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Die Seminararbeit als PDF lesen - Benjamin Rudolf

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Eberhard-Karls-Universität Tübingen<br />

Philosophisches Seminar<br />

Sommersemester 2008<br />

Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft I<br />

Dr. Ina Goy<br />

Analyse des kantischen Erhabenheitsbegriffes<br />

zum Zwecke eines Abgleichs mit zeitgenössischen Entwürfen<br />

Autor: <strong>Benjamin</strong> <strong>Rudolf</strong><br />

Untergasse 2 in 72116 Mössingen<br />

Tel. 0 74 73 / 20 64 59 mail@schwabenkopf.de<br />

7. Semester HF Philosophie NF Kunstgeschichte


PROLOG<br />

Zielsetzung<br />

§ 23 Übergang von dem Beurteilungsvermögen des Schönen zu dem des Erhabenen<br />

Gemeinsamkeiten des Schönen und des Erhabenen<br />

1. Beide gefallen für sich und setzen ein Reflexionsurteil voraus<br />

2. Sie sind subjektiv allgemeingültige Urteile<br />

Unterschiede des Schönen und des Erhabenen<br />

1. <strong>Die</strong> Form des Gegenstandes, der <strong>als</strong> schön oder erhaben empfunden wird<br />

2. Darstellung und Bezug des unbestimmten Begriffes<br />

3. Der Entstehungsprozess des Wohlbefindens<br />

4. Vorhandensein in Natur und Kunst<br />

5. Objekt und zukommende Eigenschaft<br />

§ 24 Von der Einteilung einer Untersuchung des Gefühls des Erhabenen<br />

A. VOM MATHEMATISCH ERHABENEN<br />

§ 25 Namenerklärung des Erhabenen<br />

§ 26 Von der Größenschätzung der Naturdinge...<br />

Wie ist allgemeines Wohlgefallen trotz Unzweckmäßigkeit möglich?<br />

<strong>Die</strong> Idee des Unendlichen <strong>als</strong> nicht fester Begriff<br />

§ 27 Von der Qualität des Wohlgefallens in der Beurteilung des Erhabenen<br />

B. VOM DYNAMISCH ERHABENEN<br />

§ 28 Von der Natur <strong>als</strong> einer Macht<br />

<strong>Die</strong> Beispiele des erhabenen Feldherren<br />

Der erhebende Krieg zur Stärkung des Volkes<br />

Religion <strong>als</strong> Furcht vor dem Erhabenen<br />

§ 29 Von der Modalität des Urteils über das Erhabene der Natur<br />

Der Ursprung der notwendigen Allgemeingültigkeit<br />

BILANZ DES KANTISCH ERHABENEN<br />

Das Ableiten der Grundvariablen<br />

Jean Francois Lyotards Erhabenheitsverständnis<br />

Informationslage<br />

Zwei Formen des Erhabenen<br />

3 ½ geänderte Variablen und eine Übereinstimmung<br />

<strong>Die</strong> Veränderung, welche sich im Subjekt vollzieht<br />

Der Standpunkt des Betrachters nach dieser Erfahrung<br />

<strong>Die</strong> Schnittmenge der negativen Lust<br />

<strong>Die</strong> allgemeine Wahrnehmungslehre des Undarstellbaren von M. Welsch<br />

Martin Seel<br />

Annäherung der Theorien<br />

<strong>Die</strong> Objekte der Betrachtung<br />

<strong>Die</strong> Kriterien der Betrachtung<br />

Das Empfinden des Betrachtenden Subjekts<br />

<strong>Die</strong> Veränderung, welche sich im Subjekt vollzieht<br />

Der Standpunkt des Betrachters nach dieser Erfahrung<br />

Zusammenfassender Standpunkt des Autors dieser Hausarbeit<br />

Epilog<br />

Literaturverzeichnis<br />

1


PROLOG<br />

Mit seiner 1790 veröffentlichen „Kritik der Urteilskraft“ setzte Immanuel Kant einen<br />

Markstein in die lang geführte Diskussion um ein Phänomen, welches bis dahin zwischen<br />

Bestürzung und Entzücken angesiedelt und mit dem Adjektiv „erhaben“ bezeichnet wurde.<br />

<strong>Die</strong> innerhalb seiner somit dritten Kritik ausgeführte „Analytik des Erhabenen“ bildet auch<br />

heute noch die Basis zur Beschäftigung mit diesem Phänomen 1 .<br />

Zielsetzung<br />

Zweck dieser Arbeit wird es nun sein, in einem ersten Schritt Kants Erhabenheitsverständnis<br />

anhand seiner „Analytik“ zu erörtern und in einem zweiten Schritt mit zeitgenössischen<br />

Theorien abzugleichen. Daran anschließend soll in einem dritten Schritt versucht werden, die<br />

Theorien überlagert zu betrachten, um etwaige Schnittmengen hervorzuheben und einen<br />

Standpunkt zu formulieren, welcher die Theorien über das „Erhabene“ in einen<br />

systematisierten Zusammenhang setzt.<br />

Notwendig wird dieser Zweck, weil die gewählten Vergleichtheorien von Francois Lyotard,<br />

Martin Welsch und Martin Seel in ihren Ausführungen sowohl stark variierende <strong>als</strong> auch fast<br />

übereinkommende Elemente aufweisen und im Kontrast zu Kant besonders den<br />

transzendenten Charakter des „Erhabenen“ zu überwinden versuchen. Da Kant aber in seiner<br />

Position <strong>als</strong> „chief philosopher of the sublime“ 2 diesen metaphysischen Ansatz besonders<br />

betont, sollte der Versuch unternommen werden, das Phänomen in seine Einzelelemente zu<br />

zerlegen, das Metaphysische zu lokalisieren und die auf Wortwahl zurückführbaren<br />

Diskrepanzen aufzulösen. So soll es möglich sein, epochenbedingte Akzentuierungen<br />

auszublenden und das Wesen des Erhabenen freizulegen.<br />

1 Kallendorf/Pries/Zelle: [Art.] Das Erhabene, Sp. 1379.<br />

2 Weiskel: The Romantic Sublime, S. 7.<br />

2


§ 23 Übergang von dem Beurteilungsvermögen des Schönen zu dem des Erhabenen<br />

<strong>Die</strong> Analytik des Erhabenen beginnt mit einem vergleichenden Blick auf die Eigenschaften<br />

eines Urteils über das Schöne. Hierbei lassen sich die Übereinstimmungen in zwei Punkte und<br />

die Differenzen in drei Punkte gliedern.<br />

Gemeinsamkeiten des Schönen und des Erhabenen<br />

1. Beide gefallen für sich und setzen ein Reflexionsurteil voraus<br />

Das für Kant Wesentliche dieses Reflektionsurteils offenbart sich im Vergleich zu sinnlich<br />

und logisch bestimmten Urteilen. So wäre ein auf Grund von Sinnen gefälltes Urteil schon<br />

allein durch seine physische Präsenz und seine kausale Wirkung zweckmäßig und ein<br />

logisches Urteil zweckbestimmt durch seine festen Begriffe. Aber innerhalb des<br />

Reflektionsurteils über das Schöne oder Erhabene verhält es sich nach Kant so, dass der<br />

Gegenstand völlig für sich alleine, ohne physisch kausalen oder logisch begrifflichen Schluss<br />

zu einem Zwecke kommt. Nämlich durch das Wohlgefallen der bloßen Darstellung des<br />

Gegenstandes 3 .<br />

<strong>Die</strong>ses unbestimmte Wohlgefallen reicht direkt weiter in die zweite Übereinstimmung.<br />

2. Sie sind subjektiv allgemeingültige Urteile<br />

Durch ihre Unbestimmtheit im Begriffe sind die Urteile über Schönes und Erhabenes nicht<br />

greifbar, mitteilbar oder nach allgemeinen Regeln definierbar. Somit sind es subjektive<br />

Urteile durch das Gefühl der Unlust und Lust im jeweiligen Individuum 4 . Trotzdem setzen<br />

wir beim Treffen eines solchen Urteils von Seiten anderer Menschen die Übereinstimmung<br />

des Ergebnisses voraus. <strong>Die</strong>se Allgemeingültigkeit eines subjektiven Urteils über Schönes<br />

oder Erhabenes rührt nach Kant daher, dass – obzwar das Phänomen selbst keinen<br />

begrifflichen Zweck besitzt – seine Unbestimmtheit bei jedem Menschen das Befördern des<br />

Verstandes, so geschehend beim Schönen, oder der Vernunft, so geschehend beim Erhabenen,<br />

<strong>als</strong> Folge mit sich führt und somit eine zweckmäßige Lust ohne Anspruch auf Erweiterung der<br />

Erkenntnis über das Objekt entsteht 5 .<br />

3 KdU [244].<br />

4 KdU [245].<br />

5 KdU [246].<br />

3


Unterschiede des Schönen und des Erhabenen<br />

1. <strong>Die</strong> Form des Gegenstandes, der <strong>als</strong> schön oder erhaben empfunden wird<br />

Während ein <strong>als</strong> schön empfundener Gegenstand der Natur seine Schönheit durch die ihn von<br />

allem anderen abgrenzende Form erhält, ist die Erhabenheit durch die Unbegrenztheit an<br />

formlosen Gegenständen zu erfahren. Hierfür muss keine echte Unbegrenztheit vorhanden<br />

sein, sondern lediglich an dem Gegenstand vorstellbar gemacht werden können. <strong>Die</strong>se<br />

vorgestellte Unbegrenztheit wird allerdings nur dann <strong>als</strong> erhaben betrachtet, wenn ihr zugleich<br />

eine zusammenfassende Einheit <strong>als</strong> Totalität angedacht werden kann 6 .<br />

2. Darstellung und Bezug des unbestimmten Begriffes<br />

Da beim Schönen eine begrenzte Form den unbestimmten Begriff darstellt, bezieht sich das<br />

Vermögen auf den Verstand, wodurch eine Qualität erzeugt wird. Bei erhabenen<br />

Darstellungen jedoch wird die Quantität des formlosen Gegenstandes mit einem<br />

unbestimmten Begriff der Vernunft verbunden 7 .<br />

3. Der Entstehungsprozess des Wohlbefindens<br />

Kant unterscheidet eine positive Lust, die durch einen spielerischen, mit den Sinnen<br />

vereinbaren, direkten Vorgang der Einbildungskraft entsteht von einem, dem Erhabenen<br />

angehörigen, ernsthaften Umgang mit der Einbildungskraft. <strong>Die</strong>se negative Lust zeichnet sich<br />

dadurch aus, dass sie in einem indirekten Schritt durch eine zuerst erfolgte Hemmung des<br />

Lebens in ein Wechselspiel von Anziehung und Abstoßung zu dem Phänomen gerät. <strong>Die</strong>ser<br />

ambivalente Moment zwischen Distanzierung und dennoch vorhandener Begeisterung ist laut<br />

Kant am ehesten durch Worte wie Achtung oder Bewunderung zu benennen 8 .<br />

4. Vorhandensein in Natur und Kunst<br />

Im Gegensatz zu dem in der Natur und der Kunst vorhandenen Schönen ist das Erhabene nur<br />

in der Natur zu finden. Sollte es jedoch in einem Kunstobjekt erkennbar sein, so allerdings<br />

nur in Betrachtung seiner Übereinstimmung mit dem Auftreten in der Natur. Als<br />

Naturphänomen unterscheiden sich die beiden weiter dadurch, dass das Schöne durch seine<br />

Form eine Zweckmäßigkeit für unsere Urteilskraft besitzt und das Erhabene durch seine<br />

zweckwidrige Formlosigkeit der Einbildungskraft Gewalt antut. Mithin das erste ein<br />

Gegenstand des direkten Wohlbefindens an sich und das zweite ein Wohlbefinden relativ<br />

6 KdU [244].<br />

7 KdU [244].<br />

8 KdU [245].<br />

4


zum Erlittenen darstellt, das Erhabene <strong>als</strong>o indirekt in zwei Schritten aus Lebenshemmung<br />

Wohlbefinden erzeugt 9 .<br />

4. Objekt und zukommende Eigenschaft<br />

Es stellt sich nun die Frage, inwieweit die erfahrbare Erhabenheit überhaupt auf einen<br />

Gegenstand der Natur bezogen werden darf. Einem schönen Gegenstand kommt Schönheit<br />

<strong>als</strong> Eigenschaft zu, aber einem Gegenstand, der in uns das Gefühl des Erhabenen auslöst, die<br />

Eigenschaft des Erhabenen zuzuschreiben wäre unrichtig, da der Gegenstand selbst ja<br />

permanent seine grässliche, lebenshemmende Eigenschaft beibehält und das Erhabene nur<br />

durch den Verweis auf Ideen höherer Zweckmäßigkeit in unserer Vernunft entsteht. Das<br />

Erhabene ist <strong>als</strong>o nichts Zweckmäßiges in der Natur, sondern nur ein Gebrauch von<br />

Anschauungen für eine unabhängige Zweckmäßigkeit in uns oder anders gesagt ein Anhang<br />

zur ästhetischen Beurteilung der Zweckmäßigkeit der Natur 10 .<br />

§ 24 Von der Einteilung einer Untersuchung des Gefühls des Erhabenen.<br />

Wie auch schon bei der Einteilung des ästhetischen Urteils über das Schöne, zergliedert Kant<br />

die Beurteilung in vier Momente. <strong>Die</strong> Quantität, die Qualität, die Relation und die Modalität.<br />

In diesen Momenten sind sich Erhabenes und Schönes sogar gleich, nämlich quantitativ<br />

allgemeingültig, qualitativ ohne Interesse, der Relation nach subjektiv-zweckmäßig und der<br />

Modalität nach notwendig. In Sätzen bedeutet dies, dass ein jeder Mensch (Quantität) nicht<br />

anders kann (Modalität), <strong>als</strong> einem Urteil über schöne oder erhabene Phänomene<br />

unbestimmter Zweckmäßigkeit (Qualität) aufgrund eines privaten innerlichen Erlebnisses<br />

(Relation) einen Zweck zuzuschreiben 11 .<br />

Ein Unterschied liegt nun – wie aus dem vorherigen Paragraphen ersichtlich – darin, dass<br />

durch die Form des Schönen die Qualität und beim formlos Erhabenen die Quantität <strong>als</strong> erster<br />

bestimmender Moment in den Vordergrund rückt. Ein zusätzlicher Unterschied ist der, dass<br />

bei der Analyse des Erhabenen eine weitere, beim Schönen nicht vorhandene Unterteilung zu<br />

machen ist. Denn da das Urteil über Erhabenes eine Bewegung des Gemütes beinhaltet und<br />

diese Bewegung sowohl auf Erkenntnisvermögen <strong>als</strong> auch auf Begehrungsvermögen abzielen<br />

kann, sind zwei Stimmungen des Erhabenen möglich. Ein mathematisch Erhabenes in Bezug<br />

9 KdU [245].<br />

10 KdU [246].<br />

11 KdU [247].<br />

5


auf Erkenntnisvermögen und ein dynamisch Erhabenes in Bewegung auf<br />

Begehrungsvermögen 12 .<br />

A. VOM MATHEMATISCH-ERHABENEN<br />

§ 25 Namenerklärung des Erhabenen.<br />

„Erhaben ist, was auch nur denken zu können ein Vermögen des Gemüts beweist, das jeden<br />

Maßstab der Sinne übertrifft 13 .“ In diesem, den fünfundzwanzigsten Paragraphen<br />

zusammenfassenden Satz ruht eine Schlüsselerkenntnis zum Verständnis des Erhabenen,<br />

nämlich das Verhältnis von Zahl zu Maß und deren Anwendung in der Praxis der ästhetischen<br />

Wahrnehmung. So bezeichnet das Wort „erhaben“ eine Unabhängigkeit von den<br />

bestimmbaren Relationen in der sinnlichen Welt. <strong>Die</strong>se Unabhängigkeit können wir<br />

sprachlich durch die Eigenschaft „schlechthin groß“ benennen und von einem „schlechtweg“<br />

großen Objekt wie folgt unterscheiden. Das schlechtweg Große ist nur komparativ<br />

bestimmbar und durch seine Relationen in der Welt verankert. So ist ein Baum größer <strong>als</strong> eine<br />

Ameise und ein Mensch im Vergleich zum Mittelmaß der Summe aller Menschen groß. <strong>Die</strong><br />

Behauptung, der Mensch sei durch eine Einheit wie Zentimeter ohne Relation bestimmbar,<br />

lässt sich schnell <strong>als</strong> Trugschluss der Sprachkultur entlarven. So nennen wir Maß, was in<br />

Wirklichkeit nur Konvention eines abstrakten Vergleiches ist und niem<strong>als</strong> einen absoluten<br />

Begriff einer Größe, sondern nur einen Relationsbegriff liefern kann. Dagegen hat für Kant<br />

das schlechthin Große die Eigenschaft nicht vergleichbar, aber dafür eine absolute<br />

Bestimmung zu sein. Es ist eine Größe, die nur sich selber gleich ist und darüber hinaus alles<br />

andere klein neben sich erscheinen lässt. In der sinnlichen Welt lassen sich diese<br />

Eigenschaften allerdings nicht wahrnehmbar verwirklichen und wir werden somit in das<br />

Reich der Ideen verwiesen. <strong>Die</strong>ser Schritt, der Totalität fordernden Vernunft unterliegend,<br />

bestrebt zum Unendlichen in der Einbildungskraft, lässt den Menschen sein übersinnliches<br />

Vermögen entdecken. Hieraus resultiert Wohlempfinden 14 .<br />

§ 26 Von der Größenschätzung der Naturdinge,<br />

die zur Idee des Erhabenen erforderlich ist<br />

Wenn Kindern in der Grundschule ein Verständnis der abstrakten Algebra und der<br />

Zahlbegriffe vermittelt werden soll, so geschieht dies zu Begin durch ästhetische<br />

12 KdU [247].<br />

13 KdU [250].<br />

14 KdU [250].<br />

6


Darstellungen von z.B. drei Äpfeln, zu denen dann zwei hinzugezählt werden sollen. Ebenso<br />

verhält es sich mit den ersten Zählvorgängen, welche immer mit zur Hilfenahme der Finger<br />

Anschaulichkeit erhalten. <strong>Die</strong>s sind praktische Beispiele dafür, weshalb eine jede<br />

Größenschätzung der Gegenstände der Natur letztendlich eine ästhetische sein muss. Sind<br />

diese ersten Schritte vollzogen, kann zwar eine rein theoretische, mathematische<br />

Größenschätzung innerhalb der Algebra entwickelt werden, aber man setzt dabei aber immer<br />

eine verbildlichte Einheit des Maßes, wie z.B. des Apfels für die Zahl eins voraus. Laut Kant<br />

muss ein jedes Grundmaß in einer Anschauung unmittelbar zu fassen und durch<br />

Einbildungskraft darstellbar sein 15 . So können wir mit der mathematischen Größenschätzung<br />

zwar rechnen, aber nicht gehaltvoll denken. Bleiben wir bei dem anschaulichen Beispiel eines<br />

Geistes in Kinderschuhen. Auf die Frage, wie lange eine Autofahrt noch dauert, ist die<br />

Antwort „Noch dreimal bis zur Großmutter“ wesentlich inhaltlicher <strong>als</strong> die Antwort „105<br />

km“. Zwar wird mit den Jahren die Fähigkeit in Maßeinheiten zu denken geschulter, aber die<br />

inhaltliche gefüllte Darstellung vor dem inneren Auge kann bei dem Gedanken an eine<br />

Strecke von z.B. einem Kilometer nicht umgangen werden. Besonders erkennbar wird dieses<br />

Phänomen, wenn der Mensch sich unvorstellbar große Zahlen eines Maßes vorstellig machen<br />

soll. Mathematisch ist zwar klar, dass 40.000 gleich 40 mal 1.000 oder 400 mal 100 ist, aber<br />

um zu verstehen, was 40.000 Menschen sind, benötigen wir die Erfahrung des Bildes von<br />

10.000 Menschen auf einem Platz oder ein anderes im Verhältnis stehenden Bild, welches<br />

unserem Vorstellungsvermögen entsprechend multipliziert werden kann. Somit sind die<br />

Größenschätzungen der Natur immer subjektiv, auch wenn sie objektiv in Zahlen gefasst<br />

werden können.<br />

Nach der Meinung des Autors dieser Hausarbeit liegt in dieser Differenz von mathematischer<br />

zu ästhetischer Größenschätzung der maßgebliche Unterschied von Wissen und Verstehen<br />

eines Sachverhaltes. Da für Kants Analyse des Erhabenen aber nur der Fall des überforderten<br />

Vorstellungsvermögens von Interesse ist, vernachlässigt er eine ausführlichere Theorie dieser<br />

didaktisch relevanten Semiotik und erwähnt nur ihre Grundzüge <strong>als</strong> Vorraussetzung für das<br />

nicht Darstellbare. <strong>Die</strong>se Grenze unseres ästhetischen Vorstellungsvermögens ist dann<br />

erreicht, wenn unsere stets fortschreitende Auffassung der Sinne nicht mehr durch das<br />

Zusammenfassen zu einer ästhetischen Einheit eingeholt werden kann. So z.B. wenn wir das<br />

Alter unseres Sonnensystems auf 4,6 Milliarden Jahre schätzen. Uns fehlt eine vorstellbare<br />

Relation, weil unsere überlieferten Erfahrungen von z.B. 5.000 Jahren Menschheitsgeschichte<br />

15 KdU [251].<br />

7


zu weit von einem anschaulich nachvollziehbaren Maß entfernt sind. Kant verdeutlicht diese<br />

Unangemessenheit der Einbildungskraft mit einem Betrachter der ägyptischen Pyramiden, der<br />

einmal zu weit von ihnen entfernt steht, somit <strong>als</strong>o die ganze Pyramide <strong>als</strong> ein Zeichen<br />

wahrnimmt und einmal zu nah steht, <strong>als</strong>o eine enorme Zahl von Steinen, aber kein ganz<br />

fassbares Objekt erkennt. Erst bei einem optimalen Abstand treten die vielzähligen Details der<br />

Steine in das erhebende Verhältnis zur gleichzeitigen Zusammenfassung der ganzen Pyramide<br />

in ein Objekt 16 .<br />

Nach Kants Ansicht ist dieses rührende Gefühl, <strong>als</strong> reines ästhetisches Urteil weder an<br />

Kunstprodukten noch an begrifflich zweckbestimmten Naturdingen, wie z.B. Tieren, zu<br />

suchen, da erstere eine vom Menschen geschaffene, zweckbestimmte Form und Größe, zweite<br />

eine Zweckbestimmung im Begriffe besitzen, somit <strong>als</strong>o beide Betrachtungen kein reines<br />

beispielhaftes Urteil erzeugen können. Es bleibt <strong>als</strong>o nur die rohe Natur zur Betrachtung des<br />

Erhabenen. Aber selbst diese unterliegt der Bedingung, dass sie nur aus sicherer Distanz<br />

unabhängig von Reizen der Gefahr das Erhabene zu erkennen gibt 17 .<br />

Als zwei weitere Beispiele für Objekte, die leicht für Erhabenes gehalten werden können, dem<br />

aber nur ähnlich, nicht verwandt sind, gibt Kant das Ungeheure und das Kolossale an. Das<br />

Ungeheure sprengt durch seine Größe den dafür bestimmten Begriff und das Kolossale ist nur<br />

annährend zu groß für seinen Begriff. Ein wirklich Erhabenes ist aber nur, was gar keinen<br />

Zweck zum Bestimmungsgrund besitzt, dadurch <strong>als</strong>o nicht mit einem Verstandes- oder<br />

Vernunfturteil vermengt wird 18 .<br />

Wie ist allgemeines Wohlgefallen trotz Unzweckmäßigkeit möglich?<br />

Weil die Reflexionsurteile ohne Interesse, <strong>als</strong>o subjektiv gefallen, fragt sich nun, woher deren<br />

Anspruch auf allgemeine Zustimmung kommen soll. Eine Zweckmäßigkeit der Form, so wie<br />

wir sie beim Schönen finden, kann hier auf Grund der Formlosigkeit ausgeschlossen werden.<br />

Versetzen wir uns deshalb kurz in den Moment der Entstehung des Erhabenen und handeln<br />

die einzelnen Schritte nacheinander ab. So wird es wesentlich einfacher sein, den wirklichen<br />

Ursprung des Wohlgefallens von den Rahmenbedingungen zu differenzieren.<br />

16 KdU [252].<br />

17 KdU [252] u. KdU [253].<br />

18 KdU [253].<br />

8


Dem Erhabenen geht immer ein Scheitern der Einbildungskraft voraus. So stehen wir vor<br />

einem formlosen Objekt, Vorgang oder Phänomen, welches unserer stets fortschreitenden<br />

Einbildungskraft kein Abschließen und Zusammenfassen ermöglicht. Es bleibt uns nichts<br />

weiter übrig, <strong>als</strong> durch den Verstand das Wahrgenommene in einer nicht aufhörenden<br />

Addition einer ästhetischen Einheit zu erweitern. Nun ist in dieser logischen Größenschätzung<br />

zwar etwas objektiv Zweckmäßiges, aber nichts was unserem ästhetischen Urteile einen<br />

befriedigenden Wohlgefallen bieten könnte. Das Auffassen verläuft nur progressiv und bringt<br />

kein neues komprehensiertes Ganzes in die Vorstellung. Schließlich greift die Totalität<br />

fordernde Vernunft ein und beendet diese Sisyphusarbeit durch die Entscheidung, es handele<br />

sich um etwas Unendliches. Ein vergleichbares, zur Verbildlichung dienendes Phänomenen<br />

entdecken wir bei primitiven Völkern, wenn diese anhand ihrer Finger und Daumen bis zehn<br />

zählen und alles darüber nur <strong>als</strong> vieles bezeichnen. Das Vorstellungsvermögen reicht nicht<br />

aus, um die vorhandene ästhetische Einheit imaginär zu multiplizieren. Besonders interessant,<br />

obwohl Kant es nicht erwähnt, ist die hierbei spürbare Abhängigkeit unserer modernen<br />

Zählsystems von der ästhetischen Fünfereinheit unserer Hand. <strong>Die</strong> zur Größenschätzung<br />

notwendige, ästhetische Einheit kann <strong>als</strong>o abhängig vom Vorstellungsvermögen des<br />

Betrachters größer oder kleiner sein. Für Kants Konzept ist es aber viel wichtiger, dass diese<br />

variierende Maßeinheit nie in einer Relation zur Idee des Unendlichen stehen kann. Schon<br />

Nikolaus von Kues 19 würde jeden Menschen bei dem ernsthaften Versuch einen solchen<br />

gemeinsamen Teiler von Endlichem und Unendlichem zu finden belächeln 20 . Natürlich ist das<br />

Objekt der Betrachtung, über welches hier ein ästhetisches Urteil gefällt wird, kein wirklich<br />

unendliches, aber die Vernunft greift im Fall einer Unfassbarkeit zur anschaulichen Einheit,<br />

einfach zum nächstliegend vorstellbaren, nämlich zum Unendlichen. Was hier den Eindruck<br />

erweckt einem festen Bild des Unendlichen zu entsprechen, ist bei Kant eine eher vage Idee<br />

des Unendlichen, welche dem Objekt angedacht wird. Wobei „angefühlt“ ein wesentlich<br />

passenderes Wort wäre, wenn man bedenkt, dass dieser Schritt in die Ideenwelt, eben der<br />

gescheiterten, logischmathematischen Größenschätzung zu entkommen versucht. Verbildlicht<br />

würde dieser Schritt auch wohl eher einem vom nachvollziehbaren Gedankenverlauf<br />

loskoppelnden Sprung à la Kirkegaards Sprung in das Religiöse gleichen. Und eben genau<br />

hieraus resultiert nun das Wohlgefallen, weil der Mensch sein Vermögen zum Denken des<br />

Unendlichen <strong>als</strong> erhebend über das <strong>Die</strong>sseitige empfindet 21 .<br />

19 Nikolaus von Kues, (* 1401 in Cues, † 1464 in Todi).<br />

20 Nikolaus von Kues, De docta ignorantia. I, S. 4 ff.<br />

21 KdU [257].<br />

9


Somit sind wir nun zu dem Hauptkritikpunk an Kants Entwurf des Erhabenen vorgedrungen.<br />

Sein auf Metaphysik zurückgreifendes Verständnis von der Ideenschau im Unendlichen. Zum<br />

kontrastieren ein Vergleich: Heute wird der Vorgang des Zusammenfassens von komplexen<br />

und stetig anwachsenden Wahrnehmungsinhalten zu einer einzigen Idee durch die<br />

Gestaltpsychologie in den Gesetzen der Prägnanz und Kontinuität formuliert, <strong>als</strong>o <strong>als</strong><br />

schlichte Bedingung von Wahrnehmung durch denkbare Bilder verstanden. Kant jedoch lädt<br />

die Situation magisch auf, indem er die fühlbare Unendlichkeit in die Welt der Ideen verlagert<br />

und dem Menschen somit eine überweltliche Erkenntnisfähigkeit zuschreibt. Der Mensch<br />

überliegt <strong>als</strong>o dem Phänomen durch seine Vernunft. Neuere Theorien, welche auf diese<br />

Metaphysik zu verzichten versuchen, werden weiter unten im Text genauer betrachtet. Folgen<br />

wir aber zuerst Kants Gedankengang bis zu Ende.<br />

Kant hat <strong>als</strong>o in der Idee des Unendlichen ein über alles vergleichbares Maß gefunden und<br />

leitet daraus ein über die Welt hinausreichendes Erkenntnisvermögen ab. Er setzt es sogar mit<br />

dem vorstellig machen eines Dinges an sich gleich 22 . Beide, Idee und Ding an sich, liegen der<br />

Welt <strong>als</strong> nicht anschaubares Substrat zu Grunde.<br />

<strong>Die</strong> Idee des Unendlichen <strong>als</strong> nicht fester Begriff<br />

Wir dürfen uns die Idee des Unendlichen bei Kant nicht <strong>als</strong> Idee eines objektiv festen<br />

Begriffes denken. Er selbst beschreibt diese Unmöglichkeit des festen Begriffes durch das<br />

Widersprechen des Anspruches auf Totalität gegenüber der Bedeutung von stetiger<br />

Progression ohne Ende 23 . Es ist in der Idee des Unendlichen, <strong>als</strong>o eher eine Ahnung von<br />

Möglichkeit <strong>als</strong> eine Festigkeit zu finden. Etwas Greifbares würde ja auch den Verstand und<br />

nicht das Gemüt bewegen. Nun ist es aber ausschließlich das Gemüt, welches das Erhabene<br />

spürbar und dadurch existent macht. Wir erleben erregt, wie unsere Maßstäbe Schritt für<br />

Schritt relativiert werden und deren Bedeutungen vollends zusammenbrechen, wenn die<br />

Vernunft uns sagt, dass es notwendig immer ein noch größeres geben muss. <strong>Die</strong> Betonung<br />

liegt hier auf notwendig Größeres, nicht zu vergleichen mit der Idee eines notwendig<br />

Größten. <strong>Die</strong>se Idee eines Größten ist nämlich mit einer echten Unendlichkeit<br />

inkommensurabel. Wir fühlen in der Idee der Unendlichkeit <strong>als</strong>o nur den ihr innenwohnenden<br />

Prozess, nicht die Idee <strong>als</strong> Ganzes selbst. Und eben weil die Bezeichnungen Unendliches und<br />

Unendlichkeit durch ihren totalen Begriff viel zu sehr konnotieren, sie seien <strong>als</strong> ein Ganzes<br />

schon gefasst, empfiehlt es sich die eher prozessbetonenden Begriffe wie das niem<strong>als</strong><br />

22 KdU [254].<br />

23 KdU [255].<br />

10


Endende oder das stetig Relativierende für die Vorstellung der Idee zu verwenden. Wir halten<br />

<strong>als</strong>o fest: <strong>Die</strong> Idee des Unendlichen ist kein fassbarer Verstandesbegriff, sondern eine<br />

prozessbasierte Anschauung von der Art einer den Betrachter erhebenden Gemütsstimmung 24 .<br />

§ 27 Von der Qualität des Wohlgefallens in der Beurteilung des Erhabenen<br />

Beim Betrachten des uns erhebenden Objektes addiert <strong>als</strong>o nun unser Verstand die<br />

ästhetischen Einheiten hinab in eine Tiefe der Zahlenschätzung, wo wir uns zu verlieren<br />

fürchten 25 . <strong>Die</strong> von der Vernunft geforderte Totalität einer Anschauung quält den Geist 26 , da<br />

sie bei jedem Anschein von annährender Greifbarkeit in weitere Ferne entschwindet. Seine<br />

Zweckwidrigkeit lässt uns das Objekt abstoßend empfinden. <strong>Die</strong> Aufmerksamkeit will sich<br />

abwenden. Aber es besteht noch eine Anziehungskraft an diesem Objekt. Das stetig<br />

Erweiternde in seiner Betrachtung verweist auf eine nicht sinnliche Anschauung. Für diese<br />

schmerzende, aber überweltliche Größe erhält es unsere Achtung 27 . <strong>Die</strong>s ist nach Kant<br />

allerdings eine Verwechslung der Zuschreibung 28 . Denn tatsächlich ist es nicht das Objekt,<br />

welches uns überfordert, sondern die uns nach einem inneren Gesetz leitende Vernunft.<br />

Während <strong>als</strong>o beim Beurteilen des Schönen die Einhelligkeit von Verstand und<br />

Einbildungskraft das Wohlgefallen erzeugt, entsteht es hier durch den Widerstreit von<br />

Vernunft und Einbildungskraft 29 . <strong>Die</strong> Achtung kommt <strong>als</strong>o unserer eigenen Bestimmung zum<br />

Erkennen eines Absolut-Ganzen zu. Es entzieht sich somit nicht die Welt unserer<br />

Bestimmbarkeit, sondern unser Vermögen übertrifft die bestimmbare Welt dadurch, dass wir<br />

dem Haecceitas ein Quidditas <strong>als</strong> Raum für überweltliche Entitäten, wie z.B. der Idee des<br />

Unendlichen, entgegenstellen. Spätestens nun ist jeder Schauder vom Verlorengehen in einer<br />

Festigkeit verlierenden Welt völlig zu Wohlgefallen verwandelt. Egal wie weit das Sein<br />

relativiert wird, der Mensch hat seinen festen Halt in der unabhängigen Ideenwelt verankert.<br />

<strong>Die</strong> Entstehung des Erhabenen ist <strong>als</strong>o nicht in zwei heterogene Zustände zu teilen, da sich<br />

diese fließend ineinander übergehend gegenseitig notwendig bedingen. Erst durch das<br />

Unvermögen kontrastiert sich das unbeschränkte Vermögen 30 . <strong>Die</strong>ser Schritt vollzieht sich<br />

auch nicht nur einmal, sondern besteht in einem permanenten Wechselspiel von Anziehung<br />

24 KdU [256].<br />

25 KdU [258].<br />

26 KdU [259].<br />

27 KdU [257].<br />

28 KdU [257].<br />

29 KdU [258].<br />

30 KdU [259].<br />

11


und Abstoßung 31 . Auch nachdem der Gemütszustand der Erhabenheit erreicht ist, bleibt der<br />

ursprüngliche Schrecken weiterhin antreibend bestehen und verleiht dem Gefühl seinen<br />

ernsthaften Unterton.<br />

B. VOM DYNAMISCH ERHABENEN<br />

So wie durch das mathematisch Erhabene das Erkenntnisvermögen in die Höhen der Ideewelt<br />

getrieben wurde, so lässt uns unser Begehrungsvermögen im dynamisch Erhabenen einen<br />

Raum der Freiheit erschließen. Obwohl die zum Entstehen des dynamisch Erhabenen<br />

notwendige Größenschätzung vom Ablauf her dem des mathematisch Erhabenen gleicht,<br />

ergibt sich hier eine moralische Zweckmäßigkeit allein durch die Änderung der ästhetischen<br />

Einheit zu einem Bezug auf Machtvermögen.<br />

§ 28 Von der Natur <strong>als</strong> einer Macht<br />

Während das Wort Macht allein nur den Maßstab angibt, wird in dem Begriff Furcht die<br />

Überlegenheit des einen Machtvermögens gegen ein anderes bezeichnet. Gewalt findet statt,<br />

wenn die niedere Macht in einem versuchten Widerstand der höheren unterliegt 32 . Nun gibt es<br />

den Fall des Dynamisch-Erhabenen in der ästhetischen Beurteilung der Natur dann, wenn die<br />

Macht der Natur uns <strong>als</strong> furchtsam bewusst ist, aber in einem hypothetischen Widerstand<br />

doch keine Gewalt über uns ausüben kann. <strong>Die</strong>ser Fall kann deshalb nur gedacht stattfinden,<br />

weil wir uns in einer tatsächlichen Konfrontation durch die überlagernde Emotion der Furcht<br />

nicht objektiv darüber bewusst werden könnten 33 . Andererseits kann der Gedanke an diese<br />

aussichtslose Situation auch nicht einfach ausgelassen werden. Kurzum: Das Objekt muss <strong>als</strong><br />

furchtsam erkannt sein, darf aber nicht <strong>als</strong> fürchterlich empfunden werden.<br />

Ob nun beim Betrachten der zerstörenden Gewalt eines Vulkanes, der zurückgelassenen<br />

Verwüstung eines Orkanes oder einfach nur eines in Empörung versetzten Ozeans, wir<br />

erkennen schon aus sicherer Distanz, dass unser Machtvermögen hiergegen unbedeutend klein<br />

erscheint. Trotzdem steigt unsere Faszination an solchen Objekten mit der ihnen zur<br />

Verfügung stehenden Gewalt an. Etwas an Ihnen regt unsere Seele über ihr Mittemaß hinaus<br />

und lässt uns ein Vermögen deren Allmacht zu widerstehen entdecken 34 . Wesentlich fassbarer<br />

<strong>als</strong> beim Mathematisch-Erhabenen, wo die Idee der Unendlichkeit uns eine Überlegenheit<br />

31 KdU [258].<br />

32 KdU [260].<br />

33 KdU [261].<br />

34 KdU [261].<br />

12


gegen das Sinnliche ermöglichte, schreitet der Mensch hier mit dem Vermögen der Freiheit<br />

durch die Vernunft aus dem <strong>Die</strong>sseitigen. Während beim Vergleich von Endlichem zu<br />

Unendlichem sehr abstrakte Gedankengänge notwendig waren, kann hier jeder Mensch die<br />

deutliche Unverhältnismäßigkeit von sinnlicher Macht zu autonomer Entscheidung<br />

nachvollziehen. Zwar nicht in Camus’ Absicht, sondern <strong>als</strong> metaphysisch Kantische Variation<br />

aufgeladen, verdeutlicht Sisyphos, der die Strafe der Götter überwindet, indem er sich<br />

entscheidet den Stein willentlich zu schieben 35 , wie der Mensch gegenüber der sinnlichen<br />

Macht zwar unterliegen kann, sich ihr dabei aber nicht beugen muss 36 . Doch nicht nur der<br />

Schritt ins Dynamisch-Erhabene ist besser zu erkennen <strong>als</strong> beim Mathematischen, auch das<br />

Argument, dass das Erhabene nicht dem Objekt selbst zukommt, ist hier wesentlich<br />

verständlicher. <strong>Die</strong> Objekte selbst sind sogar genau das Gegenteil von dem, was Erhabenheit<br />

erst ermöglicht. Sie sind nämlich in ihrer kausalen Bestimmtheit gefangen und werden ihr<br />

immer unterliegen.<br />

<strong>Die</strong> Beispiele des erhabenen Feldherren<br />

Um diesen konstruiert klingenden 37 Entwurf zu rechtfertigen, untermauert Kant ihn nun durch<br />

Beispiele des Alltags. So genießt ein Staatsmann zwar unser Ansehen, bleibt aber darin hinter<br />

der Achtung, welche wir für einen unerschrockenen Feldherren empfinden, zurück. Natürlich<br />

unterliegt diese ästhetische Beurteilung des Kriegers der Bedingung, dass er neben seinem<br />

erhabenen Verhalten auch die Tugenden des Friedens im seiner Person vereint. <strong>Die</strong>se sind<br />

Sanftmut, Mitleid und geziemte Sorgfalt 38 . Erst mit diesen zusätzlichen Eigenschaften beweist<br />

er seine Unbezwinglichkeit gegenüber der Gefahr.<br />

Der erhebende Krieg zur Stärkung des Volkes<br />

<strong>Die</strong> heikelste Aussage Kants über das Erhabene wurde zu dessen Zeiten bestimmt nicht mit<br />

der Vorsicht behandelt, mit welcher wir sie nun, nach dem Missbrauch des Erhabenen durch<br />

die Nation<strong>als</strong>ozialisten, betrachten. Deshalb prüfen wir Kants Aussagen einmal ohne die<br />

Assoziationen des Geschehenen, um seinen Standpunkt danach besser von dieser dunkelsten<br />

Episode des Erhabenen differenzieren zu können. Wie schon gesagt setzte Kant den<br />

Erhabenen Krieg unter die Bedingung der Heiligachtung der bürgerlichen Rechte. Lassen wir<br />

aber die Frage, ob ein solcher Krieg überhaupt möglich ist, beiseite und konzentrieren uns<br />

35 Vgl. "Ce qui reste, c’est un destin dont seule l’issue est fatale. En dehors de cette unique fatalité de la mort,<br />

tout, joie ou bonheur, est liberté. Un monde demeure dont l’homme est le seul maître.", Le mythe de Sisyphe.<br />

36 KdU [262].<br />

37 KdU [262].<br />

38 KdU [262].<br />

13


ohne ein voreiliges Verteufeln der Aussagen auf das Phänomen, welches Kant hier beobachtet<br />

sah. Er sagt, dass der lange Frieden im Menschen die Eigenschaften von Feigheit,<br />

Weichlichkeit und Eigennutz hervorbringt und die Denkungsart des Volkes in eine niedere<br />

sinken lässt. Der Krieg hingegen erhebt mit jeder bestandenen Gefahr das Denkungsvermögen<br />

weiter an 39 . Natürlich sagt Kant nicht, dass ein Krieg der Erhabenheit willen geführt werden<br />

soll, sondern beschreibt nur was passiert, wenn der Mensch sich im Krieg befindet. Das<br />

beschriebene Phänomen könnte genauso gut in jeder anderen Situation einer drohenden<br />

Gefahr und eines eventuellen Todes auftreten, wirkt aber eben im Krieg aufgrund des<br />

kollektiven Erlebens wesentlich intensiver. Wie lassen sich nun diese heiklen Aussagen von<br />

der Verwendung des Erhabenen im dritten Reich distanzieren? Einen ersten Unterschied<br />

finden wir in den Monumentalinszenierungen und den weiteren ästhetischen Mitteln, die von<br />

den Nation<strong>als</strong>ozialisten ausgenutzt wurden. Denn hier wurde versucht, den Objekten der<br />

Betrachtung, <strong>als</strong>o dem Regime, Erhabenheit zukommen zu lassen. <strong>Die</strong>se Art des Erhabenen<br />

ist aber laut Kant die schon genannte Verwechslung der zukommenden Eigenschaft. <strong>Die</strong><br />

wahre Erhabenheit besteht nie in den Objekten 40 . Sie bieten dem Betrachter nur den Anlass in<br />

einer Auflehnung ihnen gegenüber die Freiheit und somit die erhabene Überlegenheit im<br />

Individuum zu entdecken. <strong>Die</strong>s ist nun der zweite Unterschied. Nur das Subjekt, welches in<br />

Konfrontation mit dieser Gewalt seine Selbstbestimmung entdeckt oder behält, ist kantisch<br />

erhaben zu nennen 41 .<br />

Es sei hier kurz erwähnt, dass sich in der Philosophiegeschichte neben Kant allerdings auch<br />

Ansätze einer Beschreibung von „Erhabenheit im Bösen“ aufzeigen lassen 42 . So zu finden bei<br />

Johann Georg Sulzer 43 .<br />

Religion <strong>als</strong> Furcht vor dem Erhabenen<br />

Kant entdeckt dieselbe Fehlinterpretation von erhebenden Phänomenen auch in der Religion,<br />

welche sich jeher Mittel ästhetischer Erhabenheit bediente, um den Menschen sich seinem<br />

Schicksal fügend zu machen 44 . Menschen, die in Anbetracht der Größe und der Macht von<br />

zum Beispiel einem Gewitter oder einer Kathedrale diese <strong>als</strong> furchterregend empfinden,<br />

39 KdU [263].<br />

40 KdU [264] u. KdU [245].<br />

41 KdU [B85].<br />

42 Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste (1771-74).<br />

43 Johann Georg Sulzer (* 16. Oktober 1720 in Winterthur; † 25. Februar 1779 in Berlin).<br />

44 Vgl. KdU [275] „Daher haben auch Regierungen gerne erlaubt, die Religion mit dem letzteren Zubehör<br />

reichlich versorgen zu lassen und so dem Untertan die Mühe, zugleich aber auch das Vermögen zu benehmen<br />

gesucht, seine Seelenkräfte über die Schranken auszudehnen, die man ihm willkürlich setzten und wodurch man<br />

ihn, <strong>als</strong> bloß passiv, leichter behandeln kann.“<br />

14


schreiben dem Objekt die Überlegenheit zu und unterwerfen sich diesem. Wird diese<br />

Überlegenheit Gott zugesprochen, so nennt Kant dies Aberglaube. So beschreibt er das von<br />

vielen Völkern praktizierte Niederwerfen und angstvolle Verhalten gegenüber Gott <strong>als</strong> nicht<br />

mit der Idee des Erhabenen übereinkommend. Für ihn benötigt echte religiöse Erhabenheit ein<br />

in ruhiger Kontemplation entdecktes Vermögen die gottgefällige Gesinnung frei und<br />

unabhängig verwirklichen zu können. So erzeugt Unterwerfung nur Gunstbewerbung und<br />

Einschmeichelung statt Selbstüberzeugung zu gutem Lebenswandel. <strong>Die</strong>s vermag nur aktiv<br />

moralisches Vermögen, welches aus eigenem Antrieb entsteht.<br />

§ 29 Von der Modalität des Urteils über das Erhabene der Natur<br />

Während wir bei Urteilen über von uns <strong>als</strong> schön erachteten Objekten eine Einstimmigkeit<br />

anderer Urteilenden voraussetzen und ohne etwas F<strong>als</strong>ches zu tun, dies auch erwarten dürfen,<br />

können wir uns eine allgemeine Übereinstimmung von Urteilen über Erhabenes nicht ohne<br />

gewisse Vorbedingungen versprechen. So benötigt eine Person für das angemessene<br />

Betrachten eines erhabenen Phänomens nicht nur eine durch Kultur erworbene ästhetische<br />

Urteilskraft, sondern auch ein weiter entwickeltes Erkenntnisvermögen 45 . Denn ohne das<br />

zweite vermag das erstere nicht die Vorzüglichkeit der Naturgegenstände angemessen zu<br />

bewerten. Darüber hinaus ist eine Empfänglichkeit des Gemüts für Ideen unverzichtbar, weil<br />

die Sinnenwelt nur in Bezug auf eben diese ihre Unangemessenheit offenbart und sich<br />

dadurch <strong>als</strong> unzureichendes Schema für die Ideen betrachten lässt, auf welche sie uns dabei<br />

verweist. Fehlt die Entwicklung sittlicher Ideen, bleibt das ganze Phänomen des Erhabenen<br />

verschlossen und der Betrachter empfindet nur die Abschreckung der überreizten<br />

Einbildungskraft. <strong>Die</strong> Gewalt der Natur ist für einen rohen Menschen somit nichts weiter <strong>als</strong><br />

das glücklicherweise weit entferne Unheil von Mühseligkeit und Not.<br />

Der Ursprung der notwendigen Allgemeingültigkeit<br />

Wo liegt nun der Grund für die Allgemeingültigkeit dieses subjektiven Urteils. Für Kant ist<br />

diese Antwort einer der Hauptzwecke der Kritik der Urteilskraft 46 , weil mit den ästhetischen<br />

Urteilen, <strong>als</strong> nach einem Prinzip a priori folgend, die Brücke zur Transzendentalphilosophie<br />

geschlagen werden kann. <strong>Die</strong> Antwort lautet <strong>als</strong>o, dass jeder Mensch die ihm innewohnende<br />

Veranlagung zum Erhabenen Gefühl in Form eines erfahrungsunabhängigen Gesetzes besitzt.<br />

45 KdU [264].<br />

46 KdU [266].<br />

15


Wenn nun aber der für das Empfinden von Ideen minderbemittelte Mensch über das Erhabene<br />

nicht <strong>als</strong> Zweck zum Quell der Ideen urteilen kann, wie soll ein solches Urteil dann <strong>als</strong><br />

notwendig allgemeingültig gelten? Oder wie erklärt es sich, dass dieses Gesetz a priori bei<br />

kulturell höheren Menschen ausgeprägter <strong>als</strong> bei rohen Menschen sein kann, wenn doch dies<br />

dem Wesen eines Gesetztes a priori widerspricht. Kant liefert leider keine Erklärung, woraus<br />

der unterschiedliche Entwicklungsstand resultiert, wenn nicht aus Erfahrung. Er betont<br />

jedoch, dass das Urteil über das Erhabene nicht erst durch die Kultur erzeugt wird und keiner<br />

Konvention entspringt. Heikel wird dieses Problem, wenn wir es über folgendes Zitat Kants<br />

zu lösen versuchen:<br />

„Denn so, wie wir dem, der in der Beurteilung eines Gegenstandes der Natur, welchen wir<br />

schön finden, gleichgültig ist, Mangel des Geschmacks vorwerfen, so sagen wir von dem, der<br />

bei dem, was wir erhaben zu sein urteilen, unbewegt bleibt, er habe kein Gefühl. Beides aber<br />

fordern wir von jedem Menschen, und setzten es auch, wenn er einige Kultur hat, an ihm<br />

voraus 47 .“<br />

Hier entsteht nämlich die Gefahr, das Gespür für Erhabenes <strong>als</strong> Bedingung für das<br />

Menschsein zu interpretieren. Denn wenn das Gesetz a priori im Menschen liegen soll,<br />

gleichzeitig aber kulturell niedere von einem allgemeinen Anspruch darauf ausschließt, so<br />

erhalten wir ein Klassensystem, dessen unterer Anteil mit seinen Defiziten an menschlichen<br />

Eigenschaften auch weniger Mensch ist.<br />

Übergehen wir dieses Problem der unterschiedlichen Ausgeprägtheit des Vermögens, so<br />

schließt die Kritik der Urteilskraft hier nun den Bogen zu Kants anderen Werken dadurch,<br />

dass an den ästhetischen Urteilen eben dieses Prinzip a priori kenntlich gemacht und ihre<br />

Abhandlung aus dem Bereich der Empirie hinüber zur Transzendentalphilosophie verlagert<br />

wird 48 .<br />

Notwendigkeit einer Bilanz des Kantisch Erhabenen:<br />

Es stellt sich nun die Frage, wie mit diesem Entwurf umgegangen werden soll und wohin er<br />

eingeordnet werden kann. Einerseits steht es schon allein durch die umfangreiche Abhandlung<br />

fest, dass Kant <strong>als</strong> der „chief philosopher of sublime 49 “ gilt und seine Kritik der Urteilskraft<br />

47 KdU [265].<br />

48 KdU[266].<br />

49 Weiskel: The Romantic Sublime, S. 7.<br />

16


Basis für jede Diskussion über das Erhabene bildet 50 . Anderseits entspricht es dem<br />

momentanen Forschungstandpunkt Kants Erhabenheitsverständnis <strong>als</strong> irrelevant für das<br />

Phänomen des Erhabenen zu betrachten. Warum wird ihm dann aber dennoch der<br />

prominenteste Platz in der Theoriegeschichte zugewiesen? Um diese Frage beantworten zu<br />

können, soll nun untersucht werden, inwieweit Kants Gedanken auf dessen Nachfolger<br />

eingewirkt haben und welcher Kern mit deren Verständnis die Moderne 51 überdauerte.<br />

Das Ableiten der Grundvariablen<br />

Nun da wir Kants Entwurf des Erhabenen <strong>als</strong> geschlossenes System vorliegen haben, zerlegen<br />

wir es noch einmal in seine Bausteine, um die entscheidenden, ihm seine formverleihenden<br />

Momente zu identifizieren und somit einen Abgleich mit neueren Konstrukten zu<br />

ermöglichen.<br />

Entziehen wir dem Entwurf jeglichen Gehalt, so verbleiben fünf Momente, die sich mit<br />

variierendem Inhalt auch in den ausgewählten Vergleichstheorien auffinden lassen:<br />

1. Das Objekt und seine Rahmenbedingungen selbst.<br />

2. <strong>Die</strong> Kriterien, unter denen dieses betrachtet wird.<br />

3. Das Empfinden des betrachtenden Subjekts.<br />

4. <strong>Die</strong> Veränderung, welche sich im Subjekt vollzieht.<br />

5. Der Standpunkt des Betrachters nach dieser Erfahrung.<br />

In Bezug auf diese fünf Momente werden nun drei Theorien zur Darstellung der Differenzen<br />

und einem trotzdem allen innewohnenden gemeinsamen Nenner herangezogen. Zur<br />

Verdeutlichung des breiten Spektrums, welches das Erhabene in seiner Deutung erfahren hat,<br />

fiel die Wahl der Vergleichsentwürfe auf die von Francois Lyotard 52 , Wolfgang Welsch 53 und<br />

Martin Seel 54 . Es wird nun folgend nur die Theorie Lyotards in allen fünf Momenten mit Kant<br />

abgeglichen, während von Welsch und Seel ausschließlich die Hauptunterschiede ausgeführt<br />

werden.<br />

50 Kallendorf/Pries/Zelle: [Art.] das Erhabene, Sp. 1379.<br />

51 Hierzu Norbert Bolz (in Theorie der Müdigkeit - Theoriemüdigkeit, 1997) „Was wir Moderne nennen - <strong>als</strong>o<br />

die Zeit zwischen der europäischen Aufklärung und dem Ersten Weltkrieg - hat uns mit idealistischen<br />

Zumutungen überlastet und mit humanistischen Idealen geködert. Deshalb haben wir heute eine ambivalente<br />

Einstellung zur Moderne: sie ist Utopie und Alptraum zugleich. Deshalb fällt es uns so schwer, souverän in eine<br />

neue Zeit einzutreten. Wir haben ein Entwöhnungstrauma der beendeten Moderne.“<br />

52 Jean-François Lyotard (* 10. August 1924 in Versailles; † 21. April 1998 in Paris).<br />

53 Wolfgang Welsch (* 17. Oktober 1946 in Steinenhausen).<br />

54 Martin Seel (* 1954 in Ludwigshafen am Rhein).<br />

17


Jean Francois Lyotards Erhabenheitsverständnis<br />

In den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts wurde es laut um den Begriff des Erhabenen 55 .<br />

Der Philosoph Jean Francois Lyotard entdeckte auf der Suche nach einer Beschreibung des<br />

Postmodernen die Überlagerung mit Kants Theorie des Erhabenen 56 . Er beschäftigt sich<br />

ausführlicher <strong>als</strong> jeder andere Philosoph seiner Epoche mit dem Begriff und wird, obwohl er<br />

beteuert Kants Entwurf treu zu bleiben 57 , zum Begründer vieler Neuerungen im Verständnis<br />

des Sublimen. So verlagert sich bei ihm das Auffinden von Erhabenem aus der Natur heraus<br />

auf die Objekte der Kunst. Nur dank der Kunst ist es möglich, die Beraubung, welche er im<br />

Erhabenen sieht, vom Betrachter fernzuhalten 58 . Außerdem wird der Vorgang bei ihm eher<br />

mit einer zeitlichen <strong>als</strong> mit einer räumlichen Wahrnehmung verbunden. Das Wichtigste ist<br />

jedoch, dass wir in seiner Beschreibung nirgendwo den Kantischen Sprung ins Moralische<br />

entdecken. <strong>Die</strong>se Besonderheit und der alternative Weg, welcher dorthin führt, soll hier in<br />

aller Kürze dargelegt werden.<br />

Informationslage<br />

Das Zusammenfassen zu einer kohärenten Theorie von Lyotards Verständnis des Erhabenen<br />

gestaltet sich insofern schwer, dass nicht nur die Ausmaße seiner Forschungsliteratur enorm<br />

sind, sondern auch keine einheitliche Terminologie darin verwendet wird 59 . So finden wir bei<br />

Lyotard auch gleich zwei Verständnisweisen des Erhabenen beschrieben. Eine erste, in der er<br />

eine sogenannte „moderne Form“ des Erhabenen darstellt, und eine zweite, welche in einer<br />

Auseinandersetzung mit Kant entstand und eine „postmoderne Form“ des Erhabenen<br />

hervorbringt.<br />

Zwei Formen des Erhabenen<br />

Der Unterschied besteht im weitesten Sinne darin, dass in der modernen Form das<br />

Wohlgefallen aus der beruhigenden Erkenntnis von sicherer Distanz resultiert 60 , bei der<br />

postmodernen Form aber gar keine Distanz vorhanden ist und das Subjekt im Konflikt mit<br />

dem Undarstellbaren völlig unterliegt. <strong>Die</strong> Problematik, wie trotz Niederlage Wohlgefallen<br />

55 Hoffmann, Konfiguration des Erhabenen, S. 30, (Pries: Einleitung, S. 2).<br />

56 Vgl. Lyotard; Beantwortung der Frage: Was ist postmodern?, S. 26-31.<br />

57 Hoffmann, Konfiguration des Erhabenen, S. 35, (Lyotard/Pries: Das Undarstellbare, S. 321).<br />

58 Hoffmann, Konfiguration des Erhabenen, S. 33, (EuA 159).<br />

59 So schreibt Josef Früchtl zu einer Erklärung des Erhabenen bei Lyotard: „im mäandern Strom seines<br />

Sprechens tauchen bei Lyotard auch andere Bestimmungen des Erhabenen auf“ (Früchtl: Ästhetische Erfahrung<br />

und moralisches Urteil, S. 100).<br />

60 Hoffmann, Konfiguration des Erhabenen, S. 33.<br />

18


entstehen kann, klärt Lyotard nicht völlig 61 , sondern liefert verschiede Antworten. So ist es<br />

einerseits eine Steigerung des Seins, resultierend aus der Erfindung neuer künstlerischer<br />

Spielregeln 62 , andererseits klingt es in seinen Kant-Lektionen, <strong>als</strong> ob schon allein der Konflikt<br />

im menschlichen Erkenntnisvermögen selbst, dessen Lebenswahrnehmung intensiviert 63 .<br />

3 ½ geänderte Variablen und eine Übereinstimmung<br />

Wenn wir versuchen das oben entworfene Schema der fünf Momente im Erhabenheitserlebnis<br />

auf Lyotards Theorie anzuwenden, so weicht diese in dreien von Kants ab, ist in einem<br />

übereinstimmend und in einem vierten zumindest ähnlich.<br />

Das Objekt und seine Rahmenbedingungen selbst<br />

Darin, dass Lyotard die Kunst anstatt die rohe Natur zum Ort der Auffindbarkeit des<br />

Erhabenen wählt, besteht ein erster klarer Unterschied. Allerdings bedeutet ein anderes<br />

Betrachtungsobjekt nicht zugleich, dass es auch eine andere Art des Erhabenen sein muss.<br />

<strong>Die</strong> Kriterien der Betrachtung<br />

<strong>Die</strong> Kriterien, unter welchen das Objekt betrachtet wird, ähneln sich bei beiden Philosophen.<br />

So erkennt auch Lyotard etwas Unendliches, welches den Widerstreit zwischen Vernunft und<br />

Einbildungskraft entfacht. Allerdings werden bei ihm nicht die Maßstäbe von<br />

Größenschätzung, sondern die der Zeitwahrnehmung relativiert. Während Kants Beobachter<br />

seinen sinnlichen Raum in den Zweifel von Bestimmbarkeit zieht, verliert sich Lyotards<br />

Subjekt in einer auflösenden Zeit, in welcher selbst das Jetzt zu schwinden scheint 64 .<br />

Das Empfinden des betrachtenden Subjekts<br />

<strong>Die</strong> Empfindung dieses Momentes ist in beiden Theorien die negative Lust, die durch das<br />

Abfallen von Sicherheit bietenden Haltepunkten der Alltagsmaßstäbe entsteht.<br />

<strong>Die</strong> Veränderung, welche sich im Subjekt vollzieht<br />

<strong>Die</strong>ser durch das Erhabene ausgelöste Wandel im Subjekt ist nun der wesentliche<br />

Hauptunterschied. Kant greift, um im Schwinden der Bestimmbarkeit nicht verloren zu gehen,<br />

zu den Ideen, welche einen festen Halt jenseits der Sinnenwelt bieten. Lyotard, der die<br />

61 Hoffmann, Konfiguration des Erhabenen, S. 34.<br />

62 Lyotard; Beantwortung der Frage: Was ist postmodern?, S. 27.<br />

63 Hoffmann, Konfiguration des Erhabenen, S. 34.<br />

64 EuH [152].<br />

19


Metaphysik zu überwinden sucht, nimmt jedoch den Konflikt selbst zum immerwährenden<br />

Fixpunkt. Hieraus erklärt sich auch, weshalb er das Erhabene zum Kennzeichen und der<br />

zentralen ästhetischen Kategorie der Postmoderne erhebt 65 .<br />

Der Standpunkt des Betrachters nach dieser Erfahrung<br />

Im Gegensatz zu Kant, dessen Subjekt nach der Relativierung des <strong>Die</strong>sseits einen<br />

metaphysischen Standpunkt vertritt, verbleibt Lyotard in eben dieser sich auflösenden Welt<br />

und betrachtet sie erneut unter veränderten Gesichtspunkten. <strong>Die</strong>se neu erworbenen<br />

Blickwinkel resultieren aus einem intensivierten Hinterfragen der vom Menschen den Dingen<br />

angedachten Bestimmungen. So verliert das vermeintlich Feste der Alltagswelt seine<br />

Selbstverständlichkeit und eröffnet ein tiefergreifendes Betrachten seiner selbst.<br />

<strong>Die</strong> Schnittmenge der negativen Lust<br />

Wie aufgezeigt liegt im negativen Empfinden des Subjektes der einzig völlig<br />

übereinstimmende Moment der beiden Erhabenheitsbetrachtungen. Auch Peter V. Zima 66<br />

entdeckt die Gewichtung, die dem Empfindungsmoment innerhalb des<br />

Erhabenheitsverständnisses zukommt, überbetont ihn aber in seiner Lyotard Rezeption durch<br />

die These das Erhabene weise auf eine völlige Zerrüttung des Subjektes <strong>als</strong> Rezipienten hin 67 .<br />

Er vernachlässigt eine Erklärung des Entstehens von Wohlgefallen, welche dem Erhabenen<br />

unbedingt zugehörig sein muss. Auch wenn die negative Lust den ersten nicht<br />

wegzudiskutierenden Baustein des Erhabenen darstellt, benötigt es für eine umfassende<br />

Erklärung, welche die Entstehung des Wohlgefallens beinhaltet, einen weiteren Baustein,<br />

auch wenn über diesen die Meinungen von Kant und Lyotard auseinandergehen. Es ist der<br />

zweite Moment, in dem die Kriterien der Betrachtung liegen. Hier fand sich bei beiden<br />

Philosophen eine Ähnlichkeit, deren gemeinsamer Nenner besonders durch Martin Welsch<br />

ausformuliert wurde.<br />

<strong>Die</strong> allgemeine Wahrnehmungslehre des Undarstellbaren von M. Welsch<br />

Kants negative Lust entstand durch eine Undarstellbarkeit im Raum und Lyotards Betrachter<br />

des Erhabenen wurde unwohl, da er sich mit einer Unzeitlichkeit konfrontiert sah. Welsch<br />

verzichtet nun auf eine Zuordnung zu einer Wahrnehmungskategorie und beschreibt den<br />

65 Gelegentlich geht Lyotard sogar so weit, das Erhabene <strong>als</strong> den wichtigsten Einfluss auf die gesamte nachkantische<br />

Kunst zu bezeichnen: „Mit der Ästhetik des Erhabenen wird es zur Aufgabe der Künste des 19. und<br />

20. Jahrhunderts, dafür zu zeugen, dass es ein Unbestimmtes gibt“ (EuA 160, Herv. TH).<br />

66 Peter V. Zima (* 1946 in Prag).<br />

67 Zima, Das literarische Subjekt, S. 89.<br />

20


zweiten Moment des Erhabenheitserlebnisses, die Kriterien der Betrachtung des Nicht-<br />

Darstellbarem, ganz allgemein. Zwar nicht bei Kant, aber bei Lyotard findet er hierzu die<br />

Formulierung der Funktion des Erhabenen, die „Fähigkeit zu Anerkennung von Dissensen 68 “<br />

zu schulen und somit ein Gleichgewicht durch Kritik an Totalitäten zu bilden. Von Adorno 69<br />

entleiht er sich 70 hierfür die „ebenso suggestive wie sympathische Formel“ der „Gerechtigkeit<br />

gegenüber dem Heterogenen 71 “. <strong>Die</strong>se allgemeine Wahrnehmungslehre beschränkt sich bei<br />

Welsch nicht nur auf Natur oder Kunst, sondern bildet <strong>als</strong> umfassende Weltsicht eine erste<br />

Philosophie zur Hervorbringung der weltimmanenten Pluralität. Im Gegensatz zu Kant, der<br />

das Undarstellbare einseitig durch die Vernunft überwindet, und Lyotard, der den Konflikt in<br />

den Mittelpunkt stellt, betont Welsch <strong>als</strong>o ein Betrachten der Welt, die sich der Totalität<br />

fordernden Vernunft des Menschen entzieht. Für Martin Seel kann ein solcher Versuch, das<br />

Ganze der Gegenwart an das Erhabene zu binden, nur in einer Paradoxie enden 72 . Schließlich<br />

sei es ein integraler Bestandteil des Erhabenen vom Gewöhnlichen abzuweichen und genau<br />

dieser Fall sei nicht mehr gegeben, wenn das Erhabene vom Gegenbegriff zum Zentralbegriff<br />

erhoben wird 73 . <strong>Die</strong> Totalisierung des Antitotalitären verhindert sich <strong>als</strong>o selbst.<br />

Martin Seel<br />

Wie auch schon Lyotard verfolgt Seel das Ziel das Erhabene von Kants metaphysischer<br />

Bewältigungstheorie zu befreien und kann dadurch auch <strong>als</strong> Ergänzung zu Lyotards Theorie<br />

gesehen werden. Besonders interessant und ungewöhnlich wird sein Verständnis allerdings<br />

dadurch, dass er seine Theorie gezielt gegen das von Welsch vertretene Verständnis des<br />

Erhabenen <strong>als</strong> einer neuen Weltsicht entwirft 74 . Hierfür unterscheidet er Schönes und<br />

Erhabenes nur graduell und schildert drei verschiedene Weisen des Auftretens. Einmal durch<br />

Imagination, einmal durch Korrespondenz und für das Erhabene am wichtigsten durch<br />

Kontemplation. Während bei Imagination und Korrespondenz noch ein Einfluss des<br />

Betrachters auf das Objekt vorhanden ist, trennt sich bei der kontemplativen Wahrnehmung<br />

des Erhabenen die Welt völlig vom Verstand und der Vernunft des Menschen ab 75 . Es<br />

erschließt sich ein Sein in der Welt, welches nicht durch unsere Maßstäbe verfälscht wird,<br />

sondern den Raum in seinem tatsächlichen Sein zugänglich macht.<br />

68 Welsch, Für eine postmoderne Ästhetik des Widerstands, S. 166.<br />

69 Theodor W. Adorno (eigentlich Theodor Ludwig Wiesengrund-Adorno; * 11. September 1903 in Frankfurt<br />

am Main; † 6. August 1969 in Visp, Schweiz).<br />

70 Vgl. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 285.<br />

71 Seel, Gerechtigkeit gegenüber dem Heterogenen?, S. 921.<br />

72 Seel, Gerechtigkeit gegenüber dem Heterogenen?, S. 921.<br />

73 Seel, Gerechtigkeit gegenüber dem Heterogenen?, S. 922.<br />

74 Seel, Gerechtigkeit gegenüber dem Heterogenen?, S. 921.<br />

75 „Es ist die Auflösung, der Wegfall einer bedeutsamen Gliederung der erscheinenden Welt“, Seel, [ÄN60].<br />

21


Es entsteht „das Bewusstsein einer suspendierten Zentrierung – ich erfahre meinen Leib <strong>als</strong><br />

anwesend in einem Raum, der weder auf meine Wahrnehmung hin organisiert ist noch durch<br />

mein Wahrnehmung auf etwas hin organisiert wird. Mein Leib ist nurmehr Zentrale der<br />

Sinne, nicht mehr Zentrum des mir zugänglichen Sinns.“ (ÄN57)<br />

Mit diesem Verständnis des Erhabenen verhindert Seel die Problematik eines Paradoxon wie<br />

es innerhalb von Welsch Theorie des Erhabenen <strong>als</strong> einer „Weltsicht“ entsteht. <strong>Die</strong><br />

Betrachtung des Erhabenen ist bei ihm <strong>als</strong>o kein aktives, sondern eher ein passives Sehen.<br />

Und obwohl dieser Entwurf die metaphysische Überwindungstheorie Kants zu umgehen<br />

scheint, finden wir in der Erklärung des auftretenden Wohlgefallens nun wieder eine<br />

Annäherung an Kant. Durch die plötzliche Vakanz der Welt gerät das Bewusstsein erst einmal<br />

in eine schwindelerregende Krise. In einem zweiten Schritt entsteht dann aus der<br />

Bedeutungsleere eine euphorische Reaktion, gespeist durch das Erkennen einer<br />

Bedeutungsfreiheit, die außerhalb unserer zweckgerichteten, deutungsbeladenen Sicht<br />

besteht 76 . Im kantischen Sinne <strong>als</strong>o eine subjektive Zweckmäßigkeit ohne begrifflichen<br />

Zweck am Objekt.<br />

Annäherung der Theorien<br />

Unternimmt man den Versuch, die aufgezeigten nachkantischen Theorien nach gemeinsamen<br />

Nennern und Rückführungen auf Kant zu untersuchen, so finden sich wie bei Martin Seel<br />

auch bei Lyotard und Welsch Hinweise, diese mit Kants Grundaufbau des<br />

Erhabenheitsverständnisses verbrüdern zu können.<br />

<strong>Die</strong> Objekte der Betrachtung<br />

Es sind die Betrachtungsobjekte, an denen das Erhabene wahrgenommen wird, zwar<br />

verschieden, aber nicht widersprüchlich. Auch wenn Lyotard die Kunst aufgrund des<br />

Abstandes zur Bedrohung bevorzugt, lässt sich dies mit Kants Auffassung, dass erhebende<br />

Kunst das Erhabene nur aus der Natur entlehnt, völlig abgleichen. <strong>Die</strong> Diskrepanzen lassen<br />

auf Epochen bedingte Akzentuierungen der philosophischen Diskussion zurückführen. So ist<br />

nachzuvollziehen, dass Kant seiner Zeit nicht die kunstthematischen Problemstellungen der<br />

Postmoderne im Sinn hatte und außer der vertrauten abbildenden Kunst auch keine weitere<br />

mit einzubeziehen hatte. Auch die weiter ausweitenden Erhabenheitsbetrachtungen von<br />

Welsch und Seel bezeugen kein konträres Verständnis, sondern bestätigen nur, dass der<br />

76 (ÄN 59).<br />

22


gegenwärtige Mensch wie von Lyotard postuliert die zentrale ästhetische Kategorie des<br />

Erhabenen 77 völlig in seinen Blickwinkel integriert hat. <strong>Die</strong>s rührt unter anderem daher, dass<br />

wenn Techniken und Teleskope dem Menschen seine Relativität zu Quanten- und<br />

Makrokosmos visualisieren und zusätzlich die Zeit seit Einstein keine feste Konstante mehr<br />

darstellt, es keiner Gewitterwolken mehr benötigt, um eine Unendlichkeit an einem Objekt<br />

vorstellig machen zu können. Das Weltverständnis der gegenwärtigen Epoche ist soweit mit<br />

Relativität durchdrungen, dass die Grenzerfahrung des menschlichen Erkenntnisvermögens<br />

bei entsprechendem Blickwinkel an einem jeden Objekt erfahrbar werden kann. Hierauf<br />

verweist auch Seels lakonische Bemerkung der Erhabenheit durch „Liegestuhl und<br />

Nordbalkon“ 78 .<br />

<strong>Die</strong> Kriterien der Betrachtung<br />

Alle drei Theorien verweisen darauf, dass der Betrachtungsmoment des Erhabenen unter dem<br />

Blickwinkel einer Forderung nach Totalitätszuschreibung stattfindet. In den behandelten<br />

Theorien werden unterschiedlich ausgeprägt die räumlichen, zeitlichen oder auch die<br />

begrifflichen Zuschreibungen betont. <strong>Die</strong>ses Vorgehen entspricht bis dahin dem alltäglich<br />

bewerten System einer pragmatischen Erfassung der zugänglichen Welt.<br />

Das Empfinden des betrachtenden Subjekts<br />

Wie schon erwähnt und von Peter Zima ausgeführt, besteht dieser Moment im negativen<br />

Gefühl einer Zerrüttung. <strong>Die</strong> detaillierten Ausführungen der verschiedenen Theorien reichen<br />

hier vom Nichtübereinkommen zwischen Welt und fester Idee (Kant), über die Auflösung der<br />

Sinngebung durch Zweifel an der Zeitwahrnehmung 79 (Lyotard) und über die Vorstellung<br />

einer sich stetig selbstwidersprechenden Welt (Welsch) bis hin zum Verlust der Begriffswelt<br />

bei der Betrachtung der Welt an sich (Seel). Hieraus ergibt sich eine allen vieren anheftende<br />

Schnittmenge, welche durch die folgende, kantische Problemstellung formuliert wird: <strong>Die</strong> uns<br />

durch Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis gesetzten Grenzen verschließen den<br />

Seinszugang für definitive Bestimmungen. Seel beschreibt dies in dem metaphorischen Satz,<br />

dass die Natur „an sich“ dem Menschen gegenüber völlig gleichgültig und nicht zu verstehen<br />

ist. „Sie redet kein Sprache zum Menschen hin“ 80 .<br />

77 Gelegentlich geht Lyotard sogar so weit, das Erhabene <strong>als</strong> den wichtigsten Einfluss auf die gesamte nachkantische<br />

Kunst zu bezeichnen: „Mit der Ästhetik des Erhabenen wird es zur Aufgabe der Künste des 19. und<br />

20. Jahrhunderts, dafür zu zeugen, dass es ein Unbestimmtes gibt“ (EuA 160, Herv. TH).<br />

78 Martin Seel, Ein Ästhetik der Natur, S. 60.<br />

79 Hoffmann, Konfiguration des Erhabenen, S. 32.<br />

80 Seel, Ästhetische und moralische Anerkennung der Natur, S. 223.<br />

23


<strong>Die</strong> Veränderung, welche sich im Subjekt vollzieht<br />

<strong>Die</strong>ser Moment des Erhabenheitserlebnisses wird aufgrund der darin liegenden<br />

Konsequenzhaftigkeit von den Philosophen am Ausführlichsten behandelt und verleiht den<br />

Theorien somit ihre wesentlichen Eigenarten. Da in diesen Ausführungen jedoch die Frage<br />

nach dem persönlichen Umgang mit dem Phänomen des Unbegrifflichen beantwortet wird,<br />

verlässt jede Erhabenheitstheorie hier den Bereich des Allgemeingültigen und geht über in die<br />

facettenreiche, subjektpsychologische Sichtweise. Betrachterabhängig reicht das<br />

Reaktionsspektrum von der unantastenden Ehrfurcht eines niederwerfenden Religiösen bei<br />

Kant bis hin zu Welschs Auffassung das Erhabene <strong>als</strong> Antrieb einer steten<br />

Gesellschaftsdiskussion zu akzeptieren.<br />

Der Standpunkt des Betrachters nach dieser Erfahrung.<br />

Aufgrund dessen, dass ab dem vierten Moment jeder Beobachter sein individualisiertes<br />

Erhabenheitserlebnis durchläuft, sind die Standpunkte nun vielzählig möglich. Ehrfurcht,<br />

Weltentfremdetheit und Anerkennung von Dissensen sind <strong>als</strong>o mit weiteren Standpunkten<br />

allesamt Auswirkungen des Erhabenen. Im Kontrast zu Kants metaphysischen Verständnis<br />

des Erhabenen <strong>als</strong> Quell der Ideen lassen sich diese Standpunkte <strong>als</strong> diesseitig bezeichnen.<br />

Zusammenfassender Standpunkt des Autors dieser Hausarbeit:<br />

Versuchen wir, die ausführliche Analyse des kantischen Erhabenheitsverständnisses und die<br />

angesprochenen Standpunkte von Lyotard, Welsch und Seel unter der Berücksichtigung ihrer<br />

Übereinstimmungen und Abweichungen in ein schlüssiges System zu bringen, so lautet die<br />

Konklusion, dass die Philosophen spätestens ab dem vierten Moment des<br />

Erhabenheitserlebnisses nicht mehr über dasselbe Phänomen reden können und das<br />

Phänomen, welches sie in den ersten drei Momenten behandeln, dem Begriff des Erhabenen<br />

nicht gerecht wird. Letztendlich verweist sogar alles darauf, dass nur Kants Theorie den<br />

Wesenskern des Erhabenen wirklich aufzeigt. <strong>Die</strong>se Behauptung bedarf einer Erklärung, die<br />

ich nun gewissenhaft und deutlich darzulegen versuche.<br />

Klären wir zuerst, weshalb in den ersten drei Momenten der Begriff des Erhabenen zu<br />

leichtfertig gebraucht wird. <strong>Die</strong>se Momente behandeln das Phänomen einer<br />

Unverhältnismäßigkeit von Totalität und unbegrifflicher Unendlichkeit. <strong>Die</strong>se epistemische<br />

Grenze ist nicht das Erhabene selbst. Der Begriff des Erhabenen wird hier <strong>als</strong>o vom Resultat<br />

24


auf das ganze Phänomen samt Ursache ausgeweitet oder es wird darin nicht unterschieden. Da<br />

bei allen Theorien die Haupteigenschaft des Phänomens in diesen drei Momenten eine<br />

bezugspunktlose Relativierung der alltäglichen Maßstäbe ist und eine Relativierung ohne<br />

absolutes Maß einer stetigen, niem<strong>als</strong> endenden Verweisung unterliegt, nennen wir zu<br />

Unterscheidungszwecken das Phänomen ab hier das „π-Phänomen“. <strong>Die</strong> ersten drei<br />

Momente, wie das Auffinden in der Welt, der Bestimmungsversuch durch den Verstand und<br />

die negative Empfindung auf Grund des Verlustes unserer Maßstäbe, alle drei beziehen sich<br />

auf das Phänomen dieser Grenzerfahrung unseres Erkenntnisvermögens. Hierin ist noch<br />

nichts Erhabenes.<br />

Erst im vierten Moment, der die Veränderung im Betrachter beschreibt, kann etwas<br />

Erhabenheitsähnliches entstehen. Es soll kurz erläutert werden, weshalb diese Erfahrungen<br />

durchaus variieren können. Der übliche Wahrnehmungsprozess einer Apperzeption, wie z.B.<br />

Stuhl, kann hier seine vom Subjekt ausgehende Bestimmungszuweisung nicht vollziehen. Es<br />

bleibt <strong>als</strong> Art der Anschauung <strong>als</strong>o nur die Möglichkeit einer fragenden Betrachtung. Was ist<br />

das Wesen einer fragenden Betrachtung? Dadurch, dass eine Frage im Gegensatz zu einer<br />

Bestimmung keine Eigenschaften aus dem Objekt entnehmen kann, überwiegt die<br />

Konnotation der Frage die Betrachtung und das Objekt erhält seine Bestimmung im Rahmen<br />

des durch die Frage erschaffenen Feldes. Somit liegt in einem formlosen bzw. unbestimmten<br />

Objekt oder Phänomen zumindest schon ein durch die Frage aufgespanntes Rahmenkriterium.<br />

Aus diesem Fragecharakter lässt sich auch die dem „π-Phänomen“ anhaftende Dynamik<br />

erschließen. Eine Frage kann nicht verneinen oder feststehen, sie erzeugt immer Bewegung<br />

nach vorne.<br />

Worin liegt aber nun der elementare Unterschied der Betrachtungen von Lyotard, Welsch und<br />

Seel zu der von Kant? Wie lässt sich die Behauptung rechtfertigen, dass die ersten drei im<br />

Gegensatz zu Kant nicht das Erhabene beschreiben? <strong>Die</strong>ser Schluss mag in Anbetracht<br />

dessen, dass wir die nachkantischen Theorien hier nur kurz angeschnitten haben, etwas<br />

voreilig erscheinen, wird aber dadurch gültig nachvollziehbar, dass wir den Grund dazu schon<br />

in der Vorraussetzung der Metaphysikbewältigung aufzeigen. Alle drei Philosophen<br />

versuchen das Erhabene ohne den Schritt ins Metaphysische zu beschreiben. <strong>Die</strong>se<br />

Herangehensweise ist mit dem Wesen des Erhabenen allerdings inkommensurabel.<br />

Schließlich verweist schon das Wort „erhaben“ auf einen Emergenzcharakter des<br />

Entstehungsprozesses. Das aus Unverhältnismäßigkeit von Erkenntnis und Welt<br />

25


hervortretende Phänomen des Erhabenen steht in keiner Relation zu den Elementen und<br />

Bedingungen seiner Entstehung. Jede Theorie, die versucht auf diesen herauslösenden Schritt<br />

zu verzichten, kann nicht über eine Ursachenbeschreibung und eine diesseitige<br />

Symptomausführung hinausgehen. Genau dies ist bei Lyotard, Welsch und Seel der Fall.<br />

Deren Unverhältnismäßigkeit beschränkt sich allein auf den Rahmen des begrifflich<br />

Fassbaren. <strong>Die</strong>ser Rahmen erlaubt aber nur einen Zugang zum „π-Phänomen“ <strong>als</strong><br />

Unbestimmtes. Unbestimmtheit erhebt sich aber nicht aus der Kategorie der Bestimmung. Sie<br />

besitzt nur einen negativen Wert innerhalb der Kategorie. Nur weil Schwarz keine Farbe<br />

besitzt, bekommt es keinen anderen ontischen Status <strong>als</strong> die Farbe Blau. Allerdings kommt<br />

Kant bis zum vierten Moment der Betrachtung ebenfalls nicht über diese Beschreibung des<br />

„π-Phänomens“ hinaus. Selbst seine Ausführungen über das Erschließen von<br />

Bestimmungsfreiheit im mathematisch Erhabenen und Handlungsfreiheit im dynamisch<br />

Erhabenen besitzen nur Symptomcharakter. Trotzdem verwendet er für all dies den Begriff<br />

des Erhabenen. Bezüglich den Erscheinungen klärt er jedoch, dass ihnen selbst keine<br />

Erhabenheit zukommt.<br />

„Man sieht aber hieraus sofort, dass wir uns überhaupt unrichtig ausdrücken, wenn wir<br />

irgendeinen Gegenstand der Natur erhaben nennen [] denn | das eigentlich Erhabene kann in<br />

keiner sinnlichen Form enthalten sein“ KdU [265]<br />

Erst im reflektierenden vierten Moment des Erhabenheitserlebnisses tritt das Phänomen in ein<br />

Verhältnis zum Subjekt und die Konnotation der fragenden Betrachtung eröffnet ihr Feld.<br />

Während Lyotard, Welsch und Seel immer nach Erkenntnisgrenzen und dem Status von fester<br />

Wahrheit fragen, verbleiben sie im Bereich des analytisch differenzierenden Verstandes, auch<br />

wenn dieser darin eine Negation seiner Bestimmungskraft erfährt. Nur die moralische<br />

Konnotation von Kants fragender Betrachtung kann das sachliche Zerteilen des Phänomens<br />

durch den Verstand umgehen und dadurch den Weg einer fügenden Betrachtung erschließen.<br />

<strong>Die</strong>s ist ein erschaffender Moment, der aus den Einzelelementen etwas Höheres emergieren<br />

lässt, welches durch die Unzurückführbarkeit auf seine Ursachen und die noch<br />

Unverbundenheit zu den Symptomen dem transzendenten Kern des „Erhabenen“ entspricht.<br />

Epilog:<br />

Wie aufgezeigt wurde, sollte innerhalb dessen, was im philosophischen Diskurs und der<br />

Gesellschaft <strong>als</strong> „erhaben“ bezeichnet wird, eine stärkere Unterscheidung dahingehend<br />

26


etabliert werden, dass physische Ursache, Symptom und metaphysischer Charakter begrifflich<br />

unterschieden werden. Da über das „π-Phänomen“ <strong>als</strong> Ursache des Erhabenen schon eine<br />

grobe Übereinstimmung herrscht und der metaphysische Charakter für weiteres verschlossen<br />

bleibt, empfiehlt es sich den Blick auf das Sammeln von Symptomen zu konzentrieren, um<br />

durch eventuell noch unentdeckte Erlebnisarten weitere Rückschlüsse auf die gesamte<br />

Beschaffenheit des Phänomens zu ziehen. Ein besonderes Augenmerk sollte auch auf die<br />

Frage gerichtet werden, inwieweit die Eigenschaft der Unzurückführbarkeit dem Status<br />

a priori entsprechen kann.<br />

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Literaturverzeichnis<br />

Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, Herausgegeben von Heiner F. Klemme, Felix Meiner<br />

Verlag Hamburg, 2006<br />

Hoffmann, Torsten: Konfiguration des Erhabenen, zur Produktivität einer ästhetischen<br />

Kategorie in der Literatur des ausgehenden 20. Jahrhunderts, Herausgegeben von Angelika<br />

Corbineau-Hoffmann und Werner Frick, Verlag: Walter de Gruyter, Berlin, New York<br />

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