahmen mit Sicherheit nicht gestoppt<br />
werden. Auch die Finanzprobleme der Stadt Graz können nicht<br />
durch Belastungen für Studierende in den Griff bekommen werden.
6<br />
UNI | CROWD UND RÜBEN<br />
Straßenbahnanschluss<br />
Musik aus dem exil<br />
für die Uni Graz!<br />
# 3 – Fehlfarben<br />
Monarchie und Alltag & Knietief im Dispo<br />
KPÖ-Graz und die Unabhängigen GewerkschafterInnen<br />
(UG) der Karl-Franzens-Universität Graz<br />
drängen auf Umsetzung des „Uni-2ers“.<br />
„Geht man allein nur von der Zahl der Bediensteten im Universitätsbereich<br />
aus (ca. 3.000), so ist die KF-Uni Graz mit jedem Großbetrieb in Graz zu vergleichen.<br />
Wenn dazu noch die Zahl der Studierenden hinzugerechnet wird (ca.<br />
20.000), so ist das dadurch erreichte Verkehrsaufkommen höher, als bei en meisten<br />
Verkehrserregern in Graz und Umgebung,“ sagt Dieter Kaltenbeck von<br />
den Unabhängigen GewerkschafterInnen (UG) der Karl-Franzens-Universität<br />
Graz.<br />
KPÖ-Gemeinderat Johann Slamanig dazu: „Nicht zuletzt deshalb wird<br />
auch von der Verkehrsplanung der Stadt Graz bestätigt, dass es sich bei der<br />
geplanten Universitäts-Ringlinie um eine kostendeckende Ausbauvariante handeln<br />
würde. Es sei nochmals daran erinnert, dass die Stadtbaudirektion bereits<br />
im Jahr 1999 festgehalten hat, die 2. Ausbaustufe, die auch die Universtitäts-<br />
Ringlinie – den sogenannten Uni-2er – beinhaltet, bis 2008 umzusetzen.“<br />
„Die Anbindung der Universität an das Straßenbahnnetz wäre auch ein<br />
Zeichen der Wertschätzung der Stadt Graz ihrer größten Universität gegenüber<br />
und eine Aufwertung des Wissenschaftsstandortes. Warum soll eine Universität<br />
weniger wichtig sein als ein Einkaufszentrum?“, fragt Gewerkschafter<br />
Kaltenbeck.<br />
„Wenn wir uns die Dringlichkeit vor Augen halten, was die Reduzierung<br />
der Feinstaubbelastung in den kommenden Jahren betrifft, so ist dieser Ausbauplan<br />
unbedingt einzuhalten. Wir haben deshalb im Juli 2005 einen Antrag<br />
im Gemeinderat eingebracht, der die Sicherung der Vorbehaltsflächen und den<br />
umgehenden Beginn der Detailplanung zu Inhalt hatte, was leider bis jetzt<br />
ohne Folgen blieb“, bedauert Gemeinderat Slamanig von der KPÖ.<br />
Was ich haben will, das krieg ich nicht.<br />
und was ich kriegen kann, das gefällt mir nicht<br />
Mit so wenig Zuversicht treten die Fehlfarben<br />
aus Düsseldorf 1979 an, um die Konsens- und<br />
Verständigungskultur der Hippies und 68er zu<br />
zertrümmern.<br />
1980 erscheint das erste Fehlfarbenalbum „Monarchie<br />
und Alltag“ und verändert die deutsche<br />
Popwelt. Endlich hat die Punkbewegung in<br />
Deutschland ein Sprachrohr gefunden.<br />
„Das Einzige was wir exzessiv gemacht haben ist<br />
flippern“, sagt Peter Hein, der Sänger der Fehlfarben<br />
über sich selbst.<br />
Punk ist da nicht sosehr die Musik sondern die<br />
Lebenseinstellung. Andere deutsche Bands wie<br />
Tote Hosen oder Extrabreit bedienten sich des<br />
Musikstils Punk, die Fehlfarben waren Punk.<br />
In Liedern wie „Grauschleier“ oder „Paul ist tot“<br />
wurde die Befindlichkeit einer ganzen Generation<br />
manifestiert. Zorn, Ausweglosigkeit und keine<br />
Perspektive zu haben sind der Leitfaden, der<br />
sich durch das Album zieht.<br />
Niemand hätte sich gedacht, dass so ein zornig –<br />
radikales Manifest wiederholt werden könnte.<br />
Doch 22 Jahre nach Erscheinen des Debüts erscheint<br />
„Knietief im Dispo“, welches die alten<br />
Säcke wiederum in Hochform präsentiert und<br />
erahnen lässt, warum die Fehlfarben als Väter des<br />
deutschen Diskurspops angesehen werden. Ihr<br />
Einfluss auf Bands wie Blumfeld, Tocotronic und<br />
viele mehr ist unbestritten.<br />
Zu hören im exil<br />
Josefigasse 1,8020 Graz (Nähe Lendplatz)<br />
Dienstag – Sonntag ab 19:00 Uhr
7<br />
„Die Mühen der Ebene“<br />
Meine Wutausbrüche und warum Bertolt Brecht trotz<br />
alledem ein marxistischer Klassiker ist.<br />
von Franz Stephan Parteder<br />
I.<br />
„Die Axt im Haus erspart den Zimmermann“:<br />
Dieser Satz des Schulbuchklassikers<br />
Friedrich Schiller ist seinerzeit von Hinz und<br />
Kunz immer wieder, zu den passendsten und<br />
zu den unpassendsten Gelegenheiten zitiert<br />
worden.<br />
Heutzutage redet auch noch der provinziellste<br />
Provinzpolitiker von den „Mühen der Ebene“,<br />
wenn er irgendeinen Unsinn verteidigt<br />
oder wenn er nach einer Ausrede dafür sucht,<br />
dass er seine alten Wahlversprechen nicht einhält.<br />
Und ich bekomme jedes Mal einen Wutausbruch,<br />
wenn ich das höre (gut, dass ich keine<br />
Axt bei der Hand habe). Denn dieser Schnösel<br />
oder diese Schnöselin weiß nicht einmal, dass<br />
er oder sie damit eine Textzeile von Bertolt<br />
Brecht zitiert – und zwar nicht irgendeine Zeile.<br />
Brecht hat von den Mühen der Ebene gesprochen<br />
und meinte damit die Aufgaben, die<br />
vor der Arbeiterbewegung in der DDR nach<br />
dem Sturz des Faschismus standen. Die „Mühen<br />
der Gebirge“ lagen hinter den<br />
GenossInnen, vor ihnen lagen die „Mühen der<br />
Ebene“, nämlich der Aufbau einer neuen Gesellschaftsordnung,<br />
welche die Lehren aus der<br />
Geschichte ziehen sollte. Das würde eine<br />
schwierige, widerspruchsvolle Arbeit werden,<br />
meinte Brecht. Als er aus dem Exil wiederkehrte<br />
war sein „Haar nicht grau“, jetzt – in Deutschland<br />
– war es grau geworden.<br />
Es ist zu verstehen, dass ich zornig bin, wenn<br />
unser Bundeskanzler von den Mühen der Ebene<br />
redet. Er zeigt damit nämlich nur, dass er<br />
von Bertolt Brecht gar nichts begriffen hat.<br />
II.<br />
Am 14. August war sein 50. Todestag. Auf<br />
vielen Fernsehkanälen wollte man ihn aus diesem<br />
Anlass ein weiteres Mal beerdigen. Man<br />
konnte viele Geschichterln erfahren, das Wesentliche<br />
wurde aber meist ausgespart: Brecht<br />
war ein politisch konsequenter Denker mit einer<br />
Naturbegabung für Dialektik.<br />
In seinen Arbeiten (die er Versuche nannte)<br />
ist die Suche nach ästhetischer Erneuerung<br />
nicht von einer gesellschaftspolitischen Grundposition<br />
zu trennen, die immer vom Standpunkt<br />
der arbeitenden Menschen und der<br />
Veränderbarkeit der Welt ausging.<br />
Deshalb hat der Autor auch all jenen, die heute<br />
nach Wegen der Veränderung suchen, ein<br />
umfangreiches Erbe hinterlassen, das gesichtet<br />
und angewendet werden sollte. „Erwarte keine<br />
andere Antwort als die Deine“: So lautete<br />
die Feststellung Brechts angesichts der Diskussionen<br />
nach der Niederlage der deutschen Arbeiterbewegung<br />
1933.<br />
Es ist heute noch nützlich, die Antworten<br />
Brechts auf viele gesellschaftlichen Fragen zu<br />
studieren. In seinem<br />
Arbeitsjournal, in den<br />
Geschichten vom Herrn<br />
Keuner, im TUI-Roman<br />
oder in Meti, Buch der<br />
Wendungen, kann man<br />
nachlesen, dass er mit<br />
dem eigenen Kopf gedacht<br />
hat und die marxistische<br />
Dialektik auf<br />
viele Bereiche des gesellschaftlichen<br />
Lebens<br />
anwenden konnte. Seine<br />
Lyrik und seine Stücke<br />
sind ohne diese Gedankenarbeit<br />
nicht<br />
vollends zu verstehen.<br />
III.<br />
Kurt Palm, Germanist,<br />
parteiloser Kommunist,<br />
Volksbildner<br />
und Regisseur, hat dieser<br />
Tage ein neues Buch
8<br />
CROWD UND RÜBEN<br />
rotcrowd # 8 | Oktober 2006<br />
herausgebracht. Es<br />
heißt „Brecht im Kofferraum.<br />
Aufsätze. Anekdoten.<br />
Abschweifungen.“<br />
Wer etwas über den<br />
Brecht-Boykott in Österreich,<br />
über die letzten<br />
Jahre der DDR,<br />
über Dialektik auf dem<br />
Theater, über den KSV-<br />
Salzburg in den Siebzigerjahren<br />
und über<br />
Kurt Palm erfahren<br />
will, dem sei dieses<br />
Buch wärmstens empfohlen.<br />
Es ist im<br />
Löcker-Verlag erschienen<br />
und kostet 16,80<br />
Euro.<br />
Eine Kostprobe gefällig:<br />
„Meine ersten Erinnerungen an Bertolt Brecht<br />
sind mit einem Lesebuch verbunden, das ich Anfang<br />
der 70er-Jahre im Foyer der Arbeiterkammer<br />
Vöcklabruck erstand. Es<br />
handelte sich dabei um<br />
ein in Kommunistenkreisen<br />
gern gelesenes<br />
Buch, das in der Sowjetunion<br />
gedruckt worden<br />
war und in erster Linie<br />
jene Texte enthielt, die<br />
Brecht als strammen<br />
Dichter des Proletariats<br />
auswiesen. Brechts späte<br />
Abrechnung mit Josef<br />
Stalin oder seine erotischen<br />
und pornografischen<br />
Gedichte hatten in<br />
Herausgeber und Medieninhaber:<br />
<strong>Kommunistischer</strong> StudentInnenVerband Graz<br />
Lagergasse 98a | 8020 Graz<br />
Impressum<br />
MitarbeiterInnen dieser Ausgabe:<br />
Tofik Bachramow, Elke Kahr, Maria Helene Koller, Martin<br />
Krenn, Jakob Matscheko, Andreas Nitsche, Franz Stephan<br />
Parteder, Andrea Schön, Didi Stöckl, Klemens Wallner,<br />
Sebastian Wisiak, Hanno Wisiak und Tibor Zenker<br />
Namentlich gekenntzeichnete Beiträge müssen nicht der<br />
Aufassung der Redaktion entsprechen.<br />
Dank an: junge e Welt<br />
elt, www.kominform.at, www.secarts.org<br />
Herstellerin: Hausdruckerei der KPÖ Graz<br />
Redaktion: Andreas Nitsche und Hanno Wisiak<br />
Layout: Han-Do<br />
www.rotcrowd.comunista.at<br />
rotcrowd@hotmail.com<br />
diesem Sammelband ebenso wenig Platz wie seine<br />
skeptischen Aufzeichnungen über die Entwicklung<br />
in der DDR oder seine Konflikte mit Teilen des kommunistischen<br />
Parteiapparats.<br />
Ich bin mir ziemlich sicher, dass diesem Buch als<br />
Motto Brechts berühmtes Gedicht Fragen eines lesenden<br />
Arbeiters vorangestellt war.<br />
Da mein Vater als Schlosser sozusagen Subjekt<br />
dieses Gedichts war, las ich ihm eines Tages in unserer<br />
Küche in Timelkam diesen Text in der Hoffnung<br />
vor, ihn für die Anliegen des internationalen<br />
Proletariats zu gewinnen. Meinen Vater ließ dieses<br />
Gedicht allerdings ziemlich kalt, und er empfahl mir<br />
dringend, mich lieber meinem Studium zu widmen,<br />
als ihn mit solchem „Blödsinn“ zu belästigen. Diese<br />
Reaktion bestätigte meine Befürchtung, dass auch<br />
er bereits ein ideologisches Opfer der Sozialpartnerschaftspolitik<br />
in Österreich geworden war und sich<br />
mehr für Garagentore und Balkongeländer als für<br />
den Klassenkampf interessierte.<br />
Selbstverständlich ließ ich mich von solchen marginalen<br />
Rückschlägen nicht davon abhalten, mich<br />
weiterhin im Kommunistischen Studentenverband<br />
in Salzburg zu betätigen und die Werke Brechts<br />
aufmerksam zu studieren.“ (a.a.O. S.9).<br />
Fragen eines lesenden Arbeiters<br />
von Bertolt Brecht<br />
Wer baute das siebentorige Theben?<br />
In den Büchern stehen die Namen von Königen.<br />
Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?<br />
Und das mehrmals zerstörte Babylon –<br />
Wer baute es so viele Male auf? In welchen Häusern<br />
Des goldstrahlenden Lima wohnten die Bauleute?<br />
Wohin gingen an dem Abend, wo die Chinesische Mauer fertig war<br />
die Maurer? Das große Rom<br />
Ist voll von Triumphbögen. Wer errichtete sie? Über wen<br />
triumphierten die Cäsaren? Hatte das vielbesungene Byzanz<br />
nur Paläste für seine Bewohner? Selbst in dem sagenhaften Atlantis<br />
brüllten in der Nacht, wo das Meer es verschlang<br />
die Ersaufenden nach ihren Sklaven.<br />
Der junge Alexander eroberte Indien.<br />
Er allein?<br />
Cäsar schlug die Gallier.<br />
Hatte er nicht wenigstens einen Koch, bei sich?<br />
Philipp von Spanien weinte, als seine Flotte<br />
Untergegangen war. Weinte sonst niemand?<br />
Friedrich der Zweite siegte im Siebenjährigen Krieg. Wer<br />
Siegte außer ihm?<br />
Jede Seite ein Sieg.<br />
Wer kochte den Siegesschmaus?<br />
Alle zehn Jahre ein großer Mann.<br />
Wer bezahlte die Spesen?<br />
So viele Berichte.<br />
So viele Fragen.
ALLES, WAS DER BALL IST<br />
9<br />
WM 2006 –<br />
Volksgemeinschaft reloaded<br />
„Die Welt zu Gast bei Freunden“,<br />
hieß der schöne DFB-Slogan für das<br />
nationale Großereignis dieses Jahres<br />
in Deutschland. Landauf, landab<br />
wurden die BundesbürgerInnen<br />
eingestimmt auf den Taumel der<br />
WM-Begegnungen, Entrinnen:<br />
unmöglich. Kinowerbung, Zeitungsannoncen,<br />
deutsche Nationalflaggen<br />
im Zehnerpack und Sonderangebot,<br />
Fernsehspots, Imagekampagnen und<br />
kluge Politikersprüche bilden den<br />
Kanon, der Deutschland fit machen<br />
soll für das internationale Kräfteringen.<br />
von Tofik Bachramow<br />
Für die letzte richtig boomende Branche dieses<br />
Landes, nämlich die Kampagnenindustrie,<br />
ist die WM ein Glücksgriff. Nachdem „ein Ruck<br />
durch Deutschland“ ging, Deutschland das<br />
„Land der Ideen“ wurde und obendrein „du“<br />
auch noch „Deutschland“, wurde nun eine<br />
Weltmeisterschaft als multimediales Werbespektakel<br />
inszeniert, dass nicht krasser an den<br />
Realitäten vorbeigehen könnte. „Die Welt zu<br />
Gast bei Freunden“ liest sich immer dann<br />
besonders zynisch, wenn darunter die letzten<br />
zehn Schlagzeilen bundesdeutscher Realitäten<br />
eingeblendet werden: „rechtsextremistische<br />
Gewalttaten nehmen an Umfang und Brutalität<br />
zu“; „nur eine WM-Mannschaft nimmt<br />
Quartier in Ostdeutschland – Angst vor<br />
Fremdenfeindlichkeit?“; oder auch „Mordversuch<br />
an afrikanischem Wissenschaftler – rechtsextremistischer<br />
Hintergrund wahrscheinlich“.<br />
Gerade im und nur durch Kontrast zur völlig<br />
divergierenden Wirklichkeit macht eine<br />
Kampagne überhaupt Sinn. „Du bist Deutschland“<br />
versprach Heimeligkeit und nationale<br />
Identifizierung, während die Schlangen vor den<br />
„Agenturen für Arbeit“ immer länger wurden.<br />
Deutschland wurde das „Land der Ideen“, als<br />
eine PISA-Studie das hoffnungslose Scheitern<br />
deutscher Nachwuchskräfte offenbarte. Und<br />
die Welt wird „zu Gast bei Freunden“ sein,<br />
während diese Freunde auf der Straße totgeschlagen<br />
werden.<br />
„<br />
„Ich kenne keine<br />
Parteien mehr,<br />
sondern nur<br />
noch Deutsche!“<br />
(Wilhelm II., 1914)<br />
Der Nationalismusbeauftragte Reinhard<br />
Mohr von „Spiegel Online“ will „ab morgen den<br />
Finger in die deutsche Luft halten. Jeden Tag. Vier<br />
Wochen lang, ganz kurz und sehr subjektiv. Wir<br />
versuchen, den täglichen Patriotismus-Pegel (PP)<br />
zu messen, den Klinsimeter (KM) der Nation“. Um<br />
damit die schon vorher feststehende These a la<br />
„wir dürfen wieder und tun’s auch“ zu bestätigen:<br />
„Jetzt dürfen wir auch mal die eigene Flagge<br />
zeigen und müssen nicht Ghana, Togo oder der<br />
Elfenbeinküste zujubeln“. Nein, müssen wir<br />
nicht. Schwarz-Rot-Senf geht wieder – und wird<br />
fleißig genutzt. Seit Monaten schon kein Supermarkt,<br />
kein Schaufenster und kein Werbeslogan,<br />
der nicht Fußball und Nationalfahne in<br />
Tateinheit kombiniert: das wasserkopfgroße<br />
Leder als ultimativer Transporteur nationaler<br />
Verbundenheit.<br />
Das Sprüchlein, die Deutschen hätten ein<br />
„verkrampftes Verhältnis zu ihrem Land“, legen<br />
gerne Deutsche, die genau zu diesem Resultat<br />
zweier deutscher Weltkriege ein<br />
„verkrampftes Verhältnis“ haben, bevorzugt<br />
imaginären „amerikanischen Bekannten“ in<br />
den Mund – um so en passant die „Entkrampfung“<br />
einzufordern. Zu den entkrampfenswerten<br />
Zuständen gehören zum Beispiel die<br />
mindestens moralisch strafbaren zwei ersten<br />
von drei Strophen unserer Nationalhymne.<br />
Eine Geschichte, die Mitte des 20. Jahrhunderts<br />
einen nebulösen Anfang nimmt, nachdem<br />
die braunen Außerirdischen ebenso<br />
plötzlich verschwanden, wie sie einst auftauchten.<br />
Und eine Fahne, für die man sich<br />
schämt.
10 ALLES, WAS DER BALL IST<br />
„<br />
„Du bist nichts,<br />
dein Volk ist alles“<br />
(Slogan der deutschen<br />
Faschisten, 1933)<br />
„Wir wollen doch nur…<br />
unsere Mannschaft unterstützen, mitfeiern,<br />
unsere Herkunft zeigen, unser Land repräsentieren.“<br />
So – oder ähnlich – wurde Kritik an der<br />
Nationalismuswelle abgetan, oft noch gespickt<br />
mit der Anmerkung, ein gesunder (was ist das<br />
eigentlich?) Patriotismus sei doch ganz richtig,<br />
in anderen Ländern „völlig normal“ und gehöre<br />
zur Demokratie eben dazu. In den oft<br />
harmlos vorgetragenen Worten der<br />
BefürworterInnen des scheinbar unpolitischen<br />
Schwenkens der Deutschlandfahne steckt<br />
letztlich vor allem eines: „Schlussstrich ziehen<br />
mit der Nazivergangenheit, Schluss machen, in<br />
der Normalität ankommen“.<br />
Was ist die Realität? Hat in diesem offiziellen<br />
Nachfolgestaat des Faschismus (BRD) eine<br />
fortschrittliche Revolution stattgefunden? Wurden<br />
Faschisten enteignet, verfolgt, bestraft? Ist<br />
Arbeitslosigkeit und Armut beseitigt, Grundversorgung<br />
für alle gewährleistet? Das so als<br />
einmalig anzusehende dreigliedrige Bildungssystem<br />
abgeschafft? Verhält sich Deutschland<br />
friedliebend und nicht aggressiv gegenüber<br />
seinen Nachbarn?<br />
Sport als Transporteur politischer Botschaften<br />
hat eine lange Tradition. Bereits 1936 nutzte<br />
die Führung des deutschen Faschismus die<br />
nach Berlin vergebenen Olympischen Spiele,<br />
um ein (offiziell so tituliertes) „Fest der Völker“<br />
als gigantisches Propagandabrimborium zu<br />
inszenieren: politische Beschwichtigung nach<br />
außen, Brot und Spiele nach innen. Wenige Jahre<br />
später machten sich die Faschisten daran,<br />
viele der beteiligten Nationen zu überfallen.<br />
Gerade Fußball eignet sich in Deutschland traditionell<br />
als sozialer „Blitzableiter“ und nationalistisches<br />
Derivat: das als patriotisches<br />
Erweckungserlebnis hochstilisierte und passend<br />
zur WM filmtechnisch reanimierte „Wunder<br />
von Bern“ setzt hier die Maßstäbe. Nach dem<br />
verlorenen Weltkrieg musste die Fußball-Elf als<br />
Miniatur-Wehrmacht die Schlachten nachträglich<br />
gewinnen; die (durchaus so wahrgenommene)<br />
militärisch-strenge „Zucht und Ordnung“<br />
unter Trainer Herberger rechtfertigte im<br />
Nachhinein die verworfenen Ideale einer verratenen<br />
und verkauften Generation. Übrigens<br />
sollte die Fußball-WM, die dann kriegsbedingt<br />
abgesagt wurde, 1942 in Deutschland stattfinden,<br />
die Planungen dazu waren übrigens völlig<br />
unpolitisch erfolgt, versteht sich.<br />
Das heutige „Fest der Völker“<br />
Die Fußball-WM lud die Welt als Gast „zu<br />
Freunden“ ein, während diese Freunde auf der<br />
Straße totgeprügelt wurden. Den Menschen<br />
geht es dreckiger als jemals zuvor im<br />
wirtschaftswundernden Nachkriegs-Deutschland;<br />
die Arbeitslosigkeit kratzt nicht nur absolut,<br />
sondern auch prozentual wieder an historischen<br />
Spitzenwerten. Mit einer Vielzahl<br />
politischer Kampagnen, zuletzt „Du bist<br />
Deutschland“; demnächst „Deutschland – Land<br />
der Ideen“, soll ein nationales Heimeligkeitsgefühl<br />
als Ersatz für den Verlust sozialer<br />
Sicherheiten angeboten werden. Dies ist die<br />
eine Komponente – „Brot und Spiele“ für das<br />
Volk. Da läuft die höchste Mehrwertsteuererhöhung<br />
der Geschichte mit drei Prozent locker<br />
durch.<br />
Die zweite Komponente besteht in den mit<br />
der WM begründeten flankierenden Maßnahmen:<br />
Deutschland hat nach innen wie nach<br />
außen gerüstet. Die Überwachung wurde massiv<br />
hochgefahren, das Schengener Grenzabkommen<br />
ausgesetzt, Bundeswehreinsätze im<br />
Inneren im Vorfeld heftig diskutiert. Niemand<br />
bekam ein Ticket ohne Lieferung sämtlicher<br />
persönlicher Daten; eine der umfassendsten<br />
Registrierungen überhaupt. Alles als Abwehr<br />
gegen böse polnische und andere Hooligans<br />
und den internationalen Terrorismus im Beson-
ALLES, WAS DER BALL IST<br />
11<br />
deren gedacht und daher notwendig... Letztlich<br />
also auch eine riesige Übung für den Staatsapparat,<br />
Polizei, Grenzschutz usw.. Dass dabei<br />
das Gefahrenpotential der Hooligans quasi ausschließlich<br />
aus Deutschland kommt, geben<br />
sogar führende Polizeikräfte z.B. in der Sport-<br />
BILD zu. Eine feine Geste an viele Gäste aus<br />
aller Welt, deren Freund man sein möchte ist<br />
auch, dass diese einen Krankenversicherungsnachweis<br />
zur Einreise benötigen. Dies muss<br />
notfalls eine private Absicherung bis zu EUR<br />
30.000 sein. Unser Gesundheitswesen wollen<br />
wir den tanzenden Latinos dann doch nicht<br />
kostenlos zur Verfügung stellen, wenn Ihnen<br />
im Regen die Grippe begegnet. Da verschmelzen<br />
alle Standesdünkel, alle Klassenschranken,<br />
alle Hemmungen: Professor und Hartz-IV-<br />
Empfänger, Arbeiter der Stirn, der Faust und<br />
der Jobagentur liegen sich in der Armen, die<br />
Volksgemeinschaft ist vor den öffentlichen<br />
Großbildleinwänden<br />
„<br />
greifbare Realität geworden.<br />
„Hier gibt es kein Ich.<br />
Hier gibt es nur Wir“<br />
(Klinsmann, 2006)<br />
Doch zunächst zurück zu den deutschen<br />
Fahnenschwenkern – nicht zuletzt die Hymne,<br />
die eigentlich gar keine ist, gehört zu den meiststrapazierten<br />
nationalen Symbolen. Offiziell<br />
besitzt die BRD keine verfassungsrechtlich festgelegte<br />
Nationalhymne. Das „Lied der Deutschen“,<br />
vom fanatischen Antisemiten Hoffmann<br />
v. Fallersleben in nationaler Hybris im<br />
Jahre 1841 zur Melodie von Haydns „Gott erhalte<br />
Franz den Kaiser, unsern guten Kaiser<br />
Franz“ getextet, ist 1952 (also erst drei Jahre<br />
nach der Staatsgründung!) gegen vielfachen<br />
Widerstand per Dekret zur Hymne gemacht<br />
worden; nicht zuletzt auf massives Betreiben<br />
des damaligen Kanzlers Adenauer, der es sich<br />
zum Steckenpferd machte, das durch die<br />
Siegermächte verbotene (!) Lied bei allen möglichen<br />
Gelegenheiten demonstrativ anzustimmen<br />
und damit manchen Eklat zu provozieren<br />
– bisweilen weigerten sich die Kapellen schlicht,<br />
das Lied zu intonieren.<br />
Zum Deutschlandlied erklärte Hitler: „Viele,<br />
in anderen Völkern, verstehen es nicht. Sie wollen<br />
gerade in jenem Lied etwas Imperialistisches erblicken,<br />
das doch von ihrem Imperialismus am weitesten<br />
entfernt ist. Denn welche schönere Hymne für<br />
ein Volk kann es geben als jene, die ein Bekenntnis<br />
ist, sein Heil und sein Glück in seinem Volk zu suchen<br />
und sein Volk über alles zu stellen, was es auf<br />
dieser Erde gibt.“ Die Illustrierte Bunte bestätigt<br />
diesen im Grunde wie wir sehen harmlosen<br />
Wunsch bereits in dem Bericht über den Gewinn<br />
der Fußball-WM 1954 in Bern: „Den Deutschen<br />
aber bricht das Lied aus der Brust, unwiderstehlich.<br />
Soweit ihnen die Tränen der Freude nicht<br />
die Stimme im Hals ersticken, singen sie alle, alle<br />
ohne Ausnahme, das Deutschlandlied. Niemand,<br />
auch nicht ein einziger, ist dabei der von ‚Einigkeit<br />
und Recht und Freiheit’“ singt. Spontan, wie aus<br />
einem einzigen Munde kommend, erklingt es<br />
„Deutschland, Deutschland über alles in der Welt.“<br />
Am 9. September durfte in Gelsenkirchen die<br />
NPD aufmarschieren. Gelsenkirchen war einer<br />
der Hauptaustragungsorte der Weltmeisterschaft;<br />
amerikanische und polnische Fußballfans<br />
waren zugegen, wenn die BRD demonstriert,<br />
was sie unter dem „Grundrecht auf freie<br />
Meinungsäußerung“ versteht: Das Bundesverfassungsgericht,<br />
höchstmögliche Instanz, hatte<br />
zuletzt das bestehende Verbot durch das<br />
Oberverwaltungsgericht aufgehoben.<br />
Deutsche Richter urteilen: „diese Begründung<br />
[das Verbot der NPD-Demo] sei unter verfassungsrechtlichen<br />
Gesichtspunkten nicht tragfähig. Das<br />
Ansehen Deutschlands beruhe besonders auf der<br />
freiheitlich-demokratischen Grundordnung, für die<br />
auch die Meinungs- und Versammlungsfreiheit<br />
bestimmend sei“ (FR, 02.06.2006). Unser Ansehen<br />
in aller Welt – abhängig davon, ob wir Faschisten<br />
marschieren lassen oder nicht?!<br />
„Die Welt zu Gast bei Freunden“ – am 9. September<br />
in Gelsenkirchen zum Beispiel. Oder<br />
gelegentlich, in Potsdam, wenn dunkelhäutige<br />
Menschen beinahe ermordert werden.. Oder<br />
beinahe täglich, in weiten Gebieten des Landes<br />
– wenn „Gäste“, die oft hier geboren sind oder<br />
seit Jahrzehnten hier leben, zusammengeschlagen<br />
werden; wenn die Volksgemeinschaft<br />
„Fremdkörper“ aussondert.<br />
Nicht nur das Recht, seinen Nationalstolz<br />
zeigen zu dürfen, indem man sein Fähnchen<br />
aus dem Fenster hängt, ist unterdessen längst<br />
wieder alltäglich geworden – Rassismus auf<br />
den Straßen, Faschisten<br />
in den Parlamenten<br />
und Idioten in Richterroben<br />
auch.<br />
Deutsche „grüßen“<br />
Polen 1996
12 CROWD UND RÜBEN<br />
Der Sieg der Unbeugsamkeit<br />
Fidel Castro zum 80. Geburtstag<br />
Seine Biographie ist bekannt. Zu<br />
seinem 80. Geburtstag wird sie, je<br />
nach Standpunkt des Schreibers, als<br />
Heldenepos, als Abenteuerroman,<br />
als Brigantenlegende in den Medien<br />
ausgeschmückt werden. Ein wenig<br />
oder mehr von all dem ist ihr ja auch<br />
beigemischt, und spannend genug<br />
ist dieses Leben verlaufen. Daß aber<br />
Menschen in den Bann dieses<br />
Mannes gezogen sind, hat einen<br />
tieferen Grund als den bunten Ereignisreichtum<br />
seines Lebens. Das<br />
Anekdotische tritt zurück und ist<br />
bloßes Beiwerk der zeitgeschichtlichen<br />
Größe. von Hans Heinz Holz<br />
„Welthistorisches Individuum“<br />
Kein Geringerer als Hegel, der doch die Weltgeschichte<br />
als ein über die Individuen hinweggehendes<br />
und sie hinter sich lassendes Geschehen<br />
begreift, hat die Bedeutung einzelner „welthistorischer<br />
Individuen“ gewürdigt.<br />
„Dies sind die großen Menschen in der Geschichte,<br />
deren eigene partikuläre Zwecke das Substantielle<br />
enthalten, welches Wille des Weltgeists ist. [...]<br />
Solche Individuen waren praktische und politische<br />
Menschen. Aber zugleich waren sie denkende, die<br />
die Einsicht hatten von dem, was not und was an<br />
der Zeit ist“. Sie sind es, die in ihrem persönlichen<br />
Tun das allgemeine Interesse der Menschheit,<br />
den Fortschritt, verwirklichen. Von wem<br />
könnte das mit größerem Recht gesagt werden<br />
als von Fidel Castro (wie von Lenin, Mao, Ho<br />
Chi Minh). Ihr individuelles Schicksal erfüllt<br />
sich ganz und gar in dem Einsatz fur die Befreiung<br />
der Menschen von Not und Zwang, für<br />
die Aufhebung von gesellschaftlichen Verhältnissen,<br />
in denen „der Mensch ein erniedrigtes, ein<br />
geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches<br />
Wesen ist“ (Marx, MEW 1, S. 385).<br />
Das ist kein Unternehmen wohlwollender<br />
Philanthropie. Unterdrückung und Ausbeutung<br />
werden nicht durch Sonntagspredigten<br />
überwunden, sondern in der Härte und<br />
Widersprüchlichkeit des Klassenkampfs, der<br />
auch Ungerechtigkeiten bei der Durchsetzung<br />
des gerechten Zieles in Kauf nimmt. Daß das<br />
„Gewissen der Individuen“ etwas anderes ist<br />
als der „Boden, auf dem sich die Weltgeschichte<br />
bewegt“, um eine „neue Ordnung ins Werk<br />
zu setzen“, hat Hegel überzeugend ausgesprochen.<br />
Konkret: Kuba von dem faschistischen<br />
Batista-Regime, den Handlangern der Ausbeutung<br />
durch das US-amerikanische Kapital, befreit<br />
zu haben, war ein historischer Prozeß auf<br />
einer anderen Ebene als der persönlicher Interessen<br />
und Rechte. Und ein solcher Prozeß ist<br />
nicht ein einmaliges Ereignis, das mit dem<br />
Sturm auf die Bastille oder eine Kaserne erledigt<br />
ist, sondern ein lang dauerndes Geschehen<br />
der Umgestaltung der gesellschaftlichen<br />
Ordnung, die auf die revolutionäre Beseitigung<br />
der gestürzten Macht folgt. Von der Sicherung<br />
sozialer Grundversorgung bis zum Aufbau eines<br />
umfassenden Volksbildungssystems, von<br />
der Entwicklung einer Produktion, die nicht<br />
mehr fremden Kapitalinteressen dient, bis zur<br />
Herstellung technischer Standards, die den<br />
Anschluß an den Weltmarkt erlauben – und<br />
nicht zuletzt bis zur Abwehr offener und subversiver<br />
Aggressionen reicht der Aufgabenkatalog;<br />
und ohne seine Bewältigung gäbe es<br />
kein Überleben der neuen Ordnung.<br />
Das ist die Ausgangssituation jeder Revolution<br />
– der russischen wie der chinesischen wie<br />
auch derjenigen, die jetzt in Venezuela abläuft.<br />
Schwerste Bedingungen überall. Aber der Weg<br />
Kubas in die Unabhängigkeit erfolgte noch<br />
unter zusätzlichen Belastungen. Ein kleines,<br />
sehr armes Land vor der Küste der USA, inmitten<br />
des von seinem Todfeind beherrschten<br />
Umfelds Mittel- und Südamerikas, die<br />
Interventionsdrohung einer weit überlegenen<br />
Militärmacht im Nacken, von einer<br />
Haßpropaganda überschwemmt – wer hätte<br />
dem eine Chance gegeben, wer hätte die zähe<br />
Widerstandskraft dieses Volkes vorhergesehen?<br />
Gewiß, die Sowjetunion bot einigen internationalen<br />
Schutz und wirtschaftliche Hilfestel-
CROWD UND RÜBEN<br />
13<br />
lung. Aber doch nur innerhalb der Grenzen eines<br />
außenpolitischen Konzepts von friedlicher<br />
Koexistenz, das sich mehr und mehr von den<br />
klassischen Vorstellungen Lenins entfernte und<br />
sich auf Anpassung an den Status quo der kapitalistischen<br />
Ordnung der westlichen Welt<br />
ausrichtete. Castro hat das in seiner Rede zum<br />
30. Jahrestag der kubanischen Militärmission<br />
in Angola am 2. Dezember 2005 vorsichtig angedeutet:<br />
„Ich werde heute nicht über die Differenzen<br />
in den Strategie- und Taktikkonzeptionen<br />
zwischen den Kubanern und den sowjetischen<br />
Freunden sprechen. Sie bereiteten uns nicht wenige<br />
Kopfschnerzen. Die sowjetische Regierung übte<br />
harten Druck auf uns aus, indem sie, besorgt wegen<br />
nordamerikanischer Reaktionen, unseren<br />
schnellen Rückzug (aus Angola) beantragte“. Kuba<br />
fügte sich diesem Druck nur teilweise und garantierte<br />
durch seine militärische Präsenz den<br />
Sieg des angolanischen Unabhängigkeitskampfes.<br />
Aber im labilen Gleichgewicht der<br />
Großmächte stellte das kleine Land, das die<br />
Solidarität mit den Unterdrückten nicht preisgab,<br />
immer einen irritierenden „Leberfleck“<br />
dar, der die glatte Oberfläche der Diplomatie<br />
störte.<br />
Aktive Solidarität<br />
In dieser Lage sich zu erhalten und eine dem<br />
Volke förderliche Ordnung aufzubauen, ist eine<br />
außergewöhnliche Leistung. Sie ist unvergleichlich,<br />
denn in der jungen Sowjetunion nach<br />
1917, in der Volksrepublik China nach 1949<br />
konnte der revolutionäre Aufbau sich auf die<br />
materiellen Ressourcen dieser zwei riesigen<br />
Länder stützen. Die Sowjetunion – das war ein<br />
Sechstel der Erde mit damals 180 Millionen<br />
Menschen. China hatte zum Zeitpunkt der Revolution<br />
600 Millionen Einwohner. Kuba hat<br />
heute eine Bevölkerung von elf Millionen, wenige<br />
Rohstoffe, kaum erschlossene Energiereserven.<br />
Es wird seit 50 Jahren einem Handelsembargo<br />
ausgesetzt, durch das die USA das<br />
Land zu erdrosseln versuchen – im wahrsten<br />
Sinne des Wortes es der Mittel beraubend, die<br />
es zum Leben braucht.<br />
Was aber ist geschehen? 3000 Ärzte gab es in<br />
Kuba vor 50 Jahren, heute sind es 70000; und<br />
einige zehntausend aus anderen Entwicklungsländern<br />
studieren an kubanischen Universitäten,<br />
28600 Mitarbeiter des kubanischen Gesundheitswesens<br />
sind in den Staaten der „dritten<br />
Welt“ in humanitärer Mission tätig. Voll<br />
Stolz konnte der kubanische Außenminister<br />
Felipe Pérez Roque in seiner Ansprache bei der<br />
Gründung des Rats für Menschenrechte der<br />
UNO, in den Kuba gewählt wurde, sagen: „Die<br />
Wahl Kubas ist der Sieg der Prinzipien und der<br />
Wahrheit, ist eine Anerkennung des Wertes unseres<br />
Widerstands. Die Abwesenheit der USA ist die<br />
Niederlage der Lüge, ist die moralische Bestrafung<br />
für die Arroganz eines Imperiums. Kuba erschien<br />
zu der Wahl sozusagen mit fast 30000 kubanischen<br />
Ärzten. die in 70 Ländern Leben retten und Schmerz<br />
lindern, während die USA mit 150000 Invasionssoldaten<br />
antraten, entsendet um in einem ungerechten<br />
und illegalen Krieg zu töten und zu sterben.“<br />
Castro bedient sich nicht der Rhetorik eines<br />
Propagandisten, entworfen von einer PR-Agentur,<br />
sondern spricht mit dem Pathos eines Menschen,<br />
der angetreten ist, die Welt zu verändern.<br />
„An jenem Tag, an dem es auf der Welt wirklich<br />
gerechte Gesellschaften geben wird – und die<br />
Zeit hierfür ist reif, denn es gibt keine andere Alternative<br />
– an jenem Tag wird man mit vollkommener<br />
Rationalität die gesamte Kraft der Bildung verwenden<br />
können, um Werte zu schaffen und<br />
besonders, um Werte zu vermitteln. (...) Ich werde<br />
mein ganzes Leben lang kämpfen, bis zur letzten<br />
Sekunde und solange ich den Verstand hierzu besitze,<br />
um etwas Gutes, etwas Nützliches zu tun.<br />
Denn wir alle haben mit jedem hinzugekommenen<br />
Lebensjahr gelernt, besser zu werden, alle Revolutionäre.<br />
Und die Würde des Menschen wächst, wenn<br />
er etwas für die andern tut.“<br />
In diesen Worten, wenige Tage vor seiner<br />
Notfalloperation, bei der Kundgebung zum 53.<br />
Jahrestag des Sturms auf die Moncada-Kaserne<br />
gesprochen, klingt nicht nur der unabdingbare<br />
Wille zum Handeln; bewegend ist der<br />
Geist der Solidarität, der die Würde des Menschen<br />
in seinem Einsatz für den Mitmenschen<br />
sieht. Von den alten Grundsätzen des Römischen<br />
Rechts – niemanden schädigen (neminem<br />
laedere), jedem das Seine zugestehen (suum<br />
cuique), ehrenhaft leben (honeste vivere) – hatte<br />
der Jurist, Politiker, Philosoph Leibniz den dritten<br />
abgeändert: allen hilfreich sein (omnes<br />
adiuvare). Der Jurist Fidel Castro, in jungen<br />
Jahren ein redegewaltiger politischer Strafverteidiger,<br />
kennt diese Vision der Aufklärungsphilosophie<br />
von einer friedlichen Menschheit<br />
in gemeinsamer Arbeit am Fortschritt. Und wie<br />
die Aufklärer, wie Lessing, setzt er auf „die<br />
Erziehung des Menschengeschlechts“ als dem<br />
Fidel Castro Ruz im<br />
Krankenhaus auf dem Weg<br />
der Besserung
14<br />
CROWD UND RÜBEN<br />
Fidel Castro mit dem<br />
venezolanischen<br />
Präsidenten Hugo Chávez<br />
Mittel zur „Beförderung der Humanität“<br />
(Herder). Denn, so Castro, „der Mensch ist ein<br />
Wesen voller Instinkte – voll Egoismus, er wird als<br />
Egoist geboren, das erlegt ihm die Natur auf; die<br />
Erziehung dagegen erlegt ihm die Tugenden auf.<br />
Es ist erstaunlich, daß die menschlichen Wesen trotz<br />
der Unterschiede zwischen ihnen in einem Moment<br />
eins sein können oder Millionen sein können, und<br />
sie können nur durch die Ideen Millionen sein. [...]<br />
In der Geschichte der revolutionären Bewegung lest<br />
ihr die großen Theoretiker, die niemals die revolutionären<br />
Prinzipien aufgegeben haben. Es sind die<br />
Ideen, die uns einen, es sind die Ideen, die uns zum<br />
kämpfenden Volk machen, es sind die Ideen, die uns,<br />
und nicht nur individuell, sondern kollektiv, zu<br />
Revolutionären machen.“ (Rede in der Universität<br />
Havanna anläßlich des 60. Jahrestags seiner<br />
Immatrikulation am 17.11.2005)<br />
Bildung als politische Aufgabe<br />
Ideen entspringen aus Wissen und aus der<br />
Verfügbarkeit über Wissen. Der Appell an die<br />
Ideen wird konkret, wenn die Bildung vermittelt<br />
wird, aus der die Ideen entspringen. Castro<br />
hat gleich nach der Revolution ein<br />
Volksbildungsprogramm eingeleitet, das von<br />
den Grundschülern bis zu den Senioren die ganze<br />
Nation einbezieht. Von moderner Technik<br />
wird dabei extensiver Gebrauch gemacht. So<br />
wurden in einem Pilotprojekt in der Provinz<br />
Granma innerhalb von vier Jahren für 74000<br />
Grundschüler 2000 Computer, 7500 Fernsehgeräte,<br />
3500 Videogeräte und 5000 Installationen<br />
für audiovisuellen Unterricht bereitgestellt. 485<br />
Schulen wurden mit solarer Stromerzeugung<br />
ausgestattet. „Gegenwärtig verfügt die Grund- und<br />
Mittelschulbildung des Landes insgesamt über<br />
109000 Fernsehgeräte, 43000 Videogeräte und 36000<br />
Computer“, teilte Castro am 1. Mai dieses Jahres<br />
mit. Um das politisch garantierte Recht auf Ausbildung<br />
zu erfüllen, werden Lehrer in entlegene<br />
Gebiete abgeordnet, wo sie an 167 Orten jeweils<br />
weniger als fünf Kinder unterrichten.<br />
Nach kapitalistischer Kalkulation wäre das<br />
eine Verschwendung öffentlicher Mittel. Für den<br />
kubanischen Sozialismus bedeutet es die Einlösung<br />
eines Menschenrechts für Individuen. Verschwendung<br />
materieller Ressourcen muß man<br />
eindämmen – gerade unter den Bedingungen<br />
des durch die Blockade hervorgerufenen Mangels.<br />
Aber Ausgaben für den Menschen sind<br />
nicht Verschwendung, sondern der Zweck der<br />
Gesellschaft. Nicht auf das Geldkapital, sondern<br />
auf das Humankapital komme es an, hielt Castro<br />
in seiner Rede zum 1. Mai 2006 den Theoretikern<br />
des Neoliberalismus entgegen. Und voll Ironie<br />
rief er ihnen zu: „Danke, Yankee-Imperium! Du hast<br />
uns zum Wachsen gezwungen, du hast uns über all<br />
die Jahre hinweg gezwungen, Erhabenheit zu beweisen!“<br />
Und daraus folgt nicht nur die Deklaration<br />
schöner Worte, sondern eine klare, auf Zusammenarbeit<br />
und Interessengemeinschaft ausgerichtete<br />
Außenpolitik: „Schon jetzt ist klares<br />
Verständnis darüber vorhanden“, führte Castro<br />
beim Gipfeltreffen der Karibikstaaten am 8. Dezember<br />
2005 aus, „daß die neoliberale Globalisierung<br />
das Bestehen unserer Länder als unabhängige Nationen<br />
bedroht. Die Kluft zwischen dem immer reicheren<br />
Norden und dem immer ärmeren Süden wächst<br />
schwindelerregend und ist eine ständige Bedrohung<br />
für die internationale Stabilität. Es wachsen die Androhung<br />
und die Anwendung von Gewalt; die einseitigen<br />
Zwangsmaßnahmen gegen die Regierungen<br />
und Völker der ‚dritten Welt’ werden zu einer Konstanten,<br />
und die heiligen Prinzipien des Völkerrechts<br />
stehen nur auf dem Papier. Der neoliberalen, egoistischen<br />
Globalisierung, der antidemokratischen internationalen<br />
politischen Wirtschaftsordnung müssen<br />
wir mit der Einheit und Globalisierung der Solidarität,<br />
mit der Förderung des Dialogs, der Integration<br />
und der unverfälschten Kooperation antworten.“<br />
Die Macht der Ideen<br />
Immer wieder sind es drei Eckpfeiler des<br />
kubanischen Aufbaus und der kubanischen internationalen<br />
Politik, auf die Castro zu sprechen<br />
kommt: soziale Sicherheit, Volksbildung,<br />
Gesundheitsversorgung. Von ihnen aus hat er<br />
die kubanische Gesellschaft verändert, ihnen<br />
dient die technische Entwicklung, die ökonomische<br />
Planung als Mittel zur Mehrung des<br />
„Humankapitals“, der menschlichen Kräfte, Fähigkeiten,<br />
Lebensfreude. Das allein wäre, unter<br />
Überwindung aller Notlagen und äußeren Bedrohung,<br />
eine historische Leistung. Aber<br />
darüber hinaus hat das Beispiel Kubas die weltpolitische<br />
Konstellation verändert. Die Arroganz<br />
der Macht, mit der die USA das Weisungsrecht<br />
gegenüber den lateinamerikanischen Staaten<br />
beanspruchen und seit der Monroe-Doktrin vom<br />
2. Dezember 1823 (!) den Kontinent als ihre<br />
Einflußzone reklamierten, ist gebrochen. Der<br />
Süden formiert sich als eine selbständige Kraft,<br />
die ihre Interessen wahrnimmt. Hugo Chávez in<br />
Venezuela und Evo Morales in Bolivien treten<br />
das Erbe an, das Castros Kuba ihnen erworben<br />
hat. Daß eines der kleinsten und ärmsten Länder<br />
unter ihnen ein halbes Jahrhundert erfolg-
CROWD UND RÜBEN<br />
15<br />
reich Widerstand leisten konnte, hat seine Wirkung<br />
nicht verfehlt. Die Ausgebeuteten und<br />
Versklavten beginnen zu erwachen und erkennen<br />
sich und ihre Möglichkeiten im Spiegel eines<br />
Vorbilds; Kuba ist ihre Avantgarde.<br />
Die Avantgarde führt den härtesten Kampf,<br />
bringt die schwersten Opfer. Aber sie setzt die<br />
Ideen, die die Richtung in die Zukunft weisen.<br />
„Auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt,<br />
sobald sie die Massen ergreift“ (Marx, MEW 1, S.<br />
385). Kämpferisches Klassenbewußtsein ist die<br />
zuletzt entscheidende Waffe des Proletariats,<br />
des Klassenkampfs, der Weltveränderung.<br />
„Wir haben uns niemals die Herstellung von<br />
Atomwaffen vorgenommen, denn wir brauchen sie<br />
nicht. Wir besitzen eine andere Art Atomwaffen<br />
dank der unbesiegbaren Kraft der moralischen Waffen.<br />
Deshalb sind wir nie auf die Idee gekommen,<br />
Atomwaffen herzustellen, wie wir auch nie auf die<br />
Idee gekommen sind, nach biologischen Waffen zu<br />
suchen. Wozu? Waffen, um den Tod zu bekämpfen,<br />
um AIDS zu bekämpfen, um Krankheiten zu bekämpfen,<br />
um Krebs zu bekämpfen, dem widmen wir<br />
unsere Ressourcen.“ (Castro in der Universität<br />
Havanna am 17.11.2005)<br />
Am Abend der Niederlage der preußischen<br />
Armee gegen die französischen Revolutionssoldaten<br />
schrieb Hegel an seinen Freund, den<br />
bayerischen Staatsrat Niethammer: „Ist erst das<br />
Reich der Vorstellung revolutioniert, so hält die Wirklichkeit<br />
nicht stand.“ Castro hat auf die überlegene<br />
Macht der Vorstellung von einer besseren<br />
Welt gesetzt. „Die Welt, in der wir leben, ist keine<br />
Welt voll Güte, es ist eine Welt voll Egoismus, es ist<br />
keine Welt voll Gerechtigkeit, es ist eine Welt voll<br />
Ausbeutung, Mißbrauch, Plünderung, wo jedes Jahr<br />
Millionen Kinder sterben, weil ein paar Cent für Arzneimittel<br />
fehlen, ein paar Vitamine, Mineralsalze und<br />
ein paar wenige Dollar für Nahrungsmittel, ausreichend,<br />
damit sie leben könnten. Was ist das für eine<br />
Welt, in der ein barbarisches Imperium das Recht<br />
proklamiert, überraschend und vorbeugend 70 oder<br />
mehr Länder angreifen zu dürfen, wo es in der Lage<br />
ist, den Tod in jeglichen Winkel der Welt zu bringen,<br />
indem ausgetüftelte Waffen und Tötungstechniken<br />
verwendet werden?“ (ebd.) Dieser Welt setzt das<br />
kubanische Volk seine Revolution entgegen, die<br />
es „träumt, aufbaut und verteidigt. Man kann<br />
nicht damit rechnen, daß Kuba auch nur auf ein<br />
einziges Prinzip des Völkerrechts verzichtet.<br />
Aber um das edle Ideal des Aufbaus einer besseren<br />
Welt für alle zu verteidigen, kann man<br />
immer auf Kuba zählen.“ (Außenminister Felipe<br />
Pérez Roque bei der Gründung des UN-Rats für<br />
Menschenrechte) Der Rebell und die Reife Castro<br />
hat gebeten, wegen seiner Erkrankung die Feiern<br />
zu seinem 80. Geburtstag auf den 2.Dezember,<br />
den 50. Jahrestag der Landung der<br />
„Granma“, mit der die Revolution begann, zu<br />
verlegen. Das macht Sinn. Sein Leben ist identisch<br />
mit der Revolution, und so versteht er sich<br />
auch: Von sich als Student sagt er, er war „ein<br />
rebellischer Geist voller Illusionen, ich kann nicht voll<br />
revolutionärer Ideen sagen, man sollte voller Ideen<br />
und Energie sagen, möglicherweise auch voller<br />
Kampfbegierde. Ich war ein Rebell aus vielen Gründen,<br />
und ich danke dem Leben, daß ich die ganze Zeit<br />
ein Rebell geblieben bin, selbst heute noch, und<br />
vielleicht mit mehr Recht, weil ich mehr Ideen habe,<br />
weil ich mehr Erfahrung besitze, weil ich viel aus<br />
meinem eigenen Kampf gelernt habe, weil ich diese<br />
Erde, auf der wir geboren wurden und diese Welt, in<br />
der wir leben, viel besser verstehe.“<br />
Die kubanische Revolution hat ein Stück Geschichte<br />
verändert. Und diese kollektive Leistung<br />
der Menschen konzentriert sich im Charisma<br />
des Comandante en jefe, der sie inspiriert<br />
und gestärkt, geleitet und angetrieben hat. Er<br />
ist Weltgeschichte. „Werfen wir einen Blick auf<br />
das Schicksal dieser welthistorischen Individuen“,<br />
schreibt Hegel, „so ist es kein glückliches gewesen.<br />
Zum ruhigen Genusse kamen sie nicht, ihr ganzes<br />
Leben war Arbeit und Mühe, ihre ganze Natur<br />
war nur ihre Leidenschaft.“ Allerdings, die Ruhe<br />
bürgerlicher Behäbigkeit kennen sie nicht. Aber<br />
sie finden ihr Glück in der Mühe und Arbeit<br />
für das Wohl der Menschen, ja des Menschengeschlechts.<br />
Castros stolze Bejahung seines<br />
Rebellentums scheint mir ein Lebensglück auszudrücken,<br />
das Hegel im Hörsaal der Berliner<br />
Universität nicht empfinden konnte.<br />
Am 13.August bangt Kuba um das Leben des<br />
kranken Rebellen, der es in die Freiheit geführt<br />
hat. Es wird, seinem Wunsch folgend, auf Feiern<br />
verzichten. Doch die Natur feiert ihn. Am<br />
13.August erreicht der Meteoritenschwarm seine<br />
größte Dichte. Die Flut von Sternschnuppen<br />
entzündet ein Feuerwerk über Havanna – ein<br />
glitzerndes Licht ohne kriegerische Detonationen.<br />
VIVA FIDEL!<br />
Dankend übernommen aus junge Welt, 21.08.2006<br />
Fidel Castro spricht zum<br />
kubanischen Volk.
16 CROWD UND RÜBEN<br />
Konservativismus, Monopolbourgeoisie<br />
und Faschismus<br />
1 Dimitroff, Georgi: Die<br />
Offensive des Faschismus<br />
und die Aufgaben<br />
der Kommunistischen<br />
Internationale im<br />
Kampf für die Einheit<br />
der Arbeiterklasse gegen<br />
den Faschismus.<br />
In: Ausgewählte Werke<br />
in zwei Bänden,<br />
Frankfurt/M. 1972,<br />
Bd. 1, S. 105<br />
Bisher war es HistorikerInnen und<br />
Menschen, die unfallfrei Google<br />
bedienen können, bekannt – jetzt<br />
weiß es auch eine breitere Öffentlichkeit:<br />
Schloss Lannach, Familienund<br />
Unternehmenssitz der Bartensteins,<br />
war eine Außenstelle des<br />
Konzentrationslagers Mauthausen<br />
und Experimentierfeld der SS<br />
Heinrich Himmlers. Kann da ÖVP-<br />
Wirtschaftsminister Martin<br />
Bartenstein etwas dafür? Nein,<br />
natürlich nicht. Aber die gegenwärtige<br />
Reaktion Bartensteins auf<br />
diese mediale Enthüllung enthüllt<br />
wieder einmal recht hübsch und<br />
exemplarisch das Verhältnis der<br />
ÖVP zum Faschismus...<br />
von Tibor Zenker<br />
Herr Bartenstein als historischer Agnostiker<br />
Bleiben wir zunächst bei Herrn Bartenstein,<br />
der von der Vergangenheit seines Schlosses<br />
nichts gewusst haben will. Ist es glaubwürdig,<br />
dass ein gebildeter Mann wie Bartenstein, der<br />
zumindest beim Schuhkauf kein Blödmann ist,<br />
tatsächlich in der steirischen Zeitgeschichte<br />
ebenso wenig bewandert ist wie Arnold<br />
Schwarzenegger? In diesem Fall kann man von<br />
Glück reden, dass es in den 60er Jahren noch<br />
keinen PISA-Test gab. Aber warum soll man<br />
Herrn Bartenstein auch nicht glauben? Er hat<br />
doch erst im Oktober 2005 seine völlige historische<br />
Inkompetenz unter Beweis gestellt: als<br />
der Erfolg der KPÖ Steiermark bei der<br />
Landtagswahl absehbar war, meinte er, es werde<br />
ihm übel, wenn 60 Jahre nach Kriegsende -<br />
also im viel beschworenen allgemeinen<br />
„Gedenkjahr“ – plötzlich wieder Kommunisten<br />
in einem Parlament vertreten wären.<br />
Was heißt das implizit, was suggerierte<br />
Bartenstein – wohl doch durchaus bewusst –<br />
damit? Dass die KommunistInnen – und nicht<br />
der Faschismus – für den imperialistischen<br />
Krieg die Verantwortung hätten. Damit verkehrte<br />
er nicht nur Opfer und Täter, sondern<br />
auch Widerstand und Terrorherrschaft. Herr<br />
Bartenstein könnte heute nicht sein auf demokratischem<br />
Wege erlangtes Amt ausüben, hätten<br />
nicht gerade die österreichischen<br />
KommunistInnen und insbesondere die Rote<br />
Armee der Sowjetunion gegen den Faschismus<br />
gekämpft und den Krieg siegreich beendet.<br />
Somit wollte Bartenstein offenbar davon ablenken,<br />
dass es nämlich seine Partei war, die selbst<br />
Trägerin des Faschismus war, während die<br />
KPÖ den Faschismus (nämlich den österreichschen<br />
ebenso wie den deutschen) am konsequentesten<br />
bekämpft hat. Manch einer<br />
könnte angesichts dessen fast annehmen, Herr<br />
Bartenstein würde in Wahrheit genau dies den<br />
KommunistInnen zur Last legen wollen...<br />
Oder aber Herr Bartenstein, Mulimillionär als<br />
Pharmaunternehmer, weiß womöglich um den<br />
monopolkapitalistischen Klassencharakter des<br />
Faschismus und somit um die wirklichen Verantwortlichen<br />
für den imperialistischen Zweiten<br />
Weltkrieg und die faschistischen Gräuel der<br />
30er und 40er Jahre des 20. Jahrhunderts: „Der<br />
Faschismus an der Macht ... ist ... die offene terroristische<br />
Diktatur der reaktionärsten, der am meisten<br />
chauvinistischen, am meisten imperialistischen<br />
Elemente des Finanzkapitals“ 1 , sagte Georgi<br />
Dimitroff prägnant und treffend. In Österreich<br />
zählt die Familie Bartenstein zweifelsohne zur<br />
Monopolbourgeoisie – da ist es nahe liegend,<br />
dass sie kein Interesse an der Enthüllung des<br />
Klassencharakters und der Ursache des Faschismus<br />
hat.<br />
ÖVP und Austrofaschismus<br />
Doch gilt dies natürlich für die gesamte ÖVP<br />
seit 1945, die einer Neugründung der<br />
Christlichsozialen Partei (CSP) unter neuem<br />
Namen entspricht. Die CSP hat 1934 in Österreich<br />
eine faschistische Diktatur „von oben“<br />
errichtet. Nicht unlogisch, dass die ÖVP versucht,<br />
bezüglich des Austrofaschismus diesem
CROWD UND RÜBEN<br />
17<br />
den faschistischen Charakter überhaupt abzusprechen:<br />
seitens der bürgerlichen Wissenschaft<br />
und der ÖVP ist dies logisch, doch auch<br />
die Sozialdemokratie ist hierbei hilfreich; die<br />
Mär der „geteilten Schuld“ und Otto Bauers<br />
Charakterisierung eines angeblichen „Halbfaschismus“<br />
in Österreich 1934-1938 liefern die<br />
Grundlage. Die ÖVP hat freilich ein besonders<br />
perfides Verhältnis zur austrofaschistischen<br />
Diktatur, bekanntermaßen hängt in den ÖVP-<br />
Räumlichkeiten des Parlaments in Wien nach<br />
wie vor ein Porträt des faschistischen Diktators<br />
Engelbert Dollfuß. Dies ist nur eine optische<br />
Bestätigung, begründen tun dies Leute<br />
wie Andreas Khol. Auf die Frage, wie die Dollfuß-Diktatur<br />
einzuschätzen sei, antwortete<br />
Khol in einem Interview mit der Tageszeitung<br />
„Die Presse“: „Mein Urteil gründe ich auf die internationale<br />
Wissenschaft. Auf der einen Seite hat<br />
der bedeutende Historiker Dan Diner klar dargestellt,<br />
dass das gesamte Europa ab 1930 mit ganz<br />
wenigen Ausnahmen in den Faschismus und in den<br />
Nationalsozialismus hineindriftete und dass Österreich<br />
ein Land des Widerstandes war. Stanley<br />
Payne, ein anerkannter amerikanischer<br />
Faschismustheoretiker, sagt, dass es Dollfuß gelungen<br />
ist, eine Bastion gegen den Nationalsozialismus<br />
aufzubauen. Ich sage aber gleich: Dollfuß war<br />
in dem, was er nach der Ausschaltung des Parlaments<br />
tat, kein Demokrat. Niemand kann das entschuldigen,<br />
er ist durch einen Putsch an die Macht<br />
gekommen, und das war eine Diktatur. Aber es war<br />
kein Faschismus, weil alle Wesensmerkmale des Faschismus<br />
fehlen. [...] Dass wir in Dollfuß das Opfer<br />
für Österreich sehen, das erste Opfer Hitlers und<br />
das Symbol für den Widerstand gegen den Nationalsozialismus,<br />
ist unsere Meinung. Ich habe die<br />
Fehler, die er begangen hat, schon geschildert, und<br />
ich rechtfertige sie nicht. Aber es ist unbestritten,<br />
dass er an der Wurzel der österreichischen Nation<br />
stand, und das Österreich-Bewusstsein, das nach<br />
dem Zweiten Weltkrieg immer stärker Fuß gefasst<br />
hat, kommt aus dieser Zeit [...] Es gibt Schattenseiten,<br />
es gibt Lichtseiten. Was wir an Dollfuß nach<br />
wie vor würdigen, ist sein Opfer, das Opfer seines<br />
Lebens, der Kampf gegen den Nationalsozialismus<br />
- dafür steht er als Sinnbild des Anti-Nationalsozialismus<br />
und als Sinnbild des persönlichen Opfers.“<br />
2<br />
Na wunderbar! Khol gibt sich alle Mühe, den<br />
österreichischen Faschismus zu verharmlosen,<br />
ja gar als historische Notwendigkeit zu rechtfertigen.<br />
Dollfuß, der selbst eine Terrordiktatur<br />
errichtet hat und würdig als Arbeitermörder<br />
betitelt werden kann, war also eigentlich ein<br />
Antifaschist oder – Khol verwendet schon das<br />
richtige Wort – ein Anti-Nationalsozialist. So<br />
wird der antinationale Totengräber des demokratischen<br />
Österreichs flugs zum Urheber und<br />
Verteidiger der österreichischen Nation. Die<br />
faschistische Diktatur „christlich-sozialer“ Provenienz<br />
wird so zum legitimen Mittel im Kampf<br />
gegen den Konkurrenzfaschismus. Doch das<br />
„konkurrierende Nebeneinander einer großdeutschfaschistischen<br />
und einer austrofaschistischen Bewegung<br />
war die unvermeidliche Konsequenz der Spaltung<br />
der herrschenden Klasse Österreichs in einen<br />
großdeutschen und einen auf die Erhaltung der Souveränität<br />
Österreichs als zweitem deutschen Staat<br />
bedachten Flügel.“ 3 D.h. es gab durchaus identische<br />
Zielsetzungen des österreichischen NS-<br />
Faschismus und des „christlich-sozialen“<br />
Austrofaschismus, nämlich bezüglich der<br />
grundsätzlichen Funktionen der zu errichtenden<br />
faschistischen Diktatur sowie der grundsätzlich<br />
großdeutsch zu denkenden nationalen<br />
Frage. Uneinigkeit herrschte bloß bezüglich der<br />
Einordnung dieser Diktatur in der faschistischen<br />
Bündnispolitik in Europa. Konkurrenzfaschistische<br />
Scharmützel als antifaschistischen<br />
Widerstand zu heroisieren, wie es in der ÖVP<br />
üblich ist, ist schon ziemlich beachtlich.<br />
Neuerdings will die ÖVP gar parlamentarische<br />
Gedenkfeiern zum Todestag von Dollfuß im<br />
Nationalrat abhalten...<br />
Auch ansonsten scheut die ÖVP natürlich die<br />
klare Distanzierung von der austrofaschistischen<br />
Diktatur: in Texing steht das Dollfuß-<br />
Museum und die Kernstock-Straßen durchziehen<br />
noch immer das Land (woran die anderen<br />
Parteien jedoch mitschuldig sind, denn<br />
solche gibt es z.B. im rosaroten Strasshof<br />
ebenso wie im schwarz-grün regierten Klosterneuburg).<br />
Faschismus und Monopolkapital<br />
Diese gesamte Haltung der ÖVP ist freilich<br />
kein Zufall und auch nicht auf willkürliches<br />
reaktionäres Gedankengut zurückzuführen –<br />
sie ist logisches Ergebnis des Charakters der<br />
ÖVP, die in Österreich die Hauptpartei des<br />
Großkapitals und Großgrundbesitzes ist. Die<br />
personellen Kontinuitäten von CSP/Heimwehr,<br />
faschistischer Vaterländischer Front und<br />
ÖVP sind kaum überschaubar, die Herren Raab<br />
und Figl sind klarerweise die bekanntesten Fäl-<br />
Plakat des Kommunistischen<br />
StudentInnenVerbandes<br />
zum Gedenkjahr 2005<br />
2 „Wer ist schon makellos?“<br />
– Gespräch mit<br />
Andreas Khol. In: Die<br />
Presse, 5.3.2005<br />
3 Gossweiler, Kurt: Faschistische<br />
Bewegungen<br />
und faschistische<br />
Diktatur in Österreich.<br />
In: Aufsätze zum Faschismus,<br />
Köln 1988,<br />
Bd. II, S. 671
18<br />
CROWD UND RÜBEN<br />
ÖVP-Wirtschaftsminister<br />
will von der SS-Vergangenheit<br />
seines Schlosses<br />
nichts gewusst haben.<br />
4 Lenin, W. I.: Über eine<br />
Karikatur auf den Marxismus.<br />
LW 23, S. 34<br />
5 Gossweiler, Kurt: Über<br />
Ursprünge und Spielarten<br />
des Faschismus.<br />
In: Aufsätze zum Faschismus,<br />
Köln 1988,<br />
Bd. II, S. 581 f.<br />
6 Togliatti, Palmiro: Lektionen<br />
über den Faschismus.<br />
Frankfurt/<br />
M. 1973, S. 9<br />
7 Zenker, Tibor: Stamokap<br />
heute. Wien 2005,<br />
2. Auflage, S. 32<br />
8 zitiert nach: Der Standard,<br />
25.8.2006<br />
le. Doch personelle Kontinuitäten sind eben nur<br />
Ausdruck dahinter stehender politisch-ökonomischer<br />
Kontinuitäten, nämlicher jener des<br />
Kapitalismus in seinem imperialistischen Stadium.<br />
„Der politische Überbau über der neuen<br />
Ökonomik, über dem monopolistischen Kapitalismus“,<br />
erklärte Lenin, „ist die Wendung von der<br />
Demokratie zur politischen Reaktion. Der freien<br />
Konkurrenz entspricht die Demokratie. Dem Monopol<br />
entspricht die politische Reaktion.“ 4 Im Imperialismus<br />
entwickelt das Monopolkapital den<br />
Drang auch zur politischen Alleinherrschaft.<br />
Warum? „Dieser Drang“, schreibt Kurt Gossweiler,<br />
„ergibt sich aus dem objektiven Zwang, zur<br />
Sicherung der für das Überleben im Konkurrenzkampf<br />
der Monopolriesen notwendigen Akkumulation<br />
nicht nur den einfachen, ‚normalen’ Durchschnittsprofit,<br />
sondern Extraprofite, Monopolprofite,<br />
zu erzielen. Der Monopolprofit wird auf<br />
Kosten der gesamten Gesellschaft erzielt. Die bürgerliche<br />
Demokratie und der bürgerliche Parlamentarismus<br />
belassen aber den nichtmonopolistischen<br />
Klassen und Schichten immerhin noch – wenn auch<br />
begrenzte – Möglichkeiten, sich gegen die verstärkte<br />
Ausbeutung und Ausplünderung durch das Monopolkapital<br />
und den mit ihm verfilzten Großgrundbesitz<br />
zur Wehr zu setzen. Daher bei letzteren das<br />
Streben nach Beseitigung dieser Möglichkeiten,<br />
nach Beseitigung der parlamentarischen Demokratie<br />
und Errichtung ihrer uneingeschränkten, offenen<br />
Diktatur, in welcher Gestalt und unter welchem<br />
Namen auch immer.“ 5<br />
Lenins Worte und Gossweilers Erläuterungen<br />
sind als grundsätzliche Tendenz zu verstehen,<br />
die im Imperialismus und erstrecht im staatsmonopolistischen<br />
Kapitalismus immer gegeben<br />
ist. Insofern muss festgehalten werden, dass der<br />
Faschismus auch kein Sonderfall, kein historischer<br />
Zufall oder gar „Betriebsunfall“ im und<br />
des Kapitalismus ist. Nein, der Faschismus ist<br />
die äußerste Konsequenz des dem Imperialismus<br />
unweigerlich innewohnenden Drangs<br />
nach Reaktion und Gewalt, des absoluten<br />
Herrschaftsstrebens des Finanzkapitals auch in<br />
politischer Hinsicht. Der Faschismus ist – nach<br />
Eintritt des Kapitalismus in seine allgemeine<br />
Krise (dies ist das zweite Hauptmoment für das<br />
Aufkommen des Faschismus) – Ausdruck der<br />
äußersten negativen Konsequenz im Rahmen<br />
der Alternativen: Sozialismus oder Barbarei.<br />
Insofern, als das monopolistische Stadium des<br />
Kapitalismus die ökonomische Grundlage des<br />
Faschismus ist, kann man mit Palmiro Togliatti<br />
sagen: „Man kann nicht das Wesen des Faschismus<br />
bestimmen, wenn man nicht den Imperialismus<br />
kennt.“ 6<br />
Betrachten wir Österreich, so hat der Faschismus<br />
eine wichtige Rolle erfüllt, wo er „die Bedingungen<br />
für die vollständige Entwicklung des<br />
Stamokap geschaffen hat (nicht zuletzt auch mittels<br />
Einsatzes von ZwangsarbeiterInnen) und sie<br />
schlussendlich beschleunigte. Dafür stehen der<br />
Autobahnbau, kalorische und Wasserkraftwerke<br />
(1944 wurde die doppelte Elektrizitätsproduktion<br />
von 1937 erreicht), die Erhöhung der Erdölförderung<br />
von 37.000 Tonnen pro Jahr (1937) auf<br />
1,2 Millionen (1944), die technische Optimierung<br />
des Eisenerzabbaus in der Steiermark, die Niederlassungen<br />
deutscher Rüstungsbetriebe in Österreich<br />
(z.B. Dornier in Vorarlberg oder Messerschmitt in<br />
Tirol) genauso wie etwa die Etablierung der Schwerindustrie<br />
v.a. in Oberösterreich, wo aus den ‚Hermann-Göring-Werken’<br />
ja nach dem Krieg die<br />
VOEST hervorging.“ 7 – Es sind dies Beispiele im<br />
Großen, wofür das Bartensteinsche Pharmaunternehmen<br />
ein „kleineres“ einzelnes ist.<br />
Denn das Schloss Lannach war nicht nur ein<br />
KZ-Außenlager, sondern beherbergte auch das<br />
SS-Institut für Pflanzengenetik. Der Historiker<br />
Betrand Perz meinte nun dazu: „Es ist erstaunlich,<br />
dass bereits 1947 ein Unternehmen an diesem<br />
Ort eingerichtet wurde, das sich wieder unter anderem<br />
mit pflanzlichen Heilmitteln beschäftigt.“ 8 –<br />
Dieses Unternehmen ist die Lannacher Heilmittel<br />
GmbH, an der sich die Familie Bartenstein<br />
in den 50er Jahren zunächst beteiligt und die<br />
sie 1966 zur Gänze übernommen hat. Nun, man<br />
kann dies einfach „erstaunlich“ finden, doch<br />
mit dem Wissen über den untrennbaren Zusammenhang<br />
zwischen Monopolkapitalismus<br />
und Faschismus kann man auch zu weiteren,<br />
nicht unbedingt an Zufallsgläubigkeit gebundenen<br />
Einschätzungen kommen...<br />
Reaktionärer Konservativismus<br />
und die neofaschistische Gefahr<br />
Wir haben also anhand der ÖVP gesehen,<br />
dass die teilweise, mehr oder minder subtile<br />
positive Konnotation des Faschismus in bürgerlichen<br />
Großparteien, im Konservativismus,<br />
ihren Platz hat. So gebildet (und der zweite<br />
mitunter gar „liberal“) ÖVP-Politiker wie Khol<br />
und Bartenstein auch daherkommen, so bleibt<br />
ihre reaktionäre Ausrichtung offensichtlich. Es<br />
ist natürlich kein Zufall, dass unter Federführung<br />
solcher Leute nach der Nationalratswahl<br />
1999 eine rechtsreaktionäre Koalitionsregierung<br />
mit der FPÖ Jörg Haiders zustande ge-
CROWD UND RÜBEN<br />
19<br />
kommen ist, unter deren Amtszeit sodann Leute<br />
vom ganz rechten Rand in diverse staatliche<br />
Gremien und Aufsichtsorgane gelangten,<br />
sowie dass es in diversen Ministerien, in der<br />
Exekutive und im Heer ein ebenso<br />
hinterfragenswertes Personalmanagement<br />
gab. Auch die auffällig guten Beziehungen zu<br />
den reaktionärsten Kräften in der katholischen<br />
Kirche sprechen für sich. – Man lässt sich also<br />
mit den fragwürdigsten rechtsextremen Leuten<br />
der österreichischen Politik und Gesellschaft<br />
ein, versucht dies aber natürlich zu vertuschen,<br />
indem möglichst „herzeigbare“ Leute<br />
an der Spitze der Ministerien stehen sollen.<br />
Programmatisch aber passen Konservativismus<br />
und Rechtsextremismus tadellos zusammen.<br />
Auf diese Weise besteht in allen Ländern die<br />
faschistische Gefahr „von oben“ (auch wenn<br />
hier ausdrücklich angemerkt sei, dass weder<br />
Khol noch Bartstein derartige Zielsetzungen<br />
zugeschrieben werden sollen). Schließlich geht<br />
es vielmehr um reaktionäre Tendenzen und die<br />
grundsätzliche Interessenslage nach Klassenhintergründen,<br />
die ihre Auswirkungen auf den<br />
Staatsapparat haben. Der Faschismus kommt<br />
immer im Bündnis mit konservativen Kräften<br />
an die Macht. Unter diesen finden sich immer<br />
welche, die zu Vollstreckern der faschistischen<br />
Diktatur werden – das war in Deutschland in<br />
Bezug auf die NSDAP so, in Österreich hat die<br />
CSP gleich selbst die faschistische Diktatur von<br />
oben errichtet, dafür stehen insbesondere die<br />
CSP-Politiker Seipel und Dollfuß, aber auch<br />
Bundespräsident Wilhelm Miklas (1928-1938),<br />
die aus ÖVP-Sicht alle bis heute verehrenswert<br />
sind... – Ganz offensichtlich ist der reaktionäre<br />
Rand in einer bürgerlichen Großpartei auch in<br />
der BRD, d.h. bei CDU/CSU. Im Allgemeinen<br />
gehen die reaktionärsten Tendenzen hier<br />
zumeist von der bayrischen CSU aus, federführend<br />
war natürlich Franz Josef Strauß, 1961 bis<br />
1988 CSU-Vorsitzender. Wenn dieser sagte,<br />
rechts von der CSU dürfe kein Platz für eine<br />
weitere Partei sein, so meinte er nicht, dass es<br />
keine rechtsextreme/neofaschistische Partei<br />
geben dürfe, sondern dass die CSU selbst diesen<br />
Platz ausfüllen müsse (Edmund Stoiber gibt<br />
sich in der Form moderater als Strauß, ist aber<br />
wohl derselben Ansicht). Ähnliche Figuren gibt<br />
es in allen Ländern, sei es z.B. jemand wie<br />
Sarkozy bei den französischen Bürgerlichen, die<br />
gesamte Aznar-Regierung in Spanien oder<br />
wahrlich nicht zuletzt Berlusconi in Italien: hier<br />
wurde versucht, die eigenständige Justiz auszuschalten,<br />
vermehrt reaktionär-autoritäre<br />
Verfassungsbestimmungen durchzusetzen,<br />
Militär und Polizei zu Willkür- oder gar<br />
Terroraktionen einzusetzen (siehe Genua), etwaige<br />
nationale Unterdrückungsszenarien systematisch<br />
auszuweiten - und dies alles geschieht<br />
im systematischen Bündnis und mit<br />
gegenseitiger Unterstützung und Förderung<br />
zwischen reaktionär-konservativen, nationalistischen<br />
und neofaschistischen Gruppen.<br />
Das Ganze, die Interessen der rechtsreaktionärsten<br />
Kreise in den konservativen Parteien<br />
und deren politische Umsetzung, hat<br />
(nicht nur in Italien oder Bayern) seine Auswirkung<br />
auf den Staatsapparat, der auf diese Weise<br />
selbst sein reaktionäres Potenzial zu einem<br />
faschistischen steigern kann - das ist ja auch die<br />
Zielsetzung der rechtsreaktionärsten Kreise in<br />
den konservativen, bürgerlichen Großparteien.<br />
Das Ganze wurzelt in der grundsätzlichen antidemokratischen<br />
Entwicklung des Ausbaus<br />
des Staatsapparats in eine verstärkt autoritäre<br />
Richtung. Konstantin Sarodow sagte schon vor<br />
einigen Jahren: „Mit der Entwicklung des staatsmonopolistischen<br />
Kapitalismus werden verschiedene<br />
Teile des heutigen kapitalistischen Staatsapparats<br />
selbst immer mehr zu Trägern ultrareaktionärer<br />
Tendenzen. Es verstärkt sich die Tendenz zur reaktionären<br />
Selbstherrschaft der zivilen Bürokratie. Mit<br />
dem Abbau des Mechanismus der bürgerlichen Demokratie<br />
wächst die unkontrollierbare Einmischung<br />
der Exekutivorgane in alle Prozesse der Wirtschaft,<br />
des sozialen und kulturellen Lebens der Gesellschaft,<br />
und in den Händen der höchsten Beamten konzentriert<br />
sich eine gewaltige Macht. Gleichzeitig wird<br />
die Rechtsgrundlage für polizeiliche Repressalien in<br />
Form einer arbeiter- und volksfeindlichen Gesetzgebung<br />
geschaffen. Es erweitert sich die reale ökonomische<br />
und politische Macht des Militär-Industrie-Komplexes.<br />
Er wird zu einer autarken Kraft,<br />
die sich immer mehr dem bürgerlich-demokratischen<br />
System entgegenstellt und es sich zu unterordnen<br />
sucht. Die Empfänglichkeit der reaktionären<br />
Militärkamarilla, der militärischen Kreise für die<br />
faschistische Ideologie ist angesichts der Verstärkung<br />
der Aggressivität des Imperialismus besonders<br />
gefährlich, sie kann sich auch in einer konservativen<br />
Reaktion auf die Erfolge des Kampfes für Frieden<br />
und Entspannung äußern.“ 9<br />
„Rechts von der CSU darf<br />
kein Platz mehr sein.“<br />
Franz Josef Strauss,<br />
ehemaliger CSU-Chef
20<br />
CROWD UND RÜBEN<br />
Noch immer weigern sich<br />
führende ÖVP-Politiker,<br />
sich vom Austrofaschismus<br />
zu distanzieren.<br />
9 Sarodow, K. I.: Der gegenwärtige<br />
Faschismus<br />
und die Realität<br />
seiner Gefahr. In:<br />
Kühnl, Reinhard (Hg.):<br />
Texte zur Faschismusdiskussion<br />
1. Reinbek<br />
bei Hamburg 1974, S.<br />
197 f.<br />
10 ebd., S. 198<br />
11 Faschismus und antifaschistischer<br />
Kampf<br />
gestern und heute –<br />
Gespräch mit Kurt<br />
Gossweiler (Berlin, 15.<br />
April 2000). Beitrag<br />
zum 9. Internationalen<br />
Kommunistischen Seminar<br />
(IKS), Brüssel,<br />
2.-4. Mai 2000<br />
Somit schafft sich das Monopolkapital eine<br />
weitere Option für einen faschistischen<br />
Entwicklungsweg. Es ist der Weg einer stetigen<br />
Faschisierung, einer relativen weiteren<br />
Verselbständigung des Staatsapparates gegenüber<br />
dem Parlamentarismus, der Stärkung der<br />
Exekutive und des Militärs. Vorangetrieben<br />
wird dies durch die reaktionärsten bürgerlichen<br />
Kräfte in den konservativen Großparteien, die<br />
dazu die legislativen Möglichkeiten haben,<br />
durch ebensolche Personen in den staatlichen<br />
Institutionen. All dies soll die Entwicklungstendenz<br />
ermöglichen, auf dieser Basis im entscheidenden<br />
Moment die faschistische Diktatur<br />
„von oben“ zu errichten – durchaus ähnlich<br />
wie in Österreich 1933/34. (Auch<br />
angesichts dieser historischen Analogie ist wie<br />
gesagt nicht ausgeschlossen, dass es zum offenen<br />
Bündnis der reaktionärsten konservativen<br />
Kräfte mit neofaschistischen und „rechtsextremen“<br />
Hilfskräften kommt.) – „Somit wächst<br />
die Gefahr“, sagt Sarodow weiters, „der immanenten<br />
Faschisierung der bürgerlichen Staatsmaschinerie,<br />
und auf dieser Grundlage greifen die<br />
Übergangsformen, die neofaschistische Formen zur<br />
Durchsetzung der Macht des Monopolkapitals, in<br />
denen sich Elemente der bürgerlich-demokratischen<br />
und der offen terroristischen Regimes verbinden,<br />
immer mehr um sich. Eine neue Gefahr taucht auf:<br />
Die allmähliche Umwandlung des bürgerlich-demokratischen<br />
Regimes in ein faschistisches, das die<br />
Möglichkeit schafft, die Reste des Parlamentarismus<br />
plötzlich zu beseitigen und eine Diktatur zu errichten.“<br />
10<br />
Ein sehr gutes und vielleicht das beste diesbezügliche<br />
Beispiel der Gegenwart ist das Wirken<br />
der so genannten „Neocons“, der „Neokonservativen“,<br />
in den USA, die seit dem Amtsantritt<br />
von Präsident George W. Bush an der<br />
Macht sind, wenngleich Bush selbst wohl nicht<br />
gerade als Vordenker angesehen werden kann<br />
– die Regierung und die Beratungsgremien<br />
wurden jedoch entsprechend besetzt (Cheney,<br />
Rumsfeld, Rice, Wolfowitz etc.). Offen wird hier<br />
die Idee (und Praxis) einer weitgehend autoritären<br />
Regierung im Inneren, einer autoritären<br />
Außenpolitik ungeachtet des Völkerrechts und<br />
der UNO, einer – und deshalb ist das Wort<br />
„neoliberal“ völlig falsch – staatlichen Förderung<br />
der Ökonomie (d.h. der US-Monopolkonzerne)<br />
vertreten. Im Inneren bedeutet dies<br />
Demokratieabbau bis hin zu Willkürelementen,<br />
Repression gegenüber KritikerInnen, nach<br />
außen bedeutet dies letztlich Krieg. Ideologisch<br />
beruft man sich hierbei auf einen gewissen<br />
christlichen Fundamentalismus, auf ein entsprechendes<br />
messianisches Sendungsbewusstsein,<br />
dass auch nach außen getragen<br />
werden muss. So wird die angebliche Legitimation<br />
jeder politischen oder militärischen<br />
Aggression gegenüber anderen Staaten und<br />
Nationen zur Verteidigung und/oder Implementierung<br />
von Recht und Freiheit, von Demokratie<br />
und Moral. Die Wahrheit ist hingegen<br />
simpel: es handelt sich um die gegenwärtige<br />
Strategie der reaktionärsten Teile des US-Monopolkapitals<br />
zur ungehinderten Entfaltung<br />
der imperialistischen Aggression. Es geht um<br />
die imperialistische Hegemonie, um den Kampf<br />
gegen jede antiimperialistische, radikaldemokratische<br />
oder gar sozialistische<br />
Emanzipationsbestrebung, im Inneren wie nach<br />
außen.<br />
Was ist nun dagegen und gegen andere Formen<br />
neofaschistischer Gefahren zu tun? Im Jahr<br />
2000 beantwortete Kurt Gossweiler in einem<br />
Interview, das für das Internationale Kommunistische<br />
Seminar in Brüssel geführt und aufgezeichnet<br />
wurde, die Frage „Was ist zu tun,<br />
um die Möglichkeit eines neuen Faschismus<br />
nicht Wirklichkeit werden zu lassen?“, prägnant<br />
und deutlich: „Erstens: Wir müssen unsere<br />
Kraft und unseren Einfluss dafür einsetzen, dass<br />
jeder Angriff der Herrschenden auf die in langen<br />
Jahrzehnten errungenen demokratischen und sozialen<br />
Rechte auf eine möglichst breite und möglichst<br />
entschlossene Abwehr stößt. – Zweitens: Wir müssen<br />
immer wieder daran erinnern, was die Faschisten<br />
über ihr Volk und die ganze Menschheit gebracht<br />
haben. Die faschistischen Verbrechen dürfen nicht<br />
vergessen und nicht vergeben werden! – Drittens:<br />
Wir dürfen nicht müde werden, darüber aufzuklären,<br />
wessen Instrument der Faschismus war und<br />
nach wie vor ist. – Viertens: Wir müssen unermüdlich<br />
Klarheit darüber verbreiten, dass Antikommunismus<br />
Begünstigung des Faschismus bedeutet. –<br />
Fünftens: Wir müssen die Wahrheit zur Massenerkenntnis<br />
machen, dass, solange der Imperialismus<br />
herrscht, auch die Gefahr des Faschismus bestehen<br />
bleibt. Nur der Sozialismus kann der Menschheit<br />
eine Welt ohne Kriege und ohne Faschismus bringen.“<br />
11
PETITION<br />
21
22 SCHWERPUNKT AFRIKA<br />
Die Geschichte eines<br />
notwendigen Mordes<br />
Zum gewaltsamen Tod des ersten Ministerpräsidenten<br />
der unabhängigen Republik Kongo, Patrice Lumumba.<br />
von Martin Krenn<br />
„Nachdem er tot ist, hört Lumumba auf, eine<br />
Person zu sein. Er wird zu ganz Afrika“. Dies<br />
und nichts weniger fällt Sartre ein, als er vom<br />
Mord am Führer des kongolesischen<br />
Unabhängigkeitskampfes und späteren ersten<br />
Ministerpräsidenten des eigenstaatlichen Kongo,<br />
Patrice Lumumba, erfährt. Wenn heute EU-<br />
Soldaten in Kinshasa patrouillieren, um die<br />
„ersten freien Wahlen“ in der Geschichte des<br />
zentralafrikanischen Landes zu überwachen, so<br />
wird einmal mehr deutlich, dass sich Geschichte<br />
immer zweifach vollzieht: zunächst als Tragödie<br />
und dann als Farce (Friedrich Engels).<br />
Für die nationale Selbstbestimmung<br />
Ökonomische Unabhängigkeit, soziale Gerechtigkeit<br />
und politische Selbstbestimmung.<br />
Dies waren die prägenden politischen Forderungen<br />
Patrice Lumumbas. 1925 in Katako<br />
(Kasai-Provinz) im nördlichen Kongo als Sohn<br />
einfacher Bauern geboren, machte er eine Ausbildung<br />
zum Arzthelfer. Schon seit seiner Jugend<br />
politisch tätig, beginnt Lumumbas Aufstieg<br />
zur zentralen Führungsgestalt des kongolesischen<br />
Unabhängigkeitskampfes 1958 mit<br />
der von ihm maßgeblich organisierten Gründung<br />
des Mouvement Nationale Congolaise,<br />
MNC (Nationale kongolesiche Bewegung) mit<br />
dem Ziel des Sturzes des belgischen Kolonialregimes.<br />
1889 im Status eines Privatbesitzes des<br />
belgischen Königshauses ins belgische<br />
Kolonialsystem integriert, nutzen die Kolonialherren<br />
den über gewaltige natürliche Ressourcen<br />
verfügenden Kongo als schier unerschöpfliches<br />
Reservoir zur Ausbeutung von Rohstoffen<br />
für die weiterverarbeitende Industrie des<br />
kapitalistischen Mutterlandes. Das Vorgehen<br />
der Belgier war dabei von größter Härte und<br />
Verachtung gegenüber der kongolesischen Bevölkerung<br />
geprägt. Armee und Verwaltung<br />
waren von Belgien diktiert und nahezu ausschließlich<br />
mit ihm entsandten Beamten besetzt.<br />
Es gab keine afrikanischen Offiziere, im<br />
gesamten Staatsdienst nur 3 Afrikaner auf leitenden<br />
Positionen und lediglich 30 Kongolesen<br />
mit akademischer Ausbildung.<br />
1959 schließlich begannen landesweit Unruhen<br />
und Streiks gegen die Unterdrückung<br />
durch die Kolonialmacht. Nach einem Fußballspiel<br />
in Leopoldville (Kinshasa) am 4.1.1959<br />
wurde ein Volksaufstand niedergeschlagen.<br />
Der MNC war eine treibende Kraft, die an der<br />
Rebellion gegen die Kolonialmacht teilgenommen<br />
hatte. Um einen Kolonialkrieg zu verhindern,<br />
der zur Verringerung des Einflusses in<br />
der Region geführt hätte, wurden von der Kolonialmacht<br />
für den Mai 1960 Wahlen anberaumt.<br />
Im Gebilde von über 120 neuformierten,<br />
vor allem ethnischen und regionalen Inhalten<br />
verpflichteten Parteien war die MNC die einzige<br />
Kraft, die für eine Zentralregierung und<br />
die Vereinigung des Kongos über ethnische und<br />
regionale Grenzen hinweg eintrat. Aus den ersten<br />
Wahlen Kongos ging sie schließlich als<br />
stärkste Partei heraus, Lumumba wurde Premier.<br />
Belgien und die USA hätten allerdings<br />
eine andere, „moderatere“ Regierung vorgezogen.<br />
Unabhängigkeit und Intervention<br />
Die im Dezember 1960 offiziell vollzogene<br />
Unabhängigkeit sollte darum in der entstandenen<br />
Form nur kurzen Bestand haben. Der Wes-
SCHWERPUNKT AFRIKA<br />
23<br />
ten war daran interessiert, das Land aus machtpolitischen<br />
wie ressourcentechnischen Gründen<br />
auch weiterhin unter Kontrolle zu halten.<br />
Besondere Bedeutung kam dabei der südöstlichen<br />
Provinz Katanga zu.<br />
Bis heute ist Katanga die Schatzkammer des<br />
Kongos. Hier hatten belgische Staatskonzerne<br />
während der Kolonialzeit Kupfer, Uran und<br />
andere Metalle abgebaut; wichtige Rohstoffe<br />
für die Rüstungsindustrie und für die Produktion<br />
von Atombomben. Aus diesem Grund<br />
fand sich der Kongo bzw. die Provinz Katanga<br />
im Speziellen als strategisch zentrale Weltregion<br />
in den geopolitischen Karten der USA<br />
während des Kalten Krieges. Eine jede aus<br />
Sicht der kapitalistischen Zentren des Westens<br />
erfolgende Destabilisierung dieser Region,<br />
wie sie die von Lumumba betriebene strikte<br />
Ablehnung einer auf wirtschaftlicher Ausbeutung<br />
und Unterdrückung basierenden Ordnung<br />
notgedrungen mit sich bringen musste,<br />
konnte darum seitens Washingtons, Brüssels<br />
und seiner Verbündeter auf keinen Fall akzeptiert<br />
werden. Die erste Gelegenheit einer Intervention<br />
sollte ergriffen werden, um die Präsidentschaft<br />
Lumumbas zu stürzen und den<br />
von ihm eingeschlagenen Weg einer afrikanischen<br />
Selbstständigkeit zu nivellieren. Eine<br />
solche Gelegenheit fand sich schon elf Tage<br />
nach Bestehen der Republik in den in Katanga<br />
ausbrechenden Unruhen, im Zuge derer sich<br />
die Provinz von der Zentralmacht lossagte.<br />
Der Anführer der Sezessionisten war der Garant<br />
für westliche Interessen, Moise<br />
Tschombe.<br />
Belgien unterstützte die Soldaten Tschombes<br />
mit eigenen Truppen. Die Intervention der Belgier<br />
war daher eindeutig eine direkte militärische<br />
Aggression, die auf politischer und medialer<br />
Ebene ihre Fortsetzung in der<br />
Kampagnisierung gegen den „Neger-Premier<br />
eines sogenannten Staates“ oder den „Urwaldneger<br />
mit dem Ziegenbart“ fand.<br />
Nachdem belgische Soldaten den Süden des<br />
Kongo besetzt hatten, wandte sich Lumumba<br />
zunächst an die UNO – scheinbar erfolgreich.<br />
Der Westen hatte nämlich durchaus ein Interesse<br />
an einer Intervention, galt es doch, mögliche<br />
Hilfeleistungen afrikanischer Staaten oder<br />
der Sowjetunion zu verhindern. Die von den<br />
USA dominierte UNO intervenierte also vor<br />
allem, wie es auch der damalige amerikanische<br />
Botschafter im Kongo erklärte, „um den sowjetischen<br />
Bär vom kongolesischen Kaviar fernzuhalten“.<br />
Der Charakter der UN-Mission wurde<br />
bald offenkundig, als Blauhelmsoldaten<br />
zwar in Katanga einrückten, gleichzeitig aber<br />
den gesamten restlichen Kongo besetzten. Mit<br />
dem Schachzug der Eingliederung regulärer<br />
belgischer Truppen in die katangesische Armee<br />
wurde es zudem Lumumba verunmöglicht, die<br />
militärische Kontrolle über das Gebiet zurückzugewinnen.<br />
Regimewechsel<br />
Lumumbas wenn auch geschwächte politische<br />
Existenz musste aber in jeden Fall ein fortdauerndes<br />
Bedrohungsszenario für den kapitalistischen<br />
Westen bleiben. Sehr schnell begann<br />
darum der US-Auslandsgeheimdienst<br />
CIA nach der persönlichen Empfehlung Präsident<br />
Eisenhowers, Lumumba zu eliminieren,<br />
im Zusammenspiel mit belgischen Geheimdiensten<br />
an der endgültigen Lösung des Problems<br />
zu arbeiten. Im August 1960 schickte<br />
CIA-Direktor Dulles ein Telegramm an seinen<br />
CIA-Mann in Leopoldville: „Falls Lumumba an<br />
der Macht bleibt“, hieß es dort, „wird die Situation<br />
im besten Falle in ein Chaos münden und<br />
im schlechtesten Falle in der Machtergreifung<br />
der Kommunisten im Kongo. Wir haben entschieden,<br />
dass seine Entfernung das wichtigstes<br />
Ziel ist und oberste Priorität hat bei unseren<br />
geheimen Aktionen.“<br />
Auf direktes Geheiß Belgiens entließ der noch<br />
von Brüssel eingesetzte kongolesische Präsident,<br />
Joseph Kasavubu, am 5. September 1960<br />
den Premier Lumumba. Mobutu, ehemaliger<br />
Kampfgefährte Lumumbas, übernahm das<br />
Kommando über die Streitkräfte. Das Volk protestierte<br />
vehement gegen die Absetzung ihres<br />
gewählten Ministerpräsidenten. Im Senat und<br />
Parlament erhielt Lumumba überwältigende<br />
Unterstützung, bei seinen folgenden Reisen<br />
durch das Land war ihm großer Zuspruch sicher.<br />
Der Westen wollte die Situation endgültig<br />
lösen und organisierte gemeinsam mit<br />
Armeechef Mobutu am 14. September einen<br />
Putsch gegen die Regierung. Das Parlament<br />
wurde aufgelöst. Unter dem Vorwand, „Ruhe<br />
und Ordnung“ wiederherstellen zu wollen,<br />
schloss die UNO Radiosender und Flughäfen.<br />
Lumumba wurde unter Hausarrest gestellt,<br />
konnte fliehen, wurde aber mit seinen Gefährten<br />
wenige Tage darauf wieder gefangen genommen.<br />
Der Widerstand gegen den Putsch<br />
Patrice Emery Lumumba<br />
2.7.1926 – 17.1.1961
24 SCHWERPUNKT AFRIKA<br />
verstummte dadurch aber nicht. Die Kongolesen<br />
gingen auf die Straße, um die Jahreswende<br />
1960/61 leiteten die Lumumba-Anhänger eine<br />
militärische Offensive im Osten des Kongo ein<br />
und eroberten innerhalb kurzer Zeit die Hälfte<br />
des Landes. Dies machte die Entscheidungsträger<br />
im Westen zusehends nervös.<br />
Lumumbas Tod und dessen Folgen<br />
Am 17. Januar 1961 wurden Patrice<br />
Lumumba, Joseph Okito, der Vizepräsident des<br />
Senats, und Maurice Mpolo, der Informationsminister<br />
in die Hauptstadt Katangas geflogen.<br />
Lumumba und seine Gefährten wurden stundenlang<br />
gefoltert, ehe sie im Beisein der führenden<br />
Politiker der Regierung Tschombe und<br />
in Begleitung belgischer Offiziere und<br />
Verwaltungsbeamter erschossen wurden. Die<br />
vorher erfolgte Aussage des damaligen<br />
belgischen Ministers für afrikanische Angele-<br />
genheiten, dass „das Hauptziel, das im Interesse<br />
von Kongo, Katanga und Belgien zu verfolgen<br />
ist, (...) fraglos die endgültige<br />
Eliminierung Lumumbas (ist)“, war die Legitimation<br />
zum Mord.<br />
Obwohl Tschombe nach dem Mord Premierminister<br />
wurde, hatte seine Herrschaft nicht<br />
lange Bestand. Im Jahre 1965 führte der kongolesische<br />
Armeechef Joseph Mobutu, der<br />
Lumumba dem Exekutionskommando ausgeliefert<br />
hatte, einen unblutigen Staatsstreich<br />
durch. 32 Jahre dauerte seine vor allem durch<br />
Belgien, Frankreich und die USA gestützte Diktatur<br />
an. Mobutu wurde bekannt für seine Korruption<br />
und Habgier. Sein Regime wurde zum<br />
engsten Verbündeten der Vereinigten Staaten<br />
auf dem afrikanischen Kontinent und diente<br />
ihnen als Operationsbasis für ihre konterrevolutionären<br />
Interventionen gegen Befreiungsbewegungen<br />
im südlichen Afrika.<br />
Back to Africa<br />
– Deutschland beim Kongo-Einsatz in der ersten Reihe<br />
Nachdem der deutsche Imperialismus<br />
nach eineinhalbjahrzehnten<br />
Konterrevolution wieder erfolgreich<br />
zur „Normalität“ gefunden hat, darf<br />
er nicht nur überall in der Welt mitmischen,<br />
sondern erhält hie und da<br />
auch schon „leitende Verantwortung“:<br />
UN-Führung im Kosovo, ein<br />
eigenes Protektorat in Afghanistan<br />
und – das Einsatzführungskommando<br />
für die UN-Truppe in der Demokratischen<br />
Republik Kongo, angeblich<br />
zur Sicherung „demokratischer<br />
Wahlen“. von Andrea Schön<br />
Das ist insofern eine neue Qualität, als Frankreich<br />
den deutschen Beitrag bei der ersten EU-<br />
Mission in Afrika, Operation „Artemis“, im<br />
Jahre 2003 noch aufs Hilfsdienste im Truppentransport<br />
verwiesen hatte. Heute ist die Beschränkung<br />
auf Handlangerdienste vorbei!<br />
Schließlich möchte man an die „Platz an der<br />
Sonne“-Zeiten anknüpfen, als das Deutsche<br />
Reich noch maßgeblich bei der Aufteilung Afrikas<br />
unter die Kolonialmächte mitgepokert<br />
(Berliner Konferenz 1883/84) und auch einen<br />
erklecklichen Batzen abbekommen hat:<br />
Deutsch-Südwest (Namibia), Deutsch-Südost<br />
(Tansania, Ruanda-Urundi) sowie Kamerun<br />
und Togo.<br />
In Namibia konnte man bis heute die Enteignung<br />
der reichen deutschen Großgrundbesitzer<br />
verhindern, wobei man sich mit Hilfe deutscher<br />
Stiftungen auch in anderen Ländern<br />
(immer noch aktuell: Simbabwe) mit allen zu<br />
Gebote stehenden Mitteln gegen Agrarreformen<br />
zur Wehr zu setzen weiß (die Sanktionen<br />
gegen Simbabwes dämonisierten Robert<br />
Mugabe gehören dazu!).<br />
In Ruanda kann man mit dem Machtwechsel<br />
1994 ebenfalls an alte koloniale Verbindungen<br />
anknüpfen: Staatschef Paul Kagame entspringt<br />
ehemaligem ruandischem Adel, mit dessen<br />
Hilfe das Deutsche Reich das Land beherrschte.<br />
Die Staatssekretärin im Entwicklungsministerium<br />
(!) Karin Kortmann besprach mit<br />
Kagame im März dieses Jahres den bevorstehenden<br />
Kongo-Einsatz der EU...<br />
Die Interessen an dem rohstoffreichen Land
SCHWERPUNKT AFRIKA<br />
25<br />
liegen vor allem im Bereich Niob (Columbium),<br />
das zusammen mit Tantal das hitze- und<br />
korrosionsbeständige Coltan (Colombo-<br />
Tantalith) bildet und bei der Stahlveredelung<br />
eingesetzt wird. Die Bayer-Tochter H.C. Starck<br />
bezog den heißbegehrten Rohstoff über die<br />
mehrheitlich in deutschem Besitz befindliche<br />
Firma Somikivu, die eine der beiden bedeutendsten<br />
Niob-Minen beherrschte und über die<br />
das Bundeswirtschaftsministerium mittels einer<br />
Treuhandschaft Kontrollrechte ausübt.<br />
Nachdem im Jahre 1999 die kongolesische Regierung<br />
der Somikivu das Bergbaurecht entzog,<br />
übernahm ein deutscher Geschäftsmann<br />
namens Karl-Heinz Albers die Mine ohne<br />
Rechtsgrundlage – dafür mit Rückendeckung<br />
pro-ruandischer Rebellenmilizen.<br />
Das macht auch deutlich, warum die Wahlen<br />
in der DR Kongo so wichtig sind. Staatspräsident<br />
Joseph Kabila möchte nämlich – trotz<br />
erheblicher Zerstörung seines Landes, das die<br />
Herren von Siemens & Co. an die Startlöcher<br />
der „Wiederaufbauhilfe“ treibt – den Raubbau<br />
seines Landes in der Tradition seines Vaters<br />
und Patrice Lumumbas verhindern, d.h.<br />
Schürfrechte an den zahlreichen Rohstoffminen<br />
an Auflagen binden und hohe Steuern auferlegen,<br />
damit wenigstens ein kleiner Teil der<br />
Superprofite im Lande verbleibt und für die<br />
Entwicklung einer eigenständigen wirtschaftlichen<br />
Infrastruktur verwendet werden kann.<br />
Kabilas Widersacher Jean-Pierre Bemba ist ein<br />
Geschäftsmann aus der Mobutu-Ära; die Truppenteile<br />
seiner „Befreiungsbewegung“ setzten<br />
sich im wesentlichen aus Ex-Mobutu-Offizieren<br />
und -Soldaten zusammen, Kräften der offenen<br />
Konterrevolution.<br />
Aber genau die benötigt der Imperialismus,<br />
damit an der Spitze des größten Rohstofflandes<br />
in Afrika ein Grundherr steht, der für jeden<br />
beliebigen Preis sein Land verscherbelt, wobei<br />
die Grundrente, die er im Namen des Staates<br />
einsackt, wohl wie zu Mobutus besten Zeiten<br />
in erster Linie in die eigene Tasche und die seiner<br />
Helfershelfer wandert<br />
– oder eben in riesige<br />
Prestigeprojekte, an<br />
dem auch wieder die<br />
„Richtigen“ verdienen:<br />
Siemens & Co.<br />
Sollten daher die<br />
Kabila-treuen Kräfte<br />
nicht nachgeben wollen,<br />
gibt es immer noch<br />
die Option, das Land zu<br />
teilen und den rohstoffreichen<br />
Nordosten unter<br />
imperialistisches<br />
Protektorat zu stellen.<br />
Und dafür rüstet sich<br />
der deutsche Imperialismus,<br />
um sich auch<br />
diesmal ein Stück vom<br />
Kuchen zu sichern:<br />
Nicht umsonst hat Bundespräsident<br />
Hort Köhler (Ex-IWF Präsident!)<br />
Afrika zu einem Schwerpunkt seiner Amtszeit<br />
erklärt und die Initiative „Partnerschaft mit<br />
Afrika“ ins Leben gerufen, die auf „marktwirtschaftlicher<br />
Grundlage“ die Zusammenarbeit<br />
mit allen wichtigen „Akteuren“ afrikanischer<br />
Staaten sucht. Und so sieht die „Zusammenarbeit“<br />
in der Praxis aus: Deutsche Kriegsschiffe<br />
patrouillieren bereits im Golf von Guinea<br />
(Westafrika), wo große Erdölvorkommen<br />
vermutet werden, sowie an der ostafrikanischen<br />
Küste zur „Terrorbekämpfung“.<br />
Im Südsudan geht es um eine zwischen der Fa.<br />
Thormählen und den sogenannten Rebellen<br />
vereinbartes Projekt zum Bau einer Eisenbahnlinie<br />
nebst Ölpipeline zum Indischen Ozean,<br />
das deutsche Soldaten im Rahmen einer UN-<br />
“Friedensmission“ abzusichern helfen. Und in<br />
Mauretanien wurden jüngst größere Öl- und<br />
Erzvorkommen entdeckt, bei denen deutsche<br />
Monopole ganz vorne mitspielen und um die<br />
Abbaurechte buhlen. Back to Africa: Der Platz<br />
an der Sonne ist wieder greifbar!<br />
Deutscher Verteidigungsminister<br />
Jung mit<br />
deutschen Soldaten in der<br />
DR Kongo<br />
Mobutu mit US-Präsident<br />
Richard Nixon (li.)<br />
Kommandiert den<br />
deutschen Einsatz: General<br />
Viereck (re.)
26<br />
SCHWERPUNKT AFRIKA<br />
Angola und die Befreiung<br />
vom Kolonialismus<br />
Die Nationalflagge des<br />
freien Angola<br />
Angola ist potenziell eines der<br />
reichsten Länder Afrikas. Fast alle<br />
mineralischen Bodenschätze sind in<br />
Angola zu finden: Öl, Kohle,<br />
Eisenerz, Kupfer, Blei, Zinn, Kobalt,<br />
Phosphate, Diamanten und viele<br />
mehr. Baumwolle, Kaffee und Mais<br />
werden großflächig angebaut.<br />
von Jakob Matscheko<br />
Bereits 1482 kamen erste portugiesische<br />
SiedlerInnen, 1575 wurde Luanda der wichtigste<br />
Militärstützpunkt der Region. Es folgen<br />
Hunderte Jahre des grausamsten Kolonialismus,<br />
der Unterdrückung und der Ausbeutung<br />
des Landes und der Bevölkerung. Obwohl der<br />
Sklavenhandel offiziell 1836 abgeschafft wurde,<br />
herrschten Schuldknechtschaft und<br />
Zwangsarbeit bis in das zweite Drittel des<br />
20. Jahrhunderts vor. Weiße Großgrundbesitzer<br />
hielten riesige Plantagen, zu deren Bestellung<br />
ganze Dörfer und Siedlungen zwangsumgesiedelt<br />
wurden. AfrikanerInnen wurden in<br />
„Eingeborene“ und „Angepasste“ eingeteilt<br />
und gegeneinander aufgehetzt.<br />
Übertritt zum katholischen Glauben und erlernen<br />
des Portugiesischen waren Vorraussetzung<br />
für die Gewährung geringer formaler<br />
Rechte, doch konnten diese jederzeit und ohne<br />
Gründe wiederentzogen werden. Zugang zu<br />
Bildung und Gesundheitswesen gab es nur für<br />
eine kleine Minderheit der AfrikanerInnen, die<br />
Kindersterblichkeit war dementsprechend<br />
hoch. Frauen waren völlig vom gesellschaftlichen<br />
Leben ausgeschlossen. Man kann also<br />
durchwegs das portugiesische Regime in Angola<br />
mit dem Südafrikanischen Apartheidsystem<br />
vergleichen.<br />
Als der Widerstand der Bevölkerung zunahm,<br />
griffen die Portugiesen zu einer Reihe<br />
von Maßnahmen, um ihre Herrschaft zu sichern.<br />
Eine grausame Maßnahme war die<br />
Zwangsdeportation von Menschen ganzer Regionen<br />
in sogenannte „Wehrdörfer“ mit katastrophalen<br />
hygienischen, sanitären zuständen<br />
und mangelhafter Nahrungsmittelversorgung.<br />
Die geräumten Gebiete wurden den Siedlern<br />
zugesprochen. Eine weitere Maßnahme war<br />
dem Umstand zuzuschreiben, dass das ökonomisch<br />
rückständige Portugal sich den andauernden<br />
Kolonialkonflikt nicht mehr leisten<br />
konnte: 1971 beanspruchten die Militärausgaben<br />
Portugals unglaubliche 61,5 Prozent des<br />
Staatshaushaltes.<br />
So wurden Konzessionen zur Öl- und<br />
Diamantengewinnung an imperialistische<br />
Mächte vergeben; im Gegenzug dazu bekam<br />
Portugal Waffen und militärische Ausrüstung.<br />
Fast alle NATO-Länder waren in Folge an der<br />
Ausplünderung der angolanischen Bodenschätze<br />
beteiligt, und insbesondere die BRD lieferte<br />
Waffen im großen Stil bis hin zu Flugzeugen,<br />
Schiffen, Panzer usw..<br />
Beide Seitenprofitierten von diesem Bündnis:<br />
Portugal konnte seine koloniale Macht aufrecht<br />
erhalten und ausbauen, das ausländische Kapital<br />
profitierte von Zwangsarbeit, Rechtlosigkeit<br />
der ArbeiterInnen und dem Rohstoffreichtum<br />
des Landes. Entsprechend hoch waren<br />
auch die Profite, im Durchschnitt lagen sie<br />
bei über 20 Prozent.
SCHWERPUNKT AFRIKA<br />
27<br />
Zunehmend regte sich Widerstand.<br />
Mit der Volksbewegung für die Befreiung Angolas<br />
(Movimento Popular de Libertacao de Angola;<br />
MPLA) entstand 1956 eine erste gesamtnationale<br />
Organisation des Kampfes gegen die<br />
Kolonialherrschaft, die nach dem Scheitern von<br />
Verhandlungsangeboten an das Salazar-Regime<br />
am 4. Feber 1961 mit dem Sturm auf das<br />
Gefängnis von Luanda den bewaffneten Kampf<br />
begann. Daneben entstanden noch zwei weitere<br />
Organisationen mit dem Ziel der Unabhängigkeit:<br />
die FNLA (Nationale Befreiungsfront von<br />
Angola) und die UNITA (Union für die völlige<br />
Unabhängigkeit Angolas). Trotz mehrerer Angebote<br />
der MPLA zur Bildung einer Einheitsfront<br />
kam ein dauerhaftes Bündnis nicht zustande,<br />
nicht zuletzt aufgrund der Hintergründe von<br />
UNITA und FNLA. Während die UNITA<br />
proamerikanisch und proimperialistisch war,<br />
und aus den USA Waffen und Geld bekam,<br />
wurde die FNLA von Zaire (und auch von der<br />
CIA) unterstützt. Die FNLA setzte dazu noch<br />
auf übertriebenes Stammesdenken und Rassismus,<br />
sie konnte auch nur bei einigen Stämmen<br />
Anhängerschaft finden. Die Portugiesen erwiderten<br />
mit grausamen Verbrechen: politische<br />
Morde, Razzien, Verhaftungswellen. Stammesdenken<br />
wurde gefördert, um die Bevölkerungsteile<br />
gegeneinander auszuspielen.<br />
Südafrika unterstützt wurden.<br />
Erst 1988 kam es zu einem Waffenstillstand,<br />
der zur Unabhängigkeit Angolas und dem Abzug<br />
der Kubanischen Truppen führte. Unter<br />
Mithilfe der Sozialistischen Staatengemeinschaft<br />
versuchte Angola die koloniale Rückständigkeit<br />
des Landes zu überwinden, die Folgeschäden<br />
des langen Bürgerkrieges stellten<br />
sich als große Hürde dar. Große Kampagnen<br />
im Bildungs- und Gesundheitswesen wurden<br />
in Angriff genommen.<br />
Ab 1992 verwandelte sich die MPLA jedoch<br />
zunehmend in eine sozialdemokratische Bewegung,<br />
die Verelendung des Volkes nahm zu –<br />
nicht zuletzt durch die Auswirkungen der Konterrevolution<br />
in der UdSSR. Die Kämpfe zwischen<br />
der Regierung und der UNITA dauerten<br />
bis 2001 an. Erst als Sawimbi, der Anführer der<br />
UNITA, getötet wurde, zerfiel diese im wesentlichen<br />
und verlor jegliche Bedeutung<br />
Unabhängigkeit und Bürgerkrieg<br />
Nach dem Sturz der faschistischen Regierung<br />
in Lissabon begann jedoch der Prozess der<br />
Entkolonialisierung, und auf der Konferenz von<br />
Alvor wurde die Bildung einer Übergangsregierung<br />
beschlossen. MPLA, UNITA und<br />
FNLA beteiligten sich paritätisch.<br />
Nachdem es jedoch zu Spannungen und bewussten<br />
Provokationen gegen die MPLA kam,<br />
proklamierte diese die Unabhängigkeit der<br />
Volksrepublik Angola. Es kam erneut zu Bürgerkrieg,<br />
in dem die MPLA Unterstützung aus<br />
der Sowjetunion und insbesondere Kuba bekam,<br />
während UNITA und FNLA von den USA<br />
sowie dem faschistischen Apartheidregime in<br />
Enrique Rivas Fente, einer<br />
von über 50.000 freiwilligen<br />
KubanerInnen, die für<br />
ein freies und antifaschistisches<br />
Angola kämpften.
28<br />
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