Der Schimmelreiter Materialien - Theater Lüneburg
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Ein Junge, allein mit sich und seinen Träumen, entdeckt in sich eine außerordentliche, zunächst<br />
von keinem anderen erkannte Gabe. Seine Umwelt lächelt über ihn. Doch er setzt sich durch. Er<br />
hat Erfolg. Glücklich wird er dabei nicht. Er bleibt allein, mit sich, mit seinem Werk, allein noch<br />
im Tod. Nur eines tröstet ihn: Sein Werk wird bleiben. Und er selbst ist einer der Größten seiner<br />
Art. Dies ist weniger die Geschichte Hauke Haiens. Es ist, in wichtigen Zügen, die Geschichte<br />
Theodor Storms.<br />
Auszug aus: Paul Barz: DER WAHRE SCHIMMELREITER. DIE GESCHICHTE EINER LANDSCHAFT<br />
UND IHRES DICHTERS THEODOR STORM. Hamburg: Convent Verlag, 2000, S. 196.<br />
DER SCHIMMELREITER liest sich stellenweise wie die Bearbeitung einer alten Volkssage,<br />
und tatsächlich steht die Entstehung der Novelle ja auch in einem Zusammenhang mit<br />
Gespenstererzählungen aus Storms Heimat. Dennoch handelt es sich bei Hauke Haien<br />
um eine literarische und nicht um eine Sagenfigur. Viel eher ist es so, dass "die literarische<br />
Gestalt zu einer vermeintlichen Sagengestalt geworden ist, eine Umkehrung des sonst<br />
üblichen Prozesses, in dem regionale Sagengestalten von Schriftstellern zu literarischen<br />
Figuren umgeformt werden."<br />
(aus: Theodor-Storm-Gesellschaft Husum: DER SCHIMMELREITER IM UNTERRICHT: "Stellung im Kontext von Storms<br />
Werk", 2008. http://www.storm-gesellschaft.de/index.php?seite=80222)<br />
In der langen Entstehungszeit des Werks hat Storm sich intensiv mit Techniken<br />
des Deichbaus und der Geschichte und Topographie seiner Heimat, des Marschlandes,<br />
beschäftigt.<br />
Als Vorbild für Hauke Haien dient ihm eine historische Figur, der Mathematiker Hans<br />
Momsen aus Fahretoft (1735 – 1811), dem er in alten Chronikeinträgen (s.S. 14) auf die<br />
Spur kam. Die gemischte Quellenlage aus Erzähltem, Überliefertem und Dokumentiertem<br />
bildet sich in der komplizierten dreifachen Erzählstruktur der Novelle ab. Zunächst meldet<br />
sich ein unbenannter Erzähler (leicht als Storm selbst identifizierbar), der im Hause seiner<br />
Großmutter der folgenden Geschichte begegnet sein will; in dieser Geschichte wiederum<br />
gibt es einen Ich-Erzähler, einen Geschäftsmann, der während eines Unwetters über den<br />
Deich bei Husum reitet und im Wirtshaus einkehrt. Dort trifft er auf einen Schulmeister, der<br />
ihm die eigentliche Geschichte Hauke Haiens erzählt. <strong>Der</strong> Leser wird so über<br />
verschiedene Stationen an die Geschichte des sagenhaften "<strong>Schimmelreiter</strong>s"<br />
herangeführt und bekommt dadurch den Eindruck, eine mehrfach überlieferte und durch<br />
verschiedene Quellen abgesicherte Erzählung zu hören. Theodor Storm gelingt also das<br />
ambivalente Kunstwerk einer realistischen Erzählung, die dem Leser immer wieder mit<br />
dem Gleichnishaften und Fantastischen der Sage fesselt.<br />
Hauke Haien und sein soziales Umfeld entspricht dem Leben in Nordfriesland in der ersten<br />
Hälfte des 19. Jahrhunderts. Genau wie die Räume, die Storm für seine Novelle in der Fantasie<br />
konzipierte, die wirkliche Geografie an der Küste Nordfrieslands nur wie einen Steinbruch nutzte,<br />
um die einzelnen Örtlichkeiten so neu zusammenzusetzen, wie der Dichter sie in seiner Novelle<br />
gestalten wollte, so verwendete er auch historische Erfahrungen in seiner Heimat seit dem 17.<br />
Jahrhundert als Versatzstücke und kombinierte sie zu einem neuen Ganzen. Hauke Haiens<br />
energisches Wirken und sein schließliches Scheitern, das ist keine wirklichkeitsgetreue Abbildung<br />
historischer Ereignisse an der Nordseeküste. Storm will vielmehr mit seiner Novelle einen<br />
Menschen im Kampf gegen die Naturgewalten, aber auch gegen die Dummheit und Ignoranz<br />
seiner Mitmenschen zeigen, der den Fortschritt vertritt und dadurch erfolgreich für das Wohl der<br />
anderen wirken kann. Zugleich ist Hauke Haien aber unfähig, sich auf die anderen, weniger<br />
Einsichtigen einzulassen. Er isoliert sich mehr und mehr und muss schließlich erkennen, dass er<br />
von den Leuten gefürchtet wird. Er scheitert auch an der Hybris, weil er glaubt, alle Probleme<br />
technisch lösen zu können, und Storm kritisiert in dieser Gestalt den ungebrochenen<br />
Fortschrittsglauben seiner Zeit.<br />
aus: Theodor-Storm-Gesellschaft Husum: DER SCHIMMELREITER IM UNTERRICHT: "Storms Quellen", 2008.<br />
Quelle: http://www.storm-gesellschaft.de/index.php?seite=84165<br />
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